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Prophezeiung

Die letzte Generation

von Melanie Baumann (Autor:in)
479 Seiten
Reihe: Prophezeiung, Band 1

Zusammenfassung

Nachdem Sophie den mysteriösen und gut aussehenden Akira zum ersten Mal gesehen hat, ist sie von ihm und seinen grauen Augen fasziniert. Er strahlt etwas gefährliches aus, was sie magisch anzuziehen scheint und so sehr sie auch versucht sich von ihm fernzuhalten, kommt sie nicht gegen die unsichtbare Verbindung an, die sie immer wieder zueinander führt. Von Träumen heimgesucht, die sie nicht einordnen kann, stürzt sie sich mit ihren Freunden in ein unbekanntes Abenteuer, um die Welt so wie wir sie heute kennen zu retten, doch wird sie es schaffen?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Kapitel 1

Der Bass hämmert in meinen Ohren. Überall quetschen sich fremde Leute an mir vorbei und immer wieder springe ich in die Höhe. Ich habe Mühe, meine Begleitung im Blick zu behalten, damit sie mir nicht verloren geht. Das Licht ist schummrig und in unbestimmten Abständen strahlt mir ein greller Scheinwerfer ins Gesicht.

Wieso habe ich mich nur zu diesem Abend überreden lassen?

Vor drei Stunden saß ich gemütlich auf dem Bett und habe die Nase in ein Buch gesteckt. Was danach kam, ist nur als Hurrikan „Tamara“ zu bezeichnen. Meine beste Freundin, Tamara Bryte, hat mich überfallen und zum Ausgehen genötigt.

Ihre Schwester Ella ist soeben an der Theke angekommen und bestellt charmant unsere Getränke. Normalerweise ist hier nicht viel los, doch heute scheinen sich alle im einzigen Club weit und breit aufzuhalten.

„Was ist mit Tami? Warten wir nicht auf sie?“, brülle ich ihr ins Ohr, nachdem ich sie erreicht habe. Kurz nach dem Einlass habe ich meine beste Freundin aus den Augen verloren. Sie hat sich auf ein ausschweifendes Gespräch mit einem der Türsteher eingelassen, und bisher ist sie nicht wieder aufgetaucht.

„Nein, wir holen uns was zu trinken und treffen sie später auf der Tanzfläche. Nimm mal“, fordert sie mich auf und zwängt mir einen halben Liter Erdbeeredaiquiri mit Glitzerpalme und Strohhalm zwischen die Finger. Verdattert halte ich das Glas in den Händen und schaue sie mit großen Augen an.

„Was soll ich damit?“

„Trinken. Was sonst? Komm, lass uns einen Platz suchen, von dem wir die Lage auskundschaften können. Ich habe bereits ein paar Sahneschnitten entdeckt.“ Sie zwinkert mir vielsagend entgegen und übernimmt die Führung.

„Ich? Was? Ella, ich trinke nichts. Du weißt, dass ich keinen Alkohol vertrage“, rufe ich mit und folge ihr.

„Ich habe aufgepasst, es ist kaum was drin. Probier mal, schmeckt megalecker“, brüllt sie über die Schulter und schließt die Lippen um ihren Strohhalm.

Meinem Schicksal ergebend, nippe ich an dem Getränk und keuche kurz darauf auf. Das Gebräu ist lecker, da hat sie recht, aber es hat ein paar mehr Umdrehungen, als sie mir weiß machen will.

Besser, ich halte mich zurück, um nicht in einer halben Stunde total betrunken zu sein.

„Hast du zufällig den Typen von vorhin gesehen? Der war echt heiß.“

„Wen meinst du?“

„Na dem vom Eingang. Der an uns vorbei ist. Der wäre was.“ Ich verdrehe die Augen. Seit der Trennung von ihrem Freund ist sie auf der Suche nach „Ablenkung“. Als wir in der Warteschlange vor dem Club standen, ist ein fremder Kerl gegen uns gestoßen. Mit rudernden Armen bin ich in der Gruppe hinter mir gelandet, derweil er mit einem knappen „sorry“ an uns vorbeigezogen ist.

Sie kann nie und nimmer diesen ungehobelten Klotz meinen. Mir tut das Mädchen, auf dessen Fuß ich getreten bin, immer noch leid.

„Du meinst nicht den, der uns geschubst hat, oder?“, frage ich entrüstet.

„Genau den.“ Sie lächelt wie eine nimmersatte Gottesanbeterin und mein Mund klappt auf.

„Bei dem Verhalten suchst du dir lieber jemand anderen. Ich glaube kaum, dass der nett ist“, kommentiere ich leiser, doch sie scheint mich trotz der Lautstärke verstanden zu haben.

„Wieso? Ich brauche niemanden, der nett ist. Ich bin nicht auf eine Beziehung aus, sondern auf Ablenkung. Mensch sind hier viele Leute“, stellt sie fest und ich sehe mich um.

Die Menschen stehen dicht gedrängt und selbst auf der Tanzfläche ist es kaum möglich, sich zu bewegen.

„Da drüben ist ein freier Platz. Los komm“, ruft sie und ich trotte ihr hinterher, wobei ich mich frage, wo sie das freie Plätzchen entdeckt haben will. An besagtem Ort stehen ein paar Fremde, die ihre Blicke über die Massen schweifen lassen.

Na, das war garantiert kein Zufall.

Ella flirtet uns in Windeseile zwei Hocker am Tisch frei und ich stöhne innerlich auf. Tamara, wo bist du nur?

Unauffällig mustere ich die beiden Fremden und muss zugeben, dass sie bei Weitem nicht aussehen wie das übliche Publikum. Sie sehen sich verdammt ähnlich. Brüder? Vielleicht sogar Zwillinge?

Der Auserkorene, den Bryte bezirzt, hat eine dunkle Mähne, die ihm bis zu den Ohren reicht, und warme, braune Augen, die mich an Hundewelpen erinnern. Er ist von der drahtigen Sorte und ich wette, dass er ein guter Läufer ist.

Der andere hat kurzes, schwarzes Haar und anhand seiner muskulösen Statur und dem breiten Rücken gehe ich davon aus, dass auch er ziemlich oft trainiert. Seine Augen wirken durch die blaugraue Farbe ein wenig kälter. Im Gegensatz zu seinem Begleiter zeigt er keinerlei Interesse an Ella oder mir. Er starrt stur auf die Tanzfläche und macht nicht den Eindruck, als sei er an einer Unterhaltung interessiert. Was bei dem Krach ohnehin nicht funktionieren würde.

Die Augen seines Kollegen leuchten bei Ellas Anblick und er hängt förmlich an ihren Lippen. Sie beugt sich ein Stück nach vorn und ich befürchte, dass er gleich sabbert.

Ella ist eine dralle Blondine und weiß, wie sie ihre Kurven gekonnt einsetzt. Genervt wende ich mich ab und bete, dass Tami endlich auftaucht.

Ich bin hier so was von überflüssig.

Unbemerkt gleite ich von meinem Platz und suche in der Masse an Menschen nach meiner Freundin. Ich habe keine Chance.

Es sind einfach zu viele. Ungewollt schnappe ich Wortfetzen von Ellas neuer Errungenschaft auf und spitze die Ohren.

„Austauschklasse“, brüllt er, gefolgt von „Schottland – Internat.“

Und dann haben sie die Kerle ausgerechnet hierher geschickt?

Neugierig drehe ich mich ein bisschen zu ihnen um und beobachte, wie sie ihn anschmachtet, als wäre er die Kirsche auf dem Eisbecher.

„Nächste Woche … Schule. Heute … Spaß“, dringen weitere Worte an meine Ohren und ich ziehe eine Augenbraue in die Höhe.

Ist ihr Shirt nach unten gerutscht, oder war ihr Ausschnitt vorhin auch so tief?

Ich kann mir das nicht weiter mit ansehen.

Mit einem kräftigen Zug leere ich den Inhalt meines Glases und drücke es dem stummen Typen neben mir in die Hand. Er sieht mich irritiert an, doch ich ignoriere ihn und verschwinde kurzerhand in der wogenden Menge. Die Wirkung des Alkohols macht sich bemerkbar. Ich vergesse den Gedanken, dass der Junge bei Ella ungewöhnlich gut Deutsch gesprochen hat, während ich mit den Füßen im Takt des Liedes wippe. Es dauert nur wenige Sekunden, bis ich mich zum Beat der Musik bewege und alles um mich herum ausblende. Sagt ja niemand, dass ich auf meiner Suche nicht ein bisschen Spaß haben darf.

Auch wenn der sich grundlegend von Ellas freudigen Erwartungen unterscheidet.

Mittlerweile bin ich von tanzenden Leibern umgeben und je mehr ich mich bewege, umso wärmer wird es. Ein feiner Schweißfilm liegt auf meiner Haut und meine Kehle fühlt sich trocken an.

Ich brauche dringend etwas Kaltes zu trinken.

Mit den Ellenbogen bahne ich mir einen Weg aus der Masse und steure die nächste Bar an. Die Chancen auf ein Wasser schwinden rapide, sobald ich an der Theke stehe und von durstigen Menschen umzingelt werde. Ein Wirrwarr aus Bestellungen schallt um mich herum und nach ein paar vergeblichen Versuchen, die Aufmerksamkeit des Barkeepers zu erlangen, kehre ich um. Ohne lange zu überlegen, marschiere ich in Richtung des ruhigeren Ü-30 Bereich.

Am besten, ich kürze über die Empore ab.

Kaum habe ich mich in Bewegung gesetzt, jagt mir ein Schauer über den Körper und meine Nackenhaare richten sich auf. Ich habe das Gefühl, beobachtet zu werden. Eilig wirble ich mit dem Kopf von einer Seite auf die andere und meine Augen gleiten dabei über die Menschen. Verunsichert drehe ich mich auf der Stelle, doch es ist niemand zu finden, der Notiz von mir nimmt. Moment mal, ist das nicht Tamara? Die langen braunen Haare in Verbindung mit meinem schwarzen Top würde ich überall wiedererkennen. Wobei sie mit ihren 1,75 m kaum zu übersehen ist.

Wer ist dort bei ihr?

Vergessen ist das unangenehme Gefühl und die Neugierde übernimmt. Mit großen Schritten halte ich auf meine Freundin zu und winke, damit sie mich erkennt. Es scheint ein spannendes Gespräch zu sein, das sie und der Fremde führen. Ich habe mich bereits auf einen halben Meter genähert und sie nimmt noch immer keinerlei Notiz von mir.

Der blondhaarige Kerl ihr gegenüber ist ein klein wenig größer als meine Freundin und hat mir den Rücken zugewandt. Ich habe ihn noch nie gesehen. Entweder gehört er ebenfalls zu dieser Austauschklasse, oder hier ist ein Nest an fremden Jungs. Von hinten klopfe ich der untreuen Seele auf die Schulter, damit sie mich bemerkt, und sie zuckt erschrocken zusammen.

„Sophiiiee“ zieht sie meinen Namen mit schriller Stimme in die Länge, während sie sich zu mir dreht. Meine Brauen wandern in die Höhe.

„Was machst du denn hier? Ich dachte, Ella ist bei dir und ihr sucht euch ein paar …“, setzt sie ertappt an, verstummt jedoch schlagartig, sobald sie einen Blick auf den Jungen neben sich wirft.

„Ich habe dich gesucht. Wo warst du? Und wer ist das? Stellst du mich nicht vor?“, will ich wissen. Unauffällig beäuge ich den Fremden.

„Äh ja. Sophie, das ist Max, also Maxwell. Er ist hier mit seiner Klasse, einer Austauschklasse aus Schottland“, stammelt sie nervös. Natürlich gehört er dazu.

Ich hebe meinen Mundwinkel in die Höhe und runzle die Stirn. Immer wieder suche ich ihren Blick, doch sie weicht mir aus.

Was hat sie für ein Problem?

„Schön dich kennenzulernen Max, ich bin Sophie“, nehme ich die Sache selbst in die Hand und lächle ihm freundlich entgegen.

Anscheinend hat meine Freundin ihren Anstand vergessen. Warum stellt sie mich nicht vor?

Es ist nicht ihre Art, mir neue Bekanntschaften zu verschweigen.

„Tami, alles klar?“

Sie wirkt von Sekunde zu Sekunde nervöser, also sehe ich sie mir genauer an. Leicht gerötete Wangen, große sehnsuchtsvolle Augen, geschwollener Mund. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, sie hat bis vor wenigen Augenblicken an seinen Lippen gehangen.

Moment.

Langsam mustere ich den Mann an ihrer Seite und erkenne ebensolche Merkmale.

„Was ist hier los?“ Fassungslos reiße ich die Augen auf. Ich kann nicht anders als ungläubig zwischen ihnen hin und her zuschauen.

Maxwell lächelt leicht verlegen, während sie weiterhin beschämt meinem Blick ausweicht.

„Tamara? Seit wann kennt ihr euch? Was ist mit Michael?“, stoße ich aus und ziehe meine Stirn in Falten. Vielleicht verstehe ich das alles falsch. Wahrscheinlich ist es ganz anders.

Gut möglich, dass sie ebenfalls Single ist und vergessen hat es mir zu sagen.

„Komm runter und mach nicht so eine Welle. Das hat nichts mit dir zu tun. Wir reden später darüber in Ordnung?“ Ihre Worte sind wie Schläge in die Magengrube und ich weiche entsetzt einen Schritt nach hinten aus.

Ähm ... Nein, definitiv nicht falsch verstanden. Sie hat nicht vergessen, mir zu sagen, dass sie sich getrennt hat, weil das eben nicht geschehen ist.

Wie kann sie nur?

Ohne ihr zu antworten, drehe ich mich auf dem Absatz um und verschwinde, so schnell mich meine Beine tragen. Alles fühlt sich plötzlich falsch an. Die Menschen, die Musik, die Lichter, meine beste Freundin.

Ich fasse es nicht.

Ella und der Fremde vernaschen einander, als ich auf wackeligen Beinen an dem Tisch vorbeikomme. Für einen kleinen Augenblick lege ich verzweifelt den Kopf in den Nacken und atme tief durch.

Wie soll ich jetzt nach Hause kommen?

Ganz toll. Ehrlich, ganz toll. Wäre ich bloß nie mitgegangen. Ich schließe meine Augen und ignoriere die Menschen um mich herum. Ich brauche einen Plan.

Was jetzt? Bleiben oder verschwinden?

Erst hole ich mir etwas zu trinken, dann entscheide ich, was der nächste Schritt ist. Sobald sich diese Gedanken manifestiert haben, bringen mich meine Beine fast automatisch zum leiseren Ü-30 Bereich. Die Musik in diesem Teil des Clubs ist um einige Dezibel nach unten gedreht, wobei von ruhig nicht die Rede sein kann. Helene Fischer erklärt gerade, dass sie Atemprobleme hat und allmählich breitet sich ein dumpfes Klopfen in meinen Schädel aus. Welche Freude.

Ein paar Leute stehen vereinzelt um die Theke verteilt und halten sich an ihrem Bier fest. Sobald ich ein Wasser in den Händen habe, spüle ich es meine Kehle hinunter und beschließe, nicht auf die Schwestern zu warten. Ich stelle das Glas mit eisernen Griff auf den Tresen und schlagartig wird mir kalt. Ich umklammere den Becher so fest, dass sich die Fingerknöchel weiß verfärben. Mein Herz hämmert unkontrolliert von innen gegen meine Brust.

Da ist es wieder das Gefühl, beschattet zu werden.

Schnell drehe ich mich um und beobachte meine Umgebung genauer. Alles wirkt normal. Tanzende und plaudernde Grüppchen oder Pärchen, die mir keinerlei Beachtung schenken. Zitternd stoße ich die Luft aus, als ich ihn sehe.

Da in der Ecke, rechts neben mir.

Wow, was für ein Anblick.

Ich schaue in das schönste Grau, welches ich je gesehen habe. Einzig seine Augen ziehen mich in ihren Bann, alles darum liegt im Schatten.

Wo ist er auf einmal hergekommen?

Erschrocken blinzle ich mehrmals und halte die Luft an. Sobald ich mich wieder auf die Stelle konzentriere, ist dort nichts mehr. Niemand.

Bekomme ich Halluzinationen? Irritiert schaue ich mich um, doch nirgendwo entdecke ich graue Augen. Verwirrt schüttle ich meinen Kopf und lasse den Blick ein letztes Mal durch den Raum schweifen, ehe ich mich auf dem Weg nach draußen begebe.

Ich dränge mich durch die Massen und kurz bevor ich den Ausgang erreiche, schiebt sich ein Kerl der Sorte „Never ever“ vor mich und grinst schmierig.

„Na Schönhait, wo wolln wir denn hin?“, lallt er. Die Fahne, welche zu mir weht, verursacht Übelkeit. Ich stoße die Luft aus, um gegen das Gefühl anzukämpfen.

Meiner Erfahrung nach beachtet man solche Männer nicht. Solange sie reden, sind sie harmlos, also versuche ich mich an die Wand gedrückt, nach vorn zu schieben. Der Typ lässt allerdings nicht locker. Er stützt sich mit einem Arm an der Wand ab und versperrt mir jegliche Fluchtmöglichkeiten.

„Ich hab gefracht, wo du hin willst? Was´n los mit dir? Dachte, wir beide könnten ´n bissjen danzen.“

„Verschwinde!“, zische ich und verenge die Augen. Ich ducke mich und schlüpfe unter seinem ausgestreckten Arm hindurch, doch er ist zäher als erwartet. Er dreht sich flink, sodass er wieder vor mir steht und packt schmerzhaft meine Schulter, während er näher an mich heranrückt.

„Biss wohl zu gud für misch? Kannscht mir Nisch mal andworden was?

Aber ich mag Mädchen dü sich ´n bischen währen.“

Warum ausgerechnet ich? Womit habe ich das verdient?

„Ich habe kein Interesse.“

„Aber isch hab.“

Er lächelt lüstern und drückt meine Schulter zusammen.

Igitt.

„Sorry.“ Von links schiebt sich jemand zwischen uns und schlagartig habe ich einen breiten Rücken vor der Nase, der mich von dem Betrunkenen abschirmt.

„Was bischt d´n du für ainar? Verswinde!“, schnauzt dieser sogleich.

„Es gibt keinen anderen Weg. Wäre nett, wenn du deinen Arm runter nimmst, dann bin ich weg“, fordert der Fremde und ich glotze dem Rücken vor mir ein Loch ins Shirt.

„Ähm...“, schaffe ich zu sagen, was in der Antwort meines unerwünschten Verehrers untergeht. „Was´n durch? Klar störscht du Maan. Hast grad voll unsre Base kaputt jemacht.“

Der Typ nimmt seine schweißnasse Hand von meiner Schulter und ballt sie zur Faust.

Das geht bestimmt gleich in eine Prügelei über.

Mein ungefragter Retter beugt sich zu dem Betrunkenen hinunter und flüstert ihm etwas ins Ohr, dass ich nicht verstehe. Der schmierige Kerl wendet sich plötzlich um, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, und wankt dorthin, wo er hergekommen ist.

Was hat das T-Shirt ihm gesagt?

Der Junge neigt sich leicht zur Seite und ich glaube, ein „gerne geschehen“ zu hören. Ungläubig sinkt mein Kiefer in die Tiefe und ich reiße die Augen auf. Spinnt der?

„Wer, denkst du, wer du bist? Ich kann mich ganz gut alleine verteidigen. Ich bin nicht auf jemanden wie dich angewiesen“, fahre ich ihn an.

Kurz erstarrt er in der Bewegung, doch statt zu regieren,

verschwindet er wortlos und lässt mich verwirrt zurück.

Jetzt fühle ich mich noch miserabler und kämpfe mich auf den Ausgang zu.

Kapitel 2

Kaum, dass ich vor der Tür stehe, inhaliere ich mit einem tiefen Zug die kalte, klare Nachtluft. Sofort mildern die Temperaturen die Kopfschmerzen und ich entscheide mich, meinen Rückweg zu Fuß anzutreten.

Die Strecke ist zwar nicht gerade kurz, aber es wäre nicht das erste Mal. Zu Fuß kann ich außerdem ein paar Abkürzungen über die Felder nehmen. Ich kenne die Gegend wie meine Westentasche und durch die sternenklare Nacht ist die Umgebung klar zu erkennen.

Die Sterne leuchten wie unzählige Diamanten zu mir herab und ich genieße die Ruhe fernab vom Club. Längst bin ich von der Hauptstraße abgebogen und stapfe Querfeld ein. Sobald ich an einem großen Acker ankomme, werfe ich einen Blick auf meine Schuhe.

Mit High Heels schaffe ich das nie.

Ungelenk ziehe ich mein rechtes Knie an, um an den Reißverschluss zu gelangen. Mein Gleichgewichtssinn war noch nie der beste und ich schwanke gefährlich.

Bevor ich eine Bruchlandung hinlege, setze ich mich ins taufeuchte Gras und streife mir die Schuhe von den Füßen. Zum Glück haben wir Sommer.

Barfuß betrete ich die weiche Schlammpackung und verdränge jegliche Gedanken an Spinnen, Würmer und was weiß ich nicht für Tiere, die ich mit meiner nackten Haut berühre.

Besser, ich konzentriere mich auf diesen Abend und was alles geschehen ist. Allen voran Tamara. Ihr Verhalten ist mir noch immer ein Rätsel.

Es ist nicht ihre Art, mit einem fremden Kerl rumzumachen.

Hatte sie vor, sich von Michael zu trennen?

Ist dieser Maxwell der Grund?

Vielleicht hat sie zu viel getrunken, oder er hat sie unter Drogen gesetzt?

Nein, sie war völlig klar. Nur geschockt, dass ich sie erwischt habe.

Frustriert stoße ich die Luft aus und schwinge die Schuhe an ihren Riemen über die Schulter wie ein Sack Mehl. Ich spüre kaum, wie sie auf meinem Rücken aufprallen, viel zu sehr bin ich in meine Überlegungen versunken.

Mit meinen Spekulationen komme ich nicht weiter.

Ich muss mit ihr reden, doch vorerst werde ich sie für ihr Benehmen schmoren lassen. Sie schiebt mich zu ihrer Schwester ab, knutscht mit diesem Maxwell rum und zum Überfluss zickt sie mich an.

Nein, das ist nicht akzeptabel.

Und was ist mit Ella? Für mich steht eine Trennung in Verbindung mit Tränen und Eiscreme, nicht mit „Ablenkung“ in Form einer Affäre. Na gut, zugegeben habe ich keinerlei Erfahrung. Zumindest was eine feste Beziehung angeht.

Dabei liegt es nicht gänzlich an mir. Es gibt nur niemanden, der mein Herz höherschlagen lässt. Meine Gedanken sind mittlerweile total konfus und kommen nicht zur Ruhe.

Wütend über mich selbst bleibe ich stehen und stampfe hart mit dem Fuß in den Morast. Kleine, spitze Steinchen graben sich tief in mein Fleisch und ich japse auf.

Verdammt.

Humpelnd überwinde ich die letzten Meter der erdigen Oberfläche und wische mit der Sohle über das Gras. Sofortige Linderung lässt mich aufseufzen. Jetzt ist es nicht mehr weit und ich eile die kurze Distanz bis nach Hause.

Endlich angekommen, stelle ich mit einem Blick aufs Handy fest, dass es kurz vor vier Uhr ist. Langsam schließe ich die Haustür auf, um jegliche Geräusche zu vermeiden.

Jeder Ton, der erklingt, ist so laut wie ein Kanonenschlag. Meine Eltern sind zwar nicht schnell zu wecken, aber um diese Uhrzeit ist es möglich, dass Papa im Haus unterwegs ist.

Die Schuhe nehme ich mit in mein Zimmer, damit nicht sofort auffällt, dass ich zu Hause bin. Eigentlich wollte ich bei Tamara übernachten. Langsam schleiche ich auf die Treppe zu, als im Obergeschoss überraschend eine Tür aufgeht.

