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Ein perfider Plan - Projekt LoWei Plus / Eine mörderische Tour

Zwei Romane

von Katharina Kohal (Autor:in)
525 Seiten

Zusammenfassung

"Ein perfider Plan – Projekt LoWei Plus":
Oliver Schyllbach, Leiter eines kleinen pharmazeutischen Unternehmens, arbeitet seit Wochen an einem neuen Projekt. Doch offensichtlich hat er einen erbitterten Widersacher. Denn als er von einer Tagung zurückkehrt, sieht er sich plötzlich einer unerhörten Intrige ausgesetzt. Seine Abwesenheit wurde genutzt, um ihm nachhaltig zu schaden. Kriminalhauptkommissar Wiesmann nimmt die Ermittlungen auf.
Bald darauf gerät Schyllbachs Freundin Romy in Gefahr. Zunächst sind es nur Kleinigkeiten, die sie beunruhigen. Trotzdem vertraut sie sich Hauptkommissar Wiesmann an. Aber sie bezweifelt, dass er ihre Aussage ernst nimmt. Als die Bedrohung akut wird, sieht Romy nur einen Ausweg: Sie löst alle bisherigen Verbindungen und zieht weg. Doch obwohl sie alles sorgsam geplant und durchdacht hat, wird sie von den Ereignissen bald wieder eingeholt.
Fassungslos erkennt sie schließlich, wer hinter all den Bedrohungen steckt.

"Eine mörderische Tour":
Ein Abenteuerurlaub der besonderen Art – so hatte Jo Meysner, Chef der Reiseagentur Special Travels, die Trekking-Tour zum Monte Roraima angekündigt. Und er hat nicht zu viel versprochen: Für die kleine Reisegruppe wird es tatsächlich ein unvergessliches Erlebnis, wenn auch in ganz anderem Sinn, als erwartet. Denn auf dem Hochplateau des Roraima geschieht ein Mord.
Mit der Aufklärung des Verbrechens wird der attraktive Comisario Garcia Hernández beauftragt. Schon bald erkennt er, dass der Mord geplant war. Für die Ermittlungen braucht er dringend Unterstützung und bekommt sie umgehend vom schnoddrigen Kriminalhauptkommissar Wiesmann.
Bei den Vernehmungen der Zeugen treten längst bewältigt geglaubte Ereignisse aus der Vergangenheit zu Tage. Und zeitweilig scheint es, als hätte jeder von ihnen ein Motiv.
Sowohl Garcia Hernández als auch Wiesmann wähnen sich bereits am Ziel, doch dann zeigt sich das Verbrechen in einem ganz anderen Licht …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

 

 

Ein perfider Plan – Projekt LoWei Plus

und

Eine mörderische Tour

 

 

 

Katharina Kohal

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Zum Inhalt der Bücher

 

 


Ein perfider Plan – Projekt LoWei Plus:

 


Oliver Schyllbach, Leiter eines kleinen pharmazeutischen Unternehmens, arbeitet seit Wochen an einem neuen Projekt. Doch offensichtlich hat er einen erbitterten Widersacher. Denn als er von einer Tagung zurückkehrt, sieht er sich plötzlich einer unerhörten Intrige ausgesetzt. Seine Abwesenheit wurde genutzt, um ihm nachhaltig zu schaden. Kriminalhauptkommissar Wiesmann nimmt die Ermittlungen auf.

Bald darauf gerät Schyllbachs Freundin Romy in Gefahr. Zunächst sind es nur Kleinigkeiten, die sie beunruhigen. Trotzdem vertraut sie sich Hauptkommissar Wiesmann an. Aber sie bezweifelt, dass er ihre Aussage ernst nimmt. Als die Bedrohung akut wird, sieht Romy nur einen Ausweg: Sie löst alle bisherigen Verbindungen und zieht weg. Doch obwohl sie alles sorgsam geplant und durchdacht hat, wird sie von den Ereignissen bald wieder eingeholt.

Fassungslos erkennt sie schließlich, wer hinter all den Bedrohungen steckt.

