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Der unsterbliche Tag – Runde 3: 20 Uhr (Thriller Serie 4)

von Jay Moon (Autor:in)
120 Seiten

Zusammenfassung

Was würdest du tun, wenn du einen Tag lang unsterblich wärst? Owen hat sich das Finale vom »Immortal Contest« anders vorgestellt – nämlich ohne das Bangen um das Leben seines Bruders. Wenn er gewusst hätte, wie gefährlich es ist, sich an seinem unsterblichen Tag den Aufgaben beim Immortal Contest zu stellen, dann hätte er niemals Whitt an die Show verkauft, Superkraft hin oder her. Doch jetzt ist es zu spät und Owen bleibt nichts anderes übrig, als zuzusehen, welche Konsequenzen sein Handeln nach sich zieht.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Whitt

Kicks – Barns Courtney

Los Angeles

»Was?! Tasey springt auch in den Vulkan?!« Ich griff mir an den Kopf und vergrub die Finger in meinen Haaren. »Owen! Das heißt, wir verlieren!«

»Gut, dann können wir ja jetzt heimgehen«, brummte mein Bruder auf dem Stuhl neben mir.

»Ohne Scheiß jetzt, lass die Witze!« Beleidigt verschränkte ich die Arme, was die Oma am Platz gegenüber von uns dazu veranlasste, dämlich zu grinsen.

»Keine Bange Jungchen, es ist ja nicht gesagt, dass Tasey den Vulkan überlebt.«

»Na, Sie sind ja optimistisch!«, rief ich empört aus.

»Bei mir macht das nichts, ich bin alt. Ich möchte mir mit dem Geld ja nur meinen letzten Wunsch erfüllen, bevor ich dahinscheide«, krächzte Philia. »Ich kann verstehen, dass ihr jungen Dinger keine Risiken eingeht.«

Irgendwie fühlte ich mich dezent in meiner Männlichkeit beleidigt. Indirekt hatte sie mich ja als Schisshase bezeichnet. Dabei war heute der perfekte Tag, um mutig zu sein. »Ach, scheiß drauf! Ich hops’ auch in den Vulkan!«

»Du willst … WAS?!« Owen sah mich an, als hätte ich ihm erklärt, ich wolle ein Pferd ficken.

Philia gackerte laut los, was in einem Hustenanfall endete.

»Das ist die einzige Möglichkeit, den Contest zu gewinnen! Wenn nicht jetzt, wann dann?« Ich zuckte mit den Schultern.

»Niemals!«, protestierte Owen. »Am besten niemals!«

»Ach, komm mal wieder runter! Was soll schon schiefgehen? Du hast doch selbst mal gesagt, dass Immortal Health die Kandidaten heute nicht sterben lässt, weil der Image-Schaden zu groß wäre. Philia hat ihre Aufgabe schon vor Monaten angegeben und Immortal Experiences hat die Aufgabe nicht abgelehnt. Was sie sicherlich getan hätten, wenn es zu gefährlich gewesen wäre. Verstehst du?«

»Nein.« Owen äffte mich nach, indem er die Arme verschränkte. »Ich verliere lieber die Farm, als dass ich dich verliere.«

»Jetzt wird’s schnulzig!«, kommentierte Vinve, der sich mit einem Teller voller Brownies zu Philia setzte.

»Was ist eigentlich deine dritte Aufgabe?«, fragte ich ihn und hob eine Braue.

Vinve kratzte sich am Bart. »Gute Frage!«

»Das weißt du nicht?!« Bei dem waren echt Hopfen und Malz verloren!

»Muss ich das denn wissen?« Vinve schien das rhetorisch zu meinen, denn er wandte sich seinen Brownies zu, statt eine Antwort abzuwarten.

»Solange er nicht auch noch in einen Vulkan springt, ist es ja egal«, gab Philia ihren Senf dazu ab. »Oder glaubst du, es gibt etwas Interessanteres als das?« Sie lächelte, weil sie die Antwort bereits kannte.

Ich sah mich im Speisesaal um. Abgesehen von einer Handvoll Assistenten hockten nur noch wir hier, zusammen mit dem Berg an Essen am Büfett-Tisch. »Wo sind eigentlich Adelina, Brien und Shouta?«

»Die sind alle schon zu ihren Aufgaben los«, sagte Philia.

Ich kniff die Augen zusammen. »Und wer passt auf Amara auf?«

»Mann, Whitt! Schalt bitte mal deine Vatergefühle ab!«, motzte Owen. »Du kriegst bestimmt noch die Gelegenheit, dein eigenes Balg zu zeugen.«

Auf seinen Kommentar hin begannen alle Anwesenden damit, mich auszulachen. Ich spürte, wie sich meine Wangen erhitzten. Gott sei Dank lenkte Philia die Aufmerksamkeit auf sich – sie rief: »Uh! Es geht los!« und deutete auf den Bildschirm ihres Laptops. Wir sammelten uns hinter ihr, um mit reinzuschauen. Dabei stieg mir der Duft ihres Parfums in die Nase – es roch blumig und herb, eben nach Power-Oma.

Auf Youdupe zeigten sie denselben Raum wie bei Nareshs Aufgabe mit den Kobras – den Raum mit dem gläsernen Käfig. Nur diesmal spazierte Adelina dort hinein. Sie lächelte und zeigte dabei ihre Zähne. Dann trat Cody ins Bild, zumindest zur Hälfte. Ähnlich wie bei Taseys Interview lehnte er sich seltsam verkrampft mit dem Oberkörper vor, als wäre er mit einem Bein irgendwo am Rand festgenagelt.

