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Das Geheimnis von Barton Hall

Paranormal / Mystery / Schauernovelle

von L.C. Frey (Autor:in)
168 Seiten
Reihe: Jake Sloburn, Band 4

Zusammenfassung

Der Tod ist nicht das Ende. Viel schlimmer. Er ist erst der Anfang ... Port, New Hampshire, am Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Nach dem Tod seines vermögenden Vaters zieht der junge Robert Barton zurück in den Stammsitz seiner Familie. Doch das uralte Gebäude beherbergt manches finstere Geheimnis ... Robert beginnt, den merkwürdigen Umständen auf den Grund zu gehen, die zum Tod seines Vaters führten und gerät bald selbst in einen Strudel aus üblen Vorahnungen und uralten Geheimnissen. Während Robert sich mehr und mehr in den Wahn verbotener Bücher und uralter Geheimnisse zurückzieht, erhält er Besuch von dem mysteriösen alten Gelehrten von Meyrinck, der ihn in uralte Geheimnisse einweiht, die kein Mensch wissen sollte ... Als er zu ahnen beginnt, warum sein Vater wirklich sterben musste, ist es auch für Robert längst zu spät zur Umkehr ... Lesen Sie jetzt diese Schauernovelle aus der Welt von L.C. Freys beliebtem Serienhelden Jake Sloburn - sind Sie bereit für das düstere Geheimnis von Barton Hall?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


~ Für Krissy, der Welt schönste, klügste und aufmerksamste Freundin ~

Und diesmal auch für Dieter Annecke, der die Idee anregte, eine Kurzgeschichte zu einem Gemälde von Alan M. Clark zu schreiben.

Sie sehen ja, was daraus geworden ist.

Sorry, Dieter!

ZUM FALL DER AUSSERGEWÖHNLICHEN VORKOMMNISSE AUF BARTON HALL

Port, New Hampshire, den vierzehnten Mai 1883

An den United States Marshal,

Mr. Joab N. Patterson

Verehrter Herr,

sicher ist Ihnen der seltsame Fall des Mr. Robert Barton noch gegenwärtig, welcher nebst seiner Ehefrau Rosabelle (geb. Abernathy) vor nicht allzu langer Zeit unter so tragischen wie mysteriösen Umständen den Tod fand.

Ich würde Sie mit dieser Sache nicht erneut behelligen, wenn nicht im benachbarten Staate Maine unlängst der Leichnam eines gewissen Jonathan S. Morley aufgefunden worden wäre, in Verbindung mit ähnlich finsteren Vorkommnissen wie im Falle Barton hier in Port. Die Sache des unglückseligen Morley erregte in der Presse einiges an Aufsehen und so kam die Kunde schließlich auch unserem hiesigen Stationsvorsteher, einem gewissen Langton, zu Ohren. Jener Langton, im Übrigen ein Mensch von erstaunlicher Einfalt, hat sich unlängst, nachdem die Ermittlungen bereits abgeschlossen waren, eines bestimmten Briefes entsonnen, welcher ihm der unglückselige Mr. Barton vor seinem Tode übergeben hatte.

Ich selbst bin davon überzeugt, dass Robert Barton, Sohn des ehrwürdigen und vor ein paar Jahren ebenfalls verstorbenen Sir John Barton, an einer seltenen Irrung des Geistes litt, seit er aus dem fernen Afrika zurückgekehrt war. Er soll sich dort mit gewissen geheimen Mythen und Ritualen der Buschmänner eingehend beschäftigt haben, und ich bin überzeugt, dass es diese Hirngespinste waren, welche ihn schließlich dazu brachten, sein eigenes Leben und das seiner jungen Ehefrau auf solch tragische Weise zu beenden. Wie Ihnen sicherlich noch gegenwärtig ist, fanden Bedienstete die beiden Körper jeweils in einem seltsamen Gefäß aus Glas in einem Zimmer im Erdgeschoss von Barton Hall vor, nachdem das Ehepaar von einer vorgeblichen einmonatigen Reise nach Europa nicht zurückgekehrt war. Jene länglichen Glastuben waren es letztendlich auch, welche die unglaublichsten Spekulationen um die Todesursache des jungen Paares befeuerten.

Jener Brief nun, der dem Stationsvorsteher vom jungen Barton übergeben wurde, war an Mr. Andrew Abernathy adressiert, den Vater von Bartons Ehefrau. Abernathy kam jedoch kurz nach dem Tod seiner Tochter und seines Schwiegersohns selbst ums Leben; während einer Seereise nach Europa fiel er unter nicht weiter bekannten Umständen von Bord und ertrank. Daher gelangte der Brief zurück an Mr. Langton, unseren Stationsvorsteher, welcher ihn vergaß, bis die erschütternden Meldungen von jenem Morley und die in der Presse abgebildeten Zeichnungen des Glastubus ihn wieder an das Schreiben erinnerten, das er mir daraufhin pflichtschuldigst übergab. Jener Tubus nämlich, in dem Mr. Morley im über hundert Meilen entfernten Maine den Tod fand, glich denen, die man in Barton Hall gefunden hatte, wie ein Ei dem anderen!

Allein, mir entspringen aus Bartons Brief und den beigefügten Aufzeichnungen keine neuen Ansichten zu der Sache, so oft ich mich auch daran versuche. Vielmehr sehe ich mich in der Annahme bestärkt, dass Barton bereits seit Längerem nicht mehr im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte gewesen sein muss, als er und seine Frau dieses abscheuliche Ende fanden. Ebenso muss es wohl jenem Morley ergangen sein. Vielleicht hat er von Bartons Schicksal in irgendeiner Zeitung gelesen und sich die Sache zum Vorbild für die eigene Entleibung genommen. Möglich wäre es, bei dem ganzen Rummel, den die Presse anlässlich des Falls veranstaltet hat.