 

 


Eine mörderische Tour:

 


Ein Abenteuerurlaub der besonderen Art – so hatte Jo Meysner, Chef der Reiseagentur Special Travels, die Trekking-Tour zum Monte Roraima angekündigt. Und er hat nicht zu viel versprochen: Für die kleine Reisegruppe wird es tatsächlich ein unvergessliches Erlebnis, wenn auch in ganz anderem Sinn, als erwartet. Denn auf dem Hochplateau des Roraima geschieht ein Mord.

Mit der Aufklärung des Verbrechens wird der attraktive Comisario Garcia Hernández beauftragt. Schon bald erkennt er, dass der Mord geplant war. Für die Ermittlungen braucht er dringend Unterstützung und bekommt sie umgehend vom schnoddrigen Kriminalhauptkommissar Wiesmann.

Bei den Vernehmungen der Zeugen treten längst bewältigt geglaubte Ereignisse aus der Vergangenheit zu Tage. Und zeitweilig scheint es, als hätte jeder von ihnen ein Motiv.

Sowohl Garcia Hernández als auch Wiesmann wähnen sich bereits am Ziel, doch dann zeigt sich das Verbrechen in einem ganz anderen Licht …

Ein perfider Plan – Projekt LoWei Plus

 

 

Ein Kriminalroman

 

von Katharina Kohal

 

1. Nur ein Verdacht

Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete sie ihn. Doch, er war es. Es bestand kein Zweifel.

Diesen Augenblick hatte Romy gefürchtet. Aber sie hatte nicht damit gerechnet, ihm hier zu begegnen. Sie spürte, wie kalter Schweiß auf ihre Stirn trat und ihr Puls zu rasen begann. Jetzt schaute er in ihre Richtung. Ihr Blick fing seinen auf.


Ein halbes Jahr zuvor saß Romy Caralus in der Küche ihrer kleinen Berliner Altbauwohnung am Frühstückstisch. Allein. Ohne Oliver.

Den gestrigen Abend hatte sie sich ganz anders vorgestellt. An diesen besonderen Tag wollte sie ihn nicht erinnern, und sie war sicher, dass er ihn nicht vergessen hatte. Warum sonst hätte er ihr im Labor zugeraunt: „Dann bis heute Abend, Schatz …“? Er hatte versprochen, pünktlich seine Arbeit zu beenden und zu ihr nach Hause zu kommen.

Obwohl sie nun seit genau zwei Jahren ein Paar waren, hatten Romy und Oliver Schyllbach noch immer getrennte Wohnungen. Er meinte, die räumliche Trennung hielte die Liebe frisch, und Romy war es bisher recht. Aber irgendwann, so wünschte sie es zumindest, würden sie wohl doch zusammenziehen.

Wie die Wochen zuvor hatte Oliver den gestrigen Tag bis in die Abendstunden hinein in seinem Labor im pharmazeutischen Unternehmen Schyllbach & Co. Labs verbracht. Er war der Leiter; das Co. stand für den stellvertretenden Geschäftsführer, Herrn Dr. Torsten Schröter. Der Schwerpunkt der Firma lag seit Jahren im Bereich der Pharmaforschung; die Suche nach neuen Wirkstoffkombinationen war ihr Spezialgebiet. Im Unternehmen waren, außer Schyllbach und Schröter, sechzehn weitere Mitarbeiter beschäftigt.

Irgendein Witzbold hatte einmal die Idee, das Co. und Labs zusammenzuziehen. Seitdem wurde die Firma von den Angestellten kurz und bündig Kollaps genannt – selbstverständlich nur, wenn die beiden Chefs außer Hörweite waren.

