Periwinkle, der Buchhalter, hatte mit meinem Vater in dessen letzten Jahren fast ausschließlich über ihre briefliche Korrespondenz kommuniziert und traf ihn daher erst wenige Tage vor dessen Tod erneut persönlich, als schon beinahe zwei Jahrzehnte zwischen diesem und ihrem letzten Treffen lagen.
Dabei hatte mein Vater ihn nicht etwa zu sich bestellt, weil er in dem Glauben war, seine irdische Zeit neige sich dem Ende zu. Vielmehr hatte er ihm geschrieben, er habe größere Geldgeschäfte zu tätigen und wünsche, Periwinkle in persona zu sehen, da ihm das Schreiben lästig sei. Er wollte wohl gewisse Dinge lieber von Angesicht zu Angesicht unter Ehrenmännern regeln – was durchaus Sinn ergab, wenn man um die Art und Weise wusste, auf die mein Vater seine Geldgeschäfte zu versehen pflegte.
Periwinkle war unverzüglich nach Barton Hall aufgebrochen, das in den Jahren seiner Abwesenheit von einem prächtigen Anwesen zu einem heruntergekommenen, finsteren und sehr einsamen Ort verfallen war – das Dach im Nordflügel wies etliche Löcher auf und der einst so blühende Garten war nun verwildert, Gräser und wilde Ranken überwucherten die Wege bis hinauf zu dem düsteren, schwarzen Koloss auf dem Hügel. Auch schien mein Vater sämtliches Personal bis auf Jarvis, seinen alten, stets etwas mürrischen Butler, entlassen zu haben. Der Buchhalter wunderte sich bei seinem Eintreffen ganz gewaltig ob dieser Absonderlichkeiten, konnten Geldsorgen doch nicht der Grund für diese seltsame Wandlung des Anwesens sein, wie er wohl wusste.
Doch nichts hätte den Buchhalter auf jenen Anblick vorbereiten können, der sich seinen Augen im Inneren von Barton Hall bot.
Mein Vater empfing den Buchhalter in seinem alten Studierzimmer, und sobald Jarvis dessen Türen öffnete, drangen farbig schimmernde und barbarisch stinkende Nebel daraus hervor, sodass der Buchhalter sich ein Taschentuch vor Mund und Nase halten musste und kaum die Hand vor Augen sah, während er sich blind, aber tapfer auf die Mitte des Zimmers zubewegte. Nachdem sich seine Augen an die schlechten Sichtverhältnisse durch die Nebel und Dämpfe gewöhnt hatten, gewahrte er eine Menge ausnehmend merkwürdiger Gestalten, welche ein längliches Gerät umstanden und leise murmelnd in den Seiten riesiger, alter Folianten raschelten, die sie auf mehrere Stehpulte in dem Raum verteilt hatten. Unter ihnen waren recht exotische Charaktere in wallenden schwarzen Gewändern und spitzen Hüten, andere in orangefarbenen Kitteln.
Periwinkle kämpfte sich hustend durch den Rauch bis zu einer länglichen Metallröhre, an der unzählige Schläuche, kleinere Röhren, Gerätschaften sowie ein großer Blasebalg angeschlossen waren. Die Orientalen, die das Zimmer mit dem Tubus übrigens nie verließen, erhitzten ölig glänzende Gemische in den kleineren Zylindern, bis ekle Schwaden giftiger Luft aus den blasigen Flüssigkeiten hervorbrachen, die sie mittels verschiedener Kolben in das Innere der Röhre einleiteten. Das gesamte Zirkulationssystem wurde von einem gewaltigen Blasebalg in Gang gehalten, den ein einzelner Mann nahezu ununterbrochen und ohne die geringsten Zeichen von Erschöpfung bediente. Diese Gestalt war komplett in ein schwarzes, mit aufgestickten Symbolen bedecktes Gewand gehüllt, sodass ihr Gesicht nicht zu erkennen war. Periwinkle meinte jedoch, sie sei auffallend dünn gewesen und die weiten Gewänder hätten von diesem Manne herabgehangen wie das Leichentuch von einem Totengerippe.
Währenddessen hielten die anderen verschiedene Kristalle und andere seltsame Fetische in die Luft und führten gewisse Tänze um den Tubus auf. Dies geschah scheinbar nach streng vorgeschriebenen Regeln und in bestimmten zeitlichen Zyklen, denn immer wieder unterbrachen die Tänzer ihre Bewegungen und hockten sich auf den Boden, so wie es unzivilisierte Wilde zu tun pflegen.