Ich lege Ihnen also jenen Brief samt Aufzeichnungen des jungen Barton in der Hoffnung bei, dass ein verständigerer Mann, wie Sie es mit Sicherheit sind, sich darauf einen gescheiten Reim zu machen vermag. Aus meiner Sicht ist und bleibt der Fall ein einziges Rätsel.

Hochachtungsvoll

Henry H. Jones

City Marshal von Port, N.H.

ROBERT BARTONS BRIEF

Barton Hall, Port, New Hampshire, den dreiundzwanzigsten Dezember 1882

Geehrter Schwiegervater,

ich schreibe diese Zeilen als ein Geständnis, in der Hoffnung, dass Sie, lieber Abernathy, mir die Konsequenzen vergeben mögen, die aus meinem Handeln folgen werden. Seien Sie sich indes gewiss, alles geschieht einzig zum Wohle Ihrer Tochter, meiner geliebten Ehefrau Rosabelle. Ich tue es, um ihres Lebens und meiner Seele willen, die untrennbar eins sind.

Und doch gestehe ich, dass mich auch jetzt noch Zweifel plagen. Ist es richtig? Gibt es vielleicht eine andere Möglichkeit? Darüber zerbreche ich mir nun schon seit Wochen den Kopf. Allein, ich sehe keinen Ausweg, der mir noch bliebe, wenn ich die Geliebte wirklich retten will.

Der, welcher kühn voranschreiten will, muss frei von Furcht sein!

Sollten wir dennoch scheitern, trotz aller sorgfältiger Vorbereitung durch von Meyrincks planenden Geist, der dem meinen in so vielerlei Hinsicht überlegen ist, so bitte ich Sie, mir mein törichtes Unterfangen zu verzeihen, das ich aus reinster Liebe zu Ihrer Tochter tat. Von Meyrinck weiß nichts von diesem Briefe. Ich werde ihn beim Stationsvorsteher der Post hinterlegen, bis ich von meiner vorgeblichen Reise zurückgekehrt bin. Sollte dies nicht innerhalb eines Monats der Fall sein, so soll er den Brief an Sie versenden; ich hoffe jedoch inständig, dass Sie ihn niemals lesen werden. Sollten Sie ihn dennoch in Ihren Händen halten, so ist gewiss, dass unsere Mission gescheitert ist.

Sie jedoch, verehrter Schwiegervater, möchte ich bitten, den Brief mitsamt den Aufzeichnungen, die Sie beiliegend finden werden, nach der Lektüre unverzüglich zu verbrennen und keiner Menschenseele jemals anzuvertrauen, was Sie darinnen gefunden! Von Meyrinck habe ich das gleiche Versprechen abgerungen, die alten Manuskripte und Notizen meines Vaters betreffend. Denn sollte das, was wir so lange und sorgfältig geplant haben, scheitern, wird uns fraglos das grausige Schicksal meines armen Vaters ereilen und damit wäre der Beweis für die Unmöglichkeit unseres Vorhabens erbracht. In diesem Falle kann ich es unter keinen Umständen verantworten, dass andere ein ähnliches Schicksal ereilt – denn ich habe den Leichnam meines armen Vater gesehen, es ist erst wenige Tage her, und ich sah den Sand der Zeit, der aus seinem alten Leib hervorquoll und

Nein, ich muss meine Nerven beruhigen, mich sputen, denn schon in wenigen Stunden wird der Morgen grauen. Sie jedoch bitte ich, mir meinen hastigen Stil zu verzeihen, es bleibt nicht mehr viel Zeit, so wenig Zeit!

Mögen die seltsamen Götter, die mein Vater aus den Abgründen der Äonen hervorgezerrt hat, uns gnädig sein!

DAS ERBE DER BARTONS

Wie Sie wissen, hat mich vor zwei Jahren ein schicksalshafter Brief erreicht, der mich erstmals aus den Armen meiner geliebten Rosabelle riss und mich zwang, Ihnen und Ihrer herzlichen Gastfreundschaft, die Sie mir so vorbehaltlos haben angedeihen lassen, den Rücken zu kehren. Diese Entscheidung fiel mir besonders schwer, da Rosabelle und ich uns einige Wochen zuvor mit Ihrer Zustimmung die Ehe versprochen hatten und ich es durch die Arbeit in Ihren Minen zu einem gewissen eigenen Vermögen gebracht hatte, weswegen unserer Hochzeit auch in dieser Hinsicht nichts mehr im Wege zu stehen schien.

Ich habe Ihnen gegenüber mit Sicherheit hin und wieder erwähnt, dass John Barton, mein Vater, hier in Amerika recht vermögend war. Im Lichte späterer Erkenntnisse denke ich jedoch, dass er viel mehr war als das. Tatsächlich verfügte er über beträchtliche Summen und ich glaube, dass er in den Jahren kurz vor seinem Tode, da er der Verwaltung seines immensen Vermögens im Geheimen nachging, auch einen nicht unerheblichen Einfluss auf den Haushalt des gesamten Staates hatte.

Und doch, ich gäbe alles, jeden einzelnen Cent des verfluchten Erbes meines Vaters hin – wenn mich doch bloß Periwinkles Brief nie erreicht hätte! Wenn ich doch Afrika und meine geliebte Blume nie verlassen hätte! Doch ach, es ist zu spät, viel zu spät für Reue.

Periwinkle war der Buchhalter meines Vaters gewesen und half mir später, die gewaltigen Gelder der Hinterlassenschaft zu verwalten (selbst ihn überraschte der tatsächliche Umfang des Vermächtnisses!). In seinem Brief blieb er äußerst vage, berichtete aber vom sich stetig verschlechternden Gesundheitszustand meines Vaters und deutete an, dass ihm möglicherweise nur noch wenige Tage blieben. Über die Ursachen oder Art der Krankheit schwieg er sich jedoch aus. Es schien beinahe, als befürchtete er, dass deren bloße Erwähnung mich von einem Besuche abhalten würde.