»Den Auftakt der letzten Runde macht Adelina Kazembe – diese Aufgabe wird gleich einige von euch zutiefst verschrecken!«

Im Hintergrund erkannte ich Larry-Barry, der einen rechteckigen Kasten durch die Käfigöffnung schleuste. Dann verriegelte er die Glaskiste, genau wie bei Naresh. Adelina öffnete den Kasten und ein Tier, so groß wie ein Spatzenbaby, flog heraus. Aber es war kein Spatzenbaby, nein. Es surrte, schwirrte durch den Käfig und war schwarz-orange gestreift, wie ein Tiger. Auf das eine Exemplar folgten weitere, der ganze Käfig füllte sich mit den Viechern. Es kamen schier unendlich viele davon heraus, kein Ende in Sicht.

»Ich präsentiere: Die gefährlichste Hornissenart der Welt – die asiatische Riesenhornisse! Nach dem Spinnensarg hat Adelina nicht genug von gruseligen Insekten bekommen können, wie es scheint! Die Riesenhornisse fordert in Japan jährlich vierzig Tote und der Stich des Insekts ist dafür bekannt, äußerst schmerzhaft zu sein. Aber wer es mit Taranteln aufnehmen kann, der erträgt auch die summende Gesellschaft, was, Adelina?« Cody klopfte gegen das Glas, was die Hornissen noch aggressiver als sowieso schon machte. Doch Adelina scheute die Berührung mit den Insekten nicht, sie wischte eine Hornisse sanft von der Scheibe und klopfte lächelnd zurück.

»Wieso stechen sie sie nicht?«, rutschte mir heraus.

»Du klingst, als wolltest du das sehen, Jungchen«, bemerkte Philia. »Ganz einfach: Die Kleine zeigt Respekt. Tiere werden nur aggressiv, wenn du respektlos mit ihnen umgehst. Außerdem steht sie nur ruhig da, da denken die Hornissen, sie wäre ein Baum.«

»Bei dem Schwarm kommt sie da nicht ungestochen davon«, meinte Owen.

»Wir werden sehen!« Philia lächelte.

In diesem Moment betraten Jillian und die Wilsons den Speisesaal. Ohne zu zögern schlenderten sie zu uns herüber. »Bereit für den Abflug?«, fragte Codys Assistentin.

»Aber natürlich! Auf geht’s!« Enthusiastisch klappte Philia den Laptop zu und sprang vom Stuhl. War die wirklich schon über achtzig?!

»Halt, Moment!« Ich erhob mich ebenfalls. »Ich werde mitkommen!«

Jillian runzelte die Stirn. »Deine Aufgabe beginnt auch in Kürze – Barry wird dich abholen. Bitte hab etwas Geduld … «

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, du verstehst nicht – Ich habe meine Meinung geändert. Ich möchte ebenfalls in den Vulkan springen. Ich will das Gleiche tun wie Tasey und Philia!«

Augenblicklich entgleiste Tasey das Gesicht. Das bestätigte mich in der Annahme, dass die Vulkan-Aufgabe der Jackpot sein musste.

»Lass es, Whitt!«, zischte Owen, doch ich ignorierte ihn.

»Kommt schon, ihr habt bestimmt noch einen freien Platz im Helikopter! Meinetwegen mach ich auch beides – den Vulkan und danach noch den Stuhl! Falls das eure bürokratische Ordnung dann weniger durcheinander bringt.«

»Vier Aufgaben sind gegen die Regeln, das wäre unfair gegenüber den anderen Teilnehmern«, sagte Jillian. »Tut mir leid, die Aufgaben standen von vorneherein fest. Der Contest basiert auf dem Prinzip, dass der kreativste Kandidat gewinnt. Du hättest dir früher eine originellere Aufgabe einfallen lassen sollen.«

Während der Predigt grinste Philia munter vor sich hin. Die Alte ergötzte sich an meiner Niederlage. Das konnte ich nicht auf mir sitzen lassen, und das musste ich auch nicht.

Owen rief mir noch irgendwas hinterher, aber ich hörte nicht zu. Wie von selbst trugen mich meine Beine aus dem Saal, die Treppen hoch. Ich musste nie wieder auf jemanden warten oder mich abhängig machen. Ich musste niemanden um Erlaubnis bitten. Nein. Ich lief. Den steilen Weg nach oben. Immerhin gab es nur einen einzigen Ort hier, an dem ein Helikopter landen konnte – und das war auf dem Dach.

Dort angelangt, bestätigte sich meine Vermutung. Der Pilot hockte bereits in der Maschine und zwei Assistenten mit Schnauzbart patrouillierten davor. Als hätten sie auf mich gewartet, grüßte ich die Männer und stieg in den Helikopter. Moustache eins glotzte mich etwas verwundert an, sagte aber nichts. Tja, wenn man so wirkte, als würde man irgendwo hingehören, dann gehörte man da auch hin. Der Pilot fragte mich sogar: »Und? Du springst in den Vulkan?«, woraufhin ich nickte und antwortete: »Ja, ich bade eh gern heiß.«

Der Schwindel flog erst auf, als Jillian mit Philia, Tasey und Owen im Schlepptau aufkreuzte – und Vinve. Was hatte den bloß aus dem Speisesaal gejagt? »Whitt! Komm da sofort raus!«, befahl Jillian und klang zum ersten Mal richtig fies. Mir jagte sie mit dem Tonfall trotzdem keine Angst ein.

»Nö!«, entgegnete ich und machte es mir in dem Sitz bequem.

»Whitt, jetzt verhalte dich nicht wie ein Kleinkind! Steig aus!«, brüllte Owen. Derweil kletterte Tasey ebenfalls in den Heli und half Philia hoch.