Gestern Abend nun hatte sich Romy viel Mühe mit dem Coq au Vin gegeben. Die Hähnchenteile schmorten in einem Sud aus Weißwein und Gewürzen in einer Kasserole, als sein Anruf kam: „Schatz, sei nicht böse. Aber ich schaffe es heute einfach nicht mehr. Ich bin hier mindestens noch eine Stunde im Labor beschäftigt. Du weißt ja, die Testreihen müssen nächste Woche raus. Also sei nicht traurig. Wir sehen uns dann morgen.“ Romy wusste nicht mehr, was sie ihm geantwortet hatte. Auf jeden Fall holte sie das Hähnchen aus der Backröhre und warf alles komplett in den Müll. Die Flasche Chardonnay trank sie bis zur Hälfte aus, sank aufs Sofa und gab sich ihrem Selbstmitleid hin. Nicht das erste und mit Sicherheit auch nicht das letzte Mal hatte Oliver sie versetzt. Romy begann, ihre Beziehung zu hinterfragen. Sie wusste, dass dies ungerecht und gefährlich war und sie damit gar nicht erst anfangen sollte. Doch zu oft schon war er in den letzten Wochen weit über seine normale Arbeitszeit hinaus im Labor geblieben. Klar, er trug als Leiter des Unternehmens die Verantwortung. Aber war er wirklich so unabkömmlich, oder lief da noch etwas anderes nebenher? Gab es womöglich eine andere Frau in seinem Leben?

Vor zwei Jahren hatte alles so romantisch angefangen. Romy arbeitete damals noch nicht lange im Unternehmen, als sie sich in Oliver Schyllbach verliebte. Es war seine charmante, souveräne Art, die sie von Anfang an einnahm. Außerdem gefiel er ihr rein äußerlich, und es störte sie nicht – wirklich fast gar nicht –, dass er zehn Jahre älter als sie war, dreiundvierzig war er damals. Dr. Schyllbach schenkte ihr anfangs nicht mehr Aufmerksamkeit, als den anderen Mitarbeiterinnen auch. Doch irgendwann fiel ihm ihre witzige und schlagfertige Art auf. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis Oliver Schyllbach sich eingestand, dass er mehr als nur Sympathie für die aparte, intelligente Mitarbeiterin empfand. Und noch länger brauchte es, bis auch der Letzte im Kollaps bemerkte, dass da offensichtlich „etwas lief“. Anfangs versuchten beide, ihre Zuneigung zu verbergen, denn sicher war eine Liebe zwischen dem Chef und einer seiner Angestellten nicht die günstigste Konstellation. Und nicht zu Unrecht befürchteten sie, dass ihr Verhältnis unter den anderen Kollegen Ärger und Missverständnisse verursachen könnte. Aber beide verstanden es geschickt, Dienstliches und Privates zu trennen.

Nachdem Romy gestern Abend die halbe Flasche Chardonnay ausgetrunken, ihre Tränen weggewischt und die Nase geputzt hatte, griff sie zum Handy. Doch ihrem ersten Impuls, Lisa anzurufen, gab sie dann doch nicht nach. Sie war ihre engste Arbeitskollegin; mit ihr war sie auch privat befreundet. Aber es gab einen speziellen Grund, sich nicht ausgerechnet bei Lisa über ihren Kummer auszulassen: Romy und Oliver Schyllbach waren damals – unbemerkt von allen anderen im Kollaps – gerade frischverliebt, als eine weitere Mitarbeiterin hinzukam: es war Lisa. Sie war eine auffallend hübsche junge Frau mit einer tollen Figur. Selbst in einem schlichten Laborkittel zog sie die Blicke der männlichen Kollegen auf sich. Das dunkelblonde lange Haar hielt sie zu einem seitlichen Zopf geflochten, aus dem sich manchmal eine kleine Strähne löste und ihr vorwitzig in die Stirn fiel. Wenn das Sonnenlicht ihr Haar streifte, schimmerte es in einem sanften Kupferton. Lisas dunkle Augen konnten ihr Gegenüber je nach Situation warmherzig anschauen oder herausfordernd anblitzen. Sie war fast immer gut gelaunt, äußerst witzig und hatte mitunter eine scharfe Zunge. Zwischen ihr und Romy entwickelte sich bald eine kollegiale Freundschaft. Doch selbst Lisa gegenüber hatte Romy ihre heimliche Liebe zu Oliver verschwiegen. Als die Beziehung dann bekannt wurde, reagierte ihre Kollegin sichtlich betroffen. Zuerst vermutete Romy, dass sie ihr die Heimlichtuerei übelgenommen hätte. Doch bald darauf begann sie, Oliver und Lisa bei Dienstbesprechungen oder anderen Gelegenheiten verstohlen zu beobachten. Täuschte sie sich, oder mieden beide den Blickkontakt zueinander? Steckte womöglich mehr dahinter?