Glauben Sie mir, ich rang mehrere Tage mit einer Entscheidung, denn in Afrika und damit in Rosabelles Nähe zu sein, war mir wie das Paradies auf Erden. Mein Verlangen nach dem weitaus raueren Klima der Küste von Port und dort schließlich meinem Vater gegenüberzutreten, war dagegen mehr als gering. Dennoch empfand ich es als unangemessen, ja sogar unehrenhaft, meinem Vater die letzte Ehre zu verweigern, und erwarb schließlich ein Ticket für die Überfahrt in die Staaten. Zurück in das Land und zu jenem Menschen, von dem ich seit meiner Jugend fest geglaubt hatte, ihn nie wieder sehen zu müssen.

Mein Vater hatte mich verstoßen, das wissen Sie bereits – jedoch versäumte er es während der Tage meiner Wanderschaft und Abenteuer nie, mir finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen. Ich hatte ihn nie um das Geld gebeten, schrieb ihm kein einziges Mal – dennoch schien er stets zu wissen, wo ich mich gerade befand und wie er mich erreichen konnte. Heute glaube ich, einer seiner zahllosen Detektive folgte jedem meiner Schritte und berichtete ihm davon. Ja, ich bin sogar recht überzeugt davon. Und es waren diese Reisen und meine jugendliche Abenteuerlust, die mich letztlich zu Ihnen, in die Minen von Kimberley im Herzen Afrikas führten – und zu meiner geliebten Rosabelle.

Oh, es waren schmerzliche Worte, die wir zum Abschied wechselten, und wir gaben uns das Versprechen eines recht baldigen Wiedersehens. Wie Sie wissen, sollte es beinahe ein halbes Jahr dauern, bis ich Rosabelle tatsächlich wieder in die Arme schließen durfte, hier in Barton Hall, an dem kleinen Küstenstreifen, der dem wundervollen und ursprünglichen New Hampshire gegeben ist.

Und so kehrte ich nach über einem Jahrzehnt der Absenz zurück nach Barton Hall, dem Haus meiner Kindheit und frühen Jugend. Zurück in das Haus, das nie wieder zu betreten ich mir Tausende Male geschworen hatte. Und zurück zu meinem Vater, den ich hasste, als ich ging, und verachtete, als ich zurückkehrte. Heute glaube ich, dass dieser Hass und diese Verachtung zum Teil auf fehlendem Verständnis für die Gedankenwelt meines Vaters gefußt haben. Nur ausgemachte Narren würden sich der Illusion hingeben, die wir konventionelle Realität nennen, so sagte von Meyrinck einmal zu mir. Nun, heute bin ich kein solcher Narr mehr.

Und obwohl das ungnädige Schicksal mir nicht erlaubte, meinem Vater noch ein letztes Mal lebend zu begegnen, so vermachte er mir doch zwei Dinge durch seinen Tod. Eines davon ist das enorme Vermögen, das ich bereits erwähnte und das letztlich dabei geholfen hat, die Arbeit meines Vaters, seine Experimente und Forschungen, fortzusetzen. Das andere Vermächtnis ist zu einer starken Triebfeder meines Handelns geworden, zu einem Verlangen, so habe ich später herausgefunden, das tief in den Wurzeln meiner Ahnen, unser aller Ahnen begründet liegt. Mein Vater überreichte es mir durch Worte, die er in seinen letzten Minuten an andere richten musste.

Doch es war nicht nur das, was er sagte, sondern auch wie er es sagte, was mich noch immer bis in meine tiefsten Träume verfolgt. Es war etwas in dem angstvollen Blick seiner verlöschenden Augen, den mir Periwinkle später so eindringlich wie angewidert beschrieb – in dem Moment, als sie gänzlich brachen, hatten meines Vaters Augen etwas geschaut, wovor sie sich angstvoll weiteten und zurückzuweichen schienen. Dieses Etwas kann nur eines gewesen sein, wie ich heute weiß: die ewige Schwärze der Leere.

Das furchtbare Nichts, das nach dem Tode kommt.

PERIWINKLES BERICHT

Periwinkle, der Buchhalter, hatte mit meinem Vater in dessen letzten Jahren fast ausschließlich über ihre briefliche Korrespondenz kommuniziert und traf ihn daher erst wenige Tage vor dessen Tod erneut persönlich, als schon beinahe zwei Jahrzehnte zwischen diesem und ihrem letzten Treffen lagen.

Dabei hatte mein Vater ihn nicht etwa zu sich bestellt, weil er in dem Glauben war, seine irdische Zeit neige sich dem Ende zu. Vielmehr hatte er ihm geschrieben, er habe größere Geldgeschäfte zu tätigen und wünsche, Periwinkle in persona zu sehen, da ihm das Schreiben lästig sei. Er wollte wohl gewisse Dinge lieber von Angesicht zu Angesicht unter Ehrenmännern regeln – was durchaus Sinn ergab, wenn man um die Art und Weise wusste, auf die mein Vater seine Geldgeschäfte zu versehen pflegte.

Periwinkle war unverzüglich nach Barton Hall aufgebrochen, das in den Jahren seiner Abwesenheit von einem prächtigen Anwesen zu einem heruntergekommenen, finsteren und sehr einsamen Ort verfallen war – das Dach im Nordflügel wies etliche Löcher auf und der einst so blühende Garten war nun verwildert, Gräser und wilde Ranken überwucherten die Wege bis hinauf zu dem düsteren, schwarzen Koloss auf dem Hügel. Auch schien mein Vater sämtliches Personal bis auf Jarvis, seinen alten, stets etwas mürrischen Butler, entlassen zu haben. Der Buchhalter wunderte sich bei seinem Eintreffen ganz gewaltig ob dieser Absonderlichkeiten, konnten Geldsorgen doch nicht der Grund für diese seltsame Wandlung des Anwesens sein, wie er wohl wusste.

Doch nichts hätte den Buchhalter auf jenen Anblick vorbereiten können, der sich seinen Augen im Inneren von Barton Hall bot.