»Nope!«, erwiderte ich und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

Jillian knurrte wie ein wütender Schäferhund. Ich hätte fast gelacht, hätte sie nicht im Anschluss gesagt: »Okay, ich würde sagen: Leo, Elias – Schafft ihn da raus!«

Jetzt wurde es ungemütlich. Moustache eins und zwei kletterten herein und grabschten nach meinen Armen. Aber anders als heute Morgen konnte ich mich wehren. Ich trat Moustache eins mit voller Wucht in die Fresse. Er hatte wohl nicht kommen sehen, dass ich nicht zu den höflichen Schlägern gehörte, die abwarteten, bis der Gegner den ersten Hieb machte. Weit gefehlt. Nee, nee. Ich war eher so der Typ Arschloch.

Moustache zwei schreckte der Tritt zunächst ab, doch er schien mehr Angst vor Jillian zu haben, denn er hörte nicht damit auf, mich zu belästigen. Dafür erntete er ebenfalls meinen Fuß in seiner Magengegend. Moustache zwei stolperte aus dem Heli und kotzte über den Dachrand. Derweil schlug Owen nur kopfschüttelnd die Hände vor dem Gesicht zusammen, während Tasey und Philia sich so weit von mir wegquetschten, wie sie konnten.

»Tut euren Angestellten einen Gefallen und lasst mich einfach in den Vulkan springen. Ich meine, hey! Wenn ihr Glück haben, seid ihr mich dann für immer los!«, witzelte ich.

»Ich sage das ungern, aber er hat Recht. Dieser Scheiß-Sturkopf wird keine Ruhe geben, bis er seinen Willen hat … «, brummte Owen. »Und da er heute unsterblich ist, wird er alle kurz und klein prügeln, die ihm in die Quere kommen.«

Ich grinste meinen Bruder an. Endlich hatte er mich verstanden. »So ist es!«

Da machte Vinve plötzlich Anstalten, in die Maschine zu klettern. »Hey, was wird das?!«, entfuhr es mir.

»Ich will auch mit!«, meinte Vinve.

Jillian wirkte so überhaupt nicht begeistert. »Willst du etwa auch noch in den Vulkan springen?!«

»Ich bin ja heute unsterblich. Nichts bringt mich um!«, erklärte Vinve. »Mich hat sogar schon eine Schlange gebissen und die Haba-Dings-Das hab ich auch vertragen! Mein Stuhlgang war genauso weich wie sonst auch! Normalerweise bekomme ich von scharfem Essen Durchfall!«

So genau wollte das keiner von uns wissen, aber naja, zu spät. Jillian versuchte es auf die nette Tour: »Vinve, du kannst nicht in den Vulkan springen! Wir haben das doch besprochen, deine Aufgabe … «

Der Rollmops hob eine Hand in die Luft und unterbrach sie: »Halt! Ich will doch nicht in einen Vulkan springen. Ich bin ja nicht blöd!«

»Aber warum willst du denn sonst mit?!«, fragte ich ungläubig. Der wollte uns doch verarschen!

»Ich will zugucken. Und Philia hat doch den Laptop!«, erläuterte Vinve, und ich klatschte spontan meine Hand gegen die Stirn. Könnte bitte mal jemand Pillen gegen Schwachsinn erfinden?! Ich drehte meinen Kopf nach hinten, wo Philia und Tasey saßen, und stöhnte genervt: »Kannst du ihm bitte den Laptop geben?«

Philia grinste. »Nein.«

»Was heißt hier nein?!«, motzte nun Jillian von draußen.

»Nein heißt nein«, sagte Philia. »Ich gebe doch nicht mein einziges Mittel gegen Langeweile weg, bevor wir zwei Stunden lang durch die Gegend fliegen. Außerdem ist da mein Highscore im Solitär drauf gespeichert.«

Die Tür zum Dach schwang auf, denn wir hatten es geschafft: Unser ewiges Gequatsche hatte den Showmaster angelockt. Wie an einer Leine zog er Naresh hinter sich her – an einer sehr kurzen Leine. Als er sich näherte, erkannte ich, dass es sich um Handschellen handelte.

»Wollt ihr euch die Fesselspielchen nicht lieber fürs Schlafzimmer aufsparen?«

Cody ghostete mich und wandte sich an seine Assistentin. »Warum sitzen Whitt und Vinve im Helikopter?«

»Whitt will ebenfalls El Popo von innen kennenlernen, und Vinve ist … äh, einsam?«, antwortete sie ratlos. »Ich hab schon alles probiert.« Sie deutete auf Moustache eins und zwei, die abseits ihre Wunden leckten. Als Cody die dunkel anlaufende Delle im Gesicht von Moustache eins erkannte – das Vermächtnis meiner Schuhsohle – schüttelte er fassungslos den Kopf.

»Okay, der Tag ist mir heute eindeutig zu lang. Lass sie mitfliegen!« Er winkte ab.

»Was?!« Jillian stemmte die Hände in die Hüften.

»Es macht keinen Unterschied. Etwas mehr Sprit vielleicht, und wir brauchen noch zwei Seilwinden, aber sonst – lass sie machen. Wenn Whitt in den Vulkan springen will, soll er das tun.«

»Und was ist mit Vinves Aufgabe?« Jillian riss die Augen so weit auf – ich wartete bloß darauf, dass sie rauspurzelten und ihr vor die Pumps fielen.

»Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass Vinve freiwillig die Rasierklingen gegessen hätte. Ich bitte dich! Nach den letzten zwei Aufgaben müsstet du doch wissen, dass er alles macht, außer das, was er soll.« Mit der freien Hand zeigte Cody ihr den Vogel.

Yes! Ich jubelte innerlich, äußerlich zeigte ich meine Freude nur auf eine ganz bescheidene Art und Weise – nämlich, indem ich meine Brille mit dem Mittelfinger hochschob und dabei Jillians Blick fixierte.