Aus dem Inneren der Röhre entwichen währenddessen in regelmäßigen Abständen eben jene zischenden Nebelschleier, die das gesamte Studierzimmer erfüllten.
Als er den Tubus in der Mitte des Zimmers schließlich erreicht hatte, vernahm der Buchhalter eine Stimme, die er nach einiger Zeit als die meines Vaters identifizierte, auch wenn sie nur verzerrt und seltsam leise an sein Ohr drang – es war kaum mehr als ein kraftloses Rascheln, das den Buchhalter auf ekelerregende Weise an das Zirpen von Insekten erinnerte, wie er mir später gestand.
»Hier unten, Periwinkle!«, wisperte diese Stimme.
Und dann machte der entsetzte Buchhalter die Quelle des Geräuschs aus: Es war tatsächlich mein Vater, dessen Körper zur Gänze in jenem seltsamen, Nebel produzierenden Glastubus steckte, und sein Gesicht war hinter einem dichten Schleier aus schwarzer Gaze nur in Umrissen zu erkennen. Als sich der Buchhalter hinabbeugte, um mit dem alten Barton zu sprechen, hielten die Fremden für kurze Zeit in ihrem Treiben inne und beobachteten den Buchhalter mit scheelen und vom Nebel geröteten Augen aus allen Ecken des Raumes. Sie schienen etwas ungeduldig und wollten ihr Werk an dem Tubus offenbar so schnell wie möglich fortsetzen.
»Heilsame Dämpfe«, erläuterte mein Vater dem Buchhalter und meinte damit scheinbar die bunten, schlierigen Nebel, die den Raum erfüllten. Und damit schien das Thema für ihn auch erledigt zu sein, denn fortan drehte sich ihre Unterhaltung ausschließlich um finanzielle Dinge. Das Sprechen bereitete meinem Vater erhebliche Mühe, und so stieß er seine Anweisungen weiterhin in jenem dünnen, insektenhaften Wispern hervor, das dem Buchhalter schon beim Nähertreten einen solchen Ekel bereitet hatte. Und dennoch hatten seine Worte nichts von ihrem üblichen Scharfsinn verloren, ja sie waren erfüllt von einer meinem Vater eigenen Genialität, wenn es um Finanzdinge ging. Dies führte dazu, dass Periwinkle seine erste These, mein Vater habe schlichtweg den Verstand verloren, bald wieder verwarf. Doch bald sollte sich ein viel schlimmerer Verdacht in seine Seele schleichen, und dieser, wie sich herausstellte, würde ihn nie wieder in Frieden lassen.
Wenige Minuten später torkelte Periwinkle hustend aus dem Studierzimmer heraus und begann sofort, die Anweisungen meines Vaters umzusetzen. Im Wesentlichen ging es dabei um verschiedene Anlagegeschäfte, die meinen Vater innerhalb kürzester Zeit zu einem noch vermögenderen Manne machen würden, als er es ohnehin schon war. Auf die Frage nach dem Zweck dieser Transaktionen hatte mein Vater nur kurz erwidert, es ginge darum, gewisse »absehbare Verluste« in künftigen Geschäften auszugleichen, hauptsächlich im Handel mit Gold.
Nach dieser äußerst nebulösen Erklärung stimmte mein Vater ein seltsames, in Husten übergehendes Kichern an, bei dem sich der Magen des Buchhalters schmerzhaft zusammenzog. Mein Vater brauchte erhebliche Mengen Geldes, soviel war dem Buchhalter klar. Nur, wozu?
So ging es mehrere Tage. Am Vormittag verlangte mein Vater, Periwinkle zu sehen, um ihm seine Anweisungen einzuflüstern, und den Rest des Tages verbrachte dieser in seinem Zimmer mit der Vorbereitung der entsprechenden Schriftstücke oder er setzte sich in die Bibliothek, die jedoch für seinen Geschmack nur wenig Erbauliches zu bieten hatte, wie er bald feststellte. Offenbar hatte mein Vater in den letzten Jahren auch hier einige Änderungen vorgenommen und recht eigensinnige Vorlieben entwickelt, mit denen der alte Buchhalter nur wenig anzufangen wusste.