In gekonnter Ninjamanier hechte ich seitlich neben den Aufgang. Wenn ich um diese Zeit entdeckt werde, gibt es nur unnötige Fragen, die ich nicht beantworten will. Helles Licht flutet die obere Etage. Mein Herzschlag verdoppelt sich innerhalb weniger Sekunden. Mir bricht der Schweiß aus und mein Brustkorb hebt und senkt sich hastig.

Mit ein paar schweren Tapsen über den Flur bewegt sich jemand auf die gegenüberliegende Seite auf das Badezimmer zu. Das kann nur mein Vater sein. Die Tür öffnet und schließt sich, sodass das Treppenhaus wieder in Dunkelheit und Stille liegt.

Katzengleich erklimme ich die Treppe und überwinde die paar Schritte zu meinem Zimmer. Jetzt kommt der heikelste Teil des Vorhabens, die Tür. Sie hat einen eigenen Charakter und ist mit Vorsicht zu behandeln. Die rechte Hand lege ich um die Klinke, während ich mit dem Fuß in der unteren Ecke gegen das Blatt drücke. Nun platziere ich die linke Handfläche flach auf dem Holz unterhalb des Griffs und öffne die Tür, sachte und mit vielen Stoßgebeten. Kaum ist der Spalt groß genug, schlüpfe ich hindurch und fahre schnell mit der Hand auf die gegenüberliegende Seite. Zum Schließen verfolge ich denselben Ablauf nur andersherum. Ich stoße die Luft aus, sobald ich mit den Fingern von der Klinke gleite, und lehne mich für ein paar Sekunden dagegen.

Auf Zehenspitzen bewege ich mich aufs Bett zu und springe in meinen Schlafanzug. Gerne würde ich sofort schlafen, aber die grauen Augen, welche ich den ganzen Weg nach Hause verdrängt habe, spuken mir im Kopf herum. Je länger ich darüber nachdenke, umso sicherer bin ich, dass ich sie mir nicht eingebildet habe.

Wer bildet sich zwei Augen ein? Mit den Gedanken an dieses intensiv leuchtende Grau falle ich in einen unruhigen Schlaf.

Kapitel 3

„Ich erwache mit leichten Kopfschmerzen, aber die sind nichts im Vergleich zum vergangenen Abend und mit etwas frischer Luft mühelos zu ertragen. Mit einem herzhaften Gähnen strecke ich alle Viere von mir und wippe abwechselnd mit den Füßen. Sie fühlen sich besser an, als ich es nach der Nachtwanderung erwartet habe.

Ein Blick aufs Handy verrät mir, das die Mittagszeit gerade endet. Etliche Whatsapp-Nachrichten und ein Dutzend verpasste Anrufe von Tamara lassen das Gerät aufleuchten.

Na, da hat wohl jemand ein schlechtes Gewissen.

Absichtlich stelle ich auf stur und drehe das Display nach unten.

Ein paar Minuten bleibe ich noch auf meiner weichen Matratze liegen und genieße die Ruhe. Mir ist klar, dass ich irgendwann aus dem Zimmer muss und dabei meinen Eltern begegnen werde. Mühevoll schiebe ich die Decke zur Seite und hieve mich in die Höhe. Es wird Zeit, dass ich mich umziehe. Bei dem Sonnenschein, der durch mein Fenster dringt, sitzen sie bestimmt im Garten.

In einem respektablen Zustand stecke ich nur wenige Augenblicke später den Kopf durch die Terrassentür und finde sie in trauter Zweisamkeit.

„Guten Morgen“, begrüße ich die beiden und trete zu ihnen hinaus.

„Hallo Liebling. Wir haben schon überlegt, wann du wieder da bist. Und war es schön gestern? Was habt ihr unternommen?“, erkundigt sich meine Mutter, die in der Hängematte liegt und kaum zu erkennen ist.

Schön? Eher nicht.

„Ja war in Ordnung.“

Ja, ich lüge, aber ich bringe es lieber schnell hinter mich.

Wenn ich Glück habe, unterzieht sie mich diesmal nicht ihrer mütterlichen Inquisition.

„In Ordnung?“, wiederholt sie ungläubig und ich sehe dabei zu, wie der Stoff der Matte in Bewegung kommt.

Und schon legt sie los.

„Tamara hat vorhin angerufen und nach dir gefragt“, rettet mich mein Vater, ehe meine Mutter ihren Kopf über die Umrandung geschoben hat.

„Ach ja? Wann genau?“

Unschuldig spiele ich mit dem Bündchen meines Shirts, um seinem Blick auszuweichen.

„Vor ungefähr einer Viertelstunde. Länger ist es nicht her.“

Ich spüre seinen Blick auf mir und halte meinen Kopf gesenkt.

„Da war ich bereits auf dem Weg. Ich rufe sie nachher an“, beeile ich mich zu sagen, und zu steuere dabei einen der freien Stühle an.

„Mach das Schätzchen. Ich verstehe nicht, wie ihr nach dem gestrigen Tag und der Nacht immer noch Gesprächsstoff habt“, wirft meine Mutter ein und schüttelt unverständlich den Kopf.

„Bringst du mir bitte ein Wasser mit, wenn du dir etwas holst? Am liebsten aus dem Kühlschrank“, flötet sie, während sie wieder in der Hängematte verschwindet.

Habe ich gesagt, dass ich in die Küche gehe?

„Natürlich“, ergeben drehe ich vor dem Platz um, an den ich mich setzen wollte und gehe stattdessen ins Haus.

Mein Vater springt in dem Moment auf, in dem ich die Schwelle übertrete, und folgt mir. Sobald er die Küche betritt, lehnt er sich an die Theke, während ich Gläser aus dem Schrank hole und zum Kühlschrank schlendere.

„Dir ist klar, dass du eine miserable Lügnerin bist, oder? Ich dachte, du bist ehrlich zu uns“, rügt er mich und sieht mich eindringlich an.

„Ich habe nicht gelogen“, halte ich dagegen und schiele aus dem Augenwinkel zu ihm hinüber.

„Du hast aber auch nicht die Wahrheit gesagt. Was verschweigst du uns? Und es wäre höflicher, mich anzusehen.“ Seine Stimme hat eine gewisse Härte angenommen und so drücke ich die Tür des Kühlschranks zu und drehe mich zu ihm um. Abwartend verschränkt er seine kräftigen Arme vor der Brust und ich stoße die Luft aus.

Er wird nicht locker lassen, bis ich ihm berichtet habe, was er wissen will. Mein Vater ist wie ein menschlicher Lügendetektor, er erkennt sofort, wenn ich nicht die Wahrheit sage, und ich habe es einzig seinen wohlwollen zu verdanken, dass er draußen nichts erwähnt hat. Mit meiner Mutter an seiner Seite sind sie unschlagbar im Lüften irgendwelcher Geheimnisse.

„Entschuldige“, sage ich kleinlaut. „Ich habe mit Tami gestritten und werde sie nicht zurückrufen. Außerdem bin ich gestern Abend schon nach Hause gekommen und habe hier geschlafen.“

Seine Reaktion ist nicht die, die in Anbetracht der Umstände zu erwarten gewesen wäre.

„Ich wusste, dass du hier warst. Schätze, du bist gegen vier Uhr hier aufgeschlagen? In die Sache mit Tamara hänge ich mich nicht rein, aber wenn ich noch einmal erfahre, dass du zu Gott schlafender Stunde allein durch die Nacht marschierst, werde ich böse“, reagiert er viel zu sanft. „Warum hast du nicht angerufen?“ Leichter Groll schwingt in seiner Stimme mit und er fixiert mich mit seinen braunen Augen, sodass ich wie ein hypnotisches Schaf dastehe und nach den passenden Worten suche.

„Aber wie? Woher wusstest du das? Hat Tami ...?“, stoße ich aus, als mir die Bedeutung seiner Aussage bewusst wird.

„Sie hat nichts verraten, nur gefragt, ob du zu Hause bist. Man muss kein Sherlock Holmes sein, um Erdklumpen zu folgen. Wenn du dich in dein Heim schleichst, marschiere vorher nicht durch irgendwelche Acker oder beseitige hinterher wenigstens die Spuren. Ich habe die Abdrücke verfolgt und bin vor deiner Zimmertür gelandet. Du hast Glück, dass deine Mutter morgens zu nichts zu gebrauchen ist und ihr dein Mitbringsel nicht aufgefallen ist“, erklärt er und ich spüre, wie Hitze in meine Wangen steigt.

„Und, bevor deine Gedanken rotieren, ich habe dieses Detail für mich behalten“, fügt er an und ich lächle ihm dankbar entgegen. Leicht schüttle ich den Kopf, wie durchschaubar ich für meinen Vater bin.

„Danke, und wenn ich je wieder eine Mitfahrgelegenheit brauche, rufe ich an. Versprochen.“ Schwungvoll drücke ich ihn an mich und er erwidert liebevoll die Umarmung. Er lächelt mich an, gibt mir einen Kuss auf die Stirn und kehrt in den Garten zurück.

Ich packe die Gläser, das Wasser und ein Buch für mich auf ein Tablett und bringe alles nach draußen, wo die beiden in der Sonne brutzeln.

Ohne weitere Unterbrechungen setze ich mich meinem Vater gegenüber in den Stuhl und schlage die erste Seite auf. Immer noch geistert mir der gestrige Abend im Kopf herum und ich schaffe es nicht, mich zu konzentrieren.

Ob ich Tamara besser zurückrufen sollte?

„Dingdong“

Mein Kopf schnellt in die Höhe und ich schaue auf die geöffnete Terrassentür, als würde ich dadurch erkennen, wer vor dem Haus steht.

„Dingdong“ ertönt es ein weiteres Mal und weder meine Mutter noch mein Vater reagieren darauf.

„Ich gehe schon. Ihr müsst nicht aufstehen“, erhebe ich mich leicht genervt und verdrehe die Augen, sobald ich ihnen den Rücken zudrehe.

„Ist eh für dich“, meint meine Mutter und ich ahme ihre Worte nach, während ich zur Tür gehe. Tami steht mit verheultem Gesicht davor und sieht mir mitleidig entgegen. Ihre Nasenspitze ist rot und ihre Augen sind verquollen. Kann meine Mutter seit neusten Hellsehen oder war es offensichtlich, dass Tamara hier auftaucht?

Bei diesem Anblick schaffe ich es nicht hart bleiben.

„Warte kurz“, befehle ich und informiere meinen Eltern, dass ich einen Spaziergang unternehme.

Zurück bei meiner Freundin, schließe ich die Tür hinter mir und wir laufen eine Weile schweigend nebeneinander her. Nur ein Schniefen ihrerseits unterbricht die Stille zwischen uns gelegentlich. Ich warte darauf, dass sie den ersten Schritt macht und sehe sie von der Seite an.

Ich habe ihr nicht die Tür vor der Nase zugeschlagen, das ist mehr, als sie erwarten kann. Sobald wir den Spielplatz erreichen, der seit Kindertagen von uns unsicher gemacht wurde, dreht sie sich zu mir um.

„Ich habe mich gestern miserabel verhalten. Bitte verzeih mir!“, fleht sie und ich ziehe abwartend eine Braue in die Höhe. „Ich habe dich überall gesucht. Nachdem Ella sagte, dass sie dich ewig nicht gesehen hat und ich nicht wusste, wo du bist, hatte ich schreckliche Angst um dich. Ich habe vorhin erst bei deinen Eltern angerufen, weil ich befürchtet habe, dass du ärger bekommst, wenn du zu Hause bist und ich nichts davon weiß. Wo warst du denn?“

Ohne Punkt und Komma sprudeln die Worte aus ihr heraus, sodass mir schnell der Kopf zu schwirrt.

„Ich hatte keine Lust, länger auf euch zu warten, und bin nach Hause gelaufen“, erkläre ich und hebe die Schultern.

„Was war das gestern Abend? Du knutschst mit irgendeinem Austauschschüler rum, hintergehst Michael, schiebst mich zu deiner Schwester ab und sagst mir nichts von der ganzen Sache? Ich dachte, wir reden über alles“, platzt es aus mir heraus, nachdem sie schweigt.

Betrübt sieht sie mich an und weitere Tränen laufen ihre Wange hinab. Das schlechte Gewissen ist ihr buchstäblich ins Gesicht geschrieben.

„Das zwischen Max und mir lief unheimlich schnell. Die Ereignisse haben sich überschlagen und ich wusste nicht, wo ich anfange. Außerdem dachte ich, du verachtest mich für die Sache mit Max“, jammert sie und zieht undamenhaft die Nase hoch. Weitere Tränen fliesen und sie schaut zu Boden. Sie wirkt ehrlich, verstört und reumütig, deswegen bin ich ihr nicht länger böse.

„Du erzählst mir jetzt alles und keine Ausreden mehr“, fordere ich und ziehe sie mit mir zu den Schaukeln. Das Metall rostet hier und da und das Gestell knarzt jämmerlich, als wir uns in den Gummischlaufen niederlassen.

„Ich habe ihn vor zwei Tagen kennengelernt“, beginnt sie zu erzählen. „Ella und ich waren einkaufen. Wir sind uns in diesem kleinen Secondhandshop in der Stadt begegnet, du weißt schon, wo es diese heißen Klamotten gibt. Ella ist in der Umkleide verschwunden und ich bin durch die Gänge gestreift, da stand er plötzlich vor mir. Ich habe keine Ahnung, was passiert ist. Sobald er mir in die Augen sah, wusste ich, dass er der Mann meiner Träume ist“, gesteht sie und bekommt einen verträumten Ausdruck in den Augen.

„Und was war Michael bisher?“, will ich wissen und habe prompt Mitleid mit dem Jungen, der die letzten Jahre sein Leben mit ihr geteilt hat.

„Das ist was anderes und schwer zu erklären. Sobald ich Max gesehen habe, war es magisch. Die ganze Zeit bin ich davon ausgegangen, dass Michael und ich das perfekte Paar sind und es für immer hält. Nachdem ich Max kennengelernt habe, weiß ich jedoch erst, was Liebe wirklich bedeutet.“ Ihre Worte sind fest und sie sieht mich eindringlich an. Ich erkenne nicht den geringsten Zweifel in ihrem Gesicht.

„Versteh mich nicht falsch. Michael war schon der Richtige, irgendwie“, spricht sie weiter, „Ich bin froh, dass wir zusammen waren, aber nachdem Maxwell in mein Leben getreten ist, funktioniert das nicht mehr. Es ist wie ein Zauber zwischen uns. Wenn ich ihn sehe, habe ich den Drang, bei ihm zu sein. Ich habe fast körperliche Schmerzen, sobald wir nicht miteinander reden. Ich weiß, dass das Michael gegenüber nicht fair war, aber ich habe vorhin mit ihm gesprochen und die Beziehung beendet.

Ich habe ihm nicht erzählt, dass es mit einem neuen Mann zutun hat, um ihn nicht zu verletzen.“

Wieder treten Tränen in ihre Augen und ich halte es nicht länger aus, tatenlos neben ihr sitzen zu bleiben. Ich nehme sie in die Arme und jetzt heult sie richtig los.

„Ach Tami. Das war anständig. Es passt nicht zu dir, jemanden zu belügen und wenn du sagst, dass dieser Max der Richtige ist, glaube ich dir. Ich bin mir sicher, Michael wird es verstehen.“

Sie trötet lautstark in ihr Taschentuch.

„Das tut er. Er sagte, dass er nicht sauer ist und es versteht. Ich dachte, wenn ich es ihm sage, würde er ausrasten, aber es war, als hätte er darauf gewartet“, jammert sie und wird dabei immer leiser.

„Vielleicht hat er das ja. Wahrscheinlich hat er gefühlt, dass es auf das Ende eurer Beziehung zugeht und sich nicht getraut Schluss zumachen. Es ist schön, dass ihr so Erwachsen damit umgeht.“

Insgeheim bin ich ein wenig überrascht über derart vernünftiges Verhalten. Das hätte ich weder Tamara noch Michael zugetraut.

Meine Freundin schnieft laut in ihr Taschentuch und sieht mich von unten an. Dabei verzieht sie ihren Mund zu einer Schnute, bei der die Unterlippe ein wenig weiter hervorsteht.

„Verzeihst du mir? Ich weiß, das war alles andere als eine Glanzleistung. Ich hatte nicht vor, dich an Ella abzuschieben. Es war reiner Zufall, dass ich auf der Suche nach euch Max in die Arme gelaufen bin, und da war die Magie wieder. Ich habe es nicht geschafft, mich von ihm loszureißen“, erklärt sie mit zitternder Stimme und ich streiche ihr beruhigend über den Rücken.

„Dass Ella jemanden kennenlernt, habe ich nicht erwartet. Ich bin davon ausgegangen, dass ihr zusammen Spaß habt und ich dann später dazu stoße. Was soll ich sagen? Er küsst unverschämt gut und irgendwie haben diese Küsse Suchtpotenzial. Ich bin nicht von ihm losgekommen“, gesteht sie.

„Kurz bevor du aufgetaucht bist, sind wir auf die Empore, um uns etwas zu trinken zu holen. Du hast mich total überrumpelt und es war nicht ok von mir, wie ich mich verhalten habe. Als du dann gesehen hast, dass ich und Max mehr als geredet haben, bin ich durchgedreht und hab dich angefahren. Bitte verzeih mir“, fleht sie und sieht mich aus ihren rotgeränderten Augen an.

Als ob ich ihr jetzt noch böse sein könnte.

„Wir verbuchen, das am besten unter hormongesteuerte Verliebtheit“, gebe ich nach und lächle sie an.

Anschließend berichtet sie mir, was ihr neuer Schwarm ihr bisher über seinen Auslandsaufenthalt erzählt hat. So erfahre ich, dass die beiden zwischen Wolke sieben und Zungenakrobatik recht viel miteinander gesprochen haben.

Ab morgen besucht er und seine Mitschüler unsere Schule. Sein Jahrgang wird auf unseren aufgeteilt, sodass wir mit einer bisher eher kleinen Klasse auf eine übliche Größe anwachsen.

Mich würde interessieren, wer auf die Idee gekommen ist und die Jungs in die größte Provinz Deutschlands verschleppt hat.

„Sag mal der Typ, der sich gestern in der Warteschlange so rüde vor uns gedrängt hat, ist nicht zufällig in der Klasse, oder?“, unterbreche ich sie in ihrem Redefluss. Mir ist soeben eine Eingebung gekommen und ich sehe, wie es in ihrem Kopf anfängt zu rattern. Sie legt die Stirn in Falten.

„Keine Ahnung, ich habe den Kerl kaum gesehen“, erklärt sie und ich nicke gedankenverloren.

Irgendwie lässt mich der Gedanke nicht los, dass die grauen Augen, der breite Rücken meines ungewollten Retters und der Typ vom Eingang ein und dieselbe Person sind.

„Hast du gestern zufällig jemanden mit grauer Iris gesehen? Einen der in Max Klasse ist?“, will ich nun wissen und schaue sie abwartend an. Sie reißt die Augen auf und ein süffisantes Grinsen legt sich auf ihr Gesicht.

„Gibt es etwa einen, der dir gefällt?“

Sofort verdrehe ich die Augen. So war das nun wirklich nicht gemeint.

„Nein. Es ist nur eine Frage. Also hast du?“

Konzentriert ruft sie in Gedanken die Gesichter des vergangenen Abends ab und schüttelt nach einigen Augenblicken den Kopf.

„Nein, ich glaube nicht, dass ich jemanden gesehen oder kennengelernt habe. Daran könnte ich mich garantiert erinnern“, macht sie meine Hoffnung zu Nichte und ich zucke mit den Schultern.

Auf dem Rückweg läuft sie neben mir her und fragt spezifischer, was gestern passiert ist. Ich berichte ihr von den grauen Augen, dem Gefühl, beobachtet zu werden und dem angetrunkenen Jungen.

Sie ist einen Moment bestürzt und wieder wird ihr Blick glasig. Eilig versichere ich ihr, dass es halb so schlimm war und der Unbekannte mich gerettet hat.

Nachdem wir vor meiner Haustür ankommen, überlegt sie, ob der Alkohol daran schuld sei, dass ich mich nicht an ein genaues Gesicht zu den Augen erinnere.

Hätte ich sie nur nicht gefragt.

„Möglich, schließlich vertrage ich nichts“, gebe ich schnell zu und hoffe, dass sich das Thema damit erledigt. Sie nickt vage, sieht allerdings nicht so aus, als wäre die Sache von Tisch. Eilig verabschiede ich mich von ihr, bevor sie mich mit weiteren Vermutungen bombardiert. Nachdem ich die Tür hinter mir zu schlage, atme ich tief durch und schließe einen Moment die Augen.

Der Abend mit meinen Eltern verläuft unspektakulär und ich fühle mich wie erschlagen, als ich müde auf mein Bett herabsinke. Trotz allem, was heute geschehen ist, lassen mich meine karussellfahrenden Gedanken nicht in Ruhe.

Insgesamt habe ich das Gefühl, dass die Geschichte mit Tamara, Maxwell und Michael zu glatt abgelaufen ist und das mit Max verstehe ich auch nicht. Klar Liebe auf den ersten Blick, meinetwegen aber ist das in diesem Ausmaß überhaupt möglich? Und dann ist da immer noch dieser Fremde mit den grauen Augen.

Nach wie vor bin ich davon überzeugt, dass ich sie mir nicht eingebildet habe und alle drei Personen von gestern einen Menschen ergeben. Doch wie sieht er aus? Und warum beobachtet er mich?

Was stimmt nicht an dieser Geschichte? Sobald ich die Lider schließe, schlafe ich unvermittelt ein. Die fremden Augen verfolgen mich bis in meine Träume und ich verliere mich in ihnen.

Kapitel 4

Der Tag ist noch nicht angebrochen, als ich die Augen aufschlage. Verdammt bin ich müde.

Ein Blick aufs Handy lässt meine Laune nicht steigen. Die Anzeige zeigt mir, dass ich über eine Stunde zu früh erwacht bin.

Jeder Versuch, noch einmal einzuschlafen, schlägt fehl, also stehe ich frustriert auf und ziehe mich an. Das einzig Positive an der Sache ist, dass ich genug Zeit habe, um alles für den ersten Schultag der neuen Woche vorzubereiten.

Ich setze mich an den Schminktisch und schaue dem Grauen ins Gesicht und oje, ich sehe schrecklich aus. Tiefe Schatten liegen unter meinen blauen Augen und die sonst glänzenden, glatten Haare stehen wild in alle Richtungen ab.

Was habe ich in der Nacht getrieben, dass ich so aussehe? Ich werde viel Concealer und Kaffee brauchen, um wacher zu wirken, als ich mich im Moment fühle.

Bei jedem Schritt überrede ich meine Finger und Arme, ihre Arbeit aufzunehmen. So vergeht eine gefühlte Ewigkeit, bis ich das Spiegelbild akzeptabel finde.

Fertig gestylt und angezogen schnappe ich mir meine Tasche und begebe mich in die Küche. Meine Eltern schlafen noch. Verständlich um fünf Uhr morgens und ich bin ziemlich neidisch auf sie. Sie liegen in ihrem warmen, kuscheligen Bett, während ich die Kaffeemaschine anstarre. Das doofe Ding ist zu langsam für meinen benötigten Konsum.

„Komm schon“, fordere ich sie auf und erhalte ein Gurgeln zur Antwort. Ich verdrehe die Augen und schaue ermüdend dabei zu, wie sich die Tropfen meines heutigen Überlebenselixiers in der Kanne sammeln. Genervt wende ich mich von der Maschine ab und schlürfe zum Kühlschrank, um mir alles für ein karges Frühstück zu holen. Ermattet setze ich mich an die Theke und starre wieder gereizt auf die Kaffeekanne, während ich mir wie ferngesteuert ein Brot mit Marmelade beschmiere. Um mich auf andere Gedanken zu bringen, öffne ich die Instagram App auf meinem Handy. In die Beiträge vertieft, verschlinge ich drei ganze Scheiben. Wenn ich nicht aufpasse, rolle ich zur Schule.