Mein Vater empfing den Buchhalter in seinem alten Studierzimmer, und sobald Jarvis dessen Türen öffnete, drangen farbig schimmernde und barbarisch stinkende Nebel daraus hervor, sodass der Buchhalter sich ein Taschentuch vor Mund und Nase halten musste und kaum die Hand vor Augen sah, während er sich blind, aber tapfer auf die Mitte des Zimmers zubewegte. Nachdem sich seine Augen an die schlechten Sichtverhältnisse durch die Nebel und Dämpfe gewöhnt hatten, gewahrte er eine Menge ausnehmend merkwürdiger Gestalten, welche ein längliches Gerät umstanden und leise murmelnd in den Seiten riesiger, alter Folianten raschelten, die sie auf mehrere Stehpulte in dem Raum verteilt hatten. Unter ihnen waren recht exotische Charaktere in wallenden schwarzen Gewändern und spitzen Hüten, andere in orangefarbenen Kitteln.

Periwinkle kämpfte sich hustend durch den Rauch bis zu einer länglichen Metallröhre, an der unzählige Schläuche, kleinere Röhren, Gerätschaften sowie ein großer Blasebalg angeschlossen waren. Die Orientalen, die das Zimmer mit dem Tubus übrigens nie verließen, erhitzten ölig glänzende Gemische in den kleineren Zylindern, bis ekle Schwaden giftiger Luft aus den blasigen Flüssigkeiten hervorbrachen, die sie mittels verschiedener Kolben in das Innere der Röhre einleiteten. Das gesamte Zirkulationssystem wurde von einem gewaltigen Blasebalg in Gang gehalten, den ein einzelner Mann nahezu ununterbrochen und ohne die geringsten Zeichen von Erschöpfung bediente. Diese Gestalt war komplett in ein schwarzes, mit aufgestickten Symbolen bedecktes Gewand gehüllt, sodass ihr Gesicht nicht zu erkennen war. Periwinkle meinte jedoch, sie sei auffallend dünn gewesen und die weiten Gewänder hätten von diesem Manne herabgehangen wie das Leichentuch von einem Totengerippe.

Währenddessen hielten die anderen verschiedene Kristalle und andere seltsame Fetische in die Luft und führten gewisse Tänze um den Tubus auf. Dies geschah scheinbar nach streng vorgeschriebenen Regeln und in bestimmten zeitlichen Zyklen, denn immer wieder unterbrachen die Tänzer ihre Bewegungen und hockten sich auf den Boden, so wie es unzivilisierte Wilde zu tun pflegen.

Aus dem Inneren der Röhre entwichen währenddessen in regelmäßigen Abständen eben jene zischenden Nebelschleier, die das gesamte Studierzimmer erfüllten.

Als er den Tubus in der Mitte des Zimmers schließlich erreicht hatte, vernahm der Buchhalter eine Stimme, die er nach einiger Zeit als die meines Vaters identifizierte, auch wenn sie nur verzerrt und seltsam leise an sein Ohr drang – es war kaum mehr als ein kraftloses Rascheln, das den Buchhalter auf ekelerregende Weise an das Zirpen von Insekten erinnerte, wie er mir später gestand.

»Hier unten, Periwinkle!«, wisperte diese Stimme.

Und dann machte der entsetzte Buchhalter die Quelle des Geräuschs aus: Es war tatsächlich mein Vater, dessen Körper zur Gänze in jenem seltsamen, Nebel produzierenden Glastubus steckte, und sein Gesicht war hinter einem dichten Schleier aus schwarzer Gaze nur in Umrissen zu erkennen. Als sich der Buchhalter hinabbeugte, um mit dem alten Barton zu sprechen, hielten die Fremden für kurze Zeit in ihrem Treiben inne und beobachteten den Buchhalter mit scheelen und vom Nebel geröteten Augen aus allen Ecken des Raumes. Sie schienen etwas ungeduldig und wollten ihr Werk an dem Tubus offenbar so schnell wie möglich fortsetzen.

»Heilsame Dämpfe«, erläuterte mein Vater dem Buchhalter und meinte damit scheinbar die bunten, schlierigen Nebel, die den Raum erfüllten. Und damit schien das Thema für ihn auch erledigt zu sein, denn fortan drehte sich ihre Unterhaltung ausschließlich um finanzielle Dinge. Das Sprechen bereitete meinem Vater erhebliche Mühe, und so stieß er seine Anweisungen weiterhin in jenem dünnen, insektenhaften Wispern hervor, das dem Buchhalter schon beim Nähertreten einen solchen Ekel bereitet hatte. Und dennoch hatten seine Worte nichts von ihrem üblichen Scharfsinn verloren, ja sie waren erfüllt von einer meinem Vater eigenen Genialität, wenn es um Finanzdinge ging. Dies führte dazu, dass Periwinkle seine erste These, mein Vater habe schlichtweg den Verstand verloren, bald wieder verwarf. Doch bald sollte sich ein viel schlimmerer Verdacht in seine Seele schleichen, und dieser, wie sich herausstellte, würde ihn nie wieder in Frieden lassen.

Wenige Minuten später torkelte Periwinkle hustend aus dem Studierzimmer heraus und begann sofort, die Anweisungen meines Vaters umzusetzen. Im Wesentlichen ging es dabei um verschiedene Anlagegeschäfte, die meinen Vater innerhalb kürzester Zeit zu einem noch vermögenderen Manne machen würden, als er es ohnehin schon war. Auf die Frage nach dem Zweck dieser Transaktionen hatte mein Vater nur kurz erwidert, es ginge darum, gewisse »absehbare Verluste« in künftigen Geschäften auszugleichen, hauptsächlich im Handel mit Gold.

Nach dieser äußerst nebulösen Erklärung stimmte mein Vater ein seltsames, in Husten übergehendes Kichern an, bei dem sich der Magen des Buchhalters schmerzhaft zusammenzog. Mein Vater brauchte erhebliche Mengen Geldes, soviel war dem Buchhalter klar. Nur, wozu?

