Lade Inhalt...

Todessamen

von Nicole Siemer (Autor:in)
284 Seiten

Zusammenfassung

»Der Todessamen wird sprießen!«

Grubingen – ein Ort, der auf keiner Karte zu finden ist. Keine Ausschilderung führt dorthin, und doch lebt eine Gemeinde dort. Umgeben von einem Wald, der besser nicht betreten wird.Jessie lebt bereits seit ihrer Geburt in Grubingen. Einsam und mit sich selbst im Unreinen, hat sie den Tod ihrer Eltern nie verkraftet. Sie ist eine Waise und ihre Freundin Jenny lässt sie das auch regelmäßig spüren. Schon oft drohte Jessie, sich in ihrer Trauer zu verlieren, doch ein Geschenk ihrer Eltern, das sie zu ihrem fünften Geburtstag bekam, bewahrte sie davor: eine alte Ausgabe von Alice im Wunderland. Die Geschichte wurde schnell zu einem Rückzugsort, der sie vor der realen Welt beschützte und träumen ließ.

Jessies Vorstellungskraft war schon immer enorm. So trat als Kind ein imaginärer Freund namens Sam an ihre Seite, gerade, als ihr das Leben im Heim unerträglich erschien. Nach einem verheerenden Zwischenfall schickte sie ihn jedoch weg und vergaß ihn sogar im Laufe der Jahre. Bis zu jenem heutigen Tage, an dem sie ihn plötzlich am Waldrand stehen sieht. Sie folgt ihm hinein in den gefährlichen Grubinger Forst und gelangt so in eine fremde Welt. In Sams Welt.

Nie hätte sie gedacht, dass ihr Wunderland tatsächlich existieren könnte. Und Sam ...

Was zunächst den Anschein einer Idylle erweckt, verwandelt sich schon bald in einen wahren Albtraum ...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

Todessamen

 

Nicole Siemer

 

 

 

 

Vorwort

 

Die Erstauflage von Todessamen ist im April 2019 erschienen. Damals war ich wahnsinnig nervös. Meine erste Veröffentlichung! Menschen würden mein Buch lesen! Freunde, sogar Fremde! Was würden sie davon halten?

Ich bin ein eher ängstlicher Mensch, introvertiert und selbstkritisch, aber ich habe es getan. Ich habe den Roman veröffentlicht und es nicht bereut.

Als der Empire-Verlag und ich uns für eine Neuauflage entschieden haben und der Text erneut lektoriert wurde, konnte ich merken, wie sich mein Schreibstil weiterentwickelt hat. Er ist lange nicht perfekt, das wird er nie sein, denn Autor:innen lernen nie aus, wie ich immer wieder erwähne, aber er hat sich verbessert und das freut mich ungemein.

Aber ich möchte nicht lange schwafeln. Ich wünsche euch auf eurer Reise mit Jessie ganz viel Spaß. Achtet auf die Katzen, die euch auf eurem Pfad begegnen, das könnte euch möglicherweise das Leben retten.

Kapitel 1

 

Der Abgrund lockt sie. Und er jagt ihr eine Heidenangst ein.

Jessie lässt den Blick über ein Meer aus Schwärze schweifen und fragt sich, wie weit die Dunkelheit reicht.

Es gibt zwei Möglichkeiten: entweder fallen und sterben, oder – nein, genau genommen bleibt nur diese Option.

Direkt vor ihr erstreckt sich ein Seil, kaum breiter als ihr großer Zeh. Es scheint ins Nichts zu führen.

Doch glänzen dort hinten nicht zwei Lichtpunkte, klein wie Glühwürmchen, regungslos in der Luft? Hin und wieder verschwinden sie, um kurz darauf erneut aufzutauchen.

Irgendetwas an diesen Punkten kommt Jessie bekannt vor, ja sogar vertraut, und sie zögert nicht lange, bis sie den Fuß auf das Tau setzt. Es ächzt und wölbt sich der Dunkelheit entgegen, aber es wirkt, als könnte es ihr Gewicht tragen. Und wenn nicht, falle ich eben bis zum Mittelpunkt der Erde oder gleich darüber hinaus, denkt sie. Vielleicht lande ich auf etwas Weichem wie einer Wolke oder Zuckerwatte.

Jessie schiebt den Gedanken zur Seite und konzentriert sich auf die beiden Lichtpunkte, die ein weiteres Mal kurz verschwinden und wieder erscheinen. Sie streckt die Arme zu beiden Seiten aus, nimmt einen tiefen Atemzug und setzt den zweiten Fuß auf das Tau. Erneut stöhnt es auf, protestiert unter der Last. Doch es hält.

Die Lichtkugeln erinnern Jessie an die Reflektoren eines Fahrrads, wenngleich ihre Farbe eher grünlich statt gelb ist. »Leuchte, guter Mond, leuchte«, sagt sie und macht einen weiteren Schritt. Das Tau schwankt bedrohlich unter ihren Füßen. Ich falle! Wie ein Betrunkener wankt sie, rudert mit den Armen, um die Balance zu halten.

Jessie spürt die gähnende Leere des Nichts. Ihr Atem geht stoßweise und hallt von unsichtbaren Wänden wider. Und mit einem Mal überkommt sie das Gefühl, nicht länger allein zu sein. Irgendetwas versteckt sich dort unten, beobachtet sie mit gierigen Blicken. Es wartet nur darauf, dass sie einen Fehler begeht und damit ihr Schicksal besiegelt.

Schon glaubt Jessie zu spüren, wie sich eine kalte Hand – oder Klaue oder eine klauenähnliche Hand – um ihren Knöchel legt. Sie würde sich glitschig und aufgedunsen anfühlen, aber dennoch eisern zupacken. Und sie würde den beißenden Gestank des Todes mit sich bringen. Mit einem einzigen Ruck würde das Ding Jessie nach unten ziehen, in die Dunkelheit.

Hört sie nicht schon die Atemzüge dieses Wesens? Gurgelnd wie die eines Ertrinkenden, doch gleichzeitig ekstatisch wie die eines Jägers kurz vor dem Fang seiner Beute?

Jessie wird abwechselnd heiß und kalt. Die Härchen auf Armen, Beinen und Nacken stellen sich auf und der Schweiß läuft ihr über Stirn und Rücken.

Hör auf mit dem Scheiß. Konzentrier dich auf die Lichtpunkte dort drüben. Und werd jetzt ja nicht ohnmächtig!

Jessie holt tief Luft und setzt ihren Weg fort. Sie versucht, nicht mehr auf das protestierende Seil zu achten oder ihrem eigenen Atem zu lauschen; sie bemüht sich, das Wesen in der Dunkelheit zu ignorieren, das ihr wieder ein Stückchen näher gekommen ist. Alles, was zählt, sind die kleinen runden Lichtpunkte da vorne.

Abbröckelndes Geröll in der Dunkelheit.

Wieder kämpft sie um ihre Balance. Hektisch suchen ihre Augen die Umgebung ab. Etwas bewegt sich unter ihr. Es ist nahe. Zu nahe.

So schnell es ihr auf dem schwankenden Seil möglich ist, setzt Jessie einen Fuß vor den anderen. Ihre Brust hebt und senkt sich rasch. Schweiß läuft ihr in die Augen. Sie versucht ihn wegzublinzeln, um die Lichtpunkte nicht zu verlieren, doch es brennt, als wäre ihr Shampoo hineingelaufen, was es ihr unmöglich macht, klar zu sehen.

Sie wankt weiter. Muss weiter. Das Wesen in der Dunkelheit ist ihr auf den Fersen. Sie darf es keinesfalls ansehen. Der bloße Anblick würde sie sofort wahnsinnig werden lassen.

Jessie wimmert leise, während sich unter ihr mehr Geröll löst und ihr Verfolger näher kommt.

Die grünlichen Lichtpunkte bleiben, wo sie sind. Nur hin und wieder verschwinden sie für den Bruchteil einer Sekunde und immer, wenn das geschieht, setzt Jessies Herzschlag mit ihnen aus.

Sie spurtet los, kümmert sich nicht darum, wohin sie tritt. Zu sehr fürchtet sie, von dem lauernden Wesen gepackt zu werden, zu stechend ist der Geruch faulenden Fleisches.

Und dann, wie aus dem Nichts, erkennt Jessie Konturen. Zuerst entdeckt sie zwei Dreiecke über den Lichtpunkten wie winzige, schwebende Pyramiden. Der Umriss eines Kopfes erscheint, der die Punkte umschließt.

»Cheshire?«, krächzt Jessie.

Licht drängt die Dunkelheit zurück und gibt den Blick auf die andere Seite des Abhangs frei. Am Ende des Seils, in eine Kuppel aus Licht getaucht, sitzt eine Katze. Ihr grauschwarz getigertes Fell ist schmutzig und verfilzt, ihr Körper ausgemergelt. Doch in ihren grünen Augen schimmert etwas, das Jessie ein Gefühl der Sicherheit schenkt.

»Cheshire.«

Cheshire antwortet nicht. Sie sitzt stumm da und ihre Augen blitzen, fast als wolle sie prüfen, ob Jessie dieser Aufgabe gewachsen ist oder ob sie aufgeben und in die Dunkelheit stürzen wird.

Jessie ist etwa einen Meter von dem sicheren Felsvorsprung, auf dem ihre Freundin wartet, entfernt. Sie verlagert ihr Gewicht auf ein Bein, holt mit den Armen Schwung (etwas Gallertartiges streift dabei ihren Knöchel), wirft die Arme nach vorne und …

 

* * *

 

Dunkelheit.

Ich hab es nicht geschafft. Ich – Jessies Hand tastete umher, fand den Lichtschalter und drückte ihn. Licht explodierte, kleine Nadeln stachen in ihre Augäpfel und sie presste die Fäuste dagegen.

»Ein Albtraum. Oh, verdammt. Au, au, au.«

Nachdem sich der Schmerz gelegt hatte, sah sie sich um. Es dauerte einen Augenblick, bis sie sich orientiert hatte. Sie war wieder einmal im Wohnzimmer eingeschlafen.

Jessie lag, mit einer Wolldecke bedeckt, auf der Couch. Ein Bein ragte unter der Decke hervor. Ihr Fuß wurde von dem kleinen Glastisch gestützt, von dem eine große Ecke abgebrochen war. Auf Jessies Bauch lag ein aufgeschlagenes Buch. Sie nahm es in die Hand – eine abgegriffene Ausgabe von Alices Abenteuer im Wunderland –, tastete unter der Decke nach dem Lesezeichen, fand es, steckte es zwischen die Seiten und legte das Buch auf den Tisch.

»Dein erster Tag ohne Aufpasser und du verbringst die Nacht wie irgend so ein Penner auf der Couch. Yay, Jessie. Dein Rücken wird’s dir danken.«

Und als hätte ihr Rücken sie gehört, breitete sich schlagartig ein ziehender Schmerz in ihrer Lendengegend aus. Jessie stöhnte und rieb sich die schmerzende Stelle.

Sie schlief neuerdings oft mit einem Buch auf der Couch ein und erwachte jedes Mal mit dem gleichen Ziehen. Manche Menschen lernten einfach nicht dazu.

Die schwarze Eckcouch – Jessie hatte sie auf ebay ersteigert und wusste weder wie alt sie war, noch wer sonst alles darauf geschlafen hatte – war so durchgelegen, dass sich eine sichtbare Kuhle gebildet hatte. Sie besaß ihre Macken. Genau wie Jessie.

»Irgendwann bricht mir das Ding unter dem Arsch weg oder ich werde von einer Sprungfeder attackiert, die mir das Rückgrat zertrümmert. Ach Mist, mein verfluchter Rücken.«

Jessie stand auf, hob die Arme über den Kopf, faltete die Hände und streckte sich, bis einzelne Wirbel und die Schulterblätter knackten.

Als Kind hatte sie aufgeschnappt, dass Menschen tagsüber schrumpften. Wegen der Erdanziehungskraft. Eins fünfundsechzig war in ihren Augen klein genug. Sie hatte befürchtet, eines Tages auf Zwergengröße zu schrumpfen, und sich daher schnell angewöhnt, sich jeden Morgen zu recken und zu strecken, bis sie meinte, mehrere Zentimeter gewachsen zu sein.

Nach diesem Ritual schlurfte Jessie ins Badezimmer und griff nach der Zahnbürste. Widerwillig warf sie einen Blick in den Spiegel und schnaufte. Ihr Haar hing schlaff herab und verdeckte einen Großteil ihres Gesichts. »Sieben Tage …«, flüsterte sie ihrem Spiegelbild zu.

Jessie wurde nachgesagt, sie habe Ähnlichkeit mit Samara aus dem Film The Ring. Vergleichbare Statur, große, kantige Hände, langes, ponyloses Haar – eine Spur zu hell, aber wer würde denn kleinlich sein? Ihr selbst fiel kaum Ähnlichkeit auf. Zumal sie nie schmutzige, weiße Kleidchen trug. Genauer gesagt trug sie überhaupt keine Kleider. Sie war eher der sportliche Typ: Jeans, T-Shirt oder Kapuzenjacke und Turnschuhe, am liebsten in Converse-Optik. Was hatte das mit Samara zu tun? Lediglich die Tatsache, dass sie ihr Gesicht gerne hinter den Haaren versteckte, passte in das Bild.