Endlich macht die Kaffeemaschine die letzten glucksenden Geräusche und ich frage mich nicht zum ersten Mal, wieso wir so ein altersschwaches Gerät besitzen. Aggressiv fülle ich meine Tasse randvoll mit diesem schwarzen Gold und verbrenne mir vor lauter Gier die Zunge.

Was für ein Scheißtag.

Mit mehr Schwung, als ich mir zugetraut hätte, stelle die Tasse zur Seite und prompt treffen ein paar dunkle Tropfen mein Oberteil. Na toll. Das war mein Lieblingsshirt verdammt. Das kommt davon, wenn man seinem Arm keine genauen Anweisungen gibt.

Möglichst leise stapfe ich wieder nach oben in mein Zimmer und wühle mich durch den Kleiderschrank. Bis ich etwas gefunden habe, das zum Make-up, den Schuhen und der Tasche passt, vergehen etliche Minuten und ich kehre gehetzt zurück in die Küche. Unsicher, ob ich es noch einmal wagen soll, beäuge ich die Tasse, befehle ihr artig zu sein und keine Sauerei mehr zu veranstalten.

So weit ist es gekommen, ich rede mit der Kaffeetasse.

Mein Blick fällt auf die Zeitanzeige des Handys, dass ich auf der Theke habe liegen lassen und vor Schreck hätte ich beinahe das nächste Missgeschick verursacht.

Verflixt, wo ist die Zeit geblieben?

Wie ferngesteuert schnappe ich mir Handy und Tasche, bevor ich aus dem Haus stürme. Im Laufschritt überwinde ich die Distanz zur alten Linde, an der meine Freundin nervös hin und her wippend nach mir Ausschau hält.

„Was ist denn mit dir passiert? Hast du verschlafen?“, erkundigt sie sich, während ihr prüfender Blick von meinem Scheitel bis zu den Füßen wandert.

So viel zu, kein Sport. Es ist sieben Uhr und wir haben knappe zwanzig Grad. Das zusammengerechnet mit dem Tempo, welches ich hingelegt habe, lassen direkt den Wunsch nach einer Dusche entstehen. Wahrscheinlich ist mein ganzes Make-up verlaufen und die Mühe war vergebens.

„Ja, schön wär es. Wie sehe ich aus?“ Mein Atem kommt stoßweise und ich halte mir die schmerzende Seite, in der sich das Seitenstechen unangenehm bemerkbar macht.

Sie schüttelt stumm ihren Kopf und sagt mir ohne Worte, dass alles umsonst war.

„Komm, ich mach das schnell. Die zwei Minuten haben wir noch“, fordert sie mich auf und zieht mich zu der kleinen, windschiefen Bank, die vor dem dicken Stamm steht.

Konzentriert wandert ihre rechte Augenbraue in die Höhe, während sie ihr Notfall-Make-up aus der Tasche zaubert. Ich bin nicht eitel, aber selbst ich habe so viel Stolz, dass ich nicht am erste Tag einer neuen Woche als Vogelscheuche in der Schule auftauche. Mit stolzgeschwellter Brust hält sie mir einen kleinen Spiegel vor die Nase und ich bin fasziniert, wie frisch ich wirke. Eilig gebe ich ihr einen Kuss auf die Wange und sie packt ihre Utensilien zusammen. Gemeinsam legen wir die letzten Meter zur Schule zurück, während ich ihr von meinem Morgen berichte.

„Das heißt lediglich, dass es ab jetzt besser wird. Du wirst sehen“, erklärt sie und lächelt mich dabei aufmunternd an.

Ahh, Motivations-Tami ist am Start.

Pünktlich zum Gong betreten wir das Klassenzimmer und eilen auf unsere Plätze. Die freien Stühle finden sich ausschließlich im vorderen Bereich.

Beim Gedanken, warum das so ist, überkommt mich sofort Mitleid mit denen, die das Los treffen wird.

Die Gründe, weshalb es ratsam ist, nicht in der ersten Reihe zu sitzen und nahe der Frischluftzufuhr heißen Herr Ostenwald und Frau Fischer-Brühl. Herr Ostenwald, unser Lehrer in Sport und Geografie, ist etwas in die Jahre gekommen und ein freundlicher Geselle. Weniger hervorzuhebende Attribute von ihm sind seine ausgeprägte Schweißbildung und der damit einhergehende Geruch.

Es ist nicht übertrieben, wenn jemand meint, dass seine körperlichen Ausdünstungen vom letzten Knobi-Zwiebeldöner Übelkeit verursacht. Je wärmer und intensiver der Sportunterricht war, umso unangenehmer ist das Aroma. Vor zwei Jahren hat er behauptet, er verspeise jeden Morgen eine rohe Zwiebel. Die würde ihm Kraft bringen und ein langes Leben.

Ich denke, es ist nicht weiter erwähnenswert, dass sich das ein oder andere duftende Lüftchen aus Herrn Ostenwalds Körper bewegt, welches nichts mit seinem Schweiß und Atem zutun hat.

Bei Frau Fischer-Brühl, Lehrerin für Musik und Physik, hat man das Gefühl, in einem fortwährenden leichten Sprühregen zu sitzen. Selbst in der zweiten Reihe ist man vor der lispelnden Ausdrucksweise, welche sie an den Tag legt, nicht gefeit.

Ich ziehe meinen Block aus der Tasche, als sich die Tür öffnet und Frau Doktor Specht unsere Klassenlehrerin, gefolgt von zehn Jungen, den Raum betritt. Allesamt sehen aus wie Mitte zwanzigjährige Footballspieler und meine Augenbrauen wandern in die Höhe.

An sechster Stelle steht Max, der mir kurz zuzwinkert und dann bei Tamara hängen bleibt. Ich staune schon gar nicht mehr, als ich neben ihm die Jungs von Samstagnacht aus dem Club wiedererkenne. Sobald mein Blick bei Nummer 9 innehält, der mir geradewegs entgegensieht, schnappe ich nach Luft.

Mein Puls beschleunigt sich rasant und ich umklammere das Papier in meinen Händen so kräftig, dass meine Fingerknöchel Weiß hervorstechen.

Unsere Blicke verhaken sich miteinander und ich bin nicht in der Lage wegzusehen. Nummer neun ist der Unbekannte. Er hat die grauen Augen, die mich die letzten Tage und Nächte verfolgt haben. Er ist Mister X.

Es ist, als würde ich mit ihm in einem Tunnel stehen und um uns herum existiert nichts. Ich blende alles aus.

Auf einmal setzen sich die Jungs in Bewegung und der Blickkontakt bricht ab. Ich werde mir bewusst, dass ich die Luft angehalten und nicht ein Wort von dem verstanden habe, was Frau Doktor Specht erzählt hat. Keuchend stoße ich den Atem aus und verfolge ihn bis zu seinem Platz.

Er setzt sich von einem Mitschüler verdeckt seitlich in die Reihe, während ein anderer lächelnd auf mich zukommt und sich auf den freien Stuhl neben mir fallen lässt.

„Hallo, wie gehts? Ich bin Lennox“, stellt er sich im besten Englisch vor. Mit erhobenen Augenbrauen sehe ich ihn an und bin einen Moment sprachlos.

Es ist möglich, dass mein Mund ein wenig auf steht, was nicht an seinem offengestanden guten Aussehen liegt. Nein, eher daran, dass mein Hirn einen Augenblick benötigt, um zu registrieren, dass es nötig ist, zu übersetzen. Normalerweise ist das kein Problem. Meine Eltern waren zweimal mit mir in London und jedes Mal haben sie mich gezwungen, die Landessprache zu sprechen.

Ehrlich und widerstrebend gebe ich zu, dass ich dadurch eine der Besten in diesem Fach bin.

Sobald mein Hirn seine Arbeit verrichtet und seine Worte einen Sinn ergeben, stelle ich mich vor. Kaum habe ich meinen Namen ausgesprochen, fährt Frau Doktor Specht mich an.

„Fräulein Summert, ich habe ihnen soeben erklärt, dass sie mit unseren neuen Mitschülern außerhalb des Englischunterrichts Deutsch zu sprechen haben. Was haben sie daran nicht verstanden?“

Peinlich berührt, senke ich meinen Kopf. Ich spüre, wie mir die Hitze in die Wangen steigt und wünschte, ich könne mich unsichtbar machen.

„Entschuldigung. Es war ein Reflex“, beeile ich mich zu sagen. Ich schiele zu Lennox, der grinst, als hätte er nichts mitbekommen.

Er hat ein sympathisches Lächeln mit Grübchen in den Wangen und mit seinen blauen Augen und dem blonden Haaren hat er etwas Spitzbübisches an sich.

Meine Lehrerin wendet sich mit einem Nicken von mir ab, als ich mich traue, den Kopf zu heben, und die restliche Stunde wird französische gesprochen. Auch diese Sprache ist mir durch diverse Urlaube in Paris nicht fremd, liegt mir allerdings nicht so gut. Meine Eltern sind der Meinung, das Englisch als Weltsprache ausreichend ist. Vor allen, weil unsere Urahnen Engländer waren.

Daher auch der Nachname, Summert. Mit vollen Namen heiße ich Sophie Leonore Summert. Was für ein Name. Ich danke meinem Vater immer wieder dafür, dass der Zweitname stumm geblieben ist.

Meine Mutter hatte bei der Namensgebung darauf bestanden, dass er auf unsere Vorfahren zurückgeht. Leonore war angeblich eine der ersten Summert. Wer auch immer das ist.

Tami ist der Meinung, mein Name hätte Star potenzial, Sophie Summert á la Kim Kardashian oder Tina Turner. Ich schüttle stumm den Kopf, als ich mich an das Gespräch erinnere und grinse. Ihre Familie entspringt demselben Inselstaat, was uns seit Kindergartentagen zu besten Freundinnen zusammengeschweißt hat.

Ich sitze auf meinem Platz und sinniere über den Namen nach, während die Ersten aufstehen und die Klasse verlassen. Anscheinend hat es zur Pause geklingelt und ich habe nichts davon gemerkt. Lennox ist ebenfalls aus dem Raum verschwunden, aber der Junge mit den grauen Augen sitzt nach wie vor auf seinem Platz und fixiert mich. Sein Blick macht mich nervös. Ich bin mir nicht sicher, wie ich ohne mich zum Deppen zumachen, aufstehen und den Klassenraum verlassen soll.

Just in diesem Moment kommt der Kerl, der mit Ella geflirtet hat, von der Seite an ihn herangetreten und flüstert ihm etwas ins Ohr. Beide sehen mich dabei an, als wäre ich ein Alien.

Was ist denn jetzt los?

Gerade öffne ich den Mund, um etwas zu sagen, da steht Grauauge auf und die beiden verschwinden gemeinsam aus dem Zimmer.

Ich starre ihnen einen Augenblick hinterher und brauche einen Moment, bis ich mich gefangen habe. Kopfschüttelnd folge ich meinen Klassenkameraden in den Flur. Wir haben Blockunterricht und nur eine kurze Pause für den Raumwechsel.

Der Gurt meiner Tasche gibt ein Knarzen von sich und ich begutachte den Riemen, während ich um die letzte Ecke biege und gegen etwas Hartes stoße. Der Aufprall kommt unerwartet, sodass ich überrascht zurückweiche und mir die schmerzende Brust reibe. Ich stolpere über meine Füße und verliere das Gleichgewicht, wobei ich wild mit den Armen rudere. Der Moment dehnt sich in Zeitlupentempo aus und derweil ich noch zu begreifen versuche, gegen was ich gelaufen bin, löst sich der Gurt vollständig vom Rest der Tasche. Der Inhalt verteilt sich mit einem lauten Klatschen auf dem Boden.

Mit weit aufgerissenen Augen sehe ich zu, wie sich die Mauer vor mir umdreht und geschwind die kräftigen Arme um meinen Körper legt. Der Fall stoppt in dieser Sekunde genauso wie mein Herzschlag. Ich blicke in ein stahlgraues Augenpaar und alles um uns herum verschwindet.

Mein Mund ist staubtrocken und die Zunge starr wie Zement. Offenbar bin ich nicht mehr fähig, mich zu artikulieren.

Er stellt mich vorsichtig und wie ich finde, äußerst behutsam auf die Beine, lässt mich jedoch nicht los. Seine Hände sind warm und die Berührung verursacht ein Prickeln, das tief in mir nachklingt. Ich stehe so dicht vor ihm, sodass ich seinen Atem auf meiner Haut spüre.

Dieser Moment fühlt sich perfekt an.

Tamara, die alles mit angesehen hat, kommt zu uns gerannt und dreht mich rabiat zu sich. Ihre Augen sind vor Schreck geweitet und ihre Stirn liegt in tiefen Falten.

„Oh Gott Sophie, alles klar? Hast du dich verletzt?“, will sie wissen. Statt zu antworten, drehe ich meinen Kopf wieder zu dem Jungen, der mich mittlerweile losgelassen und etwas von mir entfernt hat. Ich sehne mich augenblicklich nach seiner Nähe, obwohl er weiterhin direkt vor mir steht und mich ansieht.

Tamara zwingt meinen Kopf zur Seite und ich unterbreche den Blickkontakt. Mit beiden Händen hält sie mein Gesicht umklammert und nimmt mir damit die Möglichkeit, mich wieder zu ihm zu drehen.

„Sophie, hörst du? Ich habe gefragt, ob du Schmerzen hast? Das sah echt übel aus.“

„Was? Nein. Es ist alles in Ordnung. Habe mich nur erschrocken“, beruhige ich sie, und sobald sie meinen Kopf frei gibt, drehe ich mich um. Er ist verschwunden.

Einfach weg.

Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen und unerwartet schießen mir Tränen in die Augen. Ich schaue mich suchend nach ihm um, doch er bleibt wie vom Erdboden verschluckt.

Wieso bringt er mich so um den Verstand?

Obwohl ich direkt neben meiner Freundin stehe, die dabei ist, meine Sachen zusammenzulesen, komme ich mir unendlich allein vor. Um nicht loszuheulen, gehe ich in die Knie und helfe ihr. Sobald wir alles eingesammelt haben, hebe ich die Tasche mit beiden Händen in die Höhe und presse sie wie einen Schutzschild an meine Brust.

Kapitel 5

Herr Ostenwald steht vor der Tafel, als wir den Raum betreten und sieht uns mit hochgezogenen Augenbrauen an. Wahrscheinlich hat er die Misere im Flur mitbekommen, weswegen er unser Zuspätkommen nicht kommentiert.

Mit gesenkten Kopf eile ich auf meinen Platz in der letzten Reihe, um niemanden anzusehen. Herrn Ostenwald quält die Klasse mit den Ausbreitungen des Gangesdeltas, als Lennox sich leise flüsternd an mich wendet.

„Bist du okay?“

Mit glühenden Wangen sehe ich ihn an und nicke stumm. Gott ist das peinlich. Er schielt neugierig zu meiner Tasche, wodurch auch mein Kopf in die Tiefe wandert. Mit gerunzelter Stirn inspiziere ich die Naht. Wieso reißt dieser verdammte Riemen? Ich habe sie im letzten Urlaub gekauft und das Teil war kein Schnäppchen. Mit den Fingerspitzen gleite ich über die Abrissstelle und klemme die Unterlippe zwischen die Zähne. Lennox beobachtet mich bei meiner Untersuchung und hebt amüsiert die Augenbrauen.

„Was? Das ist nicht normal, oder? Die war fast neu“, flüstere ich und hebe beide Brauen.

„Die war schlecht verarbeitet. Du hattest Pech“, reagiert er postwendend und unterdrückt ein Grinsen. Er rutscht ein wenig näher und betrachtet die Stelle.

„Die war voll teuer“, gebe ich wispernd zurück und betrachte sein Profil. Kantiges Gesicht, gerade Nase und ein unverschämtes Lächeln, welches er mir schenkt.

Nach kurzer Analyse meines Riemens hebt er den Blick und wirkt verunsichert. Sein rechter Mundwinkel wandert in die Höhe, während er die Tasche dreht, sodass ich den Stoff genau betrachten kann.

„Sei bitte nicht sauer, aber das war wirklich schlecht verarbeitet. Der Gurt wurde angeklebt und nicht vernäht. Dazu ist das Material minderwertig. Ich hoffe, du hast nicht zu viel dafür bezahlt Prinzessin.“

Prinzessin? Spinnt der?

„Woher willst du das überhaupt wissen?“

„Meine Eltern besitzen eine Textilfirma. Es ist wichtig, auf die Verarbeitung zu achten. Viele betrügen dich, wo es geht. Ich erkenne 90 % aller Imitate und das hier ist kein Original“, erklärt er und deutet auf das Stück in meinen Händen. Meine Kinnlade klappt nach unten und ich bin für einige Sekunden sprachlos.

Seine Wangen bekommen einen leichten Rosaton und ich habe das Gefühl, das ihm sein Fachwissen unangenehm ist.

„Wenn ich das Tami erzähle, zwingt sie dich von nun an unsere Shoppingbegleitung zu sein“, raune ich und Lennox sieht mich fragend an. Ich deute mit dem Kinn auf meine Freundin und seine Mundwinkel verziehen sich zu einem erfreuten Schmunzeln.

„Habe ich dir gesagt, dass meine Eltern Unterwäsche produzieren? Ich berate euch gerne“, reagiert er frech und mustert Tamara von Kopf bis Fuß. Ich lache auf.

„Vergiss es. Du kommst nur zu normalen Shoppingausflügen mit. Wenn wir großzügig sind, erlauben wir dir unsere Taschen zutragen“, gebe ich zurück und verenge die Augen.

„Vielleicht erzählen sie der Klasse, worüber sie sich amüsieren“, fordert Herr Ostenwald, der unbemerkt vor den Tisch getreten ist und uns erbost ansieht. Ich bin schon dabei, zu einer Entschuldigung anzusetzen, da springt Lennox auf und spricht klar und deutlich zur Klasse.

„Wir haben über Seide und Spitze gesprochen, besser gesagt Dessous. Brauchen sie auch etwas? Ich hätte nicht erwartet, dass sie an solcher Art Kleidung interessiert sind, aber man sollte den Mensch eben nie nach dem Einband beurteilen, richtig?“

Lennox lächelt Herrn Ostenwald herzlich an und setzt sich wieder, als dieser nicht antwortet und ihn ebenso perplex anstarrt wie jeder andere in der Klasse.

Zum wiederholten Male an diesem Tag steigt mir die Hitze in die Wangen und ich schaue mit aufgerissenen Augen zu meinem Lehrer auf. Augenblicklich erklingt ein unterdrücktes Kichern. Ostenwald, der das Lachen auf sich bezieht, weil er nichts verstanden hat, nickt uns zu und verschwindet mit den Worten, „Schön schön, na von mir aus“, wieder nach vorn. Nun ist es kein gepresstes Gefeixe mehr, sondern schallendes Gelächter.

Mein Blick fliegt zu Tamara, die erst mich und dann Lennox ansieht, mir frech zuzwinkert und die Daumen hebt.

Übelkeit breitet sich in meinem Magen aus, und sobald ich den Kopf der rechten Seite zuwende, wandelt sich diese augenblicklich in Angst um. Grauauge sitzt stocksteif und mit zu Fäusten geballten Händen auf seinen Platz. Sein Gesicht ist eine reglose Maske, nur seine Augen werfen Blitze auf meinen Sitznachbarn.

Sobald Lennox diese Reaktion sieht, verblasst sein Lächeln und er senkt den Kopf.

Die restliche Stunde wechseln wir kein Wort mehr miteinander und ich versuche, mich unsichtbar zumachen. Sobald es zur Pause läutet, verlässt Herr Ostenwald mit eiligen Schritten den Klassenraum.

Wahrscheinlich will er übersetzen, was Lennox von sich gegeben hat.

In Windeseile packe ich meine Sachen zusammen, klemme mir die Tasche unter den Arm und eile auf den Ausgang zu.

„Du gehst ja ran“, bestürmt mich Tamara lachend und hält mich am Arm zurück, als ich an ihr vorbeigehe.

Zeitgleich wird es hinter uns laut. Grauauge steht so hastig auf, dass er seinen Stuhl dabei umwirft und fliegt in einem Hechtsprung über den Tisch. Er stürzt sich auf Lennox und landet sofort einen gezielten Treffer auf seinem Auge.

Alles läuft so schnell, dass ich erst gar nicht begreife, was vor sich geht.

„Oh nein“, entfährt es meiner Freundin. Jeder verfolgt gebannt die Szene. Stumm starren wir die beiden an, nicht in der Lage, uns zu rühren.

Lennox taumelt mit weit aufgerissenen Augen zurück, wird aber sofort zu Boden befördert und sein Angreifer kniet sich rittlings auf ihn.

Das reicht.

„Hör auf“, brülle ich erfolglos und sehe mit an, wie er fuchsteufelswild auf ihn einschlägt. Jedes klatschende Geräusch gräbt sich in meine Ohren und ich erzittere.

Endlich im Stande zu reagieren, renne ich zu ihnen, um Grauauge davon abzuhalten, meinem Sitznachbarn weiter zu schaden. Tamara stellt sich mir sogleich in den Weg und zieht mich aus der Gefahrenzone.

„Lass das!“, fordere ich sie auf, doch sie weicht nicht zur Seite. Schützend hebt Lennox die Arme vors Gesicht, als erneut eine geballte Hand auf ihn zufliegt. Er Macht keinerlei Versuche, sich zu wehren.

Wieso kämpft er nicht?

„Das war nur ein Spaß. Bleib cool“, ruft er dem Jungen entgegen.

„Bleib cool?“, erhält Lennox zur Antwort und bezieht weiter Prügel.

Endlich lösen sich seine Kameraden aus ihrer Erstarrung und Maxwell ergreift mit einem mir unbekannten Jungen die Arme von Grauauge. Sie ziehen ihn von seinem Opfer herunter und Max redet unaufhörlich auf ihn ein. Leider ist er dabei so leise, dass ich kein Wort verstehe. Seine Beschwichtigung scheint zu wirken.

Grauauge stellt erneute Versuche, Lennox zu attackieren ein und funkelt ihn stattdessen erzürnt an. Ich stoße Tamaras Hand zur Seite und baue mich vor dem Jungen auf, der seinen wütenden Blick nun über mein Gesicht gleiten lässt.

Wieso benimmt der sich so?

„Spinnst du? Es er hat überhaupt nichts getan“, fahre ich ihn an und recke das Kinn. Wenn er denkt, dass ich ängstlich zurückweiche, hat er sich geschnitten.

Ohne Antwort dreht er sich um und stürmt aus dem Raum. Perplex schaue ich ihm hinterher, schüttle den Kopf und schnaube.

„Idiot“, entfährt es mir.

Zurück bei Lennox, gehe ich in die Knie, um mir sein Auge anzusehen.

„Alles in Ordnung?“, will ich wissen und mustere sein Gesicht. Seine Deckung war gut. Außer dem Veilchen ist kaum etwas zu erkennen.

„Ja“, knurrt er, steht auf und sieht mich mit erhobener Braue abschätzig an.

„Misch dich nicht mehr ein“, verlangt er und verschwindet ebenso wie sein Angreifer aus dem Klassenzimmer.

Wieso ist er wütend auf mich?

„Was habe ich denn getan?“, frage ich und sehe zu meiner Freundin, die die ganze Zeit über geschwiegen hat.

Sie hebt die Schultern, hakt sie sich bei mir ein und zieht mich mit den Worten „Jungs“ nach draußen.