So ging es mehrere Tage. Am Vormittag verlangte mein Vater, Periwinkle zu sehen, um ihm seine Anweisungen einzuflüstern, und den Rest des Tages verbrachte dieser in seinem Zimmer mit der Vorbereitung der entsprechenden Schriftstücke oder er setzte sich in die Bibliothek, die jedoch für seinen Geschmack nur wenig Erbauliches zu bieten hatte, wie er bald feststellte. Offenbar hatte mein Vater in den letzten Jahren auch hier einige Änderungen vorgenommen und recht eigensinnige Vorlieben entwickelt, mit denen der alte Buchhalter nur wenig anzufangen wusste.

Die Bediensteten hatten, bis auf den alten Butler Jarvis, bereits vor vielen Jahren das Haus verlassen. Auch Jarvis fühlte sich sichtlich unwohl angesichts der herumwuselnden Scharlatane, die in fremden Zungen murmelten und krächzten und sich niemals in Sprachen unterhielten, die Jarvis verstand – auch dann nicht, wenn sie mit meinem Vater sprachen. So griesgrämig und abweisend der Butler auch sein konnte, war Periwinkle doch froh, mit ihm zumindest einen einigermaßen zivilisierten Mann in diesem Hause zu haben, und Jarvis ging es wohl genauso. So sahen beide voller Abscheu, wie die Fremden bald hierhin, bald dorthin gingen, sich über die riesigen Folianten beugten und sich stundenlang in gedämpftem Tone mit meinem Vater unterhielten, während keiner von ihnen das Studierzimmer und damit die Umgebung dieser toxischen Dämpfe je auch nur für eine Sekunde verließ.

Sie waren, wie einmal mein Vater Periwinkle mit schwacher Stimme verriet, die ehrwürdigen Weisen vom Berge Leng, Periwinkle kamen sie jedoch eher wie eine Bande verschlagener Chinesen vor. Die Verblüffung des Buchhalters ob des seltsamen Hokuspokus in dem Raume muss meinem Vater einiges Amüsement bereitet haben, jedoch ließ er sich nie dazu herab, dem Buchhalter den Zweck der Röhre oder der seltsam gewandeten Fremden zu erklären, die ihm bis zur Stunde seines Todes nicht von der Seite wichen.

Den beiden, Periwinkle und dem alten Jarvis, muss von Beginn an klar gewesen sein, dass sich mein Vater mitnichten auf dem Weg der Besserung befand. Auch jedem anderen Manne hätte es keines weiteren Beweises bedurft, um jeden Zweifel hinfortzuwischen, dass es um seine geistige Gesundheit, wie auch um seine körperliche, nicht gut bestellt war. Dennoch wagte es Periwinkle nicht, sich dem Willen des mächtigen Patriarchen zu widersetzen, und glauben Sie mir, ich kann seine Entscheidung nur allzu gut nachvollziehen. Immerhin verbrachte ich sechzehn Jahre mit diesem Menschen unter einem Dach. Von Ärzten wollte dieser selbstverständlich nichts wissen, und er verbot es Jarvis und Periwinkle, das Zimmer zu lüften oder die Fremden in ihrem absonderlichen Treiben zu behindern. Auch war es ihnen ausdrücklich untersagt, den Boden zu reinigen, den die Fremden mit allerlei Zeichen und Symbolen bemalt hatten.

Die ganze Zeit über muss mein Vater selbst nicht die geringsten Zweifel an seiner baldigen Genesung gehegt haben. Vielleicht dachte er auch, dass er schon allein deshalb weiterleben würde, weil er es wünschte.

In diesen Tagen schrieb Periwinkle in seiner zunehmenden Verzweiflung heimlich jenen verhängnisvollen Brief an mich, und auch wenn er dies nie offen aussprach, so glaube ich, geschah es in der Hoffnung, ich würde meinen Vater gar entmündigen lassen, um ihn in ein Hospital einliefern zu können. Wenn dies stimmt, hat mein Vater bis zu seinem Tode nichts von meiner Rückkehr auf Barton Hall geahnt, und soweit es Periwinkle mitbekam, hat Barton sr. auch nur ein einziges Mal nach mir, seinem Sohne, verlangt – das war wenige Stunden vor seinem Tode.

Während es mit meinem Vater zu Ende ging, wedelten die dunkelhäutigen Fremden jedoch umso eifriger mit ihren Kristallen und langen, knotigen Stöcken in der Luft umher und erzeugten ihre stinkenden Dämpfe. Periwinkle, der inzwischen die Schrankbar in der Bibliothek entdeckt hatte und meist betrunken war, sah ihrem verschlagenen Treiben manchmal von der Tür aus zu. Er fühlte sich machtlos gegen den Einfluss derer, die er für nichts als Quacksalber und listige Scharlatane hielt, für arge Vernebler des Geistes meines Vaters.

Heute weiß ich, dass sein Geist nie klarer gewesen ist als in den Wochen seines Sterbens.

JOHN BARTONS TOD

Die seltsam schwache Stimme meines sterbenden Vaters, das feindselige Gebaren der merkwürdigen Fremden und die immer absonderlicher werdenden Veränderungen im Studierzimmer führten dazu, dass Periwinkle sich zunehmend in die Bibliothek zurückzog und sich alsbald intensiver mit dem dort vorhandenen Brandy zu beschäftigen begann als mit der Arbeit, die ihm angetragen worden war.