Auch wenn ihr freundschaftliches Verhältnis zu Lisa nicht nachhaltig darunter litt, so blieb doch ein leises Misstrauen seit jener Zeit zurück. Und dies war der Grund dafür, warum Romy sie gestern Abend nicht angerufen hatte.

Romy riss sich aus ihren Gedanken und sah auf die Uhr. Es war höchste Zeit, aufzubrechen und zum Kollaps zu fahren. Den Rest ihres Tees ließ sie stehen und stellte das Frühstücksgeschirr in die Spüle. Hastig schaute sie nochmal in den Spiegel und ärgerte sich über ihre verquollenen Augen. Sie hätte gestern Abend nicht so heftig weinen dürfen.

Mit dem Auto brauchte sie höchstens eine halbe Stunde. Das Kollaps lag in einem weitläufigen Gewerbegebiet mit ausreichenden Parkmöglichkeiten für die Mitarbeiter der umliegenden Firmen und Büros.

Romy stellte ihr Auto ab und betrat kurz darauf ein zweigeschossiges Gebäude. Den Fahrstuhl ließ sie außer Acht, stattdessen nahm sie die Treppe bis ins obere Stockwerk, in dem sich die Räumlichkeiten des Unternehmens befanden. Vom Eingangsbereich, neben dem das Sekretariat und ein Aufenthaltsraum mit kleiner Küche lagen, ging ein langer Flur ab. Von diesem kam man in die Dienstzimmer der Mitarbeiter. Aber die Kernstücke des Unternehmens waren ein großes Labor für die laufenden Messungen und Tests und zwei kleinere, in denen die beiden Chefs, Schyllbach und Schröter, ungestört arbeiten konnten.

Rasch lief Romy am Sekretariat vorbei. Wie so oft war die Tür geschlossen, und so blieb es ihr erspart, Frau Brandner zu grüßen. Sie wusste, dass die Chefsekretärin sie nicht mochte – und ahnte auch, warum. Damals vor acht Jahren, gleich zu Beginn der Unternehmensgründung, hatte Oliver Schyllbach sie als Sekretärin eingestellt, und sie selbst betrachtete sich seitdem als gute Seele des Kollaps. Oft genug war sie bereit, auch über die normale Arbeitszeit hinaus länger zu bleiben. Frau Brandner war vier oder fünf Jahre älter als ihr Chef, und er schätzte sie als erfahrene und kompetente Mitarbeiterin. Sie erledigte den umfangreichen Schriftverkehr, stellte Anträge, holte Angebote ein, gab Bestellungen auf und kümmerte sich um die Abrechnungen. Den gemeinsamen Arbeitstag begannen Schyllbach und sie immer mit einer Tasse Kaffee. Es wurde zu einer Art Ritual, dass sie jedes Mal ein kleines Gebäckstück auf seine Untertasse legte, und er genoss es, ein wenig umsorgt zu werden. Selbst dann, als Schröter als „Co.“ und weitere Mitarbeiter ins Schyllbach & Co. Labs hinzukamen, blieb es dabei: Oliver Schyllbach trank seinen Morgenkaffee gemeinsam mit Frau Brandner, und sie empfand es als Privileg, den Chef gleich früh am Morgen für ein paar Minuten ganz für sich allein zu haben.

Dann passierte es das erste Mal, dass Schyllbach verspätet kam und nur kurz mit einem verlegenen Lächeln bei ihr hereinschaute. Am nächsten Morgen und die folgenden Tage nahm er sich wieder Zeit und trank seinen Kaffee gemeinsam mit ihr. Ein paar Tage später entschuldigte er sich abermals; Oliver Schyllbach hatte bei Romy zu Hause gefrühstückt – aber das wusste Frau Brandner natürlich nicht. Bis sie zufällig sah, wie ihr Chef und Romy Caralus sich flüchtig küssten, bevor sie im Labor und er in seinem Dienstzimmer verschwand. Sie war enttäuscht und verletzt.