Kapitel 6

„Ich verstehe das immer noch nicht. Es gab keinen Grund für dieses Theater“, rege ich mich auf, während wir von Mitschüler umzingelt auf dem Pausenhof stehen.

„Keine Ahnung, er hat deine Ehre verteidigt. Fühl dich geehrt“, meint sie und mir bleibt der Mund offenstehen.

„Bitte was? Der Psycho hat Lennox ein blaues Auge geschlagen. Alles klar bei dir?“, frage ich erbost.

Meine Brauen sind so weit in die Höhe gezogen, dass sie beinahe den Haaransatz erreichen, und ein irres Lachen dringt aus meinem Mund.

„Ich glaube, Lennox ist es angenehmer, wenn du das Thema auf sich beruhen lässt und aufhörst ihn zu bemitleiden. So astrein war der Scherz auch nicht“, entgegnet sie und ich ziehe die Stirn in Falten.

Was ist los mit ihr? Ich will schon zu einer gepfefferten Antwort ansetzen, da zieht sie ihr Handy aus der Tasche. Nach einem flüchtigen Blick aufs Display verabschiedet sie sich von mir. Ich stehe zur Statue erstarrt an Ort und Stelle und schaue ihr perplex hinterher.

Was war das denn?

Die letzten Minuten verbringe ich mit finsterem Gesicht vor mich her murmelnd auf einer Bank, sodass sich keiner in meine Nähe traut.

Ich verstehe das alles nicht. Was da abging, entbehrt jeder Vernunft und Tamara schert sich nicht einmal darum.

Kurz bevor der Gong schlägt, springe ich auf, marschiere zum nächsten Klassenraum und nehme Platz. Sobald meine Freundin durch die Tür schreitet, senkt sie den Kopf, setzt sich und widmet sich geschäftig dem letzten Unterrichtsstoff.

Was ist nur mit ihr los?

Grauauge erscheint kurz darauf und sucht sofort meinen Blick. Ich strecke den Rücken durch und schaue ihm mit erhobenem Kinn herausfordernd entgegen.

Komm und erkläre mir, was du für ein Problem hast. Ich habe seit zwei Jahren eine Dose Pfefferspray in der Tasche, die ich liebend gerne ausprobieren würde.

Je länger er mich ansieht, umso aggressiver werde ich.

Die Idee mit dem Reizgas wird immer verlockender. Sobald Lennox mit zwei anderen im Schlepptau auftaucht, vergeht mir die Lust auf Machtspielchen. Demonstrativ drehe ich den Kopf, nur um den Kontakt zu unterbrechen.

Sie scheinen ein ernstes Gespräch am Laufen zu haben und gestikulieren wild mit den Armen. Mein Sitznachbar schüttelt ergeben den Kopf, während ihm einer der Kerle brüderlich auf die Schulter klopft und sich neben Mister Arsch setzt. Lennox tritt an eben diesen heran und ich verfolge aus dem Augenwinkel jede seiner Bewegungen. Das Veilchen verfärbt sich bereits, ist aber zu meinem Erstaunen nicht angeschwollen.

Sobald mein Blick über den grauäugigen Jungen hinweg gleitet, wird mir bewusst, dass er mich weiterhin beobachtet.

Was will er von mir?

Wir kennen uns nicht. Mein Gott, ich weiß nicht mal seinen Namen.

Erst jetzt, da Lennox ihn anspricht, schaut er von mir zu ihm. Sie wechseln ein paar Worte und geben sich anschließend kameradschaftlich die Hand, ehe er sich von ihm abwendet, um meine Richtung anzusteuern.

Verblüfft starre ich die Jungs an.

Verdammt.

Nicht nur, dass der Typ mich die ganze Zeit stalkt, ich verhalte mich ebenso.

Sobald der Platz an meiner Seite nicht länger leer ist, hat der Spuk ein Ende und ich konzentriere mich auf den Jungen neben mir. Die Freundlichkeit, die er letzte Stunde ausgestrahlt hat, ist verschwunden.

Er wirkt distanziert und wie ein anderer Mensch. Sein Blick ist nach vorn gerichtet und er behandelt mich wie Luft.

Hat er solche Angst vor diesem Kerl, dass er sich nicht mehr traut, mich anzusehen? Mehrfach spreche ich ihn an und versuche ihn zu einer Reaktion oder einem Lächeln zubewegen, doch seine Miene bleibt unbeweglich.

Die Hoffnung, noch einmal den liebenswürdigen Lennox zu Gesicht zubekommen, löst sich in Luft auf und ich konzentriere mich notgedrungen auf den Unterricht, der sich in die Länge zieht.

Aufgrund des Schlafmangels reibe ich mir die Augen und mein Blick wandert automatisch zur rechten Sitzreihe. Wie nicht anders zu erwarten, schaut er mich direkt an. Gänsehaut zieht sich über meinen Körper, sodass sich die kleinen Härchen allesamt aufrichten. Im ersten Moment ist es schwer, den Ausdruck in seinem Gesicht zu deuten, doch dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen.

Er ist zufrieden. Er lächelt mich mit stolz geschwellter Brust an und reckt das Kinn.

Was für ein selbstgefälliges Arschloch.

Langsam schiebe ich meine Hand, die ich zur Faust geballt habe, über den Tisch, bis er sie sehen kann. Anschließend drehe ich sie in seine Richtung und hebe in Zeitlupe und mit einem liebenswürdigen Lächeln den Mittelfinger, bis dieser ausgestreckt nach oben zeigt.

Sofort verschwindet das arrogante Grinsen und kurz flackert Unsicherheit in seinem Blick auf. Er richtet sich einige Zentimeter auf und starrt mir nun herablassend entgegen.

So ein Idiot.

Ohne ihn weiter zu beachten, recke ich mein Kinn und schaue wieder nach vorn. In diesem Moment erkenne ich, dass sich Lennox Mund für wenige Sekunden zu einem Lächeln verzogen hat, und ich bin mir sicher, dass ich mich genau Richtige verhalte.

Kapitel 7

Zur nächsten Pause springt Tamara so hastig von ihrem Stuhl auf, als hätte sie eine Sprungfeder unterm Hintern und rennt fluchtartig aus dem Raum.

Ich rufe ihr hinterher, doch sie ignoriert mich. Ich packe meine Tasche, klemme sie mir unter den Arm und gehe schlecht gelaunt auf den Hof.

Warum haut sie ab? Ich will nichts weiter als mit ihr reden.

Während ich auf derselben Bank sitze wie vorhin, stellt sich der Gedanke ein, dass hier etwas gewaltig falsch läuft, und meine Freundin ist ein Teil dieser Geschichte.

Bevor ich überlege, was ich als Nächstes unternehme, bewege ich mich bereits über den Schulhof. Ich halte Ausschau nach dem Jungen mit den grauen Augen oder einer seiner Freunde. Weit und breit ist weder er noch jemand aus seiner Entourage auszumachen. Aus Ermangelung des einen versuche ich es mit dem anderen und suche nach Tamara, aber auch sie ist nicht zu entdecken. Verwirrt stelle ich mich auf eine der Bänke und überfliege die Köpfe der Anwesenden.

Wo zum Teufel ist sie?

Frustriert stöhne laut ich auf, sodass ein Fünftklässler, der an mir vorbeigeht, zusammenzuckt.

Ich beschließe, im Schulgebäude weiterzusuchen. Sobald ich ihn finde, werde ich diesen Jungen zur Rede stellen und herausbekommen, was hier los ist. Der Freak hat mir Antworten zu liefern, genauso wie meine Freundin.

Im zweiten Stockwerk angelangt, suche ich eilig die Gänge ab. Vor den Türen bleibe ich kurz stehen und lausche, bis ich beim Bioraum eine Stimme höre, die mir bekannt vorkommt.

Was macht sie da drin?

Um besser zu verstehen, was sie sagen, stelle ich den Rucksack ab, presse mein Ohr flach auf das Türblatt und halte den Atem an.

„Ich kann das so nicht. Ihr ist aufgefallen, dass ich mich merkwürdig verhalte. Wie soll ich ihr die Sache erklären? Warum habt ihr euch nicht zurückgehalten! War das denn nötig?“, dringt die Stimme meiner Freundin zu mir und meine Stirn legt sich in Falten.

„Du musst und du wirst. Es ist zu gefährlich, sie einzuweihen. Du hast sie siebzehn Jahre studiert, also mach deinen Job“, herrscht sie jemand an und mein Ohr liegt so fest auf dem Holz, dass ich beinahe damit verschmelze. Wer ist das und was meint er mit studiert?

„Das vorhin war nicht geplant und wird nicht mehr vorkommen, es…“, erklärt ihr Gesprächspartner energisch und wird von einem Dritten unterbrochen.

Verdammt, wie viele sind denn da drin?

„Genau das wird es nicht mehr ...“, ist alles, was die fremde Männerstimme erwidert, und ich bilde mir ein, Lennox Stimme zu erkennen.

„... sollte dich nicht vor ein Problem stellen, wenn du glaubwürdig versicherst, dass sie zu viel in die Aktion hineininterpretiert. Du hast der Sache zugestimmt. Vergiss das nicht“, beendet der Zweite seinen Satz und verursacht damit noch mehr Fragezeichen in meinem Kopf.

„Wenn ihr euch ein bisschen zurückhaltet, wäre es weniger offensichtlich, dass hier etwas anders läuft. Schraubt eine Oktave tiefer. Schafft ihr das?“, faucht Tamara den Unbekannten an und ich starre auf die Tür, als würde sie mir Antworten auf meine unzähligen Fragen geben.

„Ausgerechnet du sprichst von Zurückhaltung? Wer hat denn das kleine Jüngelchen abserviert, als der Angebetete aufgetaucht ist?“, höhnt der Fremde und ich ziehe scharf die Luft ein. Woher weiß er das? Die Trennung von Michael ist doch noch ganz frisch.

Mein Körper bebt vor unterdrückter Wut über die Situation.

Das Gefühl, hintergangen worden zu sein, treibt mir brennende Tränen in die Augen.

Mühsam kämpfe ich gegen den Drang, die Tür einzutreten und mir meine Erklärungen zu holen. Stattdessen konzentriere ich mich wieder auf die Geschehnisse in dem Zimmer, das vor mir liegt.

„Der Unterricht geht gleich weiter. Wir sollten uns beeilen und nicht alle gleichzeitig hier raus. Ich würde sagen ...“, höre ich den Unbekannten und schrecke zurück.

Fuck.

Schnell schnappe ich mir meine Sachen, sprinte zum Treppenaufgang der Feuertreppe und gehe in Deckung.

Kaum habe ich die Tür hinter mir geschlossen, spähe ich durch das kleine Fenster in der Mitte und beobachte, wie sich der Bioraum öffnet. Heraus kommen meine Freundin, Maxwell, Lennox, die Typen aus dem Club sowie Stalkerboy und sechs weitere Jungen, deren Namen ich nicht kenne. Allesamt gehören zu der Klasse, welche bei uns untergebracht wurde.

Mit offenem Mund sehe ich mit an, wie sie den Flur entlang laufen und hinter der nächsten Ecke verschwinden. Als hätte mir das Erlebte meine gesamte Energie aus dem Körper gesaugt, lasse ich die Tasche achtlos auf den Boden fallen. Sie landet mit einem dumpfen Schlag und ich lehne mich an die Wand. Mit der Sicherheit im Rücken, dass ich nicht umfallen werde, rutsche ich an der glatten Oberfläche zu Boden. Mein Blick geht ins Leere und unentwegt ziehen die Worte des Fremden und meiner Freundin Kreise in meinen Gedanken.

„Ihr ist aufgefallen, dass ich mich merkwürdig verhalte.“

„Du hast sie siebzehn Jahre studiert, also mach deinen Job.“

„Wie soll ich ihr die Sache erklären?“

„Du musst und du wirst. Es ist zu gefährlich, sie einzuweihen.“

„Du hast der Sache zugestimmt. Vergiss das nicht.“

Vielleicht träume ich das alles nur. In Wirklichkeit liege ich zu Hause und jede Sekunde klingelt mein Wecker.

Überfordert ziehe ich die Knie an und schlinge die Arme um die Beine. Die Kühle der Steinfliesen hilft mir dabei, nicht durchzudrehen. Wie soll ich jetzt weiter machen?

Ich kann nicht in den Unterricht und mich neben Lennox setzen, als wäre all das nicht passiert. Wie soll ich Tamara in die Augen schauen, wenn ich doch weiß, dass sie mich belügt und hintergeht?

Was auch immer das hier ist, es ist klar, dass sie über alles informiert ist und sie hält mich im Auftrag dieser Irren hin.

Aber wieso?

Wer sind die?

Was wollen die von mir?

Je länger ich hier sitze, umso undurchsichtiger wird das alles. Der Gong verkündet, dass die Pause vorbei ist, doch ich ignoriere den Ton.

Stattdessen fahre ich mir mit den Händen über den Kopf hinunter bis zum Hals und vergrabe meine Augen in den Innenflächen, als würde mir die Dunkelheit einen Rat geben.

Was mache ich jetzt?

Noch immer ungläubig schüttle ich den Kopf und stoße die Luft aus.

Weg.

Ich muss von hier weg.

Schwerfällig kämpfe ich mich auf meine viel zu wackeligen Beine, hebe meine Schulsachen auf und eile die Feuertreppe hinab. Ich stemme mich gegen die schwere Schutztür, um sie zu öffnen, und blicke über die freie Fläche vor mir. Die Stimmen der Schüler sind verstummt und der Hof liegt verwaist vor mir. Ich reibe mir die brennenden Augen, die erbarmungslos von der Sonne geblendet werden und verharre noch einen Moment an Ort und Stelle. Das Wetter ist viel zu schön für diesen Tag. Ein Gewitter mit Sturm und Regen würde eher passen und damit meine Stimmung widerspiegeln.

Ich schwenke meinen Kopf von einer Seite zur anderen.

Nachdem ich mir sicher bin, dass mich niemand entdecken wird, presse ich die Tasche an meine Brust und renne über den Asphalt. Ich hetze durch das Schultor und den Gehweg entlang, bis meine Beine zittern. Ich ignoriere das Gefühl ebenso wie das Seitenstechen, welches sich bemerkbar macht und schnell am Unerträglichen kratzt.

Unser Haus kommt in Sicht und erst jetzt werde ich langsamer.

Zu Hause, Sicherheit.

Kapitel 8

Keuchend komme ich zum Stehen und stütze mich für einen Moment auf den Knien ab. Das Blut rauscht in meinen Ohren. Ich ringe japsend nach Atem, während sich mein Puls langsam wieder beruhigt.

Sobald ich durch die Tür bin, stelle ich meine Tasche zur Seite und wische mir mit der Hand den Schweiß von der Stirn. Keuchend gehe in die Küche, wo ich mir ein Wasser aus dem Kühlschrank hole. Mit großen Schlucken leere ich den Inhalt und kleine Rinnsale fließen an meinen Mundwinkeln hinab über meinen Hals. Mit einem tiefen Seufzen stelle ich die Flasche zur Seite und und stütze mich für einen Moment auf der Arbeitsfläche ab.

Ich kann mich schlecht für die nächsten Tage in meinem Zimmer verstecken. Auch wenn der Gedanke äußerst verführerisch ist.

Tamara wird zuerst hier nach mir suchen und wenn meine Eltern von der Arbeit kommen, werden sie mich aus Sorge mit Fragen bombardieren, auf die ich keine Antworten habe.

Während ich die Flasche mit neuem Leitungswasser auffülle und zurück in den Kühlschrank stelle, fällt mir etwas ein. Ich weiß, wo ich mich verstecken kann und nicht gefunden werde.

Mit großen Schritten flitze ich zu meiner Tasche und düse mit ihr in den Händen die Treppe nach oben in mein Zimmer. Eilig tausche ich die Schulsachen mit dem Campingrucksack aus den Tiefen des Kleiderschranks und stopfe ausreichend Kleidung hinein, um zwei bis drei Tage über die Runden zukommen. Zusätzlich mit einem Schlafsack ausgestattet, besuche ich die Küche ein weiteres Mal und statte mich mit einigen Lebensmitteln aus, die ohne Kühlung auskommen. Schnell pinne ich eine Nachricht an den Kühlschrank, damit sich meine Eltern nicht sorgen. Ich schnappe mir eine Taschenlampe sowie ein Buch und verschnüre alles, bevor ich den Rucksack schultere und verschwinde.

Wieder auf der Straße, schlage ich den Weg zum Wald ein.

Nach einer Weile gelange ich auf eine Lichtung zwischen den Bäumen. Von hier aus brauche ich eine weitere Stunde bergauf, bis ein großes freies Stück Wiese sichtbar wird. Von dort aus marschiere ich Richtung Westen, bis ich an meinem Zielort ankomme.

Vor mir erstreckt sich, eingebettet in einer Senke und geschützt von den Bäumen des Waldes, ein kleiner Bergsee. Das Wasser liegt ruhig vor mir und glitzert im Schein der Sonne. Der Frieden, der hier in diesem Stück unberührter Natur herrscht, erfüllt mein Inneres und mein Brustkorb hebt sich, während ich die Luft tief in meine Lunge sauge. Im Fels dahinter versteckt sich auf einer Anhöhe eine Höhle, in der ich vor Jahren einem Regenschauer entkommen bin.

Mit einem Lächeln auf den Lippen überwinde ich die wenigen Meter zum Unterschlupf, der für die nächsten Tage meine Zuflucht sein wird. Ich stelle den Rucksack ab und breite anschließend den Schlafsack aus.

Sobald mein Lager eingerichtet ist, plumpse ich auf den Hintern und ziehe eine Tafel Schokolade aus dem Gepäck.

Meine Gedanken schweifen zurück zu Tamara und den Fremden. Zurück zur Schule der Prügelei und vor allem zu dem Jungen mit den grauen Augen.

Noch immer bin ich fassungslos darüber, dass meine beste Freundin in alles involviert ist und versucht hat, mich zu manipulieren.

Hat sie von Anfang an ein falsches Spiel gespielt?

Seit wann hat sie mich belogen? Die ganze Zeit?

„Du hast sie 17 Jahre lang studiert“, tauchen die Worte in meiner Erinnerung auf und es fühlt sich an, als hätte mir jemand in den Magen getreten. Ich lege die Schokolade zur Seite. Der Appetit ist mir vergangen.

Verstellt sich ein Mensch 17 Jahre lang? Funktioniert das?

Ich weiß gar nichts mehr.

Überfordert von der Situation, gleite ich auf den Rücken und schließe die Augen. Ein unangenehmer Druck legt sich auf meine Wirbelsäule und ich schiebe die Hand darunter, um der Ursache auf den Grund zu gehen. Meine Finger ertasten einen rechteckigen, kühlen Gegenstand, und als ich ihn hervorziehe, schaue ich auf mein Handy.

Es muss mir unbemerkt aus der Tasche gerutscht sein. Mit dem Daumen drücke ich auf den Knopf an der Seite und meine Freundin lächelt mir freudig entgegen. Sofort zieht sich mein Herz schmerzhaft zusammen und meine Sicht verschwimmt. Bevor ich das Gerät im Rucksack vergrabe, schalte ich es ab. Sie wird mich anrufen, sobald sie eine Gelegenheit hat und das Letzte, wonach mir der Sinn steht, sind noch mehr Lügen. Ich rolle mich zu einer Kugel und heiße die Tränen willkommen, die sich aus meinen Augen kämpfen.

Der Schmerz über den Verrat hat sich in mir eingenistet und bricht mit jeder salzigen Kugel aus mir heraus. Ich schluchze jämmerlich und mein Körper wird von Heulkrämpfen geschüttelt.

Grausamer als die Verschwörung, die sich um mich herum ausbreitet, ist jedoch das Gefühl, welches ich in den Armen des fremden Jungen hatte und nach dem ich mich noch immer sehne.

Dabei finde ich ihn unausstehlich. Er ist zu herablassend und eingebildet. Allein bei dem Gedanken, wie er mit Lennox umgesprungen ist, verspüre ich eine nie gekannte Abneigung und doch hält er mich in seinem Bann gefangen.

Die Anstrengung der Wanderung und die Tränen machen sich allmählich bemerkbar und ich schaffe es kaum noch, die Augen offenzuhalten. Erschöpft gleite ich in einen erschreckend realen Traum.

Seit Stunden stehe ich hier. Hoch oben am höchsten Punkt der Festung.

Der Wind zerrt an meinem Kleid und dem offenen Haar. Die Frisur, die mir die Zofe aufwendig geflochten hat, hat sich längst aufgelöst.

In der Ferne sehe ich sie. Gerade aufgerichtet auf ihren prachtvollen Pferden, die sich der Burg nähern. Elf Rösser mit elf Reitern, doch nur auf den einen warte ich. Bald wird er bei mir sein. Bald schließe ich ihn in meine Arme.

Mein Herz schlägt wild in meiner Brust und ich schrecke atemlos auf. Meine Haare sind feucht vom Schweiß und das Shirt klebt an meinem Körper wie eine zweite Haut. Es dauert einige Minuten, bis ich die ungewohnte Umgebung erkenne und sich mein Puls beruhigt.

Wald, Höhle, See. Keine Burg, keine Reiter.

In einer fließenden Bewegung ziehe ich mir das Shirt über den Kopf, stehe auf und schlendere zum See. Das Wasser ist genauso glasklar, wie ich es in Erinnerung habe. Ich streife mir die Shorts von den Beinen und sehe mich um.

Ob ich es wagen kann?

Es ist niemand hier, der mich beobacht. Also wieso nicht? Innerhalb weniger Sekunden trete ich splitterfasernackt ans Ufer und strecke den Fuß aus. Mit dem großen Zeh teste ich die Temperatur, bevor ich mit einigen langen Zügen in der Mitte des Sees untertauche.

Das kalte, klare Wasser ist wie Balsam auf meiner überhitzten Haut und die sich überschlagenden Gedanken.

Auf den Rücken gedreht, lasse ich mich an der Oberfläche treiben und beobachte die kleinen weißen Wattewölkchen am sonst strahlend blauen Himmel. Die singenden Vögel und knackenden Äste im Unterholz nehme ich durch das Wasser nur gedämpft wahr und meine Gedanken wandern fort von hier.

Ich sehe die Reiter vor mir, denen ich erwartungsvoll entgegensehe und plötzlich sind da wieder diese grauen Augen, die mich nicht in Ruhe lassen. Kopfschüttelnd drehe ich mich auf den Bauch und tauche tief hinab unter die Oberfläche. Sobald ich das Wasser durchbreche, schwimme ich gemächlich zum Rand und stapfe hinaus auf das Gras. Ich ringe mein Haar mit den Händen aus, schnappe mir meine Kleider und gehe zurück zur Höhle.

Ein Handtuch habe ich nicht eingepackt, also bleibe ich, wie Gott mich schuf. Kaum das ich auf dem Schlafsatz sitze, arbeitet mein Hirn erneut. Vielleicht probiere ich es mit Yoga?

Ich schlüpfe in meine Unterwäsche und Shorts und versuche mich an einer Meditation. Hoffentlich hilft mir das, einen klaren Kopf zu behalten.

Im Schneidersitz und mit geschlossenen Augen atme ich tief durch. Meine Brust hebt sich langsam und ich spüre, wie der Sauerstoff meine Lunge weitet. Die Geräusche um mich herum werden leiser, bis ich sie nicht mehr wahrnehme.

Unvermittelt kramt mein Unterbewusstsein die Szenen aus dem Traum hervor und ich stehe wieder auf der Festung und schaue in die Ferne.

Wieso träume ich so etwas?

Ich entsinne mich nicht, einen Film in dieser Art gesehen zu haben. Auch in Geschichte sind wir bei einem anderen Thema, und der letzte Urlaub, in dem ich Schlösser und Burgen besichtigen musste, ist lange her.