»Aber – ich dachte … «, stammelte Jillian.

»Spielt keine Rolle mehr«, fiel Cody ihr ins Wort. »Tu mir bloß einen Gefallen.« Er griff mit der freien Hand in seine Sakkotasche und holte einen Schlüssel hervor. Damit schloss er die Handschellen auf. »Pass auf Naresh auf!«

»Du hattest den Schlüssel die ganze Zeit?!«, herrschte der Inder ihn an.

»Regel Nummer eins für Handschellen-Besitzer: Immer einen Zweitschlüssel parat haben!« Cody grinste und stopfte das Fesselspielzeug in die Tasche seines glitzernden Sakkos. »Ich würde sagen, es ist Zeit für den Abflug.« Obwohl Naresh ihn ziemlich gehässig angaffte, wagte der Showmaster es, die Hände auf seine Schultern zu legen und sich vorzubeugen. Er küsste ihn. Der Inder war größer als Cody, deshalb musste er sich auf Zehenspitzen stellen. Ich kam mir vor wie in einem schlechten Bollywood-Liebesdrama. Was geschah als Nächstes? Ein Kniefall? Ein Antrag? Eine Blitz-Hochzeit?

Shouta

Itch – Nothing But Thieves

Er konnte gar nicht ausdrücken, wie sehr die Familie Wilson ihn enttäuscht hatte. Aber das musste er auch gar nicht. Er musste nur leiden. Das war das, was Shouta am besten konnte. Und heute würde er sein Leid auf das größtmögliche Maximum treiben. Er befand sich auf dem Parkplatz vor der Fabrik, die Ärzte checkten sein Blut und Codys Leute klärten einige Dinge mit dem Besitzer der Manufaktur ab, damit es losgehen konnte.

Wie erwartet stellte sich heraus, dass Shouta einwandfrei heilte. Drei Ärzte und vier Kamera-Männer begleiteten ihn in die Fabrikhalle zu den Schmelzöfen. Es war klar, worauf Immortal Experiences Prioritäten setzte. Aber das störte Shouta nicht. Diese Firma war es, die durch Schmerz seine Schmerzen linderte.

Obwohl er nicht wollte, wanderten seine Gedanken zu Paisleigh zurück. Jetzt, da sie fast gestorben war, hatten die Wilsons zum Teil das bekommen, was sie verdienten. Sie hatten einen Einblick in Shoutas Leben bekommen. Doch um ihn komplett verstehen zu können, müsste etwas noch viel Grausameres mit Paisleigh geschehen. Er wünschte sich so etwas nicht, auch wenn er Wonder ihr Familienglück nicht gönnte.

Shouta lief zur gelben Markierung mitten in der Halle, direkt unter den großen Schmelzofen. Es roch ekelhaft verbrannt und nach giftigen Dämpfen. Die Hitze in der Halle erschwerte allen das Atmen, wie in einer achtzig Grad heißen Sauna – auch den Kameramännern, die brav ihre Stative aufstellten. Heute würde er für sie modeln und damit eventuell den Contest gewinnen. Shouta winkte einen zu sich her. »Ich möchte noch etwas sagen, bevor es losgeht.«

»Okay, schieß los.« Die Kamera wurde direkt auf ihn gerichtet. Shouta holte Luft und sagte dann: »Ich werde, falls ich den Immortal Contest gewinnen sollte, das Geld nicht mit Tasey teilen. Stattdessen möchte ich das gesamte Geld an eine gemeinnützige Organisation gegen Krebs spenden.«

Der Kameramann nickte und schritt langsam nach hinten. Shouta tauschte Blicke mit den Angestellten der Fabrik und gab ihnen ein Handzeichen, sobald sich der Kameramann außerhalb der Gefahrenzone befand.

»Drei, zwei, eins!«, riefen die Fabrikarbeiter, ehe sie die Hebel betätigten und die Schleuse öffneten.

Von oben übergoss ihn das heiße Glas und er schrie sich die Seele aus dem Leib, bis die Masse seine Lippen erreichte. 1.500 Grad Celsius bedeckten Shoutas Körper, ummantelten ihn. Er bildete sich ein, er würde sterben, so sehr tat es weh. Eigentlich müsste er restlos verbrennen und zerschmelzen, so wie das flüssige Glas. Aber die Fabrikarbeiter verriegelten die Schleuse nach wenigen Sekunden und die Glasmasse begann, abzukühlen. Unterdessen spürte Shouta, wie sein Körper von innen nach außen gegen die Verbrennungen ankämpfte. Er stand nur starr da, aber diese Aufgabe war die heftigste von allen. Das Ultimatum an Folter. Heißer als Lava.

Brien

Legend – The Score

Über Shouta, den Mann aus Glas, lächelte Brien nur müde. Er verfolgte die Aufgabe des Asiaten über den Laptop von Codys Assistenten. Mit dem Glas toppte Shouta vielleicht die Oma aus Zement, aber er würde ihn nicht schlagen können, zumal seine Aufgabe ebenfalls Glas beinhaltete. Genau genommen, eine gläserne Badewanne. Brien beobachtete im Stream, wie Shoutas Haut unter der glühenden Flüssigkeit regenerierte. Zugegeben, es war faszinierend. Ein optisches Spektakel. Ganz langsam ebbte das Leuchten ab, die Flüssigkeit erstarrte und wurde durchsichtig. Darunter konnte man Shoutas Haut beim Heilen zusehen.