Die unrhythmisch auf- und abschwellenden Gesänge der Zauberer und Priester, denn um nichts anderes konnte es sich bei den Fremden handeln, verfolgten Periwinkle bis in sein Zimmer im entferntesten Winkel des Südflügels. Mehrere Male war er kurz davor, entnervt abzureisen, aber die auf jahrelanger Beziehung zu meinem Vater fußende Loyalität und die nicht unerheblichen Mengen Brandy, die ihm der gute Jarvis servierte, sorgten dafür, dass er blieb und hoffte, ich möge nur recht bald eintreffen und dem mysteriösen Treiben der Orientalen ein Ende setzen. Für den findigen Buchhalter bestand kein Zweifel daran, dass diese sich den geistigen Verfall meines Vaters zu Nutze machten und ihn in ein teuflisches Komplott verwickelt hatten. Das viele Geld aus den künftigen Goldgeschäften, so glaubte Periwinkle, benötigte mein Vater, um es später eben jenen Scharlatanen zu überlassen, während die ihn mit ihren Gasen und Dämpfen allmählich vergifteten. Doch John Barton, der zeitlebens ein ausgemachter Sturkopf war, wollte von Periwinkles Verdächtigungen nichts wissen.

»Bald, Periwinkle«, so pflegte mein Vater zu sagen, »werde ich diese wunderbare Maschine verlassen und wieder ganz der Alte sein. Mehr noch, ich werde ein Besserer sein als der, der ich war, bevor ich mich in diese himmlische Röhre begab. Und dann, Periwinkle, werde ich Ihre Dienste nicht mehr benötigen. Nie mehr.« Und dann kicherte er, auf seine alte, kranke Weise, bis ihm ein weiterer Hustenanfall die Luft nahm.

An jenem Tag brach der Geist meines Vaters zu seiner letzten Reise auf. So kam es, dass Periwinkle, mittlerweile nur noch ein einziges Nervenbündel, das Vermächtnis meines Vaters empfing, ein Vermächtnis, das dieser wohl für mich angedacht hatte. Mein Vater hatte den Buchhalter an jenem Abend rufen lassen und als dieser das Zimmer betrat, war ihm trotz seines angetrunkenen Zustands sofort klar, dass dies das Zimmer eines Todgeweihten sein musste. Die Orientalen hatten sich entlang der Wand aufgestellt und ihre starren Blicke auf den Tubus gerichtet, als warteten sie auf das Eintreffen eines bestimmten Ereignisses. Ihre Mienen waren bar jeder Regung oder Anteilnahme. Periwinkle gelang es nur mit Mühe, einen entsprechenden Kommentar ob ihrer Empfindungslosigkeit im Angesicht des Todes zu unterdrücken. Langsam ging er in die Mitte des Zimmers, wo mein Vater starr und unfähig zu jeder Bewegung in jenem Tubus lag. Seine Züge, so erinnerte sich Periwinkle, waren von einer nahezu hölzernen Starre und es gelang ihm kaum noch, die Lippen zu bewegen. Wenn er doch versuchte zu sprechen, war kaum mehr als ein unverständliches Nuscheln zu vernehmen. Seine Haut, die ihm nun eingefallen und dünn am Schädel klebte, war zudem von einem unnatürlichen Schimmer überzogen, wohl ein Resultat der Einwirkung durch die phosphoreszierenden Dämpfe.

Auch fehlte an jenem Abend die schwarze Gaze, die sonst seinen Blick verschleierte, und so konnte der Buchhalter ein letztes Mal in seine weit aufgerissenen Augen sehen. Dunkel, fast schwarz glommen sie fiebrig in der waberigen Schummrigkeit des von den üblen Dämpfen erfüllten Raumes, und nun, endlich, schien mein Vater zu begreifen, dass er sterben würde. Ein letztes Mal beugte sich Periwinkle hinab und vernahm jene Stimme, die er später als das Geräusch trockener, dürrer Äste beschrieb, wenn sie in stürmischen Nächten über die Fensterscheiben kratzten.

»Barton«, hub mein Vater an. Offenbar meinte er, mich, seinen Sohn, vor sich zu haben, »Robert, du musst mein Werk vollenden! Du musst das letzte Geheimnis ergründen und den Schlüssel finden. Du musst … « Dann brach seine Stimme und sank zu einem fast bedeutungslosen, öligen Knistern herab. »Das Blut!«, hauchte er schließlich nur noch schwach. »Etwas ... etwas ist falsch … mit der Zeit ... die Sterne ... Linie.« Der Rest ging in unverständlichen Lauten unter, bis er erneut verstummte und sein Geist zurück in die wirren Nebel sank, aus denen er sich ein letztes Mal erhoben hatte. An diesem Abend verstarb mein Vater, aber er sollte noch einmal sprechen. Jarvis verriet mir erst viel später und unter nicht unbeträchtlichem Einfluss exzellenten schottischen Whiskys, was tatsächlich seine letzten Worte gewesen waren.

Während Periwinkle sich im Anschluss an diese schrecklichen Szenen in seinem Zimmer einschloss und unter erheblichen Mühen versuchte, sich in den Schlaf zu trinken, stand Jarvis meinem Vater tapfer bei, bis zum Schluss. Es muss etwa Mitternacht gewesen sein, als mein Vater sich ein letztes Mal aufbäumte und aufgeregt gegen die Außenhülle des Tubus klopfte. Allem Anschein nach versuchte er in seinem Fieber endlich doch, das vermaledeite Gerät zu verlassen – das Gefühl des nahenden Todes hatte seinen Gliedern offenbar noch einmal die Kraft verliehen, die er in den besten Jahren seines Lebens besessen hatte.

Jarvis war herbeigeeilt, hatte die Orientalen beiseitegeschoben, die in stummer Andacht um den Tubus standen, und hörte meinen Vater mit furchtbarer, unmenschlicher Stimme aus dem Inneren des Tubus rufen:

»Da ist ... nichts! Gar Nichts!«

Daraufhin war er zurück in sein Kissen gesunken und endlich gestorben, zwei Tage bevor ich Barton Hall erreichte.