Ich konzentriere mich auf die Szene und als würde ich eine Kamera scharf stellen, erkenne ich, dass nicht ich die Frau auf der Mauer bin. Es gibt ein paar kleine, aber dennoch offensichtliche Unterschiede. Die Farbe ihrer Augen ist eine Spur heller, ihre Nase ein bisschen größer und ihre Lippen voller. Stände ich neben ihr könnten wir als Zwillinge oder Doppelgänger durchgehen.

Im Traum hatte ich das Gefühl, ihre Emotionen und Gedanken wären meine.

Die Sehnsucht, die ich verspürte, sobald ich die Reiter sah, war wie ein Stich ins Herz. Dasselbe Gefühl hatte ich, als der Junge mit den grauen Augen nach unserem Zusammenstoß verschwunden ist.

Frustriert stoße ich die Luft aus und ich ziehe die Stirn kraus. Ich will mich nicht auf ihn und meine verwirrenden Gefühle konzentrieren.

Mit einem Kopfschütteln verbanne ich die Erinnerung an ihn und diesen Traum und reibe mir müde über die Augen.

Stattdessen wandert mein Geist zu Tamara und ich fasse den Entschluss herauszubekommen, was ihr Verhalten und das Gespräch mit den Fremden zu bedeuten hat.

Ich werde die ahnungslose, treuherzige und dumme Freundin mimen, und sobald ich alles weiß, werde ich sie zur Rede stellen. Es interessiert mich, wer in der Sache mit drinsteckt und was das mit mir zutun hat.

Morgen früh werde ich ihr auf den Zahn fühlen. Mit Sicherheit sucht sie nach mir. Und diese Jungs? Kann ich mich mit ihnen anlegen? Sie haben es schließlich geschafft, meine Schule zu infiltrieren.

Nein, ich werde mich nicht von meinem Plan abhalten lassen, egal wer sie sind. Wenn sie mir dumm kommen, werden sie mich kennenlernen.

Kapitel 9

Die Sonne steht hoch am Himmel, als ich die Lider aufschlage, und die Temperaturen kratzen am Unerträglichen. Sehnsüchtig werfe ich einen Blick zum See, schüttle jedoch den Kopf und wende mich meinen Habseligkeiten zu.

Den Rucksack habe ich schnell gepackt und in Windeseile bin ich bereit für den Weg in die Zivilisation. Ich schalte das Handy ein und wie nicht anders zu erwarten ist die Mailbox gefüllt mit Benachrichtigungen, genauso wie mein WhatsApp-Chat. Zufrieden stecke ich das Gerät in die Hosentasche und beschließe, erst das Gepäck zu Hause abzuladen und meinen Eltern eine Nachricht zu hinterlassen. Zwei Stunden später stehe ich frisch geduscht am Schultor und schaue ihr lächelnd entgegen, als sie mit Maxwell im Schlepptau auftaucht. Sobald sie mich sieht, weiten sich ihre Augen.

„Let the Show begin“, wispere ich und zwinge meine Mundwinkel weiter in die Höhe. Mein Grinsen ist anstrengend und ich hoffe, dass sie nicht erkennt, welche Mühe ich habe.

Ich starte das Schauspiel, als sie nur noch wenige Meter von mir entfernt ist.

„Tamiiiii“ ziehe ich ihren Namen in die Länge und gehe auf sie zu. „Mein Akku war leer und ich habe es erst heute Morgen geladen. Sorry, du bist nicht sauer, oder?“, frage ich und falle ihr um den Hals.

„Sophie? Wo warst du? Ich habe überall nach dir gesucht. Was ist denn passiert?“, platzt es aus ihr heraus und sie löst sich aus meiner Umklammerung. Ihr Blick gleitet prüfend über mich, und wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, dass ihre Sorge echt ist.

Eilig verstecke ich meine Irritation hinter einem, wie ich hoffe, reumütigen Blick und schiebe die Unterlippe nach vorn.

„Mir war gestern alles zu viel. Du warst so komisch und dann die Prügelei. Überhaupt war mein Tag beschissen. Ich musste weg. Das verstehst du doch.“

Sie atmet lautstark durch und zieht mich wieder an sich.

„Ach Süße, das war alles meine Schuld“, entgegnet sie und streicht mir tröstend über den Rücken.

Anscheinend nimmt sie mir die Sache ab. Ich muss ihr zugestehen, dass sich auch ihre schauspielerische Leistung in den letzten Jahren gesteigert hat.

Sie ist echt gut.

„Wieso hast du mir nicht kurz Bescheid gesagt oder mir eine Nachricht hinterlassen? Ich wäre mit gekommen“, sprudelt es aus ihr heraus, während sie mich frei gibt.

„Wo warst du denn?“, will sie nun wissen und zieht die Augenbrauen in die Höhe.

Ich zucke mit den Schultern und weiche ihrem wachsamen Blick aus.

„Hier und da“, behaupte ich lahm und drehe mich zur Seite, damit sie mir nicht länger ins Gesicht sehen kann. Maxwell steht Gentmanlike ein paar Meter von uns entfernt und beobachtet konzentriert die Blätter auf der Straße, die von einer leichten Brise aufgewirbelt werden.

„Kommst du mit zu mir? Wir quatschen in Ruhe über alles“, schlägt Tamara vor und hakt sich bei mir ein.

„Bist du dir sicher? Du willst bestimmt lieber mit ...“, setze ich an und werde sofort von ihr unterbrochen.

„Natürlich bin ich das. Warte kurz, ich gebe Max schnell Bescheid.“ Weißt sie mich an, überbrückt die wenigen Meter zu ihm und wechselt hastig ein paar Worte. Nach einen Abschiedskuss und grenzdebilen Lächeln ihrer neuen Flamme bummeln wir Arm in Arm den Gehweg entlang.

Kapitel 10

Nachdem wir uns auf dem Sofa mit einer großen Portion Eiscreme und einem Krug Eistee eingerichtet haben, legt sie mit dem Verhör los.

„So, nun erzähl mal. Wo warst du?“ Tamara faltet die Beine zu einem Schneidersitz zusammen und sieht mich mit großen Augen an. Diesmal muss mir mehr einfallen als eine nichtssagende Floskel.

„Hauptsächlich bin ich ziellos durch die Gegend gelaufen. Ich erinner mich nicht so genau“, weiche ich ihr aus und mit jedem Wort entsteht eine Falte auf ihrer Stirn, sodass sie aussieht wie einer dieser faltigen Hundewelpen.

„Aber wo hast du geschlafen? Wieso bist du nicht zu mir gekommen?“, bohrt sie nach und ich stoße die Luft aus. Ich muss ihr antworten, damit sie Ruhe gibt.

„Du warst so komisch zu mir, da dachte ich, es wäre besser, ein bisschen Zeit allein zu verbringen. Um meine Gedanken zu sammeln, du weißt schon einfach abschalten.“ Ich lasse mich nach hinten gegen die Lehne fallen und ziehe die Beine an.

„Du hast recht, ich habe mich blöd verhalten. Tut mir leid“, entschuldigt sie sich und rutscht etwas näher an mich heran, „aber, ich verstehe immer noch nicht, wo du warst. Ich habe dich überall gesucht.“

„Na ja, um ehrlich zu sein, habe ich in deinem Garten übernachtet. Im Baumhaus“, lüge ich, sobald mir ein passendes Versteck einfällt. Um sie nicht ständig anglotzen zu müssen, vergrabe ich konzentriert meinen Löffel in die Eiscreme, welches froh und munter vor sich hinschmilzt.

„Im Baumhaus?“, wiederholt sie und zwingt mich damit, sie wieder anzusehen, „Ich war völlig aufgelöst“, stößt sie aus und sieht mich aus weit aufgerissenen Augen an.

„Die Schlägerei und ...“

„Akira steht auf dich, deswegen hat er Lennox geschlagen. Er war eifersüchtig“, unterbricht sie mich laut. Nun bin ich es, die die Augen aufreißt.

Ich muss mich verhört haben.

Wie vom Donner gerührt, sitze ich da und schaue sie mit heruntergeklappter Kinnlade an. Gerade hatte ich vor, mir den Löffel in den Mund zu schieben, doch bei Ihren Worten hält mein Arm mitten in der Bewegung inne.

„Was?“ Die Frage ist mehr ein Flüstern, doch sie hat es trotzdem verstanden.

„Das ist doch offensichtlich. Er hat dich keine Sekunde aus den Augen gelassen.“

Von wem spricht sie? Nicht Grauauge, oder? Mein Arm zittert und ich senke ihn vorsichtig, damit die Flüssigkeit nicht auf das Sofa tropft.

Obwohl mir die Polster gelinde gesagt gerade scheißegal sind.

Der steht nicht auf mich. Nie und nimmer. Der Junge hat nur ernste Probleme.

Nachdem ich nicht reagiere und sie stattdessen konsterniert anstarre, spricht sie weiter.

„Der Plan war, dir nach dem Unterricht alles zu erklären. Ich wollte dir Akira vorzustellen, aber dann bist du von der Bildfläche verschwunden“, endet sie.

Wieder bringe ich ein äußerst originelles „Was?“, Zustande. Ich habe die Augen so weit aufgerissen, dass sie schmerzen und es fühlt sich an, als müssten sie mir jeden Moment aus dem Kopf fallen.

„Was, was? Warum schaust du mich so an. Jetzt sage mir bitte nicht, dass du das falsch verstanden hast“, in der Mitte ihrer Stirn seht eine steile Falte, als sie mich mustert. „Akira? Der Typ mit den grauen Augen? Der, in dessen Armen du lagst? Klingelt da nichts bei dir?“

Sie meint wirklich ihn. Ich fasse es nicht.

Meine Gedanken schlagen Purzelbaum und ich starre ihr stumm entgegen.

„Sophie? Geht es dir gut? Du bist ganz blass“, stellt sie fest, doch ich verstehe sie kaum. Das Blut rauscht unangenehm laut in meinen Ohren und ich spüre, wie mir die Farbe aus dem Gesicht weicht.

Akira.

Endlich hat dieser Kerl einen Namen und was für einen. Immerzu wiederhole ich die fünf Buchstaben in Gedanken.

Wieso habe ich das Gefühl, ihn schon einmal gehört zuhaben?

Bevor Tami auf die Idee kommt, einen Arzt zurufen, räuspere ich mich und schüttle den Kopf.

„Nein“, platzt es aus mir heraus.

„Nein? Was nein? Nein, du hast nicht bemerkt, dass er auf dich steht, oder nein, dir geht es nicht gut?“

Gott, reiß dich zusammen Summert.

„Nein, ich hatte keine Ahnung, dass dieser Freak Interesse an mir hat. Ich meine, wie auch? Wir haben nicht Miteinander gesprochen. Er hat Lennox geschlagen und mich penetrant gestalkt. Das sind keine Attribute, die ich anziehend finde. Er ist mir unheimlich und du brauchst ihn mir auch nicht vorstellen.

Je mehr Abstand zwischen ihm und mir existiert, umso besser.“

Ich stelle meine geschmolzene Eissuppe zur Seite und schenke mir etwas von dem Eistee ein, der längst nicht mehr kalt ist.

„Du stehst nicht auf ihn? Wirklich nicht? Ich meine, bist du dir sicher? Ich dachte ehrlich, bei euch hätte es gefunkt.“

Wie kommt sie denn auf die Idee?

„Der Kerl ist nichts als ein glänzender Luftballon. Außen ganz hübsch und innen voll heißer Luft“ Ich mache eine wegwerfende Handbewegung und beende damit das Thema. Ich habe keine Lust, über diesen Jungen zu reden oder auch nur an ihn zu denken.

„Sag mal, was hältst du von realen Träumen? Glaubst du, unser Unterbewusstsein will uns damit etwas sagen?“, lenke ich das Gespräch in eine andere Richtung und denke an die Produktion meiner Fantasie zurück.

„Ich hoffe nicht. Mich haben letzte Woche Gummibärchen verfolgt, die mich essen wollten“. Sie sieht mich ernst an und ich lache auf.

„Könnte an zu vielen Süßigkeiten liegen“, mutmaße ich und ziehe die Augenbrauen in die Höhe.

„Möglich.“ Ihre Mundwinkel zucken ebenfalls verdächtig, doch sie hat sich schnell wieder unter Kontrolle und spricht weiter, „Wieso? Hat dich Akira etwa doch umgehauen?“

„Garantiert nicht“, halte ich dagegen. „Ich war nur an deiner Meinung interessiert. Letzte Nacht habe ich von Lennox geträumt. Denkst du, deswegen bin ich in ihn verliebt?“

„Du ..., du hast von Lennox geträumt?“ Ihre Stimme ist schrill und ich zucke zusammen. Sie hält sich die Hände vor die Augen, springt auf und läuft von rechts nach links und wieder zurück.

Was ist denn jetzt los? So schlimm war die Lüge nicht.

„Nicht gut. Das ist nicht gut“, murmelt sie panisch vor sich hin.

Hallo?

„Tami? Alles klar? Es war Fantasie. Nur ein Traum.“ Ich versuche sie zu beruhigen. Unsicher, ob ich nicht besser aufstehen und zu ihr gehen sollte, rutsche ich mit den Beinen vom Polster und richte mich auf. Sobald sie begreift, dass sie wie ein Aufziehmännchen auf Speed durch die Gegend rennt, stoppt sie abrupt und sieht mich wortlos an.

„Tamara?“, wiederhole ich und stehe auf.

Sie bekommt sich gar nicht mehr ein.

Deutlich blasser als zuvor versucht sie sich an einem Lächeln, was ihr gründlich misslingt.

„Ja, alles in Ordnung“, antwortet sie monoton und wirkt, als kippe sie jede Sekunde aus den Latschen. Sie räuspert sich. Anscheinend ist ihr aufgefallen, dass sie nicht den Eindruck vermittelt. Mit zwei langen Schritten ist sie bei mir und umklammert meine Oberarme.

„Bitte Sophie erkläre mir genau, wovon der Traum gehandelt hat“, drängt sie und ich hebe fragend eine Augenbraue in die Höhe.

Weshalb?

„Wieso?“ Ich schnaube ungläubig und ziehe die Stirn kraus. Worauf auch immer das abzielt, ich bin mir sicher, dass es mir nicht gefällt.

Ihr Griff wird fester und ihre Nägel bohren sich schmerzhaft in meine Haut.

„Bitte, du musst mir sagen, was passiert ist. Jedes Detail“, fleht sie und sieht mich auffordernd an. Sie hat nicht mehr alle Tassen im Schrank.

„Es war irgendein Traum. Wir haben mit Lennox eingekauft und dann ist Ostenwald aufgetaucht. Vermutlich hat mich sein Spruch mehr mitgenommen als erwartet.“ Ich sehe sie erwartungsvoll an.

Ich bin mir sicher, dass ich morgen zehn blaue Flecken mehr habe.

Ihre Kinnlade klappt nach unten, doch es kommt kein Ton aus ihrem Mund. Sie starrt mich nur an.

Wahrscheinlich habe ich zu dick aufgetragen.

Auf einmal bricht schallendes Gelächter aus ihr und sie löst sich endlich von mir. Während Tamara sich aufs Sofa fallen lässt und sich die Tränen von den Wangen wischt, reibe ich mir über die Arme. Obwohl sie mich losgelassen hat, spüre ich den Druck ihrer Finger immer noch. Das herzhafte Lachen wird von einem Schluckauf unterbrochen und das Hicksen ist so hoch, dass ich ebenfalls grinsen muss.

Es vergehen einige Minuten, bis sie sich beruhigt und sie leert den halben Krug Eistee auf Ex. Die Anspannung, die geherrscht hat, ist von uns abgefallen und ihre Wangen sind leicht rosig.

Sobald sie ihre Fassung wiedererlangt hat, dreht sie sich zu mir und sieht mir fest in die Augen.

„Jetzt mal ehrlich, du hast echt keinerlei Interesse an Akira? Ich hatte den Eindruck, dass da etwas zwischen euch wäre. Außerdem ist er kein übler Typ. Er ist sogar ziemlich heiß.“

Ich schaue sie verdutzt an und antworte ihr im selben Tonfall die halbe Wahrheit.

„Ich sagte dir bereits, dass ich ihn nicht kenne. Außer einigen grenzdebilen Blicken, die nicht als Kommunikation zu deuten sind, gab es nichts zwischen uns. Ich kannte bis eben nicht mal seinen Namen. Also nein, ich habe kein Interesse an ihm.“

Sie nickt, doch sieht an mir vorbei, als verstecke sich jemand hinter der Lehne. Verunsichert drehe ich mich tatsächlich um, um mich zu vergewissern.

Da ist niemand.

„Das glaubst auch nur du“, murmelt sie leise, sodass ich es fast nicht verstehe. Sie steht auf und schnappt sich die Schüsseln, die sie in die Küche trägt.

Wie hat sie das denn nun wieder gemeint? Allmählich mache ich mir Gedanken, ob meine Freundin unter einer schizophrenen Persönlichkeit leidet.

Der Tag neigt sich dem Ende entgegen, ohne dass ich irgendetwas aus ihr herausbekommen habe.

Sie erleidet keine weiteren mysteriösen Panikattacken und gibt auch keinerlei kryptische Worte mehr von sich. Fast vergesse ich, was eigentlich mein Plan war.

Wir schieben uns eine Lasagne in den Ofen und vertilgen sie, während wir ein paar Folgen Stranger Things auf Netflix ansehen. Gegen 23 Uhr bin ich hundemüde und gähne herzhaft.

„Wollen wir schlafen gehen?“, erkundigt sie sich und ich nicke. Meine Knochen knacken, als ich meine Arme hebe und den Rücken durchstrecke. Sie fragt gar nicht erst, ob ich bleibe, sondern geht aus reiner Gewohnheit davon aus. Ihre Eltern arbeiten bis zum nächsten Morgen. Üblicherweise verlassen sie gegen Mittag das Haus, weswegen Tami das Privileg hat im Großen und Ganzen zutun, worauf sie Lust hat.

Sie leiht mir einen ihrer Pyjamas und kurz darauf kuscheln wir uns in ihr Bett. Seit dem Kindergarten läuft das so. Entweder sie bei mir oder ich bei ihr. Heute fühle ich mich allerdings nicht wohl neben ihr einzuschlafen. Es ist zwar schon ein paar Jahre her, aber sie hat mir mal erzählt, dass ich im Schlaf rede.

Was, wenn ich ihr unbewusst berichte, dass alles gelogen war oder wenn ich wieder einen dieser abgedrehten Träume habe? Das Risiko kann ich nicht eingehen.

Ich werde warten, bis sie eingeschlafen ist und dann ins Gästezimmer verschwinden.

Lange dauert es nicht, bis ihre Atemzüge gleichmäßig werden und sie in einen tiefen Schlaf gesunken ist. Auf Zehenspitzen schleiche ich aus dem Zimmer, lege mich ins Gästebett nebenan und kaum das ich liege, fallen mir die Augen zu.

Kapitel 11

Wir sitzen an einer festlich geschmückten Tafel.

Meine Eltern, meine jüngeren Geschwister und ich.

Nur sehen Mutter und Vater nicht aus, wie sie sollten, und ich bin ein Einzelkind.

Mir ist diese Unklarheit bewusst und doch weiß ich mit Sicherheit, dass der Name meines Bruders Alec lautet und der meiner Schwester Irwen. Beide sitzen zu meiner Linken, während Mutter und Vater auf der Stirnseite Platz nehmen.

Der Anlass, aus dem ich hier bin, gefällt mir nicht.

Es bedeutet, dass ich etwas tun muss, das ich nicht will. Es ist der Wunsch meiner Eltern und sobald sich die Tür öffnet, sehe ich ihn - den Grund - die Person, wegen der ich hier bin. Er fixiert mich und ich halte die Luft an. Seine grauen Augen sind faszinierend und eiskalt zugleich. Er beäugt mich, als wäre ich ein lästiges Insekt. Gänsehaut breitet sich auf meinem Körper aus und wandert hinauf bis in meinen Nacken, wo sich die kleinen Härchen aufstellen.

Ich recke das Kinn nach vorn, richte mich ein paar Zentimeter weiter auf und halte seinem starren und ungnädigen Blick stand.

Wir sind beide an ein Schicksal gebunden, dem wir nicht zu entfliehen können. Ich lese in seinen Augen denselben Unwillen, den auch ich empfinde.

Er schreitet hocherhobenen Hauptes neben seinen Eltern einher, gefolgt von seinen jüngeren Geschwistern, welche ihren Blick auf den Boden gerichtet halten. Die Begrüßung untereinander fühlt sich kalt und distanziert an, genauso wie seine Musterung. Es wirkt auf mich, als wären wir allesamt wenig von diesem Bündnis überzeugt, doch wir werden es eingehen, um unser Volk zu vereinen.

Ich werde mich fügen, um den Krieg zwischen den Clans zu beenden.

Er wird es machen, um die Stärke der Armeen gegen die Feinde zu vergrößern.

Unser beider Eltern erhoffen sich so viel von diesem Bündnis und wir dürfen sie nicht enttäuschen. Mutter sagte, ich werde mit der Zeit lernen, ihn zu lieben. Aber wie soll ich Liebe für jemanden empfinden, der keine in seinen Augen trägt? Noch immer betrachtet er mich kalt und hochmütig und ich unterdrücke den Wunsch, mich zu schütteln. Er soll nicht erkennen, welche Wirkung er auf mich hat. Soll nicht bemerken, wie verloren ich mich fühle.

Ich werde stark sein.

Ich werde meine Eltern ehren.

Ich bin eine Sinclair.

Keuchend erwache ich und presse mir die Hand auf die Brust. Mein polterndes Herz will sich nicht beruhigen und ich sehe mich panisch in dem Zimmer um, in dem ich mich befinde.

„Es war nur ein Traum. Nur ein Traum“, wispere ich und versuche, meinen Atem unter Kontrolle zu bekommen. Die Angst, die mich weiterhin gefangen hält, hat sich wie ein Klumpen in meinem Magen eingenistet und ich traue mich kaum, die Augen zu schließen. Was, wenn ich ihn noch einmal sehe?

Schon wieder hat es sich zu real angefühlt. Das Mädchen war ich und gerade wurde meine Hochzeit verhandelt. Ihr Plan war, dass ich diesen Jungen heirate. Den mit den grauen Augen und dem Gesicht von Akira. Allein bei dieser Vorstellung bekomme ich eine Gänsehaut und schüttele mich. Zitternd stoße ich den Atem aus und trete die Decke zur Seite.

Ich brauche frische Luft.

Das Bild dieses Treffen verfolgt mich aus dem Zimmer heraus und immer wenn ich für ein Blinzeln meine Lider senke, sehe ich diese grauen Augen vor mir.

Er sah aus wie Akira, der gleiche eindringliche Blicke. Dasselbe arrogante Verhalten. Als wüsste er, dass ich gegen ihn keine Chance habe.

Auch wenn ich mir eingestehe, dass ich ihn nicht aus den Kopf bekomme und genauso wenig aus meinen Träumen, verstehe ich nicht, was mir mein Unterbewusstsein damit sagen will.

Freud hätte sich die Finger nach einem Patienten wie mir geleckt.

Wieso träume ich von einer Hochzeit? Ausgerechnet mit ihm?

Auf wackeligen Beinen gehe ich die Treppe hinunter und knote mir dabei die Haare zusammen. In der Küche schmeiße ich die Kaffeemaschine an, stelle eine Tasse unter den Auslauf und sehe zu, wie die Flüssigkeit sich darin sammelt. Die Maschine stammt nicht aus der Vorkriegszeit. Innerhalb weniger Sekunden halte ich einen duftenden Kaffee in meinen Händen.

Ich schnappe mir eine kuschelige Decke vom Sessel, öffne die Balkontür und setze mich auf der Terrasse in die Hollywoodschaukel. Langsam schwingt sie hin und her und ich breite den Stoff über den Beinen aus. Ich lehne mich zurück und lege den Kopf in den Nacken.