Zwar fand sie sich nicht hässlich, jedoch auch nicht sonderlich hübsch. Eher stufte sie sich als Mittelmaß ein: ein Allerweltsgesicht mit graublauen Augen, einer Stupsnase und schmalen Lippen. Die Narbe an ihrer linken Augenbraue, die sie sich als Kind beim Hexe-Spielen im Park zugezogen hatte – ein Unfall mit einem spitzen Zweig, der ihr als Zauberstab gedient hatte –, hob sie dafür von anderen Durchschnittsmenschen ab. Sie mochte diese Narbe. Sie gab ihr das Gefühl, verrucht auszusehen.

Nach einer heißen Dusche schlenderte Jessie zurück zur Couch. Sie schloss einen Moment die Augen und genoss die Stille. Soziale Interaktionen lagen ihr nicht. Da sie inzwischen Anfang zwanzig war, würde sich das nicht mehr ändern, auch wenn Freddie anderer Meinung war.

»Soziale Interaktionen sind wichtig, Jess«, imitierte sie ihn. »Soziale Interaktionen können dein Leben bereichern, Jess. Bla, bla, bla.«

Könnte ich doch bloß unsichtbar werden. So könnte ich den Menschen entkommen und mich zurückziehen. Ich könnte bei den Tieren leben. Bei Cheshire! Sie würde nie von mir verlangen, arbeiten zu gehen oder mich mit anderen Katzen zu unterhalten.

»Nur das Menschentier verhält sich anders, weil wir ja etwas Besonderes sind mit unseren großen Gehirnen.« Jessie rollte die Augen. »Oh, was für große Hirne wir doch haben. Es wäre nur gut, diese großen Hirne hin und wieder zu benutzen.«

Jessies Muskeln verkrampften sich und sie ballte die Hände zu Fäusten. Öffnete sie. Schloss sie. Öffnete sie. In Gedanken zählte sie bis zehn und nahm einen tiefen Atemzug.

Freddie hatte ihr beigebracht, mit Aggressionen fertig zu werden. Es war an der Zeit, die gelernten Methoden anzuwenden. Dieses Mal würde er nicht kommen, um sie zu überwachen.

Jessie starrte auf ihre Fernsehwand, ein schäbiges, altes Ding, das jeden Augenblick zusammenzubrechen drohte. Die Gläser im mittleren Teil des Schranks schienen sie auszulachen. Nichts in dem Zimmer war neu, kein Möbelstück passte zum anderen. Doch daran störte Jessie sich schon lange nicht mehr. Mit ihrem Job in Lenhardt’s Waren verdiente sie gerade genug Geld, um über die Runden zu kommen. Neue Möbel mussten warten.

Jessies Blick wanderte zu der Stelle, an der normalerweise ein Fernseher stehen würde. Stattdessen befand sich dort eine Lavalampe. Freddie hatte sie ihr zum Einzug geschenkt.

»Damit du hier drinnen wenigstens ein bisschen Abwechslung hast«, hatte er gesagt und dabei die Andeutung eines Lächelns gezeigt. Freddie lächelte sonst nie. Er stellte meist denselben leeren Gesichtsausdruck zur Schau und sprach mit dieser monotonen, fast einschläfernden Stimme. Selbst wenn er wütend war, blieb sie unverändert. Das machte es schwer, seine Gemütslage einzuschätzen.

Jessie mochte Freddie, obwohl sie oft stinksauer auf ihn gewesen war.

Für einen Sozialpädagogen war er ganz okay.

 

* * *

 

»Mein erster Tag in Freiheit.«

Jessie stand am Küchenfenster und sah zum Himmel hinauf. Es versprach ein heiterer Frühlingstag zu werden. Vereinzelte Schäfchenwolken trieben umher wie Flöße auf ruhiger See. Die warmen Sonnenstrahlen schienen Jessie zu umarmen. Sie fühlte sich trotz des Albtraums der vergangenen Nacht ausgeruht und voller Tatendrang.

Ein Maunzen holte sie in die Wirklichkeit zurück. Auf der Straße unter dem Fenster saß Cheshire und ließ ihren Schwanz hin und her wiegen. Sie sah herauf und schien zu lächeln. Ihr Fell war weniger schmutzig und verfilzt als in Jessies Traum, doch Cheshire sah alles andere als gepflegt aus. Kein Wunder, sie war eine Streunerin. Die Straßenkatze Grubingens, die jedem Einwohner bekannt war und von den meisten gemocht wurde.

»Cheshire«, sagte Jessie und winkte der Katze zu. Als Antwort schloss diese die Augen und öffnete sie langsam wieder.

»Ich hab dich auch lieb, kleine Grinsekatze.«

Cheshire machte einen Satz auf die Fensterbank und maunzte erneut.

»Du hast Hunger, hm? Ich mach dir was Feines, Augenblick.«

Das ließ sich die Katze nicht zweimal sagen, sprang zurück auf den Boden. Sie wartete geduldig vor der Haustür, bis Jessie zurückkam, um ihr etwas Katzenmilch in eine Schale zu gießen und einen Teller mit Nassfutter daneben zu stellen. Während Jessie Cheshire den Rücken streichelte und ihrem Schnurren lauschte, machte sich die Katze genüsslich darüber her. Nichts entspannte mehr als dieses Schnurren.

»Wochenende«, sagte Jessie. »Heute ist mein erster Tag ohne Beobachtung und noch dazu ist das Wetter herrlich. Was meinst du? Ob ich mich heute mal nach draußen wagen soll, um dort zu lesen? In den Park zum Beispiel?«

Cheshire war zu beschäftigt mit schnurren, essen und trinken, um zu maunzen, zuckte dafür aber einige Male mit der Schwanzspitze.

»Meinst du echt? Heute ist sicher einiges los im Stadtpark.«

Ein Trillern folgte als Antwort. So viel zum Thema Tiere verstünden die menschliche Sprache nicht.

»Ist ja gut, du hast recht. Ich sollte mal an die frische Luft gehen. Okay, ich mach’s.«

Schnurrend schleckte Cheshire ihre Milch. Jessie strich ihr über die Flanke und ertastete die Rippen unter dem schmutzigen Fell.

Du hast genug gelitten. Das verspreche ich dir.

Cheshire war bei Menschen aufgewachsen, die eines Tages spurlos verschwunden waren und sie zurückgelassen hatten. Zur Straßenkatze verdammt, kroch sie seither auf der Suche nach Fressen in Mülltonnen herum, schlief unter Parkbänken und streunte ziellos umher. Manchmal sah man sie vor ihrem alten Zuhause in der Luisenstraße sitzen. Sie kommen zurück, sagten ihre Augen dann. Ihr werdet schon sehen. Doch sie kamen nicht, weswegen Cheshire jedes Mal vergebens auf der Stufe vor der Haustür saß und wartete.

Schon viele Menschen, Jessie eingeschlossen, hatten sich bemüht, Cheshire ein neues Zuhause zu geben, doch die Katze hatte bereits eines und vor diesem würde sie warten, bis sie wieder mit ihren Menschen vereint war.

Jessie schluckte schwer. Cheshires Schicksal traf sie tief. Sie beide wussten, wie es war, alles zu verlieren. Deswegen fühlte sie sich dieser Katze näher als allen anderen Lebewesen. Vielleicht war das der Grund, aus dem Cheshire so häufig zu ihr kam. Vielleicht bemerkte sie dasselbe unsichtbare Band zwischen ihnen.

Jessie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel, gab Cheshire einen Kuss auf den Kopf und verschwand ins Haus, um ihr Buch zu holen.

Sie würde sich endlich der Welt stellen.

 

* * *

 

Jessie umklammerte ihr Buch wie ein Priester die Bibel. Die Frühlingssonne knallte ihr mit ungewohnter Heftigkeit ins Gesicht, sodass sie davor zurückwich. Du bist doch kein Vampir, Jess, hörte sie Freddie sagen. Tu was Verrücktes und geh raus, wenn du nicht arbeiten oder einkaufen musst.

»Ist ja gut.«

Sie verließ die Alfonsstraße und betrat den schmalen Achmetweg Richtung Innenstadt. Wenn ich erst den Amandusplatz hinter mir gelassen habe, wo es vor Leuten, die Eis essen und Kaffee trinken, nur so wimmelt, ist es nur noch ein Katzensprung zum Park. Das kriege ich hin.

Du benimmst dich wie ein Gefangener auf dem Weg zur Hinrichtung, Jess.

Mann, Freddie in seinem Kopf zu haben nervte vielleicht!

Im Laufe der Jahre war er ihre Stimme der Vernunft geworden. Eine Stimme, die ein Eigenleben zu führen schien. Meistens erzählte er ihr, wie dämlich sie sich mal wieder anstellte und was alles in ihrem Leben falsch lief.

Jessie hasste es, eine Stimme in ihrem Kopf zu haben, die unabhängig von ihrem Verstand zu denken schien. Manchmal stellte sie sich vor, wie es wäre, in einer Irrenanstalt aufzuwachen. Eingeschnürt in einer Zwangsjacke. Wie sie brüllend und mit blutunterlaufenen Augen gegen gepolsterte Wände sprang. Schließlich war es nicht normal, Stimmen zu hören. Darum hatte sie nie jemandem davon erzählt. Sollte Freddie ruhig seine kleinen Ansprachen halten. Solange er nicht eines Tages »töte sie alle« flüsterte, behielt Jessie ihr Geheimnis für sich.

Obwohl sie es meist als beängstigend empfand, sich ihren Kopf mit der Stimme ihres ehemaligen Sozialpädagogen zu teilen, hieß sie ihn heute willkommen. Ihre eigenen Gedanken brächten sie nur dazu, wieder umzukehren, die Jalousie zu schließen, und einen herrlichen Tag wie diesen im Dunkeln zu verbringen.

Dabei gab es keinen Grund, sich zu verstecken. Von nun an stand sie auf eigenen Beinen. Nach all den Jahren in einer Jugendwohngruppe zusammen mit acht weiteren Kindern, zwei Erzieherinnen und Freddie, besaß sie endlich eine eigene Wohnung.

Es hatte regelmäßige Kontrollbesuche gegeben, um zu sehen, wie die kleine, scheue Jessie sich ganz alleine in der Welt der Menschen zurechtfand. Bis die Besuche seltener geworden waren. Bis Freddie gestern gesagt hatte: »Du bist so weit, Jess.«

War sie das wirklich?

War sie bereit, sich der Welt zu stellen?

Bin ich das?

 

* * *

 

Der Amandusplatz.

Wie Jessie erwartet hatte: Menschen. Menschen. Und noch mehr Menschen. Kaum zeigte sich die Sonne, kamen sie aus ihren Verstecken wie Ameisen, die über ein Picknick herfielen.

Alle drei Eisdielen waren überfüllt: Auf den Tischen drängten sich Eisbecher und Kaffeetassen aneinander und die Leute tummelten sich um die viel zu kleinen Möbelstücke wie Pfadfinder um ein Lagerfeuer, während der Gruppenleiter seine Horrorgeschichten zum Besten gab. Die Hungrigen mussten sich dagegen gedulden – die Restaurants öffneten ihre Türen erst am Nachmittag. Scheinbar lockte der Kaffee die Leute mehr als Essen.

Haben die alle nichts Besseres zu tun, statt hier herumzulungern? Kann man nicht einmal in Ruhe in den Park gehen?

In der Mitte des Platzes stand ein Brunnen, auf dem die Bronzestatue eines gewissen Amandus die Nase gen Himmel streckte. Laut Inschrift war er Mitbegründer der Stadt, für Jessie sah er in den kurzen Hosen und dem Zylinder auf dem Kopf jedoch eher wie ein irischer Kobold aus. Daran änderte auch die Heugabel in seiner Hand nichts.

Amandus stand auf einer Bronzeplatte, aus der in regelmäßigen Abständen aneinandergereihte Wasserfontänen schossen. Sie verschmolzen in dem Becken darunter, in dem Jessie schon mehrere Male Mütter hatte ihre Babys baden sehen. Einmal hatte sie sogar einen kleinen Jungen beim Hineinpinkeln beobachtet.

Von diesen Brunnen gab es in Grubingen mehrere. Jeder besaß die gleiche Grundform und auf allen thronte ein Mann – angeblich Mitbegründer der Stadt.

Jessie eilte über den Amandusplatz, wich spielenden Kindern aus, die sich Bälle zuwarfen, und versuchte, den lärmenden Tumult der anderen Besucher auszublenden. Es gelang ihr nicht, und ihr Körper sträubte sich, den Weg fortzusetzen.

Wenn es hier schon so voll ist, wird es im Park noch voller sein.

Und wenn schon, schaltete Freddie sich ein, du setzt dich gleich unter einen Baum, öffnest dein Buch und tauchst in eine andere Welt ein. Na, ist das keine gute Aussicht?

O doch, es klang wundervoll.

Jessie erspähte hinter Napoleon Bonantike, einem Antiquariat, und Madonna, einem Schmuckladen, die Eichen des Stadtparks. Und als sie durch die schmale Gasse zwischen Napoleon und Madonna hastete, nahm die Geräuschkulisse beträchtlich ab.