DIE BEERDIGUNG

Die Beerdigung meines Vaters war unprätentiös. Außer dem Pastor waren nur Jarvis, der angetrunkene Periwinkle sowie meine Wenigkeit anwesend. Nachdem wir Vater in der Familiengruft im Keller beerdigt hatten, machte sich der Pastor, so schnell es ging, wieder aus dem Staube. So kam es, dass wir den Leichenschmaus, oder vielmehr den lächerlichen Ersatz eines solchen, zu dritt im Speisesaal einnahmen. Schweigend und düster saßen wir dort, gleichsam den finsteren Mauern des Gebäudes, das uns umgab. Periwinkle schlief gegen sechs in seinem Sessel ein, nachdem er wiederum kräftig dem Alkohol zugesprochen hatte. Es war erbärmlich.

Obwohl ich erst am Vortage angekommen war, hatten sich die Anwesenden beeilt, meinen Vater zu bestatten, sodass ich nur einen kurzen Blick in den Sarg werfen konnte. Das Gesicht, in das ich blickte, glich kaum noch dem meines Vaters. Ich weiß noch, dass ich eine kleine Ewigkeit fassungslos vor dem Sarg gestanden hatte, bis ich endlich begriff oder mir zumindest vage dämmerte, dass tatsächlich er es war, der da tot vor mir lag. Alter und Trauer (ja, es musste die Trauer sein!) hatten tiefe Furchen in sein ausgemergeltes Gesicht gegraben, nur auf seiner Stirn spannte sich straff die ansonsten eingefallene Haut und dünne Strähnen schlohweißen Haares standen von seinem Haupte ab. Der Arzt hatte nur in aller Eile den Tod festgestellt und war dann ebenso rasch wieder verschwunden wie später der Pastor, und weder Jarvis noch Periwinkle sahen einen Grund, einen Bestatter hinzuzuziehen. Der stets praktisch veranlagte Jarvis nahm die letzte Ehre für meinen Vater also selbst in die Hand und schaffte die Leiche unter Mithilfe Periwinkles in die kühlen Räume des Kellergewölbes, von wo aus wir ihn später in die Gruft hinabtrugen.

Die Orientalen waren bereits am Morgen nach meines Vaters Tod, also einen Tag vor meinem Erscheinen, abgereist – oder vielmehr spurlos verschwunden. Weder Jarvis noch Periwinkle hatten mitbekommen, wann genau und auf welchem Wege sie das Haus verlassen hatten. Auch das Studierzimmer war, bis auf den Tubus selbst und ein paar Bücher, vollkommen leergeräumt. Da die Fremden keine weiteren Räume bewohnt hatten, gab es nun tatsächlich keinerlei Spuren mehr, dass sie jemals auf Barton Hall gewesen waren. Jarvis hatte gleich nach ihrer Abreise die Fenster weit aufgerissen und sämtliche Reste ihrer Verrichtungen mit großer Inbrunst zusammengefegt und dem Feuer überantwortet. So erfuhr ich nur durch Periwinkles Erzählungen von dem Gestank, der das Zimmer erfüllt hatte. Ich muss sagen, dass ich diesen Berichten nicht allzu viel Gewicht beimaß, da Periwinkle seinen Report mit einigermaßen schwerer Zunge vortrug. Ich fragte mich lediglich, wie ein derart vermögender Mann wie mein Vater auf die Idee verfallen konnte, einen Buchhalter zu beschäftigen, dessen Hauptaugenmerk viel eher auf Brandy als auf den üblichen Geschäften seiner Profession zu liegen schien. Es sollte dies jedoch bei Weitem nicht das einzige Rätsel in Bezug auf meinen Vater bleiben – und bei Weitem nicht das seltsamste.

Nachdem mir Periwinkle am nächsten Tage die Geschäftspapiere meines Vaters überantwortet hatte, reiste er ab und sein Aufbruch kann nur als überaus hastig bezeichnet werden.

DIE GESCHICHTE MEINES VATERS

Erlauben Sie mir, verehrter Schwiegervater, einen kurzen Bericht über das Leben meines Vaters abzugeben, soweit es mir bekannt ist. Da Sie ihn nie persönlich kennengelernt haben, scheint es mir angebracht zu Ihrem Verständnis des schwierigen Verhältnisses zwischen uns, ich bemühe mich jedoch, ihn kurz zu fassen und mich auf das Nötigste zu beschränken.

Die Vorfahren meines Vaters überquerten 1622 den Atlantik an Bord des Schiffes, welches auch die Herren Mason und Gorges aus England herüberbrachte. Der alte Barton erhielt von Mason einige Ländereien im südlichen New Hampshire als Grundbesitz, und diese waren immer noch in der Hand unserer Familie, als mein Vater den Besitz schließlich von seinem Vater erbte. In der Zwischenzeit war durch die Verpachtung des Landes an Bauern sowie gewinnträchtige Beteiligung an Handelsgeschäften mit Tabak und Zucker das Vermögen und der Landbesitz der Bartons weiter angewachsen – man kann sagen, dass sich damals beinahe der gesamte südliche Teil New Hampshires in der Hand der Familie Barton befand.

Auch blieben die Besitzungen meines Vaters nach Ende des Bürgerkrieges von den Revolten verarmter Bauern verschont, da bis zu seinem endgültigen Rückzug aus der Öffentlichkeit die Bartons allerorts in New Hampshire geachtet waren. Bereits einige Jahre zuvor hatte mein Vater sich in ein kleine Fleckchen Erde verliebt, das unweit der Stelle lag, an der seine Vorväter einst an Land gegangen waren. In den vierziger Jahren ließ er den Bau eines prächtigen Herrenhauses auf dem Hügel über der Stadt Port beginnen – Barton Hall, in das er sich schon bald zurückziehen sollte.

Inzwischen hatte er das beträchtliche Vermögen seiner Vorväter weiter gemehrt, war in Handelsgeschäfte bis nach New York verwickelt und vereinte unter seinem Namen riesige Mengen Grundbesitz. Der finanzielle Aufschwung der Familie Barton schien unaufhaltsam und nahm unter der Leitung Robert Bartons immer fantastischere Größenordnungen an.