Am nächsten Morgen vermisste Schyllbach das Gebäckstück auf seiner Untertasse, und seine Sekretärin gab sich wortkarg und einsilbig.

„Frau Brandner, haben wir ein Problem miteinander?“, fragte er besorgt. „Bitte sagen Sie mir, wenn Sie etwas auf dem Herzen haben.“ Doch sie verneinte. Nein, es sei alles in Ordnung, ein wenig Kopfschmerzen habe sie, aber sonst sei wirklich nichts.

Das war für ihn ein untrügliches Zeichen, dass doch etwas war. „Es ist Ihnen sicher nicht entgangen, dass ich Frau Caralus liebe. Ich wollte es Ihnen irgendwann sagen, dachte aber, es hätte noch Zeit. Das können Sie mir doch bitte nicht übelnehmen.“

Frau Brandner stand auf und fing an, auf ihrem Schreibtisch die Unterlagen zu sortieren. Leichthin meinte sie: „Natürlich nehme ich Ihnen das nicht übel. Ich gönne Ihnen Ihr Glück von ganzem Herzen und wünsche Ihnen nur, dass Sie von der jungen Mitarbeiterin nicht ausgenutzt werden.“ Sie empfand wohl selbst, wie altjüngferlich und unglaubwürdig ihre Worte klangen.

„Machen Sie sich darüber mal keine Sorgen.“ Oliver hatte sich nun ebenfalls erhoben. „Ich werde schon auf mich aufpassen, aber das tun Sie ja offensichtlich auch“, fügte er lächelnd hinzu. Und bevor er das Zimmer verließ, versprach er: „Wir beide, Sie und ich, bleiben ein eingeschworenes Team. Aber hätten Sie morgen früh bitte wieder einen Keks zum Kaffee für mich …?“

Oliver hatte Romy diese Episode erzählt, aber nie sprach sie mit ihm über Lisas Reaktion auf das Bekanntwerden ihrer beider Beziehung.

Romy schaute kurz in das große Labor und sah Frau Dr. Hellwig darin hantieren. Sie schien sich voll auf die Messung zu konzentrieren und erwiderte Romys Gruß nur mit einem knappen Kopfnicken.

Petra Hellwig war fast an jedem Morgen die erste im Labor. Und immer drückte ihre Miene einen unausgesprochenen Vorwurf aus – eine Kritik, weil die anderen später als sie im Labor erschienen und zeitiger die Arbeit beendeten, oder eine Missbilligung, wenn die jungen Kollegen zum Kaffee im Aufenthaltsraum saßen und lachten. Vielleicht war ihre missmutige Miene auch eine Anklage gegen das Leben an sich, weil sie kaum daran teilhatte. Nie saß sie bei einer morgendlichen Tasse Kaffee oder zu Mittag mit in der Runde. Nur wenige wussten etwas Privates über sie, und zu niemandem aus dem Kollaps hatte sie über ihre Arbeit hinaus Kontakt. Nur mit Schyllbach und Schröter wechselte sie hin und wieder ein paar Worte; dabei ging es ausnahmslos um dienstliche Belange. Sie war eine herbe, distanzierte Frau mit einem verbitterten Zug um den Mund. Ihre Art war spröde und abweisend, manchmal fast beleidigend. Abgesehen von ihrer verdrossenen Miene sah Petra Hellwig durchaus ansprechend aus. Sie hatte eine sportliche Figur und einen flotten Haarschnitt, der vielleicht ein wenig zu kurz geraten war. Die Haarfarbe war Geschmackssache, ein intensiver Rotton, aufwändig gefärbt.

Romy schloss die Tür zum großen Labor wieder und lief in Richtung ihres Dienstzimmers.