Dann hörte sie die Vogelstimmen.

Jessie schloss die Augen, um dem Konzert aus Pfeifen und Trällern (tschierpscherie und tschierpschera, oh, wie ist das wunderbar) zu lauschen. Sie stellte sich vor, selbst ein Vogel zu sein. Wie der Wind durch ihr Federkleid rauschte, während sie den Himmel auskundschaftete. Wie sie schwarze Punkte unter sich sah, die in verschiedene Richtungen hasteten, und die Nordsee roch, obwohl sie weit davon entfernt war.

Ein gellender Schrei katapultierte Jessie so unvermittelt in die Wirklichkeit zurück, dass ihr schwindelig wurde.

Sie riss die Augen auf und sah sich hektisch um. Gleich würde sie bestimmt ein Kind sehen, das gestürzt war und sich das Bein gebrochen hatte. Der Unterschenkel würde in einem unnatürlichen Winkel abstehen und vielleicht lugte sogar ein Stück Knochen hervor. Oder es hatte einen Unfall mit dem Rasenmäher gegeben. Der Fahrer hatte nicht aufgepasst und war einem schlafenden Kind über den Arm gefahren. Der Arm war natürlich abgetrennt worden und Blutfontänen färbten das Gras dunkelrot.

Ich hätte nicht rausgehen sollen, ich hätte nicht raus… Jessie schüttelte den Kopf.

Ein weiterer Schrei ertönte, gefolgt von hysterischem Gelächter.

Ein etwa zehnjähriges Mädchen in einem Kleid mit Blumenmuster rannte auf der Grünfläche umher. Das Haar hatte es zu zwei Zöpfen geflochten, die hinter ihm her wehten und Jessie an Schlangen erinnerten. Das Mädchen stieß wieder sein kreischendes Lachen aus, während es von einem Mann mittleren Alters mit Halbglatze gejagt wurde.

Sicher ihr Vater. Vielleicht hätte ich mir eine Beruhigungspille einwerfen sollen, dachte Jessie und lächelte müde.

Jetzt, wo sie sich zurück in der Realität befand, nahm sie weitere Stimmen wahr. Der Park war ebenso überfüllt wie der Amandusplatz. Es wimmelte nur so von Menschen.

Dafür ist der Park größer, hörte sie Freddie sagen.

Er hatte recht. Das hier war ein Park. Nicht der Central Park, aber ein Park. Und in Parks gab es immer eine Möglichkeit, sich zurückzuziehen. Irgendwo stand eine mit Grünspan überzogene Bank, die nur auf jemanden wartete, der Ruhe brauchte, oder ein Baum, der seinen Schatten auf jemanden werfen wollte.

Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.

Jessie setzte ihren Weg fort. Der Grubinger Stadtpark bestand aus einem einzigen Pfad, der in rechteckiger Form verlief, und damit sein Ende am Anfang fand. Nach außen hin reihten sich Eichen und Kastanien aneinander, um den Anschein eines Waldes zu erwecken. Das gelang mehr schlecht als recht. Der Baumbestand reichte immerhin aus, um Vogelfamilien anzulocken, die ihren Nachwuchs in den Baumkronen aufzogen. Das Zentrum des Stadtparks bestand aus einem säuberlich gemähten Rasen, der an die Vorgärten amerikanischer Vorstädte erinnerte, und vereinzelten Buchen. Jeder Grashalm schien exakt abgemessen worden zu sein. Erst im Herbst wucherten einzelne Grüppchen über die anderen Halme hinaus und verliehen dem Stadtpark so etwas Rebellisches. Jetzt im März besaß jeder Grashalm eine Höhe von, so schätzte Jessie, fünf Zentimetern.

Sie überschaute die Baumkronen. In Grubingen ließ sich sicher niemand außer ihr von Bäumen verzaubern. Dafür waren die Menschen dieser Stadt zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Dafür waren alle Menschen zu sehr mit sich selbst beschäftigt.

Jessie versuchte, den Lärm der anderen Besucher auszublenden. Sie lauschte dem Wind, glaubte, ihn sanft wie den Bogen einer Geige über die Blätter streichen zu hören. Wie beruhigend diese Klänge waren! Ganz anders als der Lärm der Stadt. Die Bäume bildeten das Orchester und die Vögel den Chor. Es war himmlisch.

Jessie schlenderte durch den Park und lockerte den Griff um ihr Buch. Die Muskeln ihrer Hand dankten es ihr. Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Gestalt auf einer Bank wahr, die viel zu weite Kleidung trug oder eine Decke umgelegt hatte. Jessie entschied, nicht genauer hinzusehen. Sie brauchte jetzt ein Plätzchen, das möglichst weit von den anderen Parkbesuchern entfernt war. Sie wollte lesen.

Ein Pärchen kam ihr entgegen. Beide hatten das Rentenalter längst überschritten. Der dürre Mann schob einen Rollator vor sich her, die untersetzte Frau benötigte als Gehhilfe bloß einen Stock. Allerdings neigte sich ihr Körper zur Seite, wenn sie mit dem rechten Fuß auftrat, sodass ihr Stock sich gefährlich krümmte.

Als ihr die Frau zunickte, senkte Jessie ertappt den Blick. Sie erinnerte sich daran, wie sie sich gewünscht hatte, auf ewig Kind zu bleiben. Erwachsenwerden brachte Probleme mit sich. Zum Beispiel Verantwortung. Jessie war zwar mittlerweile 21 Jahre alt, doch innerlich war sie ein Kind geblieben. Und Kinder brauchten Erwachsene, die auf sie aufpassten. Einen Aufpasser gab es jedoch nicht mehr. Sie war allein. War sie dadurch automatisch erwachsen?

Wie fühlt es sich an, erwachsen zu sein?

Eine Stimme ließ Jessie zusammenfahren. Mit Mühe unterdrückte sie einen Schrei.

»Haste ’n paar Cents für mich?«

Sie erkannte die Gestalt wieder, die ihr die dreckigen, zur Schale geformten Hände hinhielt. Jessie wich zurück.

Die Gestalt – ein Mann, dessen Alter wegen seines Vollbarts unmöglich zu erraten war – versperrte ihr den Weg. Er trug tatsächlich zu weite Kleidung, keine Decke. Ein übergroßer Kapuzenpullover und eine schlabbrige Jeans, auf der ein verdächtiger gelbbrauner Fleck trocknete. Ein modriger Geruch stieg Jessie in die Nase, bei dem sich ihr der Magen umdrehte.

»Ich habe nichts«, sagte sie.

»Komm schon. Nur ’n paar Cents! Für ’n Brot oder so.«

»Ich habe nichts«, sagte sie wieder und bemühte sich, dieses Mal ihrer Stimme mehr Nachdruck zu verleihen. Sie scheiterte kläglich, da ihr der Gestank den Atem raubte. Ihr Rachen und ihre Zunge schienen plötzlich von Pelz überzogen zu sein.

Der Mann grinste und entblößte ein paar schwarze Stummel anstelle von Zähnen.

Jessie schob sich an dem Obdachlosen vorbei. Sie schlenderte nicht mehr, sie hetzte. Blöde Idee, herzukommen. Blöd, blöd, blöd!

Doch sie konnte nicht umkehren. Täte sie es, würde ihr der Mann sicher auflauern. Möglicherweise folgte er ihr sogar bis nach Hause! Also setzte sie ihren Weg fort. Dann lief sie eben nur eine Runde um den Park. Sie hatte zumindest versucht, den Tag draußen zu verbringen.

Sobald ich den gruseligen Typen nicht mehr sehen kann, verschwinde ich von hier.

Nach einigen hektischen Schritten fiel Jessie etwas ins Auge. Zu ihrer Linken ragte eine Blutbuche in den Himmel, deren Blätterkleid alle anderen Bäume in den Schatten stellte. Sie strahlte etwas Majestätisches aus und kurz überlegte Jessie, sich tatsächlich vor ihr zu verneigen.

Sie ließ ihre Angst hinter sich. Vergessen waren der Obdachlose und die Rentner, die sie an ihre eigene Zukunft erinnert hatten. Jetzt gab es einzig Jessie und die Blutbuche – die perfekte Leseecke.

Sie umrundete den Baum, ehe sie sich ins Gras setzte und den Rücken an den Stamm lehnte, der doppelt so breit war wie sie selbst. Die Baumkrone ließ gerade genug Sonnenlicht durch, um problemlos lesen zu können. Also schlug Jessie ihr Buch auf – einzelne Seiten begannen sich bereits zu lösen – und tauchte ein in eine andere Welt. In ihre Lieblingswelt: das Wunderland.

Als Jessie gerade alles um sich herum ausgeblendet hatte, wurde es plötzlich dunkel.

Kapitel 2

 

Jennifer Krüger bog in die Alfonsstraße ein. In der Hand hielt sie einen Flyer mit der Aufschrift: Traumreise in die Stadt der Liebe – Paris. Sie trug eine Leggings mit Leopardenmuster und stellte ihren Sexy-Gang zur Schau, bei dem sie die Brust herausstreckte und bei jedem Schritt mit dem Hintern wackelte.

Was Jessie wohl sagen würde, wenn sie ihr von Paris erzählte? Sicher platzte sie vor Neid. Jenny konnte schon Jessies Gesicht sehen, während diese sich bemühte zu lächeln und so zu tun, als würde sie sich für ihre Freundin freuen. Vielleicht würde ihre Reaktion auch echt sein. War das nicht die Aufgabe einer wahren Freundin? Sich für die andere freuen, wenn etwas Großartiges passierte?

Jenny verbrachte gerne Zeit mit Jessie. In ihrer Gegenwart fühlte sie sich irgendwie mächtig. Immerhin hatte Jessie keine Eltern mehr, sie hingegen schon. Zwar sah Jenny die beiden nicht oft, weil sie den ganzen Tag arbeiteten, aber zumindest besaß sie welche.

Endlich erreichte sie die Hausnummer 22 und klopfte an die Tür. Jenny klopfte immer genau vier Mal: Tok-tok, tok-tok. So wusste Jessie, dass sie es war und kein Staubsaugervertreter.

Sie pfiff vor sich hin – einen alten Schlager, den ihre Mutter gerne auflegte – und sang im Geiste dazu. Dabei veränderte Jenny die Melodie in eine Rockabilly-Version und wippte mit dem Fuß im Takt dazu.

Gott, sie schwitzte in ihrer engen Leggings und dem knappen T-Shirt, unter dem ihr Bauch hervorquoll. Schweiß rann ihren Rücken herunter, während die Frühlingssonne unerbittlich auf ihre Schädeldecke knallte. Warum ist es nur so scheißheiß? Das sind gefühlte 30 Grad. Jenny klopfte wieder. Tock. Tock-tock. Tock.

Wo ist sie?

Ein Poltern ließ Jenny zusammenfahren. »Was zur …?«

Cheshire sprang um die Ecke und blieb direkt vor Jenny stehen, die angewidert das Gesicht verzog. Das Vieh besaß einen Ausdruck, der ihr nicht geheuer war. Fast wie Herr Koop sie im Deutschunterricht angestarrt hatte, wenn es ihr nicht gelungen war, Perfekt von Präsens zu unterscheiden.

»Was willst du, du dreckiges Biest? Hau ab. Kusch!«, sagte Jenny und fuchtelte dabei mit der Hand in der Luft herum, als wollte sie die Katze einzig durch die Kraft des Lufthauchs davon blasen.

Cheshire blieb ungerührt. Sie blinzelte nicht einmal, sondern wedelte nur leicht mit dem Schwanz.

Jenny starrte die Katze weiterhin an, während ihr der Schweiß den Rücken hinunterlief. Sie hatte das Gefühl, das Tier sähe geradewegs in sie hinein. In ihr Innerstes. Der Blick der Katze grub sich durch Jennys Körper wie eine Made durch totes Fleisch. Und als könnte Cheshire Gedanken lesen, ließ das Tier seine Zunge zweimal vorschnellen.

Jenny erschauerte. »Dann eben nicht«, sagte sie und drehte sich um.

So ein Mist. Wie gerne hätte sie Jessie von Paris erzählt. Mit wem sollte sie jetzt darüber sprechen? Mit Stefan, dem pickeligen Taugenichts, mit dem sie sich seit einer Woche traf? Wohl kaum. Sie wollte ohnehin bald mit ihm Schluss machen. Schließlich hatte sie Elton kennengelernt. Gut, er war etwas (fett) pummelig und wirkte leicht debil, doch Jenny gefiel es, wie er ihr die Einkäufe hinterhertrug und Getränke spendierte. Er war ihr schon jetzt hoffnungslos verfallen. Ganz so, wie es sich für einen Mann gehörte.

Jenny fuhr sich durch das blondgefärbte Haar und kicherte. Vielleicht war Jessie einkaufen gegangen. Oder sie gönnte sich auf dem Amandusplatz ein Eis. Eis klang gut. An einem sonnigen Tag wie diesem war ein Eis genau das Richtige.

Jenny tastete in ihrer Gesäßtasche nach Geld und fand zwei 2-Euro-Münzen. Wunderbar, vier Kugeln, jubelte sie und präsentierte erneut ihren Sexy-Gang, während sie den Weg zum Amandusplatz einschlug.