Doch so sehr das Glück ihm in finanziellen Angelegenheiten auch gewogen sein mochte, so schwer traf ihn das Schicksal im Privaten. Gegen Ende der vierziger Jahre führten ihn Geschäftsreisen häufiger in den Staat New York, wo er Eliza, die Tochter eines aus Flandern stammenden Bankiers, kennenlernte. Dieser Mensch muss an Reichtum meinem Vater durchaus ebenbürtig gewesen sein und ihn an hartherziger Verbissenheit sogar noch um einiges übertroffen haben. Er legte dem jungen Glück meiner Eltern jeden erdenklichen Widerstand in den Weg, da er aus irgendeinem Grunde (ich habe nie erfahren, warum genau) meinen Vater als seiner Tochter nicht würdig empfand. Auf anhaltendes Drängen meines Vaters und Elizas, damals ein Mädchen von gerade siebzehn Jahren, stimmte er eines Tages dann doch zu. Ich weiß es nicht mit Bestimmtheit, vermute jedoch, dass mein Vater schließlich irgendein Druckmittel fand, um die Zustimmung zu erzwingen, zumindest wäre dies ganz nach seiner Art gewesen. Es gab eine Hochzeit von geradezu feudalem Prunk, bevor das junge Paar zu einer mehrwöchigen Flitterreise nach Europa aufbrach und sich anschließend zunächst im alten Wohnsitz zu Innswitch niederließ, da die Bauarbeiten an Barton Hall bei ihrer Rückkehr noch nicht zur Gänze abgeschlossen waren. Meine Mutter Eliza war zu dieser Zeit bereits schwanger mit mir und als ich neun Monate später geboren wurde, begann die Tragödie meines Vaters.

Meine Mutter verstarb während meiner Geburt und so wurde meinem Vater das einzige menschliche Wesen entrissen, das ihm, abgesehen von ihm selbst, etwas bedeutete, und ich weiß, dass er diesen Verlust nie ganz überwunden hat. Ich habe später das einzige Porträt, das mein Vater von seiner Frau aufbewahrt hat, gesehen und muss gestehen, dass ich von der Schönheit des jungen Mädchens tatsächlich überwältigt war, wenngleich es mir nicht gelang, einen emotionalen Bezug zu ihr als meiner Mutter herzustellen. Ich denke, dass ihr Verlust Auslöser war für alle dramatischen Ereignisse, die folgen sollten.

DIE MANIE DER BARTONS

Unmittelbar nach dem Tod meiner Mutter verließ mein Vater das Anwesen in Innswitch und zog in das mittlerweile fertiggestellte Haus in Port ein. Barton Hall hatte ein Tempel freudvoller Begegnungen und ein lebendiger Beweis seiner Liebe zu meiner Mutter werden sollen. Stattdessen wurde es zu einer Gruft, die die wenigen Seelen, die es beherbergte, in Freudlosigkeit gefangen hielt.

Ihr Tod führte zu einem großen Zerwürfnis zwischen meinem Vater und seinem Schwiegervater, der ihm ganz unumwunden die Schuld für das tragische Ereignis gab. Und mein Vater muss diese furchtbare Schuld ohne jeden Einspruch angenommen haben, denn er zog sich nahezu vollständig aus der Öffentlichkeit zurück. Auch bestand besagter Bankier unglaublicherweise auf die Herausgabe des Leichnams seiner Tochter, und mein Vater, nunmehr ein gebrochener Mann, kam auch dieser absurden Forderung widerstandslos nach.

In seinem Herzen jedoch hatte er bereits den wahren Schuldigen am Tod seiner geliebten Frau ausgemacht. Jener, mit dem er nun unter einem Dach zu leben gezwungen war und den er bald zu hassen begann wie nichts sonst auf der Welt: Mich, John Barton, seinen Sohn.

Aus der einzigen Liebe, die er nach dem Tod meiner Mutter noch zu empfinden imstande war, der zum Golde nämlich, wurde im Laufe der Jahre eine ans Manische grenzende Besessenheit. Zugleich wurde ihm der Anblick fremder Menschen absolut unerträglich, beinahe so unerträglich wie der meinige. Als Kind habe ich nicht verstanden, warum ich meinen Vater in all den Jahren kaum zu Gesicht bekam, aber an meiner Liebe zu ihm änderte es nichts.

Ich bewunderte ihn von Ferne wie einen unerreichbaren Gott, während das Kindermädchen und das Hauspersonal meine täglichen Spielgefährten waren. Andere Kinder in meinem Alter traf ich nie und auch darüber wunderte ich mich nicht weiter. Später jedoch, als ich langsam zum Manne wurde und das Abnormale meiner Erziehung zu begreifen imstande war, schmerzte mich die Abscheu umso mehr, die mein Vater für mich empfand. Ich weiß noch, dass er Wochen und Monate in seinem Studierzimmer verbracht hat, ohne dass ich ihn während dieser Zeit mehr als nur flüchtig zu Gesicht bekam.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739338880
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Februar)
Schlagworte
gespenst drama geister beschwörung gothic horror mystery Thriller spukhaus rituale Krimi Spannung Horror

Autor

  • L.C. Frey (Autor:in)

Mit über 1.5 Millionen verkauften Büchern ist Alex Pohl alias L.C. Frey einer der meistgelesenen Autoren Deutschlands. Er ist außerdem eine Hälfte des erfolgreichen Bestseller-Autorenduos Oliver Moros, sowie Co-Autor des Nr.1-SPIEGEL-Bestsellers “Abgefackelt” von Michael Tsokos. L.C. Freys Schreibratgeber ‘STORY TURBO: Besser schreiben mit System‘ gilt als das deutschsprachige Standardwerk für moderne Autorinnen und Autoren. Der Autor lebt und arbeitet in Leipzig.
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Titel: Das Geheimnis von Barton Hall