„Guten Morgen, Frau Caralus!“ Unwillkürlich zuckte Romy zusammen. Schröters Gruß klang wie eine Zurechtweisung. Sie mied ihn ebenso wie Frau Dr. Hellwig. Doch es gab einen wesentlichen Unterschied: Die Hellwig konnte sie ignorieren, ihn aber nicht. Als stellvertretender Geschäftsleiter war er ihr und den anderen Mitarbeitern gegenüber weisungsberechtigt. Schyllbach, Schröter und Frau Hellwig mochten ungefähr im gleichen Alter sein, doch so genau wusste das niemand von den jüngeren Kollegen. Aber sie alle waren sich einig darüber, dass der Chef am zugänglichsten von den dreien war und man den beiden anderen lieber aus dem Weg gehen sollte.

Romy betrat ihr Dienstzimmer und freute sich, dass Henriette schon da war. Mit ihr verstand sie sich fast ebenso gut wie mit Lisa. Als vorerst letzte neue Mitarbeiterin war sie vor einem halben Jahr hinzugekommen. Henriette Schönherr war eine etwas pummelige, phlegmatische Mittdreißigerin und lag altersmäßig im Durchschnitt des relativ jungen Teams um Schyllbach und Co. Sie war gutmütig und hilfsbereit, wirkte allerdings mitunter etwas naiv und neugierig. Manchmal empfand Romy auch Mitleid mit ihr. Henriette litt sichtlich unter ihren überflüssigen Pfunden und trug daher, um die Pölsterchen zu kaschieren, in ihrer Freizeit meist weite und dunkle T-Shirts. Am besten standen ihr eigentlich die Laborkittel. Ihre langen feldmausbraunen Haare hielt sie mit einem Gummiband im Nacken zusammen. Auf den ersten Blick wirkte Henriette wie eine in die Jahre gekommene Studentin.

Die beiden Kolleginnen begrüßten sich, und im gleichen Augenblick wirbelte Lisa Volkert herein, warf ihre Tasche in die Ecke und sprudelte auch schon los: „Ich hätte es doch beinahe wieder verschlafen! Jedenfalls war es der reine Zufall, dass ich noch rechtzeitig raus bin. Aber was ist denn mit dir los, Romy? Du hast ja ganz verquollene Augen.“ Lisa nahm Romy bei den Schultern und schaute sie forschend an.

„Wahrscheinlich eine Art Allergie. Ich musste mich gestern Abend beherrschen, um nicht in den Augen zu reiben“, log sie.

Damit schien das Thema erst einmal beendet, und Lisa wandte sich gleich darauf an Henriette: „Die Hellwig tut schon wieder schwer beschäftigt und grüßt kaum zurück. Warst du heute schon vor ihr da?“ Eine Antwort darauf erwartete sie gar nicht, sondern erzählte ununterbrochen weiter.

Unterdessen waren auch die anderen Mitarbeiter eingetrudelt und hantierten an den Geräten. Schröter riss die Tür zum großen Labor auf und wetterte: „Meine Damen und Herren, denken Sie doch bitte mal daran, in Zukunft rechtzeitig im Sekretariat zu melden, wenn Material nachbestellt werden muss! Ich möchte es nicht noch einmal erleben, dass ich in einen leeren Karton greife, wenn ich Proberöhrchen brauche!“ Als er das Labor wieder verließ, schnitt Lisa hinter seinem Rücken eine Grimasse. Von seinen cholerischen Auftritten ließ sich kaum noch jemand beeindrucken. Ohnehin sah Schröter meistens finster aus, und wenn er doch einmal lächelte, so wirkte es hinterhältig und zynisch, wie ein diabolisches Grinsen. Das meinte zumindest Lisa, und Romy gab ihr Recht. Ebenso wie Schyllbach war auch Schröter arbeitsbesessen und blieb wie dieser oft bis in die späten Abendstunden hinein in seinem Labor, wenn es sein musste, auch samstags. Und das kam zu Romys großem Bedauern neuerdings auch bei Oliver immer häufiger vor. Henriette hatte sich schon neugierig erkundigt, ob sie das so in Ordnung fände. Romy waren diese Fragen äußerst unangenehm und wich ihnen generell aus.