Jenny gönnte sich drei Kugeln Schokolade und eine Kugel Stracciatella. Als Sahnehäubchen sozusagen. Sie schwitzte immer noch, aber das Eis schmeckte wunderbar erfrischend. Obwohl sie spürte, wie es durch die Speiseröhre glitt und sich kühl im Magen ausbreitete, ging ihr die Hitze langsam auf die Nerven. Da registrierte sie die Bäume hinter dem Amandusplatz.

Wenige Minuten später schlenderte Jenny durch den Grubinger Stadtpark. Sie hatte schon drei Kugeln verputzt. Schokoladeneis lief ihr über die Hand und sie leckte es genüsslich ab. Im Park war es deutlich kühler als auf dem offenen Platz. Durch den Schweiß musste sich auf ihrem Rücken bereits ein Fleck in der Größe eines Basketballs befinden und ihre Schuhe quietschten bei jedem Schritt.

Es wäre besser, umzudrehen und nach Hause zu gehen. Dort würde sie sich eine lauwarme Dusche gönnen. Mama mochte es zwar nicht, wenn sie mehrmals am Tag duschte – »das verbraucht zu viel Wasser«, sagte sie dann – aber sie schimpfte nicht, wenn Jenny es dennoch tat. Meistens bekam es ohnehin niemand mit. Mutter war mit ihren eigenen Dingen beschäftigt. Manchmal fiel ihr nicht einmal auf, wenn Jenny den ganzen Tag unterwegs war. Abends beim Essen fragte sie dann häufig: »Wie war dein Tag, Liebes?«

Und wenn Jenny ihr erzählte, sie sei den ganzen Tag mit Jessie unterwegs gewesen, sah ihre Mutter überrascht auf, so als wunderte sie sich, dass sich außer ihr noch jemand im Raum befand.

Papa las um diese Zeit meistens Zeitung. Er murmelte ab und an ein paar Worte, sah jedoch nicht von seiner Lektüre auf. Er sprach nie beim Essen, außer zu dem Papier. Das war so, seit Jenny denken konnte. Umso überraschter war sie gewesen, als Papa gestern von der Parisreise erzählt hatte. Eine Fahrt für die ganze Familie sollte es werden. Er hatte schon immer mal nach Paris gewollt und jetzt bot sich dafür endlich die Möglichkeit.

Hatte es zuvor schon einmal einen Familienausflug gegeben? Ihre Eltern waren ständig viel zu sehr mit ihrem eigenen Leben beschäftigt, um sich um ihre Tochter zu kümmern.

Jenny wurde in ihrem Gedankengang unterbrochen, als sie den großen Baum mit den roten Blättern bemerkte. Darunter saß Jessie! Jenny strahlte. Sie würde ihre Geschichte also doch noch erzählen können. Wunderbar!

Sie stellte sich direkt vor ihre Freundin und schaute auf sie hinab. Ihr Schatten legte sich über Jessie und ihr Grinsen wurde breiter.

»Hi Jessica«, sagte sie mit einem unterdrückten Kichern. Jessie hasste ihren vollen Namen. »Er klingt wie der Name eines verwöhnten Einzelkindes mit zu viel Make-up und großen, runden Ohrringen«, hatte sie einmal erklärt.

Jessie hob den Kopf. Ihre Augen sahen wie zwei graue Knöpfe aus.

»Na, wieder wach?«

»Ich habe gelesen.« Sie erwiderte Jennys Lächeln nicht, griff aber nach ihrem Lesezeichen, das sie neben sich ins Gras gelegt hatte (We’re all mad here, stand darauf), steckte es zwischen die Seiten und schloss ihr Buch.

Jenny verdrückte den letzten Rest ihres Eises, wischte sich die Hände an den Leopardenleggings ab und ließ sich neben ihrer Freundin ins Gras plumpsen.

»Ich fliege nach Paris.« Jenny ließ jenes charakteristische Quietschen hören, das immer folgte, wenn sie sich freute.

»Oh, wow, das ist toll!«

»Mit meinen Eltern! Das ist natürlich oberpeinlich in unserem Alter, aber ich werde jede Menge Freizeit haben, um süße Typen aufzureißen.«

Jessie schwieg.

»Am Montagmorgen geht’s los. Stell dir das mal vor, eine Woche in der Stadt der Liebe. Obercool! Paps ist gestern mit dem Flyer angekommen.« Jenny griff hinter sich und holte den Paris-Flyer aus dem Bund der Leggings hervor. Sie drückte ihn Jessie in die Hand.

Diese schwieg weiterhin.

»All inclusive. Das Wetter soll traumhaft sein. In der Uni wissen sie schon Bescheid, das ist kein Problem. Mein Prof sagt, ich singe schon echt gut für meine zwanzig Jahre. Eigentlich wird man ja erst mit sechsundzwanzig dort aufgenommen, aber du weißt ja, wie überzeugend Paps sein kann. Na ja, jedenfalls hat Mom gefragt, ob du nicht auch mitmöchtest.«

Jessies Kopf fuhr herum. Ihre Augen leuchteten. Ihr ganzes Gesicht schien zu strahlen, während sich ihre Wangen röteten.

»Allerdings habe ich ihr gesagt, dass du arbeiten musst. Also bin ich hier, um mich von dir zu verabschieden. Vielleicht treffe ich in Paris meinen Traummann und bleibe gleich da. War nur ’n Scherz. Ich würde meine Jessica doch nie alleine in diesem Kaff lassen.« Jenny wieherte.

Aus Jessies Gesicht war jedes Leuchten verschwunden.

»Na ja, aber tschüss sagen wollte ich dir trotzdem. Schließlich muss ich noch packen. Hach, ich weiß gar nicht, was ich alles mitnehmen soll. Mein Schrank platzt vor Klamotten und trotzdem habe ich nichts zum Anziehen. Kennst du das? Na, wohl eher nicht. Egal. Ich werde mit meinem iPhone viele Bilder machen, die wir uns dann alle ansehen, ja? Das wird lustig. Das iPhone hat mir Paps letzte Woche geschenkt, als Entschädigung, weil er nicht zu meinem Auftritt hat kommen können. Die beiden arbeiten ja so viel, aber in Paris …«

»Ich muss los.« Jessie sprang unbeholfen auf die Beine. »Viel Spaß in Paris.«

Mit diesen Worten machte sie sich davon.

 

Kapitel 3

 

Ein Schatten riss Jessie aus dem Wunderland. Sie sah auf und brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Jenny ragte vor ihr auf wie ein Hooligan und einen Augenblick lang glaubte Jessie, eine andere Person

(Beiß ihr den Kopf ab!)

zu erkennen. Sie zuckte kaum merklich zusammen.

Jenny grinste. Vom Sonnenlicht umrahmt, wirkte es, als wäre sie von einer glutroten Aura umgeben. Jessie wandte den Blick ab. Sie hatte dieses Grinsen schon oft gesehen; Jenny hatte etwas vor. Etwas Fieses.

Sie ließ sich neben ihr ins Gras nieder und tat das, was sie immer tat: Sie brabbelte los, ohne Punkt und Komma. Wie eine stumme Frau, der plötzlich eine Stimme geschenkt worden war.

»Ich fliege nach Paris.«

»Oh, wow, das ist toll!«

»Mit meinen Eltern«, fiel Jenny ihr ins Wort und versetzte Jessie damit einen Kinnhaken, der sich gewaschen hatte. Sie tat es schon wieder! Jenny war eben Jenny.

Und während sie von ihren Eltern und Paris schwärmte, bildete sich in Jessies Verstand ein Szenario, das längst überfällig war.

»Du weißt, wie sehr es schmerzt, wenn du über deine Eltern sprichst«, sagte sie.

»Ich weiß nicht, was du meinst. Ich wollte doch nur …«

»Du wolltest was? Mir wehtun? Glückwunsch, Jenny, das ist dir gelungen.«

»Du solltest dich für mich freuen. Meine Eltern verreisen nie mit mir.«

»Wenigstens hast du Eltern. Aber statt mal ein wenig Taktgefühl zu zeigen, haust du mir das ständig um die Ohren. Oh, die arme, arme Jennifer! Sie hat zwar beide Elternteile, doch die kümmern sich kaum um sie. Deswegen muss sie einem Waisenmädchen ständig erzählen, wie froh sie ist, Eltern zu haben, und wie schön sich das anfühlt.«

»Du spinnst, Jessie.« Jenny drehte sich um.

Jessie ließ sich allerdings nicht so einfach abwimmeln. Sie hatte etwas zu sagen, und das würde sie jetzt tun: »Du bist nicht meine Freundin.«

Jenny fuhr herum. »Bitte was?«

»Du hast mich schon verstanden.«

»Schön!«, brüllte Jenny. »Aber eventuell bist du nicht meine Freundin!«

»Vielleicht möchte ich das gar nicht sein.« Jessie sprach ruhig, obwohl ihr Tränen über die Wangen liefen. »Du weißt nicht, wie das ist, ohne Eltern aufzuwachsen. Gut, vielleicht haben sich deine nie richtig um dich gekümmert, trotzdem haben sie dir all deine Wünsche erfüllt. Sieh dir doch nur mal den ganzen Kram an, den sie dir geschenkt haben. Sieh dir an, in was für einem Haus du wohnst. Ich hatte nie etwas davon. Ich musste mir alles selbst aufbauen. Ein Heim ist keine Familie. Du hast gelogen, als du gesagt hast, du wärst meine Freundin. Du wolltest dir immer nur selbst beweisen, dass du es besser getroffen hast als ich.« Jessies Stimme brach. Sie räusperte sich, als hätte sie sich nur verschluckt. »In Wirklichkeit bist du genauso einsam wie ich. Du glaubst, deine Eltern lieben dich nicht, doch anstatt mit mir darüber zu sprechen, versuchst du, mich weiter fertig zu machen, um dich selbst besser zu fühlen. Ich bin nicht blöd, Jenny. Ich weiß, wie es in dir aussieht. Du frisst aus Frust. Du wirst immer dicker und niemanden scheint es zu interessieren. Du triffst dich mit all den Jungs, doch ist dir schon einmal aufgefallen, dass nur Versager auf dich stehen? Leute wie du und ich. Weil wir es in den Augen der coolen Kids nicht wert sind, gemocht zu werden.«

Eine Ewigkeit lang starrten sich die beiden an. Stille breitete sich aus wie Dunkelheit nach Sonnenuntergang.

Plötzlich schluchzte Jenny laut auf, drehte sich um und rannte davon.

Jessie sah der Frau hinterher, die einmal vorgegeben hatte, ihre Freundin zu sein. Fast tat sie ihr leid. Jenny hatte es ebenfalls nicht leicht gehabt.

Warum hast du nie mit mir über deine wirklichen Gefühle gesprochen, Jenny? Warum hast du dich immerzu verstellt?

Der Anflug von Mitleid verzog sich rasch, als sich ein neues Gefühl in ihr ausbreitete. Ein starkes Gefühl, das ihre Muskeln zusammenzog und das Blut in ihren Ohren rauschen ließ. Jenny war wie alle anderen: verlogen. So waren die Menschen nun einmal. Wie hatte Jessie etwas Anderes erwarten können?

»Das ist alles deine Schuld, Freddie«, sagte sie und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen. »Ich bin für deine tollen ›sozialen Kontakte‹ nicht geschaffen.«

Jessie hatte sie alle durchschaut und sie schwor sich: Niemals werde ich so sein wie alle anderen. Ich will niemals wie die Menschen sein.

Stille holte Jessie in die Wirklichkeit zurück. Jenny hatte aufgehört zu reden, aber nur, um kurz darauf wieder anzusetzen.

»Na ja, jedenfalls hat Mom gefragt, ob du nicht auch mitmöchtest.«

Jessie horchte auf. Hatte sie eben richtig gehört? Sie sollte mit nach Paris? Scheinbar hatte sie Jenny völlig falsch eingeschätzt. Jessie lief das Blut in die Wangen. Mit einem Mal kam ihr das erdachte Streitgespräch lächerlich vor.

»Allerdings habe ich ihr gesagt, dass du arbeiten musst.«

BUMM! – wieder ein Kinnhaken. Warum versuchte sie überhaupt, das Gute in den Menschen zu sehen, wenn es doch immer gleich endete?

Der Moment war gekommen, das zu sagen, was sich in ihrem Kopf vor wenigen Sekunden abgespielt hatte. Jessie öffnete den Mund.

Und schloss ihn direkt wieder.

Feiges Miststück, tadelte sie sich selbst, und plötzlich brannten ihre Augen tatsächlich. Du flennst jetzt nicht, hörst du? Du wirst nicht heulen!

Es war unausweichlich, gleich würde sie weinen und Jenny damit weit größere Genugtuung schenken. Also fasste Jessie einen Entschluss.

»Ich muss los«, sagte sie und sprang unbeholfen auf die Beine. »Viel Spaß in Paris.«

Jessie wartete keine Erwiderung ab. Sie rannte einfach weg. Doch die Tränen versperrten ihr die Sicht, sodass sie den Pfad kaum sah. Sie zwang sich, langsamer zu gehen, um nicht zu stürzen und unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Selbst schuld, hörte sie eine Stimme zischen, die sie nicht zuordnen konnte. Eine Stimme aus ihrer Vergangenheit, die zu weit entfernt war, um sie zu identifizieren.