Parallel zur Aufgabe des Japaners lief die von Adelina. Ihre Zusammenkunft mit den Monsterhornissen sollte eine ganze Stunde andauern. Leider war es gähnend langweilig, ihr zuzusehen, weil einfach nichts passierte. Sie stand einfach nur im Käfig herum und guckte den Insekten beim Wuseln zu. Nareshs Aufgabe mit den Kobras im selben Käfig hatte Brien als wesentlich spannender empfunden. Nach einer Viertelstunde switchte er zurück zu Shouta. Vier Klimaanlagen belagerten ihn ringsum. Die kalte Luft kühlte das Glas, während der Asiate unter der Masse regenerierte. Solange, bis er komplett verheilt und in seiner eigenen Skulptur eingeschlossen war.

Einer von Codys Leuten rückte mit einem großen Hammer an. Er holte aus und zertrümmerte die gläserne Rüstung. Die Hülle zersprang in tausend Teile und die Splitter sausten durch die Luft wie Feuerwerk. Leider geil. Verdammte Scheiße!

»Mr. Bishop? Sind Sie bereit?« Der Assistent mit der Mops-Fresse kam auf ihn zu.

Bereit, zu verlieren? Auf keinen Fall. Aber so richtig zweifelte Brien nicht, denn was Schmerz anbelangte, würde er Shouta weit übertreffen. Brien war sich sicher: Kein anderer Teilnehmer war fähig, so viel Schmerz auszuhalten wie er. Dagegen konnte so ein kleiner, verrückter Japaner nicht ankommen.

Codys Assistenten rückten mit den Kanistern an. Sie streiften sich Schutzkleidung und Handschuhe über, dann begannen sie, die Badewanne aus Glas zu befüllen. Die klare Flüssigkeit füllte die Wanne wie Wasser, wie ganz normales Wasser. Ja, Brien würde ein Bad nehmen – allerdings kein gewöhnliches. Und schon gar keins in Wasser. Bei der Hälfte stoppten die Assistenten, und Brien tunkte seinen Fuß in die durchsichtige Flüssigkeit – mit Stiefel.

Augenblicklich reagierte das Leder. Brien sah zu, wie die schützende Kleidung unter einem zischenden Blubbern zerschmolz. Gleich erreichte es seine Haut …

Damit er nicht kniff, gab er sich einen Ruck, sprang komplett in die Wanne und legte sich so fix wie möglich hinein. Ab der ersten Sekunde erfasste ihn der beißende Schmerz. Brien wollte nicht brüllen oder heulen, er hatte schon viel erlebt, viel gesehen, viel ausgehalten. Mehr als jeder andere. Das hatte er gedacht, bis jetzt. Doch die Säure fraß ihn auf, sie drang durch die Haut bis hin zu Mark und Knochen und löste seinen Körper auf, wie Brause in Mineralwasser. Blut tränkte die Wanne und aus der klaren, harmlosen Brühe wurde ein hässlicher, schlammroter Säure-Sumpf. So rasant, wie er zerfiel, regenerierten seine Gliedmaßen. Sein Körper kämpfte dagegen an, gefressen zu werden. Es war ein Wettlauf gegen die Zeit: Wer war schneller? Der unsterbliche Tag oder die Piranha-Säure?

Es war die Säure.

Brien schrie und schrie, der Schmerz war unerträglich. Er kniff die Augen zusammen, doch als er nach unten linste, fiel ihm auf, dass von seinen Beinen nichts mehr übrig war und sein Unterleib sich in Sekundenschnelle zersetzte. Noch ein paar Momente, und er plumpste mit Torso und Kopf komplett in die Todesfalle, ohne Hoffnung auf Wiederkehr.

»Abbruch! Abbruch!« Jemand pfiff, Hände in Handschuhen packten ihn an den Ohren, am Kopf. Mit einem Ruck hievten sie ihn auf eine Bahre neben der Wanne, und auf einmal versiegte der brennende, beißende Schmerz.

Briens Körper regenerierte. Er nahm wahr, wie seine Gliedmaßen nachwuchsen, genau wie nach der Vierteilung. Sein Atem beruhigte sich, dennoch brachte er fortan keinen Ton mehr heraus.

Dirk

Flying High – Pale Heart

»Ich bin froh, dass du endlich erkannt hast, was der Immortal Contest für die Welt wirklich bedeutet«, sagte Dirk und schüttelte sein Handgelenk. Dabei klirrte das Metall seiner Uhr.

»Ich muss zugeben, dass ich dir Unrecht getan habe – das stimmt. Aber als Mutter möchte ich dich daran erinnern, dass ich nicht dulde, dass du noch eine von diesen Aufgaben absolvierst.« Celine lehnte sich mit dem Rücken an die Wand des Hotelzimmers und zog ihr Smartphone aus der Tasche ihres Blazers.

»Du hast selbst gesagt, dass ich bis nächste Woche die zehn Millionen haben muss – daher bleibt mir leider keine andere Wahl. Wie Bernd dir mit Sicherheit mitgeteilt hat, haben wir massenhaft Anfragen, Reservierungen und Vorbestellungen bezüglich Immortal Health, aber die Schulden für Codys Kette und den Contest an sich bauen sich erst in Raten in den kommenden Monaten ab. Nicht von heute auf morgen.«

»Das weiß ich, Dirk.« Sie betrachtete ihre Fingernägel. »Das weiß ich. Aber ich bringe es nicht über das Herz, dir die Teilnahme weiterhin zu erlauben.«

»Mutter! Ich werde nicht ohne Fallschirm springen! Ich mache einen ganz normalen Flug, wie die letzten zweihundert Male auch. Mein neuer Suit soll sich schließlich auch mal auszahlen. Der, der ohne den Fallschirm springt, ist Mike – mein Stuntman!«

»Ob mit oder ohne Fallschirm – Ich verbiete es! Sei froh, dass ich den Contest nicht abgebrochen habe.«

Dirk knirschte mit den Zähnen. Seiner Frau Mutter konnte er aber auch gar nichts recht machen. »Also gut, dann springt Mike eben alleine – das müsste sich ja irgendwie inszenieren lassen. Mike springt in meinem Namen, hast du gehört, Mutter?«

Celine blickte von ihrem Smartphone hoch. »Hm, was?«

»Ich springe nicht! Mike springt alleine! Bist du jetzt zufrieden? Was machst du da eigentlich?!« Er stellte sich neben sie und lugte über ihre Schulter. Donnerwetter. Da hatte Frau Mutter tatsächlich Youdupe aufgerufen.