Wie am See schließe ich die Lider und atme in tiefen Zügen die kühle Morgenluft ein. Unvermittelt blicke ich auf den Jungen mit den grauen Augen und mein Herz flattert wie ein Schmetterling.

Bei genauerer Betrachtung erkenne ich ein paar feine Unterschiede, genauso wie bei dem Mädchen. Sie ist dieselbe, die den Reitern entgegen geschaut hat, da bin ich mir sicher. Der Akira aus meinem Traum hatte zwar denselben Blick und verblüffenderweise die gleichen grauen Augen, doch war er schmächtiger als Grauauge. Seine dunkle Mähne war eine Spur zu lang und er trug einen Dreitagebart. Außerdem hatte er eine kleine Narbe über der rechten Braue, die ihn gefährlicher erscheinen ließ. Ich schätze, er war ein paar Jahre jünger als sein Ebenbild. Mit dieser Härte im Blick hatte er bestimmt einige Feinde in die Flucht geschlagen. Ein Schauer läuft mir über den Körper und ich schüttle mich unwillkürlich.

Grauauge hat zwar ebenso einen stählernen Ausdruck, doch so wie sein Traumbild hat er mich nicht angesehen. Nicht einmal Lennoxs hat er mit solch einem Blick bedacht.

Mitleid flutet mich, als ich an das Mädchen denke und die Angst kehrt zurück, die sie empfunden hat. Die beiden sind so jung. Jünger als ich, doch wird über ihre Zukunft verhandelt, ohne ihnen eine Wahl zu lassen.

Mir ist klar, dass sie durch dieses Bündnis wahrscheinlich mehr Lebensjahre zur Verfügung hatten, doch diese Ungerechtigkeit lässt mich nicht los und ich seufze auf.

Gedankenverloren schüttle ich den Kopf und verbanne sie aus meinem Geist. Wieso habe ich mit Traumgestalten Mitleid?

Sie war ein Hirngespinst, nicht echt, nicht real.

Aber warum, um alles in der Welt, habe ich dieses verdammte Gefühl, das hinter den Bildern mehr steckt?

Ich würde so gerne mit Tamara über all das reden, mich ihr anvertrauen, doch das geht nicht. Noch immer weiß ich nicht, was sie mit den Fremden zu schaffen hat und Tatsache ist, das sie mich belogen hat.

Nein, ich gebe nicht auf. Ich bringe die Wahrheit zum Vorschein und werde nicht aufgeben, bis sie raus ist. Sobald ich die Augen öffne, stelle ich überrascht fest, dass der Tag angebrochen ist.

Mein Gott, wie lange sitze ich schon hier?

Tamara steht im Türrahmen und betrachtet mich aufmerksam.

Mir wird warm und die Hitze steigt bis in meine Wangen. Ich fühle mich ertappt, dabei habe ich nichts getan.

„Seit wann stehst du da?“

„Lange genug“.

Wie ist das denn gemeint? Verwirrt ziehe ich die Stirn kraus.

„Warum hast du dich nicht zu mir gesetzt?“, will ich lächelnd wissen und klopfe auf die freie Fläche neben mir.

„Hast du mir irgendetwas zu sagen?“, entgegnet sie, ohne sich zu bewegen, und mein Grinsen gefriert zu einer Maske.

Eigentlich nicht, nein.

„Ich hab nicht gut geschlafen und dachte, ich kühle mich ein bisschen ab“, erkläre ich. Langsam nehme ich einen Schluck von meinem nun lauwarmen Kaffee.

Sie sieht mich weiterhin an und zieht zur Antwort eine Augenbraue in die Höhe.

Wortlos wendet sie sich auf dem Absatz um und verschwindet ins Innere des Hauses.

„War wenigstens nicht gelogen“, flüstere ich, schiebe die Decke zur Seite und folge ihr.

Ich finde sie an der Kaffeemaschine und bin froh, dass sich nicht alles geändert hat. In gebührenden Abstand bleibe ich stehen und schaue zu, wie sie ihr Handy in die Hosentasche schiebt.

Hat sie ihre Mails gecheckt oder jemanden geschrieben? Sie hebt den Kopf und schaut mir offen ins Gesicht.

„Besser wir ziehen uns etwas an“, erklärt sie mit ernster Stimme und ich ziehe die Brauen zusammen. Mein Blick gleitet zur Küchenuhr an der Wand, die nicht einmal sieben Uhr anzeigt.

„Wir haben eineinhalb Stunden, bevor wir losmüssen. Wir haben genug Zeit“.

„Wir bekommen gleich Besuch, daher dachte ich, es wäre besser, wenn wir uns umziehen. Wenn es dir allerdings lieber ist, in deinem Pyjama hier zu sitzen, bitte“, kommt ihre patzige Antwort und mir klappt die Kinnlade nach unten. Sie wendet sich ab, schnappt sich ihre Kaffeetasse und verschwindet die Treppe hinauf.

Scheiße, es war eine Nachricht.

Versteinert stehe ich da und schaue ihr hinterher, ohne einen Finger zu rühren.

Wem hat sie geschrieben? Was soll ich jetzt machen? Abhauen? Hab ich überhaupt genug Zeit? Es hat sich angehört, als würde wer auch immer bald hier aufschlagen.

Ich rätsel noch über mein zukünftiges Handeln, da kommt sie die Treppe wieder herunter und bleibt wenige Zentimeter vor mir stehen.

„Das mit dem Pyjama war eher rhetorisch gemeint. An deiner Stelle würde ich mich anziehen“, bemerkt sie, und ich schrecke auf.

„Wie, meinst du das? Wer kommt hierher?“ Ich sehe sie mit großen Augen an und verdränge das Gefühl, ein weiteres Mal hintergangen worden zu sein.

„Anscheinend haben wir beide Geheimnisse. Lass dich überraschen“, kontert sie und in diesem Augenblick ertönt die Klingel. Sie bewegt sich kommentarlos zur Tür und ich schlucke den Kloß in meinem Hals hinunter, um nicht daran zu ersticken.

Scheiße, Scheiße, Scheiße.

„Raus hier. Sofort!“, schreie ich mich in Gedanken an und in dem Moment, in dem Tamara aus meinem Blickfeld verschwindet, renne ich zum Garten hinaus. In Sekundenschnelle überschlage ich meine Optionen.

Ohne darüber nachzudenken, springe ich mit einem Satz zur Gartentür, da diese mir als die schnellste und einfachste Möglichkeit zur Flucht erscheint. Kaum das ich die hoffnungsvolle Rettung erreiche, steht eine breite Brust vor mir, auf dessen Lennox Kopf thront.

Fuck.

„Guten Morgen Prinzessin“, begrüßt er mich und mustert langsam meine Erscheinung von oben bis unten. Ein spöttisches Lächeln zeichnet sich auf seinem Gesicht ab und seine Augen funkeln vor Belustigung.

„Hattest du vor in diesem Aufzug die Biege zu machen?“

„Ich habe eher an einen Spaziergang gedacht“, antworte ich mit leicht zittriger Stimme und trete einen Schritt zurück.

Vielleicht schaffe ich es mich an ihm vorbei zu drücken, wenn ich schnell genug bin.

Er gluckst und versperrt mir endgültig den Weg, als hätte er meine Gedanken gelesen. Bevor ich wieder besseren Wissens versuche, an Lennox vorbeizukommen, spüre ich eine Präsenz im Rücken. Wir sind nicht mehr allein. Mein ganzer Körper erzittert und mir ist bewusst, welchen Anblick ich biete. Kurze Shorts und hauchdünnes Spaghettitop. Ich zeige ziemlich viel Haut und mir wird gleichzeitig heiß und kalt. Keiner spricht ein Wort. Selbst Lennox´s Ausdruck ist versteinert und er konzentriert sich darauf, meinem Blick nicht zu begegnen.

Ich spüre, wie er auf mich zu kommt und in der banalen Hoffnung, dass er mich nicht sieht, wenn ich ihn nicht sehe, schließe ich die Augen.

Gott wie gerne wäre ich jetzt an einem anderen Ort.

Die Zeit scheint still zustehen.

Keiner bewegt sich.

Wir stehen in Tamaras Garten und ich warte darauf, dass etwas geschieht, doch es bleibt still. Zittrig hebe ich meine Lider und ziehe scharf die Luft ein.

Verdammt.

Was ich erblicke, ist nicht die breite Brust von Lennox.

Vor mir steht jemand anderes. Jemand, der mich mit seinem Blick gefangen nimmt, sobald ich ihm in die Augen schaue.

Wie zum Teufel ist er dorthin gekommen?

Und wohin ist Lennox verschwunden?

Beamen die sich? Habe ich es hier mit Aliens zutun oder sind sie darauf spezialisiert, sich lautlos zu bewegen?

Ich meine, Akira ist nicht klein, aber das Lennox sich bei seiner Statur geräuschlos bewegt, ist ein Ding der Unmöglichkeit.

Er sagt kein Wort, sieht mich nur an, fast als hätte er Angst, ich würde weglaufen, sobald er mich anspricht.

Ich fühle mich wie gelähmt und starre ihm entgegen. Mein Herzschlag ist weit aus dem messbaren Bereich und mein Atem kommt stoßweise.

Er bewegt sich langsam auf mich zu, bedacht darauf, keine meiner Reaktionen zu verpassen. Jeder zuckende Muskel, jeder Wimpernschlag, ja selbst meinen unregelmäßigen Atem scheint er im Blick zu haben.

Mit jedem Schritt, den er sich nähert, hebe ich den Kopf weiter an, um ihm ins Gesicht zu schauen. Sobald nur noch eine Handbreit Platz zwischen uns ist, bleibt er stehen und ich fühle die Wärme, die er ausstrahlt auf meinem Körper.

Sein Blick ist fest auf mich gerichtet, derweil meine Augen zwischen seinen vollen Lippen und den stählernen Iriden hin und her wandern. Die Hitze in meinen Wangen nimmt zu und mein Magen zieht sich bei seinem Anblick zusammen. Während ich mir mit der Zunge über die Lippen fahre, um sie zu befeuchten, strahlen seine Augen wie flüssiges Silber und ein Kribbeln breitet sich in mir aus. Unerwartet senkt er seine Lider und der Bann, indem ich gefangen war, ist gebrochen.

Ich stoße die Luft aus und schwanke rückwärts, um einen größeren Abstand zwischen uns zu schaffen. Auch wenn er meinem Blick ausweicht, starre ich ihn an wie eine Erscheinung.

„Zieh dir etwas an. Ich will nicht, dass die anderen dich so sehen“, fordert er mich auf und ich spüre jedes Wort tief in mir nachklingen.

Wieso hat er so eine Wirkung?

Er sieht mich nicht direkt an, wobei ich mir nichts mehr ersehne als das. Genauso Wünsche ich mir, dass er mich wieder hält, wie in der Schule. Allerdings macht er nicht den Anschein, als würde er mich in seine Arme ziehen wollen. Im Gegenteil. Er bewegt sich zwei Schritte rückwärts und hinter mir höre ich jemanden räuspern. Ich drehe mich nicht um, will es nicht. Es würde bedeuten, dass ich ihn nicht mehr ansehe.

„Sie muss sich umziehen. Bitte kümmere dich darum“, wiederholt er, nachdem ich mich nicht bewege, und richtet seinen Blick dabei auf jemanden hinter mir. Jetzt ist seine Stimme nicht mehr rau und sehnsüchtig wie vor wenigen Augenblicken. Sie ist streng, sodass klar ist, dass er keinen Widerspruch duldet.

Ich werde sanft an der Schulter gedrückt und von Tami umgedreht.

Sie zieht mich am Arm nach drinnen und ich höre verschiedene Stimmen aus dem Wohnzimmer. Mein Gott, wer ist das?

Eine Gänsehaut ergreift mich und in meinem Nacken prickelt es unangenehm. Ich habe das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen und die Ränder meines Sichtfelds werden unscharf. Eilig löse ich mich aus Tamaras Griff und stürme die Treppe hinauf ins Badezimmer. Mit einem lauten Knall schlage ich die Tür zu und verriegele sie hinter mir. In den nächsten Sekunden schaufle ich kaltes Wasser in mein Gesicht, um mich vor der drohenden Panikattacke zu retten. Sobald ich mich wieder einigermaßen im Griff habe, richte ich mich auf und betrachte mein Spiegelbild.

Fuck.

Nicht mein Ebenbild schaut mir entgegen, sondern das Mädchen aus dem Traum. Mit aufgerissenen Augen setze ich zu einem Schrei an, der meine Kehle nie verlässt. Bevor ein Ton aus mir herausbricht, geben meine Beine nach und ich sacke auf den Fliesen zusammen.

Kapitel 12

Kräftige Arme heben mich vom Boden hoch und legen mich auf eine weiche Unterlage. Nie wieder will ich meine Augen öffnen. Denn wenn ich die Lider hebe, wird alles zur Realität. Es wird alles wahr, was ich nicht verkrafte. Der ganze schreckliche Albtraum.

Sanft streichelt jemand über meinen Arm, um mir Trost zu spenden, und ich blinzle widerwillig durch meine langen Wimpern. Mutter sitzt an meiner Seite und betrachtet mich aus ihren liebevollen, allwissenden Augen. Ich habe ein spartanisch eingerichtetes Zimmer, welches trotz der kargen Einrichtung heimelig und tröstend wirkt. Das große Bett, auf dem ich liege, hat vier hölzerne Säulen, von denen mich die Tiere des Waldes behüten. Die Schnitzerei ist filigran und an der gegenüber liegenden Wand hängt ein riesiger Vorhang, der die Geschichte unseres Clans zeigt. Dieses Zimmer ist meine Heimat, mein Schutz und sie wollen, dass ich es verlasse. Für immer.

Das Bett ist mit Unmengen an weichen Fellen bedeckt und wärmt auch ohne Feuer meinen zitternden Leib. Ich schluchze erbärmlich auf und drehe mich zu einer Kugel gerollt in ihre Richtung.

„Ich werde diesen arroganten, gefühlskalten Campbell nicht heiraten. Mutter, bitte. Zwingt mich nicht. Er hat nicht einen Hauch menschlicher Wärme an sich“, jammere ich und unterdrücke die Tränen, die sich empor kämpfen.

„Ich weiß, dass es schwer für dich ist, doch denk an unser Volk. Denke daran, was es für sie bedeutet. Was es für uns bedeutet. Du bist stark. Du bist stolz und du hast einen Willen, der nicht zu zähmen ist. Du bist eine Sinclair. Gib ihm eine Chance. Erst wenn die wahre, reine Liebe zwischen euch erblüht, wird unser Volk vereint sein“, hält sie dagegen und streicht beruhigend über meinen Kopf.

Mir ist speiübel und mein Kopf dröhnt unnachgiebig. Ich betaste vorsichtig meine Schläfe und zucke zusammen, als ich eine dicke Beule spüre.

„Verdammt“, stoße ich aus und hebe flatternd meine Lider.

„Schön, dass du wieder da bist“, meint Tamara, die in dem kleinen Sessel vor dem Fenster platz genommen hat und von einer Zeitschrift in ihren Händen zu mir sieht.

„Was ist passiert?“, will ich wissen und betaste abermals das Hörnchen. Aus dem richtigen Blickwinkel sehe ich wahrscheinlich aus wie ein Einhorn.

„Kann ich dir auch nicht genau sagen. Du bist plötzlich ins Badezimmer gerannt, als wäre der Teufel hinter dir her. Ich habe dich gerufen, aber du hast nicht geantwortet und die Tür war verriegelt. Nachdem ich einen Schlag gehört habe, wusste ich, dass etwas nicht stimmt, und habe Max geholt“, erklärt sie, und ich richte mich vorsichtig auf. Die Übelkeit nimmt zu, doch ich ignoriere das flaue Gefühl und runzle die Stirn.

„Und wie komme ich hier her, wenn das Bad verschlossen war?“

„Akira hat das Schloss aufgebrochen und dich aufs Bett gelegt“, berichtet sie sichtlich erleichtert, dass ich wach bin.

„Na toll“, rutscht es mir heraus und Hitze steigt meinen Hals nach oben.

„Erinnerst du dich an irgendetwas aus deinem Traum?“, hakt sie wissbegierig nach und meine Augen werden groß.

„Was?“

„Du hast im Schlaf geweint.“

Habe ich?

Es klopft und ich schrecke zusammen. Sie wirft mir mit erhobener Augenbraue einen verwunderten Blick zu, steht auf und öffnet die Tür.

Ich höre gedämpfte Stimmen, doch es ist zu leise, um etwas zu verstehen.

„Zieh dich lieber um“, fordert sie, sobald sie sich wieder zu mir dreht, geht zur Kommode und zaubert einen Stapel Kleidung heraus. Sie hält ihn mir abwartend entgegen, doch ich schaue sie lediglich mit großen Augen an.

„Wer war das?“, will ich wissen, ohne zu regieren. Statt einer Antwort legt sie die Kleider vor mir ab und verschwindet kommentarlos aus dem Zimmer.

Es vergehen einige Sekunden, in denen ich die geschlossene Tür anstarre, als würde sie sich jeden Augenblick wieder öffnen, doch dies geschieht nicht. Mit brummendem Schädel wälze ich mich aus dem Bett und ziehe die Klamotten an, die sie mir hingelegt hat.

Anschließend werfe ich einen Blick zum Schminktisch. Meine Hände zittern unwillkürlich, als ich an das Mädchen denke, welches mir im Spiegel entgegen geschaut hat, und mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Was, wenn es wieder sie ist, die ich erblicke?

Ängstlich stoße ich die Luft aus und sauge sie schnell wieder ein, ehe ich mich vor das fragile Tischlein schiebe, auf dessen Platte ein großer, ovaler Spiegel thront.

Für den Bruchteil einer Sekunde glaube ich, die Fremde zusehen, doch nach einem Zwinkern bin dort nur ich. Zwar mit einer dicken Beule, aber immer noch ich.

Sophie.

Die Luft, die ich unwillkürlich angehalten habe, entweicht zischend meinem Körper und ich betaste vorsichtig mein Gesicht. Ich spüre meine kalten Finger auf meinen geröteten Wangen und mein Puls beruhigt sich mit jeder Sekunde, die vergeht.

Mit eiligen Handgriffen käme ich mein langes, blondes Haar, über die Stirn, sodass die Beule darunter verschwindet und ich nicht so mitgenommen aussehe, wie ich mich fühle.

Mit meinem Äußeren zufrieden, stehe ich auf, drücke den Rücken durch und tapse zur Tür, durch die ich zwei hastig sprechende Menschen höre.

„Ich denke nicht, das sie bereit ist. Du hast sie nicht gesehen. Sie ist völlig fertig“, dringt Tamaras Stimme an meine Ohren und ich runzle die Stirn. Sie scheint ehrlich besorgt.

„Umso wichtiger ist es, dass wir sie in alles einweihen. Sie muss die Wahrheit erfahren, und zwar jetzt“, herrscht die andere Stimme und ich bin mir sicher, dass es sich bei ihr um die von Akira handelt. Nur ein Gedanke an ihn reicht, um mir eine Gänsehaut zu bescheren, und die Bilder aus dem Traum tauchen wieder auf. Sofort beben meine Hände und mein Körper lechzt nach seiner Nähe.

Was stimmt nicht mit mir?

Mein Verstand rät mir, von hier zu verschwinden, und zwar sofort, doch ich bin wie erstarrt und fixiere das Holz der Tür, während ich in meinem Kopf die Fluchtmöglichkeiten durchgehe.

Aus dem Fenster klettern schaffe ich nicht, dafür sind wir zu hoch und einen anderen Ausgang außer dem, der vor mir liegt, gibt es nicht. Ich habe keine Wahl, als mich dem zu stellen, was auf mich wartet. Was auch immer es ist.

Ein Klopfen schreckt mich aus meinen Gedanken auf und abermals zucke ich zusammen. Die Tür schwingt nach innen und ich weiche einen Satz zurück. Mit einer Beule auf der anderen Seite gehe ich als Luzifer persönlich durch. Stilecht, mit zwei Hörnern. Akira steht vor mir und mustert mich eingehend, während mein Blick an ihm auf und ab wandert und ich nicht mehr in der Lage bin zu atmen. Ob er mir die Fluchtgedanken vom Gesicht abließt?

Zügig verschränke ich meine zitternden Finger hinter dem Rücken und richte mich automatisch ein paar Zentimeter weiter auf. Er soll nicht sehen, wie ich mich fühle. Nicht, dass er denkt, er könne mich so schnell aus dem Konzept bringen.

Er hebt sein Kinn und setzt eine steinerne Maske auf, die mich sofort daran erinnert, dass ich ihn nicht ausstehen kann.

So etwas wie im Garten wird nicht wieder vorkommen. Ich hatte einen mentalen Aussetzer, anders ist dieser Bann zwischen uns nicht zu erklären. Mein schneller schlagendes Herz ordne ich den Umständen zu. Das hat nichts mit ihm zutun. Überhaupt nichts.

Am besten ist es, wenn ich mir ins Gedächtnis rufe, dass er Lennox ungerechtfertigt attackiert hat. Da hat der Kerl sein wahres Gesicht gezeigt. Wenn ich mir das immer wieder vorsage, bin ich immun gegen ihn.

„Fertig?“, erkundigt er sich mit hochgezogener Augenbraue und kommt einen Schritt auf mich zu. Reflexartig weiche ich zurück und ärgere mich über meine Feigheit.

Ich recke das Kinn, funkle ihn mit aller Verachtung, die ich aufbringen kann an und nicke. Um ihm nicht zu nahe zu kommen, umrunde ich ihn und trete zu Tamara, die an der Treppe auf uns wartet. Ich folge ihr hinunter und sobald wir die letzte Stufe erreicht haben, wird das Stimmengewirr aus Tenor, Bariton und Bass lauter.

Ich fühle mich wie ein Lamm auf dem Weg zur Schlachtbank. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Ich werde erfahren, was hier abläuft.

Das habe ich gewollt, oder? Die Wahrheit?

Verunsichert, ob ich es wage, den Raum zu betreten, der vor mir liegt, halte ich mitten in der Bewegung inne. Tamara verschwindet aus meinem Blickfeld, doch ich spüre die Präsenz hinter mir, die nun neben mich tritt und mich neugierig betrachtet. Sofort beschleunigt sich mein Herzschlag und ich schlucke bei dem kurzen Blick in seine grauen Augen.

„Was ist los?“, will er wissen, doch ich antworte nicht.

Nervös wandert mein Blick zwischen ihm, der offenen Tür und dem Flur, der mich zur Haustür bringt, hin und her. Was diese Menschen auch immer vorhaben, mir zu erzählen, ich bin mir sicher, dass es nichts ist, was ich hören möchte. Positive Nachrichten werden nicht geheimnisvoll mitgeteilt. Das kennt man aus den einfachsten Filmen. Es sind immer die Schlechten. Die, die eine Gänsehaut auslösen und die einen laut schreiend die Flucht ergreifen lassen.

Er scheint zu ahnen, welche Gedanken mir durch den Kopf jagen, denn er legt sanft seine Hand auf meinen unteren Rücken. Vorsichtig schiebt er mich weiter dem Durchgang entgegen.

Während ich mich die letzten Meter von ihm leiten lasse, wiederholen sich in meinem Kopf Worte, an die ich nicht gedacht habe.

„Du bist Stark, du hast keine Furcht, dein Wille ist nicht zu zähmen. Du bist Sophie Leonore Summert“.

Kapitel 13

Mit festen Schritten betrete ich das Zimmer und er löst sich von mir, um sich in einem der Sessel niederzulassen. Sobald ich von den Anwesenden wahrgenommen werde, verstummen die Stimmen und die Blicke aller liegen auf mir.