Der Tag, der so schön begonnen hatte, versprach ein Desaster zu werden. Aber warum auch nicht? Fühlte sich nicht jeder Tag wie eines an?

Jessie drückte ihr Buch fest an sich. Es wurde Zeit, nach Hause zu gehen und die Jalousie zu schließen.

 

* * *

 

Jenny schaute ihr hinterher und schüttelte den Kopf. »Was war das denn jetzt?«, sagte sie und spürte einen Anflug von Wut. Als Freundin war es Jessies Pflicht, sich für Jenny zu freuen. Das eben hatte jedoch alles andere als freudig ausgesehen. Sie hatte sie einfach sitzen lassen. Und sie hatte sogar die Dreistigkeit besessen, sie, Jenny, in ihren Ausführungen zu unterbrechen. Vielleicht zeige ich ihr im Anschluss doch keine Bilder. Das hat sie nämlich gar nicht verdient. Also echt.

 

* * *

 

Jessie saß mit angezogenen Beinen auf der Couch. Die einzige Lichtquelle im Wohnzimmer war eine Stehlampe. In ihrem Schoß lag Alice im Wunderland. Sie wagte es nicht, das Buch aus der Hand zu legen. Sie brauchte es, wenn sie nicht enden wollte wie all die Figuren darin. Wenn sie nicht den Verstand verlieren wollte. Es gab ihr die Kraft, einen kühlen Kopf zu bewahren. Oder zumindest einen lauwarmen.

Jessie hatte Alice im Wunderland gefühlt tausend Mal gelesen, doch es wurde ihr nie langweilig. Sie liebte die Sprache, mit der Lewis Carroll so liebevoll Alice‘ Weg beschrieben hatte. Sie liebte die Figuren – allen voran Cheshire, die ewig grinsende Grinsekatze, und den verrückten Hutmacher – und sie liebte die Welt an sich.

Das Wunderland war völlig anders als die Umgebung, in der sie lebte. Oft träumte Jessie, wie Alice einen Weg dorthin zu finden. Durch einen Spiegel zu klettern, in ein Loch zu fallen oder nur durch eine Tür zu spazieren, die sie an einen Ort führte, der anders war als alles, das sie kannte.

Jessie schaute auf ihr Buch hinab. Die Seiten waren vergilbt und abgegriffen. Weil sie viele Male in der Badewanne darin gelesen hatte, war das Papier durch den aufsteigenden Dampf wellig geworden. Der Buchrücken war an einigen Stellen durchgebrochen. Er wackelte hin und her und einzelne Seiten lösten sich aus ihm. Früher oder später würde das Buch auseinanderfallen.

Vielleicht sollte ich es neu binden lassen, überlegte Jessie. War das überhaupt möglich bei einem so alten Exemplar? Noch dazu in diesem Zustand? Oder ich kaufe mir einfach ein neues. Doch das würde sie nie übers Herz bringen. Alice im Wunderland war alles, was ihr geblieben war. Ihre Eltern hatten es ihr zum fünften Geburtstag geschenkt. Es war das Lieblingsbuch ihrer Mutter gewesen und sie hatte gewusst, es würde irgendwann ebenso Jessies Lieblingsbuch sein.

Sie hatte recht behalten.

Jessie erinnerte sich nur schemenhaft an diesen Geburtstag. Ein Teil von ihr wollte sich nicht daran erinnern. Ein anderer Teil bemühte sich krampfhaft, sich die Gesichter ihrer Eltern, ihren Duft, ihre Stimmen vor Augen zu führen, bis sie davon Kopfschmerzen bekam. Doch Verdrängung war eine gewaltige Macht und nicht immer zu kontrollieren. Wenn Jessie an ihre Eltern dachte, sah sie zwei Schatten vor sich. Silhouetten, ebenso dunkel wie der Abgrund in ihrem Traum. Aber manchmal hörte sie zumindest die Stimme ihrer Mutter.

»Als ich in deinem Alter war, war es mein liebstes Buch. Ich habe es hunderte Male gelesen.«

»Was ist es für ein Buch, Mama?«, fragte Jessie und Mutter streichelte ihr sanft über das Haar. Mit der Zeit wurde ein Kapitel am Abend zur Regel. Nachdem der letzte Satz verklungen war, schlugen sie die erste Seite auf und begleiteten Alice erneut auf ihrer Reise durch das Wunderland.

Jessies Mutter war eine Meisterin im Vorlesen. Sie hatte für jede Figur eine passende Stimme parat und vor allem, wenn sie den Hutmacher sprechen ließ – sie schenkte ihm eine lispelnde Aussprache –, lachte Jessie oft, bis ihr der Bauch wehtat. Durch diese Vorleseabende hat Mama ihr beigebracht, auch selbst zu lesen – sie war keine Meisterin wie sie, aber von Mal zu Mal wurde Jessie besser.

Jeden Abend waren sie ins Wunderland eingetaucht. Bis zu jenem Abend im Oktober, als die Stimmen ihrer Eltern für immer verstummt waren.

Jessie vergrub ihr Gesicht zwischen den Seiten und atmete den Duft des alten Buches ein. Ein Geruch, der ihr vertraut vorkam und sie beruhigte: modrig und trotzdem angenehm. Eben der typische Geruch alter Bücher. Und versteckte sich darunter nicht eine weitere Note? Ein süßlicher Duft wie

(Rosen)

Blumen.

Jessie atmete tief ein und lauschte dem leisen tropf tro-tropf, das von ihren auf das Buch perlenden Tränen verursacht wurde.

Lass uns Karten spielen.

Die Stimme riss Jessie aus ihren Gedanken. Sie hob den Kopf und sah sich hastig im Zimmer um.

Einen Augenblick lang sah sie zwei menschliche Silhouetten im hinteren Teil des Wohnzimmers hocken. Die größere hielt die kleinere Gestalt umschlungen, die etwas mit der Hand umklammerte – Spielkarten. Sie hat an jenem Abend auf mich aufgepasst. Emilie, ging es Jessie durch den Kopf, und dann kam der Anruf. Sie blinzelte und die Erscheinung verschwand. Ihr Herz hämmerte gegen den Brustkorb, als wollte es ausbrechen.

Jessie zog die Beine an und schlang die Arme darum, vergrub ihr Gesicht und weinte. Ihr Hals war wie ausgetrocknet, weswegen ihr Schluchzen einige Male in Husten überging. Ihr Körper schrie mit hämmernden Kopfschmerzen und einem Brennen im Rachen förmlich nach Wasser, doch Jessie bemerkte das kaum. Sie wollte nicht aufstehen, sie wollte nie mehr aufstehen. Also weinte sie, schluchzte, hustete so laut, dass es von den Wänden widerhallte. Sie weinte noch, als ihr Körper keine Tränen mehr produzieren konnte. Und sie weinte noch immer, als die Sonne sich hinter der geschlossenen Jalousie zur Ruhe legte.

 

* * *

 

Jessie schnappte nach Luft, als sie die Jalousie hochzog und es dennoch finster blieb. Für einen Augenblick glaubte sie, in ihren Traum mit dem Abgrund zurückgekehrt zu sein.

Wie lange habe ich hier gesessen?

Jessie räusperte sich und zuckte zusammen, als es schmerzhaft im Rachen kratzte. Ihre Augen drückten gegen die Lider, als wären sie auf die doppelte Größe angeschwollen, was Jessie an eine Folge von X-Factor – das Unfassbare erinnerte, in der eine Frau verflucht worden war. »Ich verfluche Sie auf den Spiegel Ihrer Seele!« Anschließend hätte diese höchstens bei einem Schönheitswettbewerb für Fische eine gute Figur gemacht.

»Ich bin auch verflucht«, krächzte Jessie. Doch als sie einen Blick in den Spiegel ihres Flures warf, sahen ihre Augen zwar verquollen aus, aber nicht wie die eines Fischmonsters. »Na immerhin«, murmelte sie und torkelte in die Küche.

Der erste Schluck Wasser staute sich in Jessies Kehle und sie hustete in die hohle Hand. Mein Gott, es fühlt sich an, als wäre ich gewürgt worden. Wie gefährlich konnten Erinnerungen und Albträume sein? Hatte sie nicht vor einiger Zeit in der Zeitung gelesen, dass ein Kind beim Schlafwandeln vom Dach seines Hauses gestürzt war? Und hatte sie nicht von dem Fall eines Mannes gehört, der im Schlaf seine Frau mit einem Messer ermordet hatte?

Jessie setzte erneut das Glas an die Lippen und nahm einen vorsichtigen Schluck. Sie hustete kein weiteres Mal, im Gegenteil: Das Wasser verwandelte die Wüste ihres Köpers in eine blühende Oase. Sie hatte sich wohl doch nur verschluckt.

Gierig leerte sie ihr Glas, füllte es erneut am Wasserhahn auf und trank es in einem Zug leer. Danach stellte sie es in die Spüle, warf einen beiläufigen Blick aus dem Küchenfenster – und versteifte sich.

Ich träume immer noch.

Zwei Augenpaare starrten sie aus der Finsternis heraus an. Sie leuchteten und waren übereinander angeordnet, als seien sie einem schaurigen Picasso entsprungen.

Dann begriff sie und kicherte. »Cheshire, du Biest«. Mann, bin ich durch den Wind.

Aufgrund der Reflexion der Fensterscheibe hatte es ausgesehen, als habe Cheshire vier Augen. Jetzt erkannte Jessie die Umrisse der Katze deutlich.

»Fresschen kommt gleich«, sagte Jessie, woraufhin Cheshire sich über die Schnauze leckte und von der Fensterbank zurück in die Dunkelheit sprang.

Nachdem sie Cheshire gefüttert hatte, warf Jessie einen Blick auf die Uhr.

»Schon 20 Uhr?«, rief sie. »Na, das war ja ein toller Sonntag.« Und das alles nur wegen dieser dämlichen Jenny.

Jenny und ihr übertriebenes Gerede über Eltern und Familienausflüge. Dieses Geschwätz sorgte für Erinnerungen, die Jessie zu vergessen versuchte. Dinge, wegen derer sie sich den ganzen Nachmittag lang einigelte.

Sie drückte in sämtlichen Räumen die Lichtschalter und stapfte zurück ins Wohnzimmer. Die Stehlampe schaltete sie aus und ließ sich auf die Couch fallen. Der Schein der Deckenlampe durchflutete fast das gesamte Zimmer, nur in ein paar Ecken versteckten sich Schattenreste.

Du solltest etwas essen, Jess.

Das war Freddie. Wieder einmal spukte er in ihrem Kopf herum.

Die Katze schlägt sich den Bauch voll und du hast bis auf die zwei Glas Wasser bisher nichts zu dir genommen.

Hab keinen Appetit, gab Jessie zurück.

Du musst etwas essen, Jess. Morgen geht’s wieder zur Arbeit. Du willst doch bei Kräften sein.

Will ich das?

Jessie zuckte innerlich zusammen. Diese Stimme hatte nicht wie ihre eigene geklungen. Sie hatte sich gleichgültig angehört. Gefährlich. Schnell fügte sie hinzu: Du solltest die Schnauze halten, Pizzagesicht. Nur deinetwegen habe ich Jenny an der Backe!

Jessie lauschte in sich hinein, Freddie blieb stumm.

Es stimmte: Laut Freddie mangelte es ihr an sozialen Kontakten. Deswegen hatte er ihr aufgetragen, sich eine Freundin zu suchen.

Es hätte nicht schlimmer laufen können.

Manchmal hasste sie ihn: diese ruhige Stimme, die über eine fast schon hypnotisierende Wirkung verfügte. Sie passte geradezu klischeehaft zu seinem Äußeren. Denn obwohl Freddie heimlich ›Freddy Krüger‹ genannt wurde, besaß er keinerlei Ähnlichkeit mit dem Pizzagesicht aus den Horrorfilmen. Er schien eher einem Streifen aus den 60er-Jahren oder einer Woodstock-Zeitmaschine entsprungen zu sein.

Freddie hatte schulterlanges, blondes Haar. Damit es ihm nicht pausenlos im Gesicht herumwehte, trug er meist ein dünnes Stirnband, was den Hippie-Effekt verstärkte. Seine Kleidung war schlicht, bis auf die weiten Schlaghosen. Man erwartete geradezu, dass er mit erhobenem Zeige- und Mittelfinger herumlief und »Peace und Frieden, meine Freunde«, sagte. Freddie nuschelte leicht und schien jedes Wort mit Bedacht zu wählen, so als wäre er früher ein Stotterer gewesen. Er wusste, wie hart das Leben sein konnte, da er selbst eine Waise war und letztlich hatten ihm seine Freunde die Kraft gegeben, weiterzumachen.

»Dank ihnen habe ich nie die Hoffnung aufgegeben, Jess«, hatte er einmal gesagt.

Ein wohlwollender Rat. Doch nur weil Freunde für ihn das Richtige waren, waren sie nicht zwingend das Richtige für Jessie.

Trotzdem hatte sie es versucht. Ihm zuliebe.