Schyllbach selbst hatte sich an diesem Morgen noch nicht blicken lassen – auch das war Henriette aufgefallen. „Hast du eine Ahnung, woran er die ganzen Wochen so intensiv arbeitet?“, wollte sie jetzt wissen und fügte hinzu: „Es scheint ja etwas außer der Reihe zu sein, sozusagen Chefsache, sonst würde er sicher noch jemanden einspannen. Arbeitet er an einem vertraulichen Projekt? Vielleicht mit Schröter zusammen?“ Eine Antwort darauf erhielt sie nicht. Ohnehin hätte Romy nichts darauf erwidern können, weil sie es selbst nicht wusste. Geflissentlich überhörte sie die Frage und widmete sich ihrer Messreihe. Doch innerlich war sie unruhig und nervös. Ständig musste sie an den gestrigen verkorksten Abend denken und war gespannt, wie sich Oliver ihr gegenüber verhalten würde.

„Der Kaffee ist fertig!“, rief Lisa. Außer Frau Hellwig unterbrachen alle gerne ihre Arbeit und gingen zum Aufenthaltsraum.

In diesem Moment kam Schyllbach aus dem Sekretariat. Als er Romy sah, zog er sie beiseite. „Sorry wegen gestern, mein Schatz, es ging wirklich nicht. Aber wie wäre es heute Abend?“ Romy wollte sich schmollend abwenden. „Ich habe für zwanzig Uhr im Chez Arabelle einen Tisch bestellt“, fügte er rasch hinzu.

„Viel Spaß“, erwiderte sie schnippisch, um gleich darauf nachzugeben: „Überredet!“

Ihr Kummer von gestern Abend war augenblicklich verflogen. Er hatte es also nicht vergessen, nur eine Menge Arbeit um die Ohren. Wie konnte sie ihm das übelnehmen?

Lisa entging das kurze Intermezzo nicht. Und mit einem harmlosen Lächeln fragte sie beim Kaffee: „Na, ist die allergische Reaktion wieder abgeklungen? Deine Augen sehen schon wieder viel klarer aus. Sie glänzen förmlich!“

Gutgelaunt verbrachte Romy den Tag. Selbst Frau Hellwigs säuerliche Miene störte sie kaum noch.

 

Der Spätsommerabend war mild. Romy trug ihr dunkelblaues Kleid und die Sandaletten mit den hohen Absätzen. Wie versprochen hatte Oliver sie pünktlich zu Hause abgeholt. Den zehnminütigen Weg zum Chez Arabelle legten sie zu Fuß zurück.

Plötzlich blieb Romy stehen: „Anne! Es ist eine Ewigkeit her, dass wir uns gesehen haben! Wie geht es dir?“

„Danke, recht gut. Aber so ewig ist es nun auch wieder nicht her“, meinte Anne lachend. „Das letzte Mal haben wir uns beim Klassentreffen vor reichlich zwei Jahren gesehen. Und seitdem habe ich nichts mehr von dir gehört. Aber du siehst blendend aus!“ Wohlwollend betrachtete sie ihre ehemalige Schulfreundin. „Arbeitest du noch in dem pharmazeutischen Unternehmen? Du hattest damals, glaube ich, gerade erst angefangen.“ Etwas verlegen fiel Romy ein, dass sie Oliver ja noch gar nicht vorgestellt hatte. Er gab ihrer Freundin höflich lächelnd die Hand und trat wieder beiseite. Romy entging nicht, dass ihm die Unterbrechung nicht recht war. Er wirkte ungeduldig und nervös.

„Du hast dich auch nicht verändert, Anne. Wo arbeitest du jetzt eigentlich? Noch beim Verlag?“

Verstohlen schaute Oliver Schyllbach auf die Uhr. Ewig konnten sie sich hier nicht aufhalten. Der Tisch war für zwanzig Uhr bestellt, und sie lagen schon etwas über der Zeit. Nach weiteren fünf Minuten gab er Romy ein unmissverständliches Zeichen. Sie mussten nun endlich los. Eilig nannte sie ihrer wiedergefundenen Freundin ihre Handynummer, und beide verabschiedeten sich mit dem Versprechen, in Verbindung zu bleiben.