Mein Herz schlägt schneller und trommelt gegen meine Brust, während ich mich zwinge, gleichmäßig zu atmen. Es ist mir unangenehm, im Mittelpunkt zu stehen. Die Hitze, die zu meinem ständigen Begleiter mutiert, wandert langsam meinen Hals nach oben, bis meine Wangen vor Scham brennen. Ich senke den Kopf und die Selbstsicherheit, die mich erfasst hatte, verpufft schlagartig.

Kurz hege ich die Hoffnung, ein Loch würde sich auftun, um unterzutauchen, doch natürlich lässt das verdammte Ding auf sich warten.

Tamara, die neben Maxwell auf der Armstütze hockt, erkennt mein Dilemma, springt hoch und zieht mich zum Sofa, auf dem die Jungs aus dem Club sitzen. Die beiden stehen auf, ohne das sie ein Wort gesprochen hat, und lehnen sich ein paar Meter entfernt an die Wand.

Unschlüssig, ob es klug ist den anzufangen zu machen, wage ich einen Vorstoß und würge unter größter Anstrengung ein „Hallo“, hervor.

Schweigend sitzen wir im Kreis und die Zeit scheint still zustehen. Mit jeder Minute, die vergeht, wird mir unbehaglicher zu Mute und meine Gedanken schweifen wieder zur Haustür.

Vielleicht hätte ich doch besser die Flucht ergriffen, statt mich angaffen zulassen.

Meine Unsicherheit schlägt allmählich in Zorn um und unvermittelt bricht es aus mir heraus.

„Wer ich bin, scheinen ja alle zu wissen. Es wäre also nett, wenn ihr euch vorstellt und mir jemand erklärt, woher ihr mich kennt und was das hier soll“, fordere ich und begutachte die Runde, die außer Tamara komplett aus Jungs besteht.

Die Gesichter der Anwesenden gehören zu der Austauschklasse und zeigen entweder erstaunen oder entsetzen, doch weiterhin bleiben sie stumm.

„Das war ja klar. Hast du nicht aufgepasst, als sie sich in der Schule vorgestellt haben?“, flüstert meine Freundin und zwinkert amüsiert, nachdem ich entschuldigend die Schultern zucken lasse.

Damit scheint der Bann gebrochen und Maxwell übernimmt die Vorstellungsrunde. Er zeigt reihum auf die Anwesenden und der jeweils Angesprochene, hebt kurz den Kopf oder nickt mir zu. Ich konzentriere mich darauf, die Gesichter mit den Namen zu verbinden und während ich von einem zum anderen hüpfe, überkommt mich das Gefühl, ihnen schon einmal begegnet zu sein.

Unwillig schüttle ich mich, um es wieder loszuwerden, doch es hält an mir fest wie eine Klette.

Max kommt zum Ende und mir fällt auf, dass er Akira ausgelassen hat. Mechanisch drehe ich mich zur Seite, um ihn anzusehen. Das war keine gute Idee. Er mustert mich schweigend und sofort spüre ich, wie sein intensiver Blick Besitz von mir ergreift. Japsend schließe ich die Augen und mir ist egal, wie psychopathisch das auf die anderen wirkt. Ich lasse nicht zu, dass sich das wiederholt. Er ist ein arroganter Mistkerl und meiner nicht würdig.

Moment. Meiner nicht würdig? Solche Worte benutze ich für gewöhnlich nicht.

Die Knoten in meinem Hirn lassen mich vergessen, weshalb ich die Lider geschlossen habe und sobald ich sie wieder hebe, schaue ich in diese unglaublich grauen Augen. Sie machen es mir schwer, einen klaren Gedanken zu fassen.

„Also? Warum das alles?“, meine Stimme klingt spröde und ich räuspere mich, während ich den Blick von seinem löse und in die andere Richtung schaue. Lennox lächelt mir ermutigend entgegen und meine Mundwinkel zucken unwillkürlich in die Höhe.

„Es ist wichtig, dass du uns vertraust Sophie und nicht wieder verschwindest“, erklärt ausgerechnet der, von dem ich mich abgewendet habe.

„Du sollst alles erfahren, doch wir sind uns nicht sicher, wo genau wir anfangen, um dich nicht zu überfordern“.

Meine Augenbraue wandert in die Höhe und ich wende mich langsam in seine Richtung. Diesmal halte ich meinen Blick allerdings auf einen Punkt über seiner Schulter gerichtet, um nicht erneut in seinen Bann gezogen zu werden.

„Überfordern?“, frage ich ungläubig und schnaube.

„Meinst du nicht, dass das hier“, ich deute in die Runde und lache auf, „dafür ausreicht?“, reagiere ich gereizt auf sein Weichspülergeschwätz. Ich ignoriere die Person, die neben mir sitzt und von unterdrücktem Gekicher geschüttelt wird.

Von wegen Vertrauen. Wie sollte ich?

„Ich habe nicht den blassesten Schimmer von dem, was hier abläuft und du verlangst, dass ich euch vertraue?“, fahre ich ihn an und schüttle gleichzeitig den Kopf. „Beginn lieber mal mit einer guten Erklärung und das am besten von vorn, bevor mir der Kragen platzt“. Meine Stimme überschlägt sich vor aufgestauter Aggression. Auch wenn ich ihn nicht direkt ansehe, erkenne ich doch das Staunen, welches nun darin geschrieben steht.

„Vom Anfang an ja?“, kommt der nächste Satz von einem anderen und lenkt meine Aufmerksamkeit fort von ihm.

Rutherford, wenn ich mich nicht irre.

„Na gut“, erklärt Ruthi legt die Unterarme auf seinen Oberschenkel ab und beugt sich nach vorn.

„Um eines vorab allerdings noch klarzustellen, wir kennen dich nicht. Nicht wirklich. Wir haben dich im Auge behalten. Genauso wie drei andere Mädchen, die auf der Welt verstreut sind. Du bist die letzte logische Möglichkeit, daher sind wir hier“, erklärt er und sieht mich dabei fest an.

Ich verstehe nur Bahnhof und gebe ein stilvolles „Hä“, von mir. Meine Brauen ziehe ich so fest zusammen, dass sich eine steile Falte auf meiner Stirn bildet, und ich lasse mich mit verschränkten Armen gegen die Rückenlehne fallen.

Er übergeht meinen Einwurf mit ernstem Gesichtsausdruck und fährt fort.

„Akira war bei euch allen. Bei allen potenziellen Mädchen und hat sich in deren Umgebung gezeigt. Keine hat auf ihn reagiert. Keine außer dir. Aus diesem Grund wissen wir, dass du die Richtige bist“, endet er seine für mich wenig aufschlussreiche Erzählung.

„Sorry, aber ich bleibe dabei. Hä?“

Die haben doch nicht mehr alle Latten am Zaun.

Wenn nach Ausschlussverfahren drei von vier Mädchen nicht die „Richtige“ sind, ist es dann nicht logisch, dass die Letzte es ist?

„Bisher hast du mir nichts verraten, außer das Akira ein Stalker ist“, entgegne ich und drehe mich anschließend wieder zu meiner Linken. „Toll, du hast bewiesen, dass deine Stalkerfähigkeiten überragend sind“.

„Du weißt, dass ich dich nicht stalke“, fährt er mich energisch an und ich betrachte die scharfe Kante seines Kiefers.

„Du fühlst es, wenn wir uns ansehen. Ich weiß es und du hast merkwürdige Träume, richtig?“

Jetzt fängt er auch noch damit an. Was soll das?

„Oooh ja und was für welche“. Meine Stimme trieft vor Sarkasmus und ich verenge die Augen. „Tamara wiederholt sie bestimmt gerne für dich, schließlich habt ihr sie auf mich angesetzt“, fauche ich und lasse damit die Bombe platzen.

Zwar hatte ich nicht vor, mein Wissen so schnell zu lüften, aber ich bin dermaßen wütend, dass mir die Worte ungefiltert herausrutschen. Schwer atmend lehne ich mich wieder zurück und starre den Anwesenden entgegen. Es ist so Still, dass mir mein Atem zu laut vorkommt. Tamara sitzt mit vor Schreck geweiteten Augen neben mir und schluckt sichtlich.

„Du ..., du weißt davon? Woher? Wie hast du das erfahren? Sophie, bitte, du verstehst das falsch. Ich hab dich nicht ausspioniert“, entfährt es ihr ängstlich und Tränen steigen ihr in die Augen.

„Spar es dir“, fauche ich. „Ich weiß es und ich werde euch nicht über meine Quellen informieren. Im Gegensatz zu dir bin ich keine Verräterin“, werfe ich ihr wütend die Worte an den Kopf, die in mir geschwelt haben.

Kleine Rinnsale laufen ihr über die Wangen und sie fährt zusammen, als hätte ich sie geschlagen.

Kapitel 14

Akira sieht Tamara und mich abschätzig an als wir uns nebeneinander auf Sofa setzen und erhebt die Stimme.

„Wir haben es geschafft, die wahre Nachfahrin von Leonore Sinclair zu finden“, erklärt er überheblich, als hätte er im Lotto gewonnen. Ich verdrehe genervt die Augen und sehe die Jungs an, die sich nach unserem auftauchen, wieder versammelt haben. Wo hatten sie sich bis jetzt versteckt?

„Wir sind auf eure Unterstützung angewiesen und ebenso auf eure Loyalität. Deswegen möchte ich, nachdem sie über die äußeren Umstände bescheid weiß, dass ihr dabei seid, wenn ich ihr erzähle, welche Aufgaben uns erwarten“, fährt er fort. Meine Augenbrauen wandern immer weiter nach oben.

Ist er nicht in der Lage, wie ein normaler Mensch zu reden oder bemerkt er es überhaupt nicht?

„Ich verstehe, dass du Zweifel hast. Genauso ist mir bewusst, dass noch Fragen bestehen, aber ich versichere dir, es wird sich alles klären.

Zuerst ist es wichtig, dass du begreifst, dass du eine Wahl hast. Ich werde dich nicht zwingen, mit mir zugehen. Es gab vor uns Nachfahren, die versucht haben, die Prophezeiung zu erfüllen, und ebenso gab es einige, die ihr Leben wie gewohnt weitergelebt haben. Nur weil ich mich für diesen Weg beschritten habe, heißt das nicht, dass du ebenfalls so entscheiden musst.

Wir alle sind durch unsere Vorfahren mit der Geschichte verwoben. Die Ahnen der hier Anwesenden haben sich in ihrem Leben dazu entschlossen, Akira und Leonore zu folgen und ihnen zu helfen. Sie haben einen Eid geleistet, wodurch ihre zukünftigen Generationen an den Schwur gebunden sind, bis ihre Pflicht erfüllt ist. Diese Männer, die hier vor dir stehen, sind die Nachfahren der mutigen Gefolgsleute unseres Clans“. Seine Brust ist stolzgeschwellt und seine Mimik todernst. Er könnte diese Rede ebenso vor Hunderten von Jahren gehalten haben.

„Alle lebten von Geburt an in Großbritannien, sodass sich unsere Wege irgendwann kreuzten und wir uns gefunden haben.

Sobald ich die Verbindung zu uns hergestellt habe und die Ersten mit meinen Beweisen überzeugte, haben wir durch mühevolle Recherche die anderen ausfindig gemacht. Genauso wie dich“. Sein Blick ruht auf mir und ich schlucke das beklemmende Gefühl hinunter, welches mich bei seinem Anblick ergreift.

„Wie ich dir erklärt habe, gibt es eine Prophezeiung über uns.

Sie sagt unser aller Zukunft voraus. In ihr sind Antworten verborgen, die wir richtig deuten müssen, um das Schicksal, dass uns erwartet zu erfüllen. Gelingt es uns nicht, wird die Erde getränkt mit dem Blut zahlloser Unschuldiger, die mit der Geschichte unseres Landes nichts mehr gemein haben als den Ort, an dem sie leben.“

Mir klappt die Kinnlade runter und ich starre ihn einen Moment sprachlos an, ehe ich mich nicht länger zurückhalte und los pruste. Zum Glück habe ich nicht getrunken, sonst stände er jetzt in einem feinen Sprühregen. Mir ist es egal, wie grimmig er mich betrachtet. Seine Worte sind so hochtrabend und fern ab der Realität, dass ich lachen muss. Mir treten die Tränen in die Augen und ich ringe nach Luft.

„Reiß dich zusammen“, faucht er. „Du verstehst das Ausmaß dieser Aufgabe und dessen Bedeutung nicht. Wie solltest du auch, aber du begegnest uns gefällig mit ein wenig mehr Respekt“, fährt er mich mit strenger Stimme an und ich beiße mir in dem Versuche, mich zu beherrschen, auf die Zunge.

„Die Prophezeiung lautet folgendermaßen:

Das Bündnis, geschmiedet zwischen den Riesen, muss sich bewähren. Schlachten werden geschlagen und verloren. Nur wenn sie die Prüfungen bestehen und Seite an Seite stehen, wird es ihnen gelingen.

Das Paar wird das Untier der Seen besiegen, das geflügelte Monster des Himmels niederstrecken, den Garten der sprechenden Steine ihrer Kostbarkeiten berauben, den Glasgarten das Schönste entziehen, was er versteckt und den Sommergarten durchqueren. Gelingt es ihnen nicht, werden sie gebunden an ihrem versprechen das Land zu einen und den Frieden zu bewahren, im Abstand von zehn Dekaden wiederkehren, um zu beenden, was sie begonnen haben. Beachtet, dass das Ende naht, wenn der Große Teich überquert ist und Gaia sich gegen die Menschen wehrt. Haben es die Liebenden bis dahin nicht geschafft, ihren Teil des Schwurs zu besiegeln, wird die letzte Dekade vergehen und das Land wird seine Unabhängigkeit fordern. Tod und Niedertracht werden Einzug halten, als hätte es dieses Bündnis nie gegeben.

Die tapferen Getreuen, elf an der Zahl, werden durch Mut und Tugenden ihren Beitrag leisten. Erst dann sind sie befreit von ihrem Bruder und ihrer Schwester, deren wahre Liebe sich zum Schluss offenbart.“

Ach du Schande.

Gänsehaut überzieht meinen Körper und das Lachen ist mir gänzlich vergangen. Ich schüttle mich, um das unangenehme Gefühl loszuwerden, und öffne den Mund, um die erste meiner Fragen zustellen, die sich während seiner Wiedergabe entwickelt haben, doch Akira ist schneller.

„Ich weiß, das ist alles sehr viel und du hast heute eine Menge erfahren. Ich habe hier ein Exemplar der Prophezeiung für dich, damit du dir in Ruhe einen Überblick verschaffen kannst und wenn du so weit bist, erzähle mir von deinen Träumen. Ich habe die Hoffnung, dass sie uns helfen“, fährt er samtweich fort. Ich nehme ihm das Papier ab, welches er von einem der Jungs gereicht bekommt und mir entgegenhält. Mit gerunzelter Stirn werfe ich einen Blick darauf und puste die Luft aus.

„Wir lassen euch jetzt alleine um euch Zeit zugeben, miteinander zu sprechen, und damit du alles verdaust“, erklärt er abschließend, nickt seinen Freunden zu, die sich auf sein Kommando erheben und in Bewegung setze. Tamara springt ebenfalls auf und eilt ihnen hinterher, um sie zur Tür zu geleiten.

„Ähm, ich…“ stottere ich, doch er unterbricht mich postwendend, stellt sich vor mich und drückt meine Schultern.

„Wir kommen morgen früh wieder und werden alles Weitere besprechen“, meint er entschieden und lässt mich stehen wie bestellt und nicht abgeholt. In mir brodelt es, aber sobald ich mich umdrehe, um ihm die Meinung zu geigen, ist er verschwunden und ich sehe, wie die Letzten den Raum verlassen.

„Idiot“, rufe ich dennoch und lasse mich erbost zurück in die Polster fallen. Wieder schaue ich auf die Prophezeiung und runzle die Stirn.

Wieso hören sich die Worte darauf an, als würde ich sie kennen?

„Was ist los?“, fragt Tamara, als sie zu mir zurückkehrt und zieht die Augenbrauen in die Höhe.

„Keine Ahnung. Kommt es dir nicht so vor, als würde da was Wichtiges drin stehen?“

„Ich habe eher das Gefühl, diese affigen Worte suggerieren genau das. Ich bereite uns einen Tee. Damit lässt es sich besser grübeln“. Sie zuckt mit den Achseln und dreht sich bereits um.

„Ich helfe dir“, sage ich schnell und folge ihr in die Küche.

Während sie Wasser aufsetzt, lege ich die Prophezeiung ab, hole Tassen aus dem Schrank und setze mich auf einem der Barhocker vor der Kücheninsel.

„Ich weiß nicht. Mir kam es vor, als würde sich dahinter etwas verbergen“, flüstere ich und lese mir erneut die Zeilen durch.

„Was, wenn nicht und es Tatsachen sind, die dort geschrieben stehen?“

„Verstehe ich nicht“. Müde lege ich meine Stirn auf dem kühlen Granit vor mir ab und atme erleichtert auf, als die Temperatur auf meine überhitze Haut übergeht.

„Kind verschließe dich nicht vor diesen Aufgaben“, fordert meine Mutter und ich stoße genervt die Luft aus. Wie soll ich daran glauben, dass ich jetzt, nachdem ich ihn zum Mann genommen habe und vermutlich bald seinen Sohn unter dem Herzen trage, all diese Dinge bewerkstellige.

„Du hast die Seherin gehört. Wehre dich nicht dagegen. Denken wir darüber nach, wie wir diese Aufgaben lösen, statt das du stur wie ein kleines Kind Stunden lang verschwindest“, drängt sie auf mich ein.

„Ich benötige einen klaren Kopf und den bekomme ich nicht, wenn ich hier sitze und sticke“, fahre ich sie an und runzle die Stirn, als ich an die Worte der Seherin denke.

„Ich habe bei der heiligen Quelle um Hilfe gebeten, doch keine Antwort erhalten. Weißt du, was mit dem Garten der sprechenden Steine gemeint ist? Und wo befindet sich dieser ominöse Glasgarten und von einem Sommergarten hast du auch nichts gehört, oder?“, sprudeln die Fragen aus mir heraus und sie kommt zu mir. Sanft streicht ihre Hand über meinen Arm, legt sich auf meinen unteren Rücken und sie führt mich ans Feuer.

„Ach Kind. Wir tragen all unser Wissen zusammen, um die Antwort zu finden. Nur gemeinsam ist es möglich. Nur gemeinsam haben wir wahre Größe.“

„Wach auf verdammt.“

Tamara verpasst mir eine saftige Ohrfeige, und ich halte sie nur knapp davon ab, mir eine Zweite zu verpassen.

„Ich bin wach, ich bin wach“, beeile ich mich zu sagen, und sehe sie mit großen Augen an. „Warum schlägst du mich?

Es hätte gereicht, mich anzustupsen. Du weißt, dass ich einen leichten Schlaf habe“.

„Der war gut. Seit fünf Minuten versuche ich dich zu wecken, aber du warst quasi komatös.“ In ihrer Stimme schwingt der Schrecken mit und ich ziehe die Stirn in Falten.

„Was?“, frage ich und reibe mir die Wange, die ein heißes Brennen ausstrahlt. Der Traum war nicht länger als ein paar Sekunden.

Verdammt, das zwiebelt vielleicht. Wie fest hat sie zugeschlagen?

„Wir sollten uns dringend diesen Zettel ansehen. Mein Traum eben war total merkwürdig. Es war, als würde ich geradezu darauf gestoßen werden.“ Übergehe ich das Unbehagen in meinem Bauch und sofort beugt sie sich über meine Schulter, während ich das Papier näher heranziehe.

„Das ist schon komisch“, meint sie, und ich drehe den Kopf zu ihr herum.

„Was meinst du?“

„Schau hier dieser Satz.“

„Die tapferen Getreuen, elf an der Zahl, werden durch Mut und Tugenden ihren Beitrag leisten. Wieso nicht zehn?“, deutet sie auf die Zeile und ich nicke langsam.

„Ja. Das hört sich an, als wüsste die Prophezeiung, dass du dabei bist.“

Sie sieht von dem Blatt zu mir und ihre Augen werden groß.

„Schwer vorstellbar, dass ich im vierzehnten Jahrhundert bekannt war“, wispert sie und reibt sich über die Arme.

„Das ist echt gruselig“, raune ich und lege das Blatt weg, während sie sich auf einen der Hocker neben mir schwingt.

„In dem Traum wurde von den letzten drei Aufgaben gesprochen. Den Garten der sprechenden Steine, dem Glasgarten und dem Sommergarten“, erkläre ich und drehe meinen Hocker so, dass ich sie direkt ansehe.

„Bedeutet das, dass wir uns darauf konzentrieren sollten? Was ist mit Garten der sprechenden Steine gemeint?“

„Fällt dir etwas ein?“

„Ganz ehrlich, ich habe keinen Plan. Was sind denn bitte sprechende Steine? Das Einzige, was mir dazu einfällt, sind die Trolle aus dem Film, die Eiskönigin.“

Einen Moment sehe ich sie konsterniert an und lach anschließend laut auf. Beim Gedanken an Frozen stelle ich mir vor, wie Felsbrocken angerollt kommen, sich zu ihrer vollen Größe aufbauen und uns musikalisch eine Antwort präsentieren.

„Ich glaube, wir verstehen diesen Text ausschließlich, wenn alle zusammen über diese Aufgabe nachdenken. In dem Traum meinte meine ..., ähm ..., Leonores Mutter: „Nur gemeinsam ist es möglich. Nur gemeinsam haben wir wahre Größe“.

„Du könntest recht haben“.

„Dann warten wir nicht bis morgen, sondern ordern die Meute zurück“, bestimme ich und ziehe mein Handy aus der Tasche.

Ich bestelle direkt ein paar Pizzen für uns, damit wir was zwischen die Zähne bekommen. Mein Magen knurrt allein bei dem Gedanken an etwas zu essen und ich bin der festen Überzeugung, dass ich mit vollem Bauch besser nachdenken kann.

Kapitel 15

Es dauert kaum 20 Minuten und die Türklingel verkündet die Ankunft unserer Pizza, genauso wie die der Jungs. Um zusätzlich ein wenig frische Luft zu schnappen, versammeln wir uns im Garten und ich genieße die Sonnenstrahlen auf meiner Haut, die mir zudem Wärme spenden.

„Wir sind zwölf Leute, aber haben 16 Pizzas. Habt ihr euch verzählt?“

Max verteilt die Kartons und sieht verwirrt auf den Stapel in seinen Händen.

„Keines Wegs. Zwei für Tami, zwei für mich und 12 für euch“, zähle ich auf, klimpere mit den Wimpern und nehme ihm 4 Schachteln ab, um diese direkt an meine Freundin weiterzureichen.

Ungläubig wirft er einen Blick auf Tamara und man sieht, dass er abschätzt, wie zwei der belegten Teigfladen in die zierliche Person vor ihm passen.

„Niemals verdrückt ihr vier Pizzen. Als ob die in euch reinpassen. Überlasst die mal lieber den großen Jungs“, meint er hochmütig und ich pruste los.

„Wetten?“

„Da ich gewinnen werde gerne. 20 Mäuse?“

„Abgemacht. Du wirst heute an Tamara eine ganz neue Seite entdecken“, prophezeie ich. Mir läuft bei dem Duft von Tomatensoße und gebräunten Käse das Wasser im Mund zusammen.

30 Minuten später habe ich das Gefühl zu platzen und bin um 20 Euro reicher.

„Und, was sagst du jetzt?“, wende ich mich an Max, der entsetzt seine gefräßige Freundin betrachtet und dabei den Kopf schüttelt.

„Ich fasse es nicht“, stößt er aus und ich lache auf.