 

* * *

 

Als Jessie das Kinderheim verlassen durfte,

(Nenn es nicht so, das heißt Wohngemeinschaft, Jess.)

half Freddie ihr bei der Wohnungssuche. Sie war gerade achtzehn Jahre alt geworden und hatte nicht einmal ansatzweise einen Plan, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte.

Freddie schlug ihr vor, die Wohnungssuche auf die Nachbarorte auszuweiten. Auf Surwold, Esterwegen, Dörpen oder sogar weiter Richtung Papenburg oder Rhede. Für Jessie gab es nur eine Option: Sie war in Grubingen geboren und hier würde sie sterben. Also durchforsteten sie gemeinsam Mietanzeigen in Internet und Zeitungen. Sie wurden schnell fündig.

Grubingen war ein unbekannter Ort, selbst für Emsländer. Es gab einige leerstehende Wohnungen, sogar ganze Häuser. Das hing mit den unzähligen Vermisstenanzeigen zusammen. In Grubingen gingen oft Menschen verloren. Keiner wusste wieso (zumindest gaben alle vor, es nicht zu wissen). Doch die traurige Wahrheit lautete: In Grubingen verschwanden ständig Menschen. Allerdings hatte es nie größere Untersuchungen deswegen gegeben. Es schien, als sei Grubingen eine eigene Welt. Hier drang nie etwas nach draußen und nur selten etwas hinein. Und wer einmal dort lebte, ging nie mehr fort – es sei denn, er verschwand oder wurde ermordet.

Die Wohnung war günstig und mit ihren 55 Quadratmetern (2 Zimmer, Küche, Bad) genau richtig. Die Lage war ideal, nicht zu stadtnah aber auch nicht weit außerhalb, hier hatte sie ihre Ruhe. Und Jessie war es auf Anhieb gelungen, einen Job zu finden: eine Ausbildung als Verkäuferin bei Lenhardt’s Waren, die sie wegen ihrer guten Leistungen auf zwei Jahre verkürzen durfte. Der perfekte Neuanfang.

Freddie besuchte sie anfangs recht häufig. Jessie bestand darauf, dass er persönlich die Hausbesuche durchführte; die beiden Erzieherinnen, Bonke und Maiwald, wollte sie außerhalb des Heimes nie mehr sehen. Und so führte Freddie Jessie an die Welt heran, die ihr fremd war und vor der sie sich so fürchtete.

»Du solltest häufiger das Haus verlassen, Jess«, sagte Freddie, während er ihr, nach einer Woche in der neuen Wohnung, beim Tragen der Einkäufe half. Sie stellten die Tüten ab und Jessie kramte in ihrer Tasche nach dem Schlüsselbund.

»Warum? Meine Wohnung ist doch schön«, antwortete Jessie und lächelte ihn spitzbübisch an. Freddie erwiderte ihr Lächeln nicht und sie fragte sich zum wiederholten Male, ob dieser Mann überhaupt wusste, wie sich Lachen anfühlte.

»Ich meine es ernst, Jess. Du bist doch nicht der Almöhi aus Heidi. Du solltest dich mit anderen Menschen in deinem Alter treffen.«

»Hey, ich arbeite. Ich habe Kollegen, und wenn man den Kundenkontakt bedenkt, treffe ich sogar echt viele Menschen.«

»Verscheißer mich nicht, Jess.«

»Ist doch wahr!«

»Hattest du schon Besuch in deiner neuen Wohnung?«

»Nach einer Woche?«

Freddie runzelte die Stirn und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die eine Brise aber direkt wieder an den vorherigen Platz wehte. Er machte sich nicht die Mühe, sie erneut wegzuwischen. »Willst du ewig allein bleiben?«

Jessie seufzte. Sie traute sich nicht, ihrem Sozialpädagogen zu erzählen, dass sie diesen Gedanken als gar nicht so abschreckend empfand. Die Einsamkeit war wie eine stille Begleiterin, die nie durch Worte verletzte. Jessie hatte sie den anderen Heimkindern stets vorgezogen. Der einzige Mensch, in dem Jessie je so etwas wie einen Freund gesehen hatte, war Freddie. Allerdings würde sie ihm das nie verraten.

»Du besuchst mich doch jetzt, oder nicht?«, fragte Jessie, griff ihre Einkäufe und steckte den Schlüssel ins Schloss ihrer Wohnungstür, während sie die Einkaufstüte auf dem anderen Arm balancierte. Sie drehte den Schlüssel und lauschte dem Klicken aus dem Inneren des Schlosses, als es aufschnappte. Sie konnte es immer noch nicht fassen. Ihre eigene Wohnung. Wie geil ist das denn?

Freddie zählte Jessie weiterhin alle möglichen Vorteile einer Freundschaft auf, von A wie ›allerbeste Freundin‹, bis Z wie ›Zusammengehörigkeit‹. Jessie hörte zu, nickte, wann es angebracht war, und gab hin und wieder interessierte Laute wie »aha«, und »so?«, von sich. Doch Freddie hätte ihr genauso gut etwas über Quantenmechanik erzählen können. Ihr war es ein Rätsel, weshalb soziale Kontakte so wichtig waren. Sie schätzte eine ruhige Ecke und ein gutes Buch mehr als eine Teeparty mit Klatschweibern.

Dann traf sie Jenny.

Etwa einen Monat später sah Jessie sie auf einer Parkbank sitzen. Jenny hatte sich in einen dicken Mantel mit Pelzkragen an der Kapuze eingemummelt und trug einen Schal, der an einen Rettungsring erinnerte. Sie wirkte verloren.

Jessie holte einmal tief Luft, ging im Geiste alle Vorzüge einer Freundschaft durch, an die sie sich erinnerte (allerbeste Freundin, beschützen, dabei sein, etwas teilen, …) und bewegte sich auf die etwa gleichaltrige Frau auf der Parkbank zu. In Büchern hatte Jessie oft das Wort untersetzt gelesen. Es war das erste Attribut, das ihr bei Jennys Anblick einfiel.

»Darf ich mich setzen?«, hörte Jessie sich fragen und verkrampfte innerlich. Was zum Teufel treibe ich hier?

Die junge Frau sah auf, musterte Jessie aus feuchten, grünen Augen und zuckte mit den Schultern.

Jessie setzte sich ans andere Ende der Bank und vergrub die Hände zwischen den Knien. Sie öffnete den Mund, nur um ihn kurz darauf wieder zu schließen.

Was hatte sie sich dabei gedacht, sich einfach auf diese Bank zu setzen. Zu einem wildfremden Mädchen. So etwas tat sie nie. Nie!

»Ich bin Jennifer. Jenny.«

Jessies Kopf fuhr in Richtung der dicken Frau herum. Diese betrachtete Jessie, die Lippen zu einem gekippten Halbmond geformt, und hielt ihr eine Hand hin.

Passiert das gerade wirklich? Sie hatte damit gerechnet, angespuckt oder mit Dreck beworfen oder aufs Übelste beschimpft zu werden, aber dieses Mädchen hielt ihr nur die Hand hin.

Kurz prüfte Jessie, ob Jenny etwas in ihrer Handfläche verborgen hielt – einen Knopf, der einen elektrischen Schlag absondern würde oder vielleicht einen Hundehaufen, doch da war nichts. Wie in Zeitlupe streckte Jessie ebenfalls die Hand aus. Sie zuckte kaum merklich zusammen, als Jenny sie ergriff. Ihr Händedruck war beachtlich.

»Jessie. Eigentlich heiße ich Jessica, aber ich mag Jessie lieber.«

»Ich mag Jessica«, sagte Jenny und entblößte eine Reihe perfekter Zähne.

»Ich nicht. Das klingt so etepetete. Jessicas stelle ich mir wie verwöhnte Einzelkinder vor, mit Markenklamotten und riesigen, runden Ohrringen, die bis zu den Schultern hängen und die Ohrläppchen ausdehnen, sodass man durch die Löcher gucken kann wie durch Ferngläser.«

Jessie verstummte und Röte schoss ihr ins Gesicht. Jenny trug Markenklamotten – Turnschuhe von Puma, eine Jeans, die aussah, als könnte Jessie sich von dem Wert eine Woche lang ernähren, und eine Jacke von Jack Wolfskin. Selbst der Schal sah teuer aus.

Jenny kicherte. »Du bist ulkig.«

Ulkig? Ich? Jessie lächelte zaghaft. Ehe sie sich versah, hörte sie sich fragen: »Ist alles in Ordnung? Du hast ein wenig verloren ausgesehen.«

Sie verkrampfte sich. Gleich würde Jenny sie doch anspucken; sie anbrüllen, wie sie es wagen könne, so etwas zu sagen. Und dann würde sie abrauschen.

Stattdessen seufzte Jenny nur. »Ich hatte einen Auftritt und meine Eltern sind nicht gekommen. Sie wollten es. Sind sie aber nicht.«

Das war es also. Menschenkenntnis: Eins plus mit Sternchen!

»Das ist blöd.« Jessie fiel keine bessere Erwiderung ein.

»Ja. Na ja, sie arbeiten viel, ich kann’s verstehen. Aber es wäre trotzdem … na ja.«

»Schön gewesen«, beendete Jessie den Satz und schluckte schwer.

»Schön gewesen«, wiederholte Jenny.

»Tja. Ich habe keine Eltern.« Warum hältst du nicht die Klappe?

Jetzt war es an Jenny, Jessie mit großen Augen anzustarren.

Jessie trat von einem Fuß auf den anderen. Der Satz war einfach so aus ihr herausgeschossen wie ein Stein aus einer Schleuder, nachdem dem Besitzer das Gummi beim Anspannen aus der Hand gerutscht war. »Ich bin eine Waise.«

»Wow. Wie ist das so?«

Jessie hob die Augenbrauen, dann überlegte sie. »Als gehörte man nicht hierher.«

Eine Zeit lang sagte keine der beiden etwas.

»Manchmal«, sagte Jenny nach einer Weile, »fühle ich mich auch wie eine Waise.«

Jessie lächelte. »Das passt ja wunderbar.«

Jenny erwiderte das Lächeln. Ihre Augen leuchteten plötzlich, als hätte sie eine Erkenntnis. Und für den Bruchteil einer Sekunde meinte Jessie, zudem etwas anderes darin zu erkennen – etwas Verschlagenes.

Sicher bloß Einbildung.

Von diesem Tag an sahen sich die beiden häufiger. Das Mädchen, das so verloren auf der Bank gesessen hatte, kam nie wieder zum Vorschein. Jenny schien wie ausgewechselt. Sie kommandierte Jessie herum, triezte sie, indem sie sie ›Jessica‹ rief, und entwickelte ein Gespür dafür, wie empfindlich Jessie auf das Thema Eltern reagierte.

Jessie blieb geduldig. Sollte sie ruhig prahlen, das würde schon nicht ewig so weitergehen. Im Grunde war sie bestimmt ein guter Mensch. Schließlich hatte Jessie ihr wahres Ich gesehen, dort auf der Bank.

Doch obwohl ihnen beiden das Gefühl, verlassen zu werden, vertraut war, erwies sich Jenny als der falsche Umgang für sie. Allerdings brachte Jessie es nicht übers Herz, ihr den Laufpass zu geben. Zum einen, weil ein Teil – ein wirklich kleiner Teil – in ihr weiterhin Mitleid hatte, und zum anderen Freddie zuliebe. Eine Gefühlsregung war bei ihm aufgeblitzt, nachdem er von Jenny erfahren hatte. Eine Art Lächeln, das eher einem stummen Schrei ähnelte. Unter anderen Umständen hätte Jessie sich gegruselt. Sie hatte diesen einzigartigen Moment nicht zerstören wollen. Sie wollte Freddie nicht enttäuschen. Nicht ihn, den einzigen Menschen, der auf sie aufpasste.

Also traf sie sich weiter mit Jenny. Hielt ihre Schwafeleien und Selbstverliebtheit aus. Vielleicht war es ja das, was eine Freundschaft ausmachte. Falls das stimmte, bestärkte es Jessie in ihrer Ansicht: Sie war nicht der Typ für zwischenmenschliche Beziehungen.

 

* * *

 

Jessie schlurfte in die Küche, füllte einen Topf mit Wasser, platzierte ihn auf dem Herd und sah zu, wie sich Bläschen bildeten. Sie löste den Blick erst vom Topf, als das Wasser sprudelte und Dampfschwaden Richtung Decke schwebten. Jessie schien neben sich zu stehen. Fast als beobachtete sie das kochende Wasser durch ein Dimensionsportal hindurch.

Selbst als sie später an ihrem Wohnzimmertisch saß – den sie bislang nicht gerade gerückt hatte – und in Nudeln ohne Soße herumstocherte, starrte sie ziellos umher.

Der Gedanke, sich von ihrem Körper lösen zu können, gefiel ihr. Wie schön wäre es, wenn ihr Geist samt Bewusstsein über dem Körper schwebte und sie ihn von oben herab beobachten könnte? Wenn sie einfach davonfliegen würde, durch die Wand hinaus in die eisige Nacht. Was gäbe es alles zu entdecken?

Jessie stellte sich vor, wie sie neben einem Fledermausschwarm herflog und einem Uhu auswich, der neugierig den Hals nach ihr reckte. Sie sah sich über den Grubinger Forst fliegen, den Wald, den nie ein Grubinger betrat, und Richtung Mond entschwinden.