»Ich moderiere live aus dem Helikopter! Unsere Kandidaten Philia, Tasey, Whitt und Vinve mit an Bord! Ihr fragt euch sicherlich, wie es dazu kam, und nun ja, das frage ich mich auch … « Cody zuckte mit den Schultern, als wäre er genervt. Wie auf Knopfdruck verwandelte sich seine missgelaunte Miene in ein strahlendes Lächeln. »Aber ich darf mit Freuden verkünden, dass gleich drei Teilnehmer den Sprung in den Vulkan wagen werden: Nicht nur Tasey und Philia, sondern auch Whitt wird beweisen, wie gut er in Lava schwimmen kann!«

Da krächzte Vinve im Hintergrund: »Ich spring nicht in den Vulkan, ich bin ja nicht blöd!«

Cody räusperte sich. »Ähem. Ja genau, und Vinve ist quasi als unser Glücksbringer mit dabei!«

Das war kaum auszuhalten! Dirk griff sich mit den Fingern zwischen die Augenbrauen und massierte sich dort. Machte denn keiner, was er sollte?!

»Jedenfalls dauert es noch ein Weilchen, bis wir El Popo erreichen – in der Zwischenzeit präsentiere ich euch: Havanna! Und auch in der letzten Runde wird es, wie wir wissen, un-an-stän-dig!« Cody ahmte Havannas Zeigefinger-Wackeln nach. Dann schaltete die Übertragung in die Antarktis. Genauer gesagt, in eine Schiffskabine – eine der besonderen Art. Havanna stand im Bademantel in einem holzverkleideten Raum mit gestuften Bänken.

Dirk wusste natürlich, was jetzt folgte, doch Celine hielt sich die Fingerspitzen vor den Mund, wie ein Kind, das Angst vor einem Horrorfilm hatte, aber den Streifen unbedingt sehen wollte.

»Hallo meine Lieben! Wie versprochen geht es in meiner letzten Aufgabe heiß her: Meine Follower wissen ja, dass ich ein großer Fan von Saunen bin, und da war ich natürlich ganz aus dem Häuschen, als ich erfuhr, dass unser Schiff auch eine besitzt!« Sie strahlte in die Kamera wie sieben Tage Sonnenschein. »Bevor ich anfange, muss ich allerdings auch noch etwas loswerden: Genau wie Shouta werde auch ich mein Angebot Tasey gegenüber zurückziehen. So ein Betrug geht-gar-nicht!« Sie wackelte mit dem Zeigefinger und unterstrich die letzten Silben mit ihrem melodischen Unterton. »Da spende ich lieber an den WWF! So, und jetzt genug von all den negativen Vibes, ich würde sagen: Wasser marsch!«

Ganz langsam löste sie den Gurt ihres Bademantels. Havanna ging glatt als erfahrene Stripperin durch, so professionell, wie sie blank zog. Stück für Stück enthüllte sie ihren Körper, bis sie komplett nackt dastand. Genau wie bei ihrer ersten Aufgabe. Diese Frau wusste, wie man die Blicke des Publikums auf sich lenkte. Sie war ein ernstzunehmender Gegner im Contest. Nicht, dass Dirk das ärgerte – im Gegenteil. Dank Leuten wie Havanna schrieb er bald schwarze Zahlen.

»Cleveres Mädchen«, kommentierte Celine. »Wirklich nicht schlecht.«

Havanna begann mit dem Aufguss. Jede viertel Minute schöpfte sie einen halben Liter Wasser ab und goss ihn über den Ofen. Kochend heißer Nebel stieg auf, doch sie lächelte nur, schnappte sich ein Handtuch und wedelte damit herum, als würde sie tanzen. Es schien, als hätte sie das schon öfter gemacht, denn sie bewegte sich rhythmisch, in ihrem ganz eigenen Takt und schwang das Handtuch kunstvoll in jede mögliche Richtung.

Cody schaltete sich als Kommentator als Bild im Bild in die Ecke. »Tjahaa, Havanna gießt nicht erst seit gestern auf, tatsächlich hat sie für einige Jahre als Aufgussmeisterin in Sydney gearbeitet! Ich würde sagen, die Erfahrung kann sich sehen lassen und zahlt sich heute so richtig aus!«

Oh ja. Dirk konnte seine Augen nicht von Havanna lassen, sie verteilte den Dampf mit einer Leichtigkeit, als würden keine 150 Grad im Raum herrschen, sondern 50. Aber am Thermometer und am aufsteigenden Wasserdampf konnte man deutlich erkennen, wie heiß es dort drin wirklich sein musste. Der Nebel erschwerte die Sicht, dennoch konnte Dirk den einen oder anderen Schweißtropfen an Havannas sonnengeküsster Haut hinabströmen sehen. Ja, die Zoomobjektive der Kameras waren ihr Geld wert gewesen.

Havanna war Sex in Person.

Es klopfte und einer seiner Assistenten unterbrach die Peepshow. »Mr. Jäger, kann ich Sie kurz sprechen?«

Eigentlich hätte er sich lieber weiter Havannas Aufgabe angesehen, aber er konnte sich ja auch die Wiederholung anschauen, und zwar so oft er wollte – immerhin würde es am Ende vom Contest eine nette Blu-Ray-Ausgabe von allen Aufnahmen geben.