„Habe ich was verpasst?“, will sie wissen und sieht uns mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Nein, du kleiner Vielfraß. Alles in Ordnung.“

Akira, der seit einigen Minuten ungeduldig und mit starrer Miene in der Runde umherblickt, hält unser Herumalbern nicht länger aus.

„Seid ihr endlich so weit? Wir hatten ausgemacht, dass wir uns morgen wiedersehen. Zu welchen wichtigen Erkenntnissen seid ihr gelangt, dass ihr uns zurückbeordert habt? Und wieso sind wir nicht drinnen?“

Na da hat aber einer schlechte Laune. Vielleicht hätte er mehr essen sollen als die zwei Stücke, die er sich notgedrungen einverleibt hat. Ob er wohl gleich in Rauch aufgeht?

„Stell dich nicht so an, schließlich bist du kein Vampir“, kontert Tamara, als hätte sie meine Gedanken gelesen und erhält einige Lacher. Er sieht sie mit einem derart kalten Blick an, dass sie augenblicklich den Kopf einziehen.

Am besten erkläre ich schnell, was los ist, bevor die Sache eskaliert.

„Ich hatte vorhin einen Traum und bin mir sicher, dass keiner auf die richtige Lösung kommt, solange wir es allein versuchen. Wir dachten, es wäre am klügsten, wenn wir gemeinsam überlegen, was es bedeutet.“

Während ich eilig von dem Traum berichte, sammle ich die leeren Kartons ein, um mich von den Blicken der Anwesenden abzulenken.

Die grauen Augen verfolgen mich bei jedem Handschlag und ich wette darauf, dass er kurz vorm Bersten ist. Nicht ihm allein habe ich davon erzählt, sondern der ganzen Gruppe. Einen auffälligeren Beweis dafür, dass ich ihm nicht vertraue, war nicht möglich.

„Da ist was dran. Hat einer von euch was über sprechende Steine gehört?“, wirft der Erste in die Runde, nachdem ich geendet habe und ich bin glücklich, nicht mehr im Mittelpunkt zustehen. Nun findet ein reger Austausch unter allen statt, was Akira nicht davon abhält, mich weiter mit seinen Augen zu durchbohren. Was hat der Typ für ein Problem? Er sollte sich lieber am Gespräch beteiligen und mich nicht psychopathisch zu taxieren?

„Vielleicht ist das ja nicht im wörtlichen Sinne gemeint. Es könnte ebenso eine Metapher oder Ähnliches sein, welche die ganze Geschichte umschreibt“, nehme ich am Rande auf und verstecke mich hinter Lennox breiten Rücken.

„Hat, denn jemand von einem Garten in Schottland gehört? Am besten einen, indem es viele Steine gibt?“

Tamara, die die letzte Frage in die Runde geworfen hat, zuckt mit den Schultern, nachdem sie keine befriedigende Rückmeldung erhält, und schaut zu mir herüber.

Anscheinend ziehe ich durch mein Verhalten nicht nur die Aufmerksamkeit von Grauauge auf mich.

„Vielleicht ist es kein Ort, der heute existiert“, flüstere ich, ohne zu beachten, dass Lennox mich hört.

„Wie, meinst du das?“, erkundigt er sich und ich hebe die Schultern.

„Leonore und Akira wurden im 14. Jahrhundert vor diese Aufgabe gestellt. Das bedeutet, dass es damals einen Ort gegeben hat, aber nicht, dass er noch immer existiert“, antworte ich leise. Hitze ergreift erneut von mir Besitz, da alle Aufmerksamkeit auf mir liegt.

„Aber in der Prophezeiung steht geschrieben, dass die nachfolgenden Generationen es schaffen, das Rätsel ebenso zu lösen. Das bedeutet, dass dieser Ort heute noch vorhanden ist“, wirft ein Junge laut ein, dessen Name mir entfallen ist.

„Aber welcher Garten hat seit damals Bestand?“, überlegt Lennox und wie bei mir lauscht jeder seinen Worten.

„Wir reden hier nicht von Versailles. Zu seiner Zeit hat niemand Wert auf gepflegte Grünanlagen gelegt. Es ging um Eroberungen, nicht um hübsche Rasenflächen“, kommentiert Maxwell und ich nicke langsam.

Die einzige Person, die sich bisher darauf beschränkt hat, mich penetrant anzustarren, statt sich zu beteiligen, steht auf und wandert auf dem Rasen umher.

„Und, wenn es sich nicht um einen Garten handelt?“, wirft er so laut ein, dass ich zusammenschrecke. Sein Mundwinkel hebt sich in die Höhe und ich verenge meine Augen.

Idiot.

„Überlegt mal. Was hat seit dem 14. Jahrhundert bestand in der menschlichen Geschichte? Was hat man mit den gefallenen Kriegern getan?“

„Verbrannt“, stellt Lennox irritiert fest und sieht zu ihm auf.

„Nein nicht immer. Die Leute sind dazu übergegangen, sie zu begraben. Das gab es bereits im frühen Christentum, und nachdem die Römer nach Großbritannien kamen, hat man diese Art der Bestattung übernommen.“

„Natürlich“, wispere ich und unsere Blicke treffen sich. Er unterbricht den Moment sofort und ich runzle verwirrt die Stirn.

Steuert er das? Nimmt er mich absichtlich mental gefangen?

„Etwas das aussieht wie ein Garten, indem es viele Steine gibt und der Jahrhunderte überdauert. Ein Friedhof“, erklärt er und grinst siegessicher in die Runde. Er plustert sich auf, als wäre ihm das allein eingefallen.

So ein Mistkerl.

„Genau und in den Grabsteinen sind Inschriften, also sprechende Steine. Das ist genial! Ich wette, wenn wir den Richtigen finden, sind wir der ganzen Sache einen Schritt näher. Berechnet am Umkreis, der für beide infrage kam, bekommen wir heraus, wo zur damaligen Zeit ein Friedhof existierte, der passt. Ian und Colin, das ist eine Aufgabe für euch.“

Er behandelt die Jungs wie Untergebene und nicht, als wären es seine Freunde. Wieso machen die das mit?

„Das nimmt etwas Zeit in Anspruch, aber wir legen sofort los.“

Ob ihm jemals jemand ein Widerwort gegeben hat? In der SM Szene wäre er mit seiner Art gut aufgehoben.

„Macht das und organisiert auch gleich die Rückreise. Bucht den Flug und ....“ In dem Moment, indem er seine Anweisungen herunter rattert, schalte ich ab, im Gegensatz zu meiner Freundin, die sich direkt einklinkt.

„Warte mal. Du denkst doch nicht, dass wir mit nach Schottland reisen?“, fährt sie dazwischen und schaut ihn mit großen Augen an.

„Nachdem Treffen hier bin ich davon ausgegangen, dass ihr euch uns anschließt. Mach dir keine Gedanken, wir kümmern uns um alles. Weder eure Eltern noch die Schule wird mitbekommen, was los ist. Es geht ganz schnell, in drei Tagen sind wir weg“, erklärt er und meine Freundin klappt den Mund auf.

„Bitte? Sophie, sag auch mal was. Das funktioniert so nicht“, reagiert sie nach einigen stummen Sekunden und ihr Kopf fährt zu mir herum.

„Wir verschwinden nicht mitten im Schuljahr und segnen garantiert nicht alles ab. Du bestimmst nicht über unser Leben“, fahre ich ihn an und eine steile Falte bildet sich auf meiner Stirn, während ich die Arme vor der Brust verschränke.

„Nur, weil wir gemeinsam Pizza gegessen haben, bedeutet das nicht, dass wir euch wie ein Lemming folgen. Dir schon gar nicht“, mache ich weiter und stehe auf.

„Stell dich nicht so an. Sei lieber dankbar, dass du die Chance erhältst, von hier zu verschwinden“, zischt er und ich stoße ungläubig die Luft aus.

„Sag mal gehts noch? Was bildest du dir ein?“

„Sei nicht so kleingeistig und denke an das große Ganze …“

„Wie, hast du mich gerade genannt? Du arrogantes Arschloch“, stoße ich aus, „ich werde nirgendwohin gehen, verstanden? Du bist nichts weiter als ein Wichtigtuer. Einer, der sich nicht anders zu profilieren weiß, als seine Kumpels herumzuschubsen und zu schikanieren.“

Sein Blick wird mit jedem Wort, welches ich ihm entgegenschleudere, härter und ich spüre die Kälte, die seine Augen ausstrahlen. Innerhalb einer Sekunde hat er die Distanz zu mir überbrückt und umfasst mit einem gnadenlosen Griff meinen Arm. Geschockt starre ich seine Hand an. Er zerrt mich mit sich in den Hausflur, ohne darauf zu achten, ob ich mit ihm mithalte.

„Lass mich sofort los“, fahre ich ihn an und ziehe meinen Arm ruckartig zur Seite, weshalb er den Griff verstärkt. Morgen früh habe ich garantiert weitere blaue Flecken.

Er lehnt sich mit beiden Armen rechts und links neben meinen Kopf an die Wand und sieht mir tief in die Augen.

Sofort sauge ich die Luft ein und bin nicht fähig, mich von ihm abzuwenden. Das Blut rauscht mir in den Ohren und mein Herz schlägt hart und schnell gegen die Brust. Es macht den Eindruck, als würde es jede Sekunde aus meinem Körper springen.

„So wie gerade sprichst du nicht noch einmal mit mir. Du wirst dich deines Alters entsprechend benehmen und nicht wie eine freche, verzogene Göre, die eine Tracht Prügel verdient hat. Verstanden?“, stellt er eindringlich klar und macht weiter.

„Es scheint, als hättest du noch immer nicht kapiert, worum es hier geht. Das ist kein Spiel, in dem du kommst und verschwindest, wie es dir passt. Du hast jeder Zeit die Möglichkeit zu gehen, aber wenn du dich gegen uns entscheidest, gibt es kein Zurück. Hast du das verstanden?“

„Lass mich in Ruhe“, presse ich hervor. Meine Augen lassen sich immer noch nicht dazu überreden, wegzusehen, wodurch meiner Forderung die nötige Schärfe fehlt.

„Ich denke nicht, das es das ist, was du willst“, raunt er und streicht mit der Fingerspitze über meine Wange und ich schnappe nach Luft. Eine Strähne hat sich aus meinem Zopf gelöst und er schiebt sie mir hinters Ohr. Seine Berührung hinterlässt ein Prickeln auf meiner Haut, welches ich noch nie gespürt habe. Er scheint näher gekommen zu sein und ich stoße die Luft aus, die ich angehalten habe, ohne es bemerkt zuhaben.

„Geh weg“, wiederhole ich mit Nachdruck.

Allmählich spüre ich Panik in mir aufkommen. Mein Körper sehnt sich nach seiner Nähe, aber mein Verstand erklärt mir permanent, wer vor mir steht. Sein Blick wandert von meinen Augen abwärts und ich nutze den Moment, um mich von ihm zu befreien. Unter Aufbietung all meiner Willenskraft drücke ich ihn von mir und stürme zur Haustür hinaus.

Mit großen Schritten eile ich den kleinen Weg zur Straße entlang und kämpfe gegen die Angst, die mich verfolgt. Ich muss hier unbedingt weg.

Starke Finger krallen sich um meine Schulter und reißen mich mit Wucht zurück.

Mein Fluchtreflex setzt ein und ich ramme den Ellenbogen in die Rippen meines Verfolgers. Anschließend stampfe ich ihm auf den Fuß und schlage ihm meine Faust ins Gesicht. Normalerweise hätte ich ihm zusätzlich zwischen die Beine getreten, doch sobald sich der Griff von mir löst, sprinte ich los.

Anfangs renne ich in Höchstgeschwindigkeit geradeaus, bis mir mein Rückzugsort im Wald, in den Sinn kommt und ich langsamer die Richtung ändere.

Nach kürzester Zeit stütze ich mich mit Seitenstechen auf den Knien ab. Die rechte Hand auf die Rippen gepresst, gehe ich zügig weiter und versuche, die Schmerzen wegzuatmen. Meinen Weg in den Wald schaffe ich im Vergleich zum letzten Mal schneller. Ich lehne mich an einen Baum und schaue mich nach etwaigen Verfolgern um.

Mein Atem kommt stoßweise und ist viel zu laut für diese friedlich anmutende Umgebung. Sobald sich mein Puls beruhigt hat und ich normal Luft bekomme, setze ich meinen Weg fort. Der Nachteil an der Pause ist, dass das Adrenalin nachlässt und meine Hand sowie Ellenbogen unangenehm pocht.

Wenn es bei mir so schmerzt, habe ich meinen Angreifer garantiert schwer erwischt. Er hat es nicht anders verdient.

Unerwartet spüre ich seine Finger wieder über meine Wange streifen und fahre sie langsam nach, als könne ich das Gefühl damit festhalten.

Warum sehne ich mich nach seiner Nähe? Er ist ein aufgeblasener Idiot, ein großkotziger Mistkerl.

Eilig schiebe ich den Gedanken an Grauauge von mir. Es gibt Wichtigeres.

Ob ich mir gleich etwas zu essen suche? Heute habe ich keinen vollbepackten Rucksack. Nein, besser, ich gehe direkt zum See und richte mein Lager ein. Meine Beine tragen mich weiter, bis ich das friedlich glitzernde Gewässer vor mir sehe.

Die Hitze ist mittlerweile unerträglich und meine Kleider kleben mir am Körper. So ein kleiner Sprung ins kühle Nass wird mir guttun und die Schmerzen werden durch die Kälte ebenso gemildert.

Wieso tut das überhaupt noch weh? Im Kurs wurde nie davon gesprochen, dass man sich selbst verletzt. Es hieß nur, man solle gnadenlos draufhauen und das habe ich definitiv. Mit gerunzelter Stirn begutachte ich meine Hand, als mich ein Geräusch aufschreckt.

Hat da ein Ast geknackt?

Ich drehe mich mit flatternden Herzschlag in die verdächtige Richtung, doch sehe nichts. Kurzer Hand ziehe ich das Shirt und die Shorts aus, die Unterwäsche lasse ich diesmal an. Es ist so heiß, dass ich ruckzuck wieder trocken sein werde. Mein Haar fällt mir über den Rücken, nachdem ich den Zopf löse, und ich bewege mich zügig in den See.

Schnell tauche ich unter und genieße für ein paar Sekunden die Kälte. Das Wasser ist herrlich. Ich wirble einmal um meine eigene Achse und fühle mich sofort besser, als ich auftauche.

Verdammt.

Mir stockt der Atem und ich blinzle mehrfach. Habe ich einen Sonnenstich? Oder sind die Verletzungen größer als erwartet? Habe ich Halluzinationen?

Nur mit Boxershorts bekleidet, schreitet er ins Wasser und ich schlucke.

Ich starre ihn ungeniert an, obwohl es besser wäre, mich abzuwenden oder den See zu verlassen.

Mein Blick wandert von seinem dunklen Haar, das ihm bis zu seinen Wimpern reicht, zu seinen Augen. Oh man diese Augen. Ob ich die jemals wieder aus meinem Kopf bekomme? Ich betrachte seine gerade Nase und dann seinen Mund. Seine Unterlippe ist etwas voller als die andere und er hat ein überhebliches Grinsen auf den Lippen, welches ihm tatsächlich ein Grübchen in die rechte Wange zaubert.

Es vervollständigt dieses markante Gesicht und lässt ihn jünger wirken.

Obwohl ich mich mitten im Wasser befinde, wird mir unerträglich heiß und der Mund staubtrocken. Mein Herzschlag ist in einen stolpernden Takt geraten und mein Blick gleitet abwärts von seiner Brust über die Bauchmuskeln, die sich leicht abzeichnen. Er steht mittlerweile bis zur Hüfte im Wasser und ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt noch atme. Ich mustere ihn wie ein Wolf sein saftiges Stück Fleisch und spüre, wie mir die Hitze ins Gesicht schießt.

„Gefällt dir, was du siehst?“, raunt er und meine Augen huschen zu seinen zurück.

Fuck. Schon wieder dieser selbstgefällige Blick.

„Was machst du hier?“ Meine Worte klingen spröde und ich ärgere mich über mein Verhalten.

Ich blitze ihn mit schmalen Augen an und schiebe mein Kinn nach vorn, doch es signalisiert nicht einmal ansatzweise meine Empörung darüber, dass er hier aufgetaucht ist.

„Bleib stehen, sonst ...“, stoße ich aus, nachdem er nicht reagiert und weiter ins Wasser watet.

„Sonst was? Greifst du mich wieder an?“

„Ich habe mich verteidigt und dich nicht angegriffen“.

„Im Gegensatz zu dir habe ich nichts unternommen, oder? Zumindest noch nicht“.

Jetzt ist er ein weiteres Stück näher gerückt und ich bin froh darüber, dass er nicht sehen kann, wie schnell sich meine Brust hebt und senkt.

„Du warst ziemlich brutal, doch ...

„Brutal? Ich? Und du? Du hast mich nicht nur getreten und geschlagen. Du hast mich zudem verbal angegriffen und beleidigt. Etwas, dass ich nicht getan habe“.

„Du, du, du ...“

„Auch wenn wir allein sind, lasse ich nicht zu, dass du ein weiteres Mal so mit mir sprichst“, warnt er, und ich schlucke den bissigen Kommentar herunter, der mir auf den Lippen liegt.

Vielleicht bin ich wirklich zu weit übers Ziel hinausgeschossen, aber daran ist allein er schuld. Die Wut, die seine Worte entfacht haben, brodelt in meinem Magen und die Tatsache, dass er hier an meinem See ist, sorgt dafür, dass mir noch mehr einfällt als bloße Beleidigungen.

„Ich hab dir nicht einmal den finalen Tritt verpasst. So schlimm wird es nicht sein. Oder bist du so zart besaitet?“, höhne ich und drehe mich um, damit ich nicht länger sein Gesicht vor mir habe.

Ok. Ich schaffe es nicht, mich vollständig zurückzuhalten, aber das liegt einzig und allein an seinem Ton. Er ist dermaßen herablassend und arrogant, dass er dafür viel mehr körperliche Schmerzen verdient hätte.

„Bin ich nicht. Dennoch bin ich dir überaus dankbar, dass ich den Tritt nicht abbekommen habe“. Seine Stimme ist viel näher und ich mache lächelnd einige Züge nach vorn zur entgegen liegenden Seite.

„Tut es sehr weh?“

„Ich bin hier, um mir deine Hand anzusehen. Nicht wegen deinem Mitleid.“

„Mitleid? Mit dir? Davon träumst du.“

„Ich denke nicht, dass du dir auch nur ansatzweise vorstellst, wovon ich träume.“

Seine Stimme ist direkt hinter mir und obwohl mir gerade siedend heiß war, läuft mir ein Schauer über den Nacken.

Behutsam streicht er mit seinen Fingern meinen Arm hinab bis zur Hand und ich halte die Luft an. Mein Körper folgt seinen Bewegungen und ich rutsche ein Stück zurück, sodass mein Rücken auf seine Brust trifft. Zum Glück berühren meine Zehen mittlerweile den Grund, sonst wäre ich vor Schreck wie ein Stein untergegangen. All meine Sinne richten sich auf ihn aus und ich ignoriere meinen polternden Herzschlag.

„Zeig mal her“, fordert er sanft und zieht meine Hand aus dem Wasser. Ich wehre mich nicht gegen ihn und folge unseren Bewegungen mit meinem Blick, als wäre mir ein dritter Arm gewachsen.

„Sie pocht ein we..., AUAAA. Lass das!“ Ich will meine Hand zurückziehen, doch er hält sie gefangen und ein pochender Schmerz breit sich darin aus, als er sie vor und zurückgebeugt. Vorsichtig tastet er meine Finger, den Handballen und das Gelenk ab, ohne auf mich und mein Gezeter zu achten. Sachte bewegt er jedes Glied und ich spüre sein Gesicht direkt neben mir.

„Das hab ich mir gedacht. Hör auf dich zu wehren, und halte still“, verlangt er.

„Deine Eltern haben nicht viel von Erziehung gehalten, oder? Bei uns bittet man um etwas, wenn man was haben möchte.“

„Bei sturen Frauen wie dir ist eine Bitte vergebene Liebesmüh. Bevor man das Anliegen ausgesprochen hat, wird man in gefährliche Regionen getreten, die heilig sind. Mir zumindest“, meint er und mein Mundwinkel zuckt unwillkürlich in die Höhe.

Vergebene Liebesmüh? Woher hat er das denn?

„Vielleicht wäre ich ja freundlicher zu dir, wenn du netter wärst“.

„Ich kann sogar sehr nett sein“, raunt er mir verführerisch ins Ohr und mein Herz setzt für einen Moment aus. Mein ganzer Körper erzittert, sobald er mich behutsam zu sich herumdreht und seine stahlgrauen Augen für den Bruchteil einer Sekunde meine finden.

„Die gute Nachricht ist, dass sie nicht gebrochen ist. Die Schlechte, du hast sie dir geprellt“. Seine Stimme hört sich rauer an und er hält mich mit einem Arm umschlungen, während er noch immer meine Hand festhält.

Nicht fähig ein Wort zusagen, nicke ich stumm und wie vorhin, wandern meine Augen über sein Gesicht bis sie an seinem Mund hängen bleiben.

Ob seine Lippen so weich sind, wie sie aussehen?

„Ich weiß etwas, dass dich ablenkt“, flüstert er und ich bin mir sicher, dass das Wasser gleich zu kochen anfängt.

Mein Herzschlag liegt im gesundheitsgefährdenden Bereich. Wenn ich nicht bald von ihm loskomme, werde ich willenlos sein und dabei bin ich bereits Wachs in seinen Händen.

Wieder sieht er mich mit diesem überheblichen Gesichtsausdruck an und das ist es, was ich gebraucht habe.

Er zieht mich weiter an sich heran, bis mein überhitzter Körper an seinen gepresst wird und ich den Kopf ein Stück in den Nacken legen muss, um ihn anzusehen.

Seine Hand hält nun nicht länger meine, sondern streichelt über meine Wange, während ich den Mund leicht öffne und mir mit der Zunge die Lippen befeuchte.

Mit dem Wissen, dass ich gleich unglaubliche Schmerzen verspüren werde, reise ich meinen Kopf zurück und knalle mit Wucht meine Stirn gegen sein Kinn. Verdammt tut das weh.

Schmerz explodiert in meinem Schädel und Sterne blitzen vor meinen Augen auf.

Schlagartig wird mir speiübel und ich halte mich nur mit Mühe über Wasser. Das war nicht gerade eine meiner brillantesten Ideen.

Schwankend schleppe ich mich zum Ufer und spüre endlich den festen Grund unter den Füßen. Mir ist schwindelig und meine Beine zittern unkontrolliert.

Hinter mir gibt Akira einen fürchterlichen Fluch von sich. An ihn habe ich gar nicht mehr gedacht. Dabei war er der Grund für diese Misere. Ich verliere den Halt, lande auf den Knien und schlucke Wasser.

Obwohl ich mich in Ufernähe befinde, schaffe ich es nicht, mich nach vorn zu bewegen oder wieder in die Höhe zu stemmen.

Akira kommt laut schimpfend neben mich und reißt mich an die Oberfläche.

„Bist du wahnsinnig? Was sollte das?“, keift er, doch ich verstehe ihn durch das Dröhnen in meinen Ohren kaum.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752141924
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
Schotland Abenteuer Romantik Reisen Liebe Fantasy Kinderbuch Jugendbuch

Autor

  • Melanie Baumann (Autor:in)

Melanie Baumann lebt mit ihrem Mann in Bad Hersfeld - Deutschland. Wenn sie nicht gerade mit Schreiben eines neuen Buches beschäftigt ist steckt sie selbst die Nase in ein gutes Buch. Inspiration für ihre Geschichten findet sie bei ihren gemeinsamen Reisen und auf langen Spaziergängen in ihrer Heimat.
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Titel: Prophezeiung