Schau nie mehr zurück. Leuchte, guter Mond, leuchte. Weise mir den Weg ins Wunderland.

Kapitel 4

 

Köln, 1347

 

Der beißende Gestank verwesenden Fleisches füllte den Raum vollständig aus. Heinrich störte sich nicht daran. Er gehörte für ihn dazu, wie die Sonne, die um die Erde kreiste.

Er hatte diesen Ort bei seinen nächtlichen Wanderungen durch die Katakomben des Klosters entdeckt und er eignete sich ausgezeichnet für seine Versuche. Hier blieb er ungestört. Und seine Forschungen erforderten Ruhe. Absolute Ruhe.

Einst war dies ein Kerker gewesen, in dem die Gefangenen elendig verhungert waren, sofern der Wahnsinn sie nicht zuvor dahingerafft hatte. Nun war der Ort verlassen. Eine Kerze diente als einzige Lichtquelle. Sie genügte. Sie spendete gerade genug Licht, um den Körper ausreichend zu erhellen, der vor ihm lag.

Ein altbekanntes Gefühl breitete sich in ihm aus. Der Drang nach Wissen. Die Gewissheit, Gott nahe zu sein. Etwas mit ihm zu teilen.

Heinrich lernte schnell. Es hatte ihm keinerlei Mühe bereitet, das Ärztewesen zu erlernen. Es war ihm sogar gelungen, seine Brüder zu überflügeln. Aber das Ärztewesen hatte seine Grenzen. Es genügte Heinrich nicht mehr, die Innereien toter Körper zu untersuchen. Nicht im Tode steckte das Wissen, nein, nur im Leben. In dem Leben, das Gott erschuf.

»Oh, barmherziger Vater«, betete Heinrich und griff nach dem Skalpell. »Ich werde mit Hilfe dieses culters deine Rätsel entschlüsseln, wie du es mir aufgetragen hast. Und dann werden wir eins sein, du und ich.«

Der Körper vor ihm rührte sich. Heinrich kannte diesen Mann. Es war einer seiner Ordensbrüder. Bruder Sebastian war vor einer Woche an einem unbekannten Siechtum erkrankt. Er fieberte und sprach zusammenhanglose Satzfetzen aus. Der Teufel oder einer seiner Handlanger hatte die Klauen im Spiel, daran bestand kein Zweifel.

»Fürchte dich nicht, Bruder Sebastian«, sagte Heinrich und prüfte den Knebel des Mannes.

Wegen des Trunks, den er ihm verabreicht hatte – eine eigens kreierte Mischung – brauchte Heinrich den jungen Dominikaner nicht zu fesseln. Er würde kaum Schmerzen erleiden, da war Heinrich sich sicher.

»Es gibt kein Heilmittel für dich, Bruder.« Heinrich schüttelte trübsinnig den Kopf. »Aber durch deine Hilfe werden wir schon bald verstehen und eine Heilung für arme Seelen wie dich finden.«

Jetzt leuchteten seine Augen und er lächelte. Bruder Sebastian gab gedämpfte Laute von sich.

Oh, er kämpft dagegen an. Doch es ist zu spät, Bruder. Möge der Herr deiner Seele gnädig sein.

Mit geübtem Griff ließ Heinrich das Skalpell niederfahren. Es vergrub sich tief in das Fleisch von Bruder Sebastian. Der junge Mönch versuchte zu schreien, aber der Knebel hinderte ihn daran, gab lediglich erstickte Laute frei.

Heinrich kümmerte das Gewinsel nicht. Er hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Er schnitt Bruder Sebastian vom Schlüsselbein bis zum Bauchnabel auf, zog die Klinge aus dem zuckenden Körper und setzte an der Brust neu an. Dann machte er einen weiteren Schnitt bis zu der linken Schulter, ehe er die Klinge erneut ansetzte und die Prozedur auf der rechten Seite wiederholte.

Bruder Sebastian wand sich unter ihm, doch wegen des Trunks, den Heinrich ihm verabreicht hatte, konnte er sich kaum bewegen. Blut sickerte aus den langen Schnitten und besudelte sowohl Heinrich als auch den ehemaligen Kerker.

 

 

* * *

 

Jedes Mal, wenn Jessie die Augen schloss, schien sie nicht mehr allein zu sein. Jemand

(oder etwas)

beobachtete sie. Ihre Haut kribbelte nicht wie in diesen Schnulzenstreifen wie Ghost – Nachricht von Sam. Darin fühlten die Menschen sich sicher, wenn sie die Anwesenheit von etwas Fremdem spürten. Jessie fühlte sich nicht sicher. Sie fühlte sich gehetzt.

Wenn das meine Eltern sind, muss ich sie gehörig verärgert haben.

Jessie kicherte, fing sich aber sofort, als sie bemerkte, wie schrill es klang.

Wenn sie nicht am Dösen war, bewegten sich ihre Augen unaufhörlich hin und her. Alle Sinne geschärft, lauschte sie ihrem Atem, der viel zu zittrig klang, spürte, wie er die Bettdecke anfeuchtete, vernahm jedes Knarren und Ächzen des Hauses. Und was weitaus schlimmer war: Sie sah jeden Schatten. Ihr war, als sähe sie in den düsteren Ecken des Zimmers Gestalten stehen. Mal glaubte sie, eine Frau im Kleid erkennen zu

Kapitel 5

 

Köln, 1347

 

Schon bald nahm Heinrich die gedämpften Schreie und das Winden Bruder Sebastians nicht mehr wahr. Vor ihm ausgebreitet lag der Schlüssel zur Weisheit. Und mit ihm das Tor zu Gott.

Es kostete ihn Mühe, sich von dem Körper wegzudrehen, um nach dem Rippenspreizer zu greifen. Doch ohne ihn bliebe ihm die wahre Schönheit verborgen.

Die Knochen knackten unter der Kraft des devaricare. Sie spielten eine verbotene Melodie; eine Herrlichkeit, die nur dem Paradies entstammen konnte. Ein gebührender Empfang für einen so treuen Diener Gottes wie ihn.

O ja, Heinrich verehrte Gott. Er sah in ihm seinen Retter, denn nur durch die Gnade Gottes war es möglich gewesen, dass Heinrich auf den Stufen des Klosters gefunden worden war – rechtzeitig, trotz des unbarmherzigen Schneegestöbers. Einzig ein paar Erfrierungen hatte er davongetragen, doch Heinrich hatte überlebt.

Sie hatten ihn in einem Weidenkorb gefunden. Zu schwach zum Schreien. Welch armes Kind er gewesen war. Ausgesetzt und verstoßen. Lange Zeit hatten ihn die Gedanken daran gemartert. Wieso hatten seine Eltern ihn nicht gewollt? Wo kam er her und wer war er wirklich?

Aber die Brüder des Dominikanerordens hatten ihn gelehrt, dass sie alle Kinder Gottes waren. Und schon bald hatte Heinrich erkannt, wozu er bestimmt war: an der Seite Gottes zu stehen und mit ihm zu herrschen.

Eines Nachts hatte er im Traum eine Vision empfangen. In dieser hatte er neben Gottes Thron gestanden und durch eine Wolke auf die Erde hinabgeblickt. Gott hatte ihm erklärt, er sei der verlorene Sohn, der durch ein Ungeschick auf die Erde gefallen war, doch sein rechtmäßiger Platz sei hier. An seiner Seite.

Zuvor sollte Heinrich sich beweisen, Prüfungen bestehen und dazu gehörte es, sich Wissen anzueignen. Denn nur, wenn er alles wusste, war er seines Gottes würdig. Und nur so würde es ihm möglich sein, in den Himmel zurückzukehren.

»Deus salvat«, sagte Heinrich und legte den Rippenspreizer zurück auf seinen Platz.

»Deus salvat.«

 

* * *

 

Nebel waberte dicht über der Alfonsstraße. Jessie konnte kaum weiter sehen als 50 Meter. Sie kam sich vor wie ein Goldfisch in einem dieser viel zu kleinen Goldfischgläser, nur war ihres von innen beschlagen.

Es war acht Uhr. Jessie blieb eine ganze Stunde, bis die Arbeit losging. Sie lief gerne zu früh los; so konnte sie schlendern, stehenbleiben, wenn sie stehenbleiben wollte, und sich in der Fantasie verlieren, ein Tippelbruder (Tippelschwester wenn schon, ich darf doch bitten, so viel Zeit muss sein) zu Zeiten der Wanderschaft zu sein und ziellos umherzustreunen. An diesem Morgen gelang es Jessie jedoch nur schwer, sich irgendwelchen Tagträumen hinzugeben, also sang sie in Gedanken ›Bin unterwegs‹ von der Band Schandmaul vor sich hin.

Jessie liebte dieses Lied. Es weckte in ihr die Sehnsucht, fortzugehen. Ihre Gedanken verflüchtigten sich, als sie die Hausnummer 19 passierte. Aus dem Augenwinkel erkannte sie eine Gestalt am Fenster. Die alte Hexe war also auch schon auf und ließ ihre Flüche auf Grubingen los.

Adelheid Maxim war in Grubingen ebenso bekannt wie der Präsident in Amerika. Um sie rankten sich beinahe mehr Gerüchte als um den Grubinger Forst, daher nannten die Leute sie immer nur ›die alte Hexe‹. Viele kannten ihren richtigen Namen gar nicht, Jessie hatte ihn nur durch Zufall aufgeschnappt, als sie im Supermarkt ohne Namen einkaufen gewesen war, und sich zwei alte Damen über die Hexe unterhalten hatten. Die Erinnerung daran ließ Jessie schmunzeln.

»Der arme Mann hat seine Frau in flagranti mit dem Gärtner erwischt«, sagte die eine der beiden älteren Damen. Sie besaß eine Reibeisenstimme, bei der sich Jessie die Nackenhaare aufstellten.

Jessie war gerade dabei, ihre Waren auf das Kassenband zu legen, als die Kassiererin eine Kollegin zu Hilfe rief, um einen Artikel zu stornieren. Das konnte dauern.

»Gütiger Gott«, sagte Dame Nummer zwei, die einen Pelzmantel trug, auf dem schwache rote Flecken zu sehen waren. Vermutlich hatte sie ein Tierfreund mit blutroter Farbe beworfen. Amen, Schwester.

»Sie haben sich angekeift, und als der Mann aus dem Haus gestürmt ist, haben sie draußen weitergekeift«, sagte Frau Reibeisen.

»Gütiger Gott«, wiederholte Frau Pelzkragen.

»Die halbe Stadt hat sich auf dem Bürgersteig versammelt. Alle haben zugesehen und zugehört, wie sich das Paar gestritten hat, während der Gärtner auf leisen Sohlen davongeschlichen ist.«

»Das gibt es nicht!«

»Und Adelheid Maxim hat plötzlich mittendrin gestanden.«

»Die alte Hexe?«

»Ja, die. Ganz plötzlich! Niemand wusste, wo sie hergekommen ist. Auf einmal ist sie aufgetaucht, inmitten der Meute.«

»Gütiger Gott.«

Jessie rollte die Augen. Wenn Frau Pelzkragen noch einmal ›gütiger Gott‹ sagte, würde sie ihr gleich noch einen Eimer Farbe über den Kopf schütten.

»Ich wusste nicht, dass die das Haus überhaupt verlässt.«

»Ich weiß auch von keinem anderen Mal, aber da, an diesem Tag, ist sie draußen gewesen, und wissen Sie, was sie getan hat?«

»Was?«

Die Schlange bewegte sich. Die Kassiererin hatte endlich den Artikel stornieren können und Jessie entfernte sich von den beiden Frauen. Sie hatte Mühe, die nächsten Worte zu verstehen.

»Sie hat gegrinst. Ich sach es Ihnen! Wie der Leibhaftige hat sie sich über das Leid anderer gefreut. Als sich die Meute aufgelöst hat, ist Adelheid verschwunden. Einige haben gemeint, sie hätten sie plötzlich wieder am Fenster stehen sehen.«

»Gütiger …«

In dem Moment war Jessie an der Reihe gewesen und hatte ›dem gütigen Gott‹ gedankt, dass sie nicht gezwungen gewesen war, einen Eimer roter Farbe zu kaufen.

Immer wenn Jessie in die Nähe des Hauses mit der Nummer 19 kam, wurde ihr mulmig zumute. An Hexen glaubte sie nicht, stritt deren Existenz aber auch nicht ab.

Jessie hatte einmal den Begriff Agnostiker gehört und ihn direkt nachgeschlagen. Sollte jemals jemand ihre Glaubensrichtung erfragen, kannte sie zumindest den passenden Begriff für ihren Glauben – oder ihren woher-soll-ich-das-wissen-Glauben. Vielleicht gab es etwas. Vielleicht nicht. Es war besser, manche Dinge nicht zu hinterfragen. Menschen, die zu sehr an einen Gott glaubten, zerbrachen sich den Kopf darüber, warum Gott sie nicht erhörte, warum er nichts gegen Hunger und Krieg unternahm. Und wenn es keinen Gott gab, waren dann nicht ohnehin alle verloren? Warum also sich den Kopf zerbrechen? Am Ende lief es auf dasselbe hinaus.