Dirk trat vor die Tür, um allein mit seinem Angestellten zu sprechen. »Was brauchst du?«, kam Dirk sofort auf den Punkt.

»Mike ist ja tot – wie verfahren wir jetzt mit Aufgabe Drei?«

»Was?!« Dirk machte große Augen.

»Er hat die Guillotine nicht überlebt. Hat Cody Ihnen das nicht gesagt?«

Nein, hatte er nicht, der feige Mistkerl! Dirk versuchte, einen kühlen Kopf zu bewahren. »Die Information ist mir neu.«

»Das ist schlecht. Jedenfalls – weil Mike tot ist, kann er nicht mehr für Sie springen. Wie geht’s jetzt weiter?«

»Ganz einfach: Plan B. Hat Cody dich nicht gebrieft?«

»Er ist nicht davon ausgegangen, dass Mike es nicht schaffen würde. Also nein«, antwortete er.

Na toll. Codys Optimismus durfte Dirk nun ausbaden. »Plan B lautet: Beim Sythietrationstest falle ich durch. In diesem Fall werde ich … Oh.« Ihm fiel ein, dass Plan B gerade von seiner Frau Mutter zunichte gemacht worden war. »Tja, ich fliege trotzdem, für die Zuschauer – aber eben mit Fallschirm.«

Mikes unerwartetes Dahinscheiden bereitete Dirk massive Probleme. Wenn er trotz des Verbots von Celine flog, riskierte er sein Erbe – und wenn er es nicht tat, auch. Er ballte seine Hände zu Fäusten. Verdammte Kacke, was sollte er jetzt bloß machen?! Und warum zum Teufel hatte Cody ihm nicht früher Bescheid gegeben?!

»Das heißt also, Sie kommen gleich mit mir?«

Statt zu antworten, seufzte Dirk nur und setzte sich in Bewegung, Richtung Lift.

Auf dem Dach war alles vorbereitet worden, sein Helikopter stand bereit und wartete auf ihn, genau wie die Filmcrew, Dr. Austen und ihr Team. Eine Schwester nahm Dirk Blut ab und die Ärztin erlaubte es sich, zu lachen, als sich der Sythietrationsstreifen färbte.

»Tja, sieht so aus, als wäre ihr Tag gelaufen«, bemerkte sie und richtete ihre Worte direkt in die Kamera.

Dirk hätte am liebsten mit den Augen gerollt – aber er durfte sich nichts anmerken lassen. Nicht jetzt. Also tat er enttäuscht. »Heißt das, ich darf nicht bei der dritten Aufgabe dabei sein?« Er bemühte sich, einen möglichst echten Schmollmund zu ziehen.

»Leider nein. Glauben Sie mir, ich hätte sie gern nochmal auf den Boden schmettern sehen.« Sie lachte wieder. »Ohne Fallschirm lasse ich Sie nicht springen!«

»Und mit Fallschirm? Ich kann doch jetzt unsere Zuschauer nicht hängen lassen!«, erwiderte Dirk.

»Das ginge natürlich.«

Daraufhin lächelte Dirk in die Kamera, ehe die Aufnahme beendet wurde. Anschließend schlüpfte er in seinen Wingsuit und stieg mit einem Kameramann in den Helikopter. Unter dem Donnern der Rotoren hoben sie ab.

Die Sonne wanderte gen Horizont und tauchte die Skyline von L. A. in ein sattes, fruchtiges Orange. Die Stadt erstreckte sich weiter, als Dirk sehen konnte. Nur das Meer grenzte die Masse an Grundstücken, Villen und Wolkenkratzern ein. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie die Häuser zu Rechtecken schrumpften und schnallte sich derweil die Action-Cams um. Auf 2.000 Metern Höhe lehnte er sich aus dem Helikopter und atmete einmal tief durch. Er hatte das hier schon hunderte von Malen gemacht, es war nichts Besonderes. Trotzdem spürte er das Adrenalin durch seine Adern pumpen, trotzdem klopfte ihm sein Herz bis zum Hals.

»Bist du bereit?« Der Kameramann richtete sein Objektiv auf ihn.

Bereit, alles zu gewinnen? Auf jeden Fall! Dirk lächelte. Noch einmal atmete er tief ein und aus, ehe er einen Schritt vorwärts machte und sprang.

Durch das Visier seines Helms sah er die Welt auf sich zu rasen. Er spannte seine Muskeln an und spreizte Arme und Beine. Wie ein Flughörnchen glitt er durch die Höhen über die Stadt. Dirk liebte es, zu fliegen. Nicht umsonst gab er einen Großteil seines Geldes für Fallschirmsprünge und Wingsuits aus. Er segelte dem Sonnenuntergang entgegen und freute sich jetzt schon über die Reaktionen der Zuschauer. Die Aufnahmen würden gigantisch sein. 1.700 Meter von der Erde entfernt überlegte er, vorzeitig den Flug zu beenden. Das Filmmaterial war ausreichend und er konnte so gemütlich im Schirm dahinsegeln, die Aussicht genießen. Gedacht, getan. Er öffnete den Fallschirm.

Oder auch nicht: Nichts geschah.

Er, Dirk Jäger, steckte im falschen Anzug.

In Mikes Anzug, um genau zu sein. Fuck. FUCK! Panik durchflutete seine Adern, er riss seine Augen weit auf und durchforstete die Gegend nach einer Landemöglichkeit.

Noch 1.500 Meter bis zum Aufprall … Oh nein, er musste den Scheiß überleben. Wer auch immer die Anzüge vertauschte hatte, musste dafür büßen. Dirks Blick schweifte über die Skyline von Los Angeles, über die zahlreichen Vorgärten.