Die Bediensteten hatten, bis auf den alten Butler Jarvis, bereits vor vielen Jahren das Haus verlassen. Auch Jarvis fühlte sich sichtlich unwohl angesichts der herumwuselnden Scharlatane, die in fremden Zungen murmelten und krächzten und sich niemals in Sprachen unterhielten, die Jarvis verstand – auch dann nicht, wenn sie mit meinem Vater sprachen. So griesgrämig und abweisend der Butler auch sein konnte, war Periwinkle doch froh, mit ihm zumindest einen einigermaßen zivilisierten Mann in diesem Hause zu haben, und Jarvis ging es wohl genauso. So sahen beide voller Abscheu, wie die Fremden bald hierhin, bald dorthin gingen, sich über die riesigen Folianten beugten und sich stundenlang in gedämpftem Tone mit meinem Vater unterhielten, während keiner von ihnen das Studierzimmer und damit die Umgebung dieser toxischen Dämpfe je auch nur für eine Sekunde verließ.
Sie waren, wie einmal mein Vater Periwinkle mit schwacher Stimme verriet, die ehrwürdigen Weisen vom Berge Leng, Periwinkle kamen sie jedoch eher wie eine Bande verschlagener Chinesen vor. Die Verblüffung des Buchhalters ob des seltsamen Hokuspokus in dem Raume muss meinem Vater einiges Amüsement bereitet haben, jedoch ließ er sich nie dazu herab, dem Buchhalter den Zweck der Röhre oder der seltsam gewandeten Fremden zu erklären, die ihm bis zur Stunde seines Todes nicht von der Seite wichen.
Den beiden, Periwinkle und dem alten Jarvis, muss von Beginn an klar gewesen sein, dass sich mein Vater mitnichten auf dem Weg der Besserung befand. Auch jedem anderen Manne hätte es keines weiteren Beweises bedurft, um jeden Zweifel hinfortzuwischen, dass es um seine geistige Gesundheit, wie auch um seine körperliche, nicht gut bestellt war. Dennoch wagte es Periwinkle nicht, sich dem Willen des mächtigen Patriarchen zu widersetzen, und glauben Sie mir, ich kann seine Entscheidung nur allzu gut nachvollziehen. Immerhin verbrachte ich sechzehn Jahre mit diesem Menschen unter einem Dach. Von Ärzten wollte dieser selbstverständlich nichts wissen, und er verbot es Jarvis und Periwinkle, das Zimmer zu lüften oder die Fremden in ihrem absonderlichen Treiben zu behindern. Auch war es ihnen ausdrücklich untersagt, den Boden zu reinigen, den die Fremden mit allerlei Zeichen und Symbolen bemalt hatten.
Die ganze Zeit über muss mein Vater selbst nicht die geringsten Zweifel an seiner baldigen Genesung gehegt haben. Vielleicht dachte er auch, dass er schon allein deshalb weiterleben würde, weil er es wünschte.
In diesen Tagen schrieb Periwinkle in seiner zunehmenden Verzweiflung heimlich jenen verhängnisvollen Brief an mich, und auch wenn er dies nie offen aussprach, so glaube ich, geschah es in der Hoffnung, ich würde meinen Vater gar entmündigen lassen, um ihn in ein Hospital einliefern zu können. Wenn dies stimmt, hat mein Vater bis zu seinem Tode nichts von meiner Rückkehr auf Barton Hall geahnt, und soweit es Periwinkle mitbekam, hat Barton sr. auch nur ein einziges Mal nach mir, seinem Sohne, verlangt – das war wenige Stunden vor seinem Tode.
Während es mit meinem Vater zu Ende ging, wedelten die dunkelhäutigen Fremden jedoch umso eifriger mit ihren Kristallen und langen, knotigen Stöcken in der Luft umher und erzeugten ihre stinkenden Dämpfe. Periwinkle, der inzwischen die Schrankbar in der Bibliothek entdeckt hatte und meist betrunken war, sah ihrem verschlagenen Treiben manchmal von der Tür aus zu. Er fühlte sich machtlos gegen den Einfluss derer, die er für nichts als Quacksalber und listige Scharlatane hielt, für arge Vernebler des Geistes meines Vaters.
Heute weiß ich, dass sein Geist nie klarer gewesen ist als in den Wochen seines Sterbens.