Adelheid verströmte etwas Übernatürliches, bei dem Jessie die Haare zu Berge standen. Der Nebel verstärkte das mulmige Gefühl nur noch. Er verlieh der Hexe zusätzlich etwas Geisterhaftes. Und Geister waren nun wirklich das Letzte, mit dem Jessie am frühen Morgen konfrontiert werden wollte. Nicht nach so einer Nacht.

Sie legte einen Schritt zu und vermied es, dem Blick der Hexe zu begegnen, die weiterhin wie ein böses Omen oben an ihrem Fenster stand und auf die Stadt hinabsah.

Als Jessie in die Katjastraße einbog und sich dem Grubinger Forst näherte, stieß sie hörbar Luft durch die Nase aus.

Plötzlich huschte etwas an ihr vorbei. Jessie nahm die Bewegung deutlich aus dem Augenwinkel wahr und schon breitete sich das mulmige Gefühl von vorhin wieder aus.

Was, wenn ihr die Hexe gefolgt war? Für ein Kaninchen war dieses Etwas zu groß gewesen. Vielleicht stand Adelheid am Waldesrand, um sie, Jessie, in den Grubinger Forst zu locken. Und womöglich hatte sie Appetit auf einen leckeren Jessie-Braten.

Etwas zwang sie, den Kopf Richtung Wald zu drehen. Ihr Körper schien ihr nicht mehr zu gehorchen. Von diesem Ort ging eine ungeheure Anziehungskraft aus, so als wollte er betreten werden.

Bäume ragten aus dem Boden wie grimmige Riesen. Nicht einmal dem Nebel gelang es, sie zu verdecken, wodurch die Bäume selbst wie eine Art schwarzer Nebel erschienen. Ein Wanderweg führte in das dichte Unterholz und wurde nach einigen Metern vom Nebel verschluckt. Ein eisiger Wind kam auf, der zunächst die Baumkronen tanzen ließ (sie locken mich zu sich), und dann Jessie das offene Haar nach hinten fegte, bis es wie eine Fahne flatterte. Jessie erschauerte.

Würde sich nur die verdammte Sonne blicken lassen. Stattdessen versprach es einer jener herbstähnlichen Tage zu werden, an denen es nie taghell wurde.

Ein Rascheln ertönte.

Hätte sie doch nur den Umweg über den Annaweg genommen, der nicht an diesem verfluchten Wald vorbeiführte. Aber so war das mit den Unvorsichtigen. Sie starben in Horrorfilmen immer als Erste.

Wieder erklang ein Rascheln.

Jessies Muskeln waren bis auf das Äußerste angespannt. Sie war bereit, jeden Moment loszusprinten, um der Hexe, oder was der Grubinger Forst sonst für sie bereithielt, zu entkommen. Wenn nur ihr Körper mitmachte.

Die Luft schien mit einem Mal zu knistern. Der Wind hatte sich gelegt, doch die Baumkronen tanzten weiterhin ihren unheimlichen Tanz.

Etwas schoss aus den Büschen heraus. Jessie stieß einen erstickten Schrei aus. Zwei leuchtende Punkte schwebten am anderen Ende der Straße in der Luft. Sie prangten auf Höhe des Wanderwegs, der mittlerweile vollständig vom Nebel verschluckt war.

»Cheshire?« Jessie räusperte sich und fragte erneut, dieses Mal mit kräftigerer Stimme: »Cheshire?«

Die grünen Leuchtpunkte verschwanden für etwa eine Sekunde, dann tauchten sie wieder auf, ehe sie sich ein Stückchen nach links bewegten und schließlich vollständig verschwanden.

Jessie atmete erleichtert aus, ein unangenehmes Ziehen blieb dennoch in ihrer Magengegend zurück. Ob Cheshire häufiger den Forst betrat? Was, wenn der Wald – oder was darin lauern mochte – ihr etwas antat? Andererseits waren Katzen flink und ziemlich schlau. Besonders Cheshire. Wenn jemand mit verfluchten Orten und Monstern zurechtkam, dann sie.

»Pass auf dich auf«, flüsterte Jessie.

Der Nebel hatte sich weiter verdichtet, sodass sie keine 20 Meter weit sehen konnte. Ich mache mich besser auf den Weg.

Heureka!, rief ihr Verstand, als sich ihre Beine tatsächlich in Bewegung setzten. Sie hetzte den Waldweg entlang, bis auf ihrer rechten Seite der Beginn der Fußgängerzone auftauchte und sie in diese einbog. Erst als sie den Wald hinter sich wusste, drosselte Jessie ihr Tempo.

Lenhardt’s Waren befand sich ein wenig außerhalb des Zentrums der Fußgängerzone. Hier reihten sich alte Wohnhäuser und kleine Läden aneinander. In Grubingen gab es keine großen Einkaufsketten oder, Gott bewahre, Malls. Die Einwohner hatten sich bisher erfolgreich gegen eine Modernisierung der Stadt gewehrt. Grubingen besaß den Charme einer mittelalterlichen Kleinstadt.

Klaus Lenhardt führte Lenhardt’s Waren, seit Jessie denken konnte. Er schien schon immer in dieser Stadt gelebt zu haben wie ein unsterbliches Phantom. Sein Lebensmittelladen mit dem unmöglichen Slogan ›Heute schon gekauft?‹ war das umsatzstärkste Geschäft Grubingens.

Jessie hatte Lenhardt bisher erst zweimal gesehen. Das erste Mal während ihres Vorstellungsgesprächs. Ein kleiner Mann mit Glatze, die von einem gleißenden Sonnenstrahl angeleuchtet worden war und dadurch wie ein frisch gebohnerter Boden geglänzt hatte, hatte das Gespräch geführt. Lenhardt, der in der Ecke gehockt war, hatte derweil sichtlich desinteressiert ein Klemmbrett auf den Knien balanciert und ständig die Kugelschreibermine hervor- und wieder hineinschnellen lassen, was ein mehr als nervtötendes Klickgeräusch erzeugt hatte. Lenhardts Schnauzer hatte mit seinen gezwirbelten Enden an den eines Schiffskapitäns erinnert und Jessie war es nur bedingt gelungen, nicht hinzustarren.

Das zweite Mal hatte sie ihren Boss gesehen, als sie das Lager eingeräumt hatte. Er war plötzlich zwischen zwei Regalen aufgetaucht und sein überdimensionaler Schnauzbart erweckte aus der Distanz den Anschein, als würde Lenhardt ein irres Lachen zur Schau stellen wie das des Jokers.

Klaus Lenhardt war eine Art Gespenst und Jessie war erleichtert, ihn nicht jeden Tag sehen zu müssen.

Im Grunde sind hier alle verrückt.

Sie lächelte. Vielleicht war sie ihrem Wunderland näher als gedacht.

Ihr Blick schweifte auf die Uhr des Rathauses. Halb neun. Nur noch eine halbe Stunde, bis sie wieder zum Roboter mutieren musste. Hallo. Piep. Danke. Tschüss.

Wenn sie daran dachte, diesen Job weitere 45 bis 50 Jahre über sich ergehen lassen zu müssen, knoteten sich ihre Eingeweide zusammen. Sie stellte sich Cheshire vor, die anmutig durch Büsche sprang und lief, wohin sie wollte.

»Hallo, Jessie.«

Jessie wirbelte herum.

»Oh, sorry, ich wollt’ dich nich’ erschrecken. Bist wohl wieder am Tagträumen, was?«

Tom, einer der wenigen erträglichen Menschen, die Jessie kannte, stand hinter ihr. Er lächelte sie auf verschmitzte Weise an.

»Kennst mich ja«, sagte Jessie und errötete.

Tom war sozusagen ihr Ausbilder gewesen. Sonst hatte sich ihrer niemand annehmen wollen. Die anderen Mitarbeiter hatten wenig Lust gehabt, der Azubine das Verkaufen beizubringen. Tom war nicht so. Seine großen, braunen Augen schienen in allem nur das Gute zu sehen.

Irgendwann war Jessie aufgefallen, dass Tom sich ein wenig zu sehr um sie bemühte. Und ehe sie sich versah, fragte er sie, ob sie mit ihm essen gehen wollte.

Tom war ein gutaussehender Mann Mitte zwanzig, mit vollen, schwarzen Haaren, in die Jessie schon so manches Mal ihre Hände hatte tauchen wollen. Sie wäre jedoch nie auf die Idee gekommen, mit ihm auszugehen.

Jessies Verstand hatte damals laut und deutlich nein gesagt, doch durch ihre Lippen war dennoch eine Zusage gedrungen. Toms Augen hatten wie braune Sterne geleuchtet, und danach hatte sie es einfach nicht mehr übers Herz gebracht, ihm abzusagen. Was sollte schon passieren? Sie würden eine Kleinigkeit essen, später ein wenig spazieren gehen und abends würde er sie vor ihrem Haus absetzen.

Trotzdem waren der Zusage die Bedenken gefolgt. Jessie war eben nicht wie andere Frauen ihres Alters. Nicht wie normale Frauen – was immer das bedeuten mochte. Normale Frauen gingen öfter mit Männern aus. Normale Frauen betrachteten sich ständig im Spiegel, schminkten ihre Gesichter und lackierten sich die Nägel. Jessie tat das alles nicht. Sie brauchte nur ihre Wile-E.-Coyote-Socken und alles war wunderbar.

Doch in so manch schlafloser Nacht hatte Jessie sich gefragt, was mit ihr nicht stimmte. Diese Nächte voller Fragen waren der ausschlaggebende Punkt gewesen, weshalb sie Tom sofort zugesagt und nicht erst groß überlegt hatte.

Dieses Date – und sie war sich sicher, dass es eines war – war der Schlüssel zur Normalität. Schluss mit dem Anderssein. Endlich Mensch sein.

Der Abend mit Tom war grauenhaft verlaufen.

Etwa fünf Minuten hatte er von sich erzählt und Jessie hatte aufmerksam zugehört, danach hatte Schweigen geherrscht. Immer wieder bemühte er sich, ein Gesprächsthema zu finden, bei dem Jessie aus sich herauskam. Vergeblich. Small Talk blieb ein Mysterium für sie. Also saßen sie sich schweigend gegenüber und aßen Döner mit einer gehörigen Portion Zaziki, was ein seltsames Gericht für ein Date war.

Jessie und Tom gingen danach tatsächlich spazieren. Allerdings bestand der Spaziergang darin, dass Tom sie zu ihrer Wohnung brachte, wo sie sich ein formelles »Danke für den schönen Abend«, und »Gute Nacht«, zumurmelten und Jessie Tom die Tür vor der Nase zuschlug.

Am nächsten Morgen hatte sie fürchterliche Angst gehabt, zur Arbeit zu gehen. Glücklicherweise benahm sich Tom wie immer. Sie sprachen nicht über das schiefgelaufene Date; bis zum Feierabend.

Tom war anscheinend kein Mann, der leicht aufgab und fragte Jessie erneut, ob sie sich ein weiteres Mal verabreden wollten. Dieses Mal zögerte sie – für genau eine Zehntelsekunde – ehe ihr Mund »Ja« sagte und ihr Kopf bloß nicht dachte. Es war nicht so, dass sie Tom loswerden wollte. Im Gegenteil, es gelang ihr nur nicht, sich in seiner Nähe zu öffnen.

Der nächste Abend war ein Desaster. Dieses Mal kleckerte Jessie sich mit Eis voll, ehe sie Tom mit Kaffee überschüttete.

Grauenvoll! Sie wollte auf der Stelle verschwinden, sich – Puff! – einfach auflösen. Stattdessen stammelte sie eine Entschuldigung nach der anderen. Tom hatte ihr mehrfach zu verstehen gegeben, dass ja nichts passiert sei, aber am darauffolgenden Tag hatte er sie nicht wieder gefragt, ob sie einen dritten Versuch wagen sollten.

Jessie hatte ihre Chance vertan. Und obwohl der zweifelnde, einsame Teil von ihr, der nachts wach lag und grübelte, bittere Tränen geweint hatte, hatte der andere Teil Luftsprünge gemacht und in die Hände geklatscht, weil sie endlich wieder Ruhe gehabt hatte.

Tom und Jessie hatten sich nie wieder über die missglückten Verabredungen unterhalten. Dennoch verstanden sie sich bis heute gut und er hatte ihr geholfen, durch die Ausbildung zu kommen. Jetzt waren sie Kollegen und Tom war seit einiger Zeit mit einer anderen zusammen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752124552
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Dezember)
Schlagworte
Wunderland Horror düsteres Märchen Fantasy blutige Fantasy imaginärer Freund Mädchen Unbekannte Welten Zauberer Roman Abenteuer

Autor

  • Nicole Siemer (Autor:in)

Nicole Siemer wurde 1991 in Papenburg (Emsland, Niedersachsen) geboren und arbeitet hauptberuflich als Hörgeräteakustikerin. Heute lebt sie zusammen mit ihren zwei Katzen in Lingen (Ems). Bereits in der Grundschule hat sie ihre Liebe für fantastische Erzählungen und das Schreiben entdeckt. Seit dem Abschluss ihres Belletristik-Fernstudiums an der Schule des Schreibens 2017 widmet sie sich in erster Linie unheimlichen Geschichten mit philosophischem Einschlag.