Das Meer war zu weit weg. Er würde es nicht mehr rechtzeitig erreichen, um im Wasser zu landen. Eine Pappkarton-Landebahn hatte er auch nicht vorbereitet. Verdammte Scheiße. Er brauchte irgendwas, in das er sanft hineingleiten konnte, sonst würde er elendig auf dem Asphalt verrecken.

Da! Etwas weiter entfernt von den Hochhaussiedlungen fand er, was er suchte: Einen See. Zwar nicht besonders groß, es würde eng werden. Aber lieber brach Dirk sich alle Knochen, als ins Gras zu beißen. Er würde sich noch an demjenigen rächen, dem er diese verfluchte Scheiße zu verdanken hatte. Denn eines wusste er gewiss: Jemand hatte seinen Anzug mit Absicht vertauscht. Bei all seinen Sicherheitsvorkehrungen konnte das kein Zufall sein.

Dirk steuerte den kleinen, länglichen See an, flog dicht an den Hochhausfassaden vorbei. Plötzlich tauchte eine Palme hinter einem Gebäude auf. Scheiße!

Er lenkte um, verlor den Kurs. Fuck, gleich war er unten … Er konzentrierte sich, versuchte die Nerven zu behalten und den See zu erwischen, ohne draufzugehen. Er musste so flach wie möglich ins Wasser zu gleiten. Je steiler der Winkel, desto höher das Risiko, gegen die harte Wasserwand zu klatschen – wie eine Fliege gegen eine Windschutzscheibe. Er durfte auf keinen Fall falsch landen, das würde seinen sicheren Tod bedeuten. Dirk übernahm die Kontrolle über jeden seiner Muskeln und betete, er möge diese Bruchlandung heil überstehen.

Naresh

Down To The River – Welshly Arms

Kalifornien

Codys Lieblingsassistentin Jillian nervte einfach nur. Ständig jammerte sie über dies und jenes, während sie hin- und her telefonierte. Über zwei Stunden lang musste er ihre Gespräche ertragen.

»Was soll das heißen, Lana hat abgesagt? Sie kann nicht absagen! Gut, ok. Dann nehmen wir Ronda. Welchen Song hat sie vorbereitet? Halt, ich will es nicht wissen, sag es einfach Tina. Sag alles, was Europa betrifft, Tina! Die Champion-Cheers sind vollzählig, zumindest waren sie das noch vor einer Stunde … Pale Heart müsste auch bereit sein. Alles klar. Mach ich.« Jillian beendete das Gespräch und seufzte, dann meinte sie zu Naresh: »Sei froh, dass du DAS nicht managen musst!«

Er rümpfte die Nase und zog die Augenbrauen zusammen. Diese dämliche Kuh hatte keine Ahnung. Erneut klingelte ihr Mobiltelefon. Naresh verdrehte die Augen und starrte aus dem Fenster der S-Klasse. Viel gab es nicht zu sehen, sie steckten im Stau. Klar, bei der Rushhour.

»Ja? Was?! Nein!« Jillian klang entsetzt. Sie legte auf und zog panisch das Tablet aus ihrer Tasche. Dann schaltete sie auf Youdupe.

Cody moderierte als kleines Bild im Bild. »Da stimmt was nicht! Oh, oh! Warum öffnet sich sein Fallschirm nicht? Dirk, bitte stirb nicht, mein Freund!« Er bemühte sich, so künstlich wie möglich zu klingen, aber Naresh hörte seine Angst deutlich heraus. Da stimmte wirklich was nicht.

Erschrocken hob sich Jillian beide Hände vor den Mund.

»Dirk heilte beim Sythietrationstest leider nicht mehr, daher können wir jetzt nur noch beten, dass er den Aufprall überleben wird!« Cody malte mit den Fingern ein Kreuz in die Luft und Naresh sah, wie eine Träne an Jillians Wange hinabglitt. Sie begann zu schluchzen. Unfassbar, dass irgendjemand Dirk Jäger nachtrauerte, diesem Arschloch. Doch Nareshs Herz war nicht aus Stein, daher nahm er Jillians Hand und drückte sie zum Trost.

»Aber halt! Was tut er da? Er steuert den Echo Park Lake an! OH MEIN GOTT!«

Eine Drohne übertrug live, wie Dirk auf den See zuschoss. Gleich würde er eine frontale Bauchlandung … Gleich würde er …

Dirk streifte das Wasser mit den Füßen und sank rasend schnell ein. Wider Erwarten klatschte er nicht gegen die harte Wasseroberfläche. Unfassbar.

»OH MEIN GOTT!«, wiederholte Cody. »Er hat’s geschafft! Junge, Junge! Das war knapp! Dirk Jäger, meine Lieben! Applaus für Dirk Jäger!«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752142150
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
realityshow losangeles regeneration rollstuhl unsterblichkeit Humor Horror Urban Fantasy

Autor

  • Jay Moon (Autor:in)

Jasmin Whiscy ist studierte Kommunikationsdesignerin und arbeitet, wenn sie nicht an ihren eigenen Romanen feilt, an Designs und Illustrationen für andere Autoren und Verlage. Ihre Laufbahn als Autor begann mit vier Jahren freiberuflicher Pressearbeit und dem Debüt ihres Comics »Fett verliebt«, der einen Preis beim Summer Manga Tournament 2016 gewann. Seit 2019 veröffentlicht Jasmin Whiscy neben humorvollen Jugendbüchern auch Thriller und Witzebücher unter dem Pseudonym Jay Moon.
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Titel: Der unsterbliche Tag – Runde 3: 20 Uhr (Thriller Serie 4)