 

2. Enttäuschende Erkenntnisse

Seit dem letzten Abend im Chez Arabelle hatten sie sich kaum gesehen. Selbst im Kollaps nicht. Oliver Schyllbach kam ohnehin immer etwas später als die anderen, trank bei Frau Brandner seine Tasse Kaffee, traf sich danach meist zu einer kurzen Besprechung mit Schröter in dessen Dienstzimmer und verschwand dann sofort in seinem Labor. Die letzten drei Wochen hatte Romy oft allein verbracht. Sie wagte nicht, Lisa ständig in Beschlag zu nehmen. Das Problem mit Oliver wollte sie nicht anrühren. Und außerdem hatte Lisa einen Freund. Ein paarmal war Romy drauf und dran, sich mit Henriette zu verabreden, doch dazu fehlte ihr letztendlich die Lust. Ihr reichte es, wenn sie sich fast täglich im Labor sahen. Romy wurde schmerzlich bewusst, dass sie die letzten beiden Jahre wie in einer Blase gelebt hatte. Außer der Arbeit im Kollaps, hin und wieder einem Treffen nach Dienstschluss mit den Kollegen in einer der Kneipen und der gemeinsamen Zeit mit Oliver, die immer seltener wurde, gab es zurzeit kaum andere Kontakte oder Ereignisse in ihrem Leben. Mit ihrer Schwester Birgit telefonierte sie ab und zu. Sie war acht Jahre älter als Romy und lebte mit ihrer Familie schon seit langem in einem kleinen Ort in Thüringen. Früher war Romy oft bei ihr zu Besuch.

Anne kam ihr wieder in den Sinn. Sie war nicht von Anfang an auf Romys Gymnasium und auch nicht sofort ihre beste Freundin gewesen. Als sie in der elften Klasse hinzukam, gab es damals einen leisen Missklang zwischen ihnen, dessen Anlass aber längst in Vergessenheit geraten war. Oder beide waren klug genug, die Angelegenheit nie wieder zu erwähnen. Später, während der Studienzeit, hatten sie die Semesterferien und Wochenenden oft gemeinsam bei Romys Schwester in Thüringen verbracht. Mit Anne war es nie langweilig. Romy bewunderte ihre übermütige und charmante Art und fand ihre ehemalige Klassenkameradin äußerst unterhaltsam und attraktiv. Sie bedauerte, dass sie sich in den letzten Jahren etwas aus den Augen verloren hatten. Jede war mit sich und den eigenen Problemen beschäftigt. Anne war kurzzeitig verheiratet und bald wieder geschieden. Für einen Augenblick überlegte Romy, wie ihr Nachname war, nachdem sie geheiratet hatte. Dann fiel er ihr ein: Ja, Selbmann hieß sie jetzt wohl, wenn sie nach der Scheidung nicht wieder ihren Mädchennamen angenommen hatte.

Anne Selbmann. Zwei Jahre hatten sie sich nicht gesehen. Umso erfreuter war Romy, als sie sich zufällig wiedertrafen. Anne hatte ihre Handynummer, aber sie hatte bisher nicht angerufen.

Romy saß am Abend vor dem Fernseher, als ihr Handy klingelte. Oliver rief an! „Es geschehen noch Wunder!“, meldete sie sich und fügte vorwurfsvoll hinzu: „Ich dachte schon, dich gibt es gar nicht mehr in meinem Leben.“

Oliver lachte etwas verlegen: „Tut mir wirklich leid, Schatz. Aber die letzten Wochen waren ziemlich heftig. Du weißt ja, dass ich unter Zeitdruck stand.“

„Eigentlich weiß ich gar nichts“, konterte sie.

„Du musst auch nicht alles wissen.“ Wieder lachte er und fragte rasch: „Wo bist du gerade?“

„Na wo schon, zu Hause.“

„Hast du Lust zu mir zu kommen? Ich habe noch eine Flasche Chardonnay im Kühlschrank. Und ich könnte Sushi bestellen.“

Romy überlegte nicht lange: „Ich komme.“ In Windeseile zog sie sich um, packte ihr Handy mit Ladekabel und ein paar andere Kleinigkeiten in ihre Tasche und setzte sich ins Auto.

Am späten Abend dann meinte Oliver beiläufig: „Ach, übrigens, Schatz, übermorgen fliege ich zu einer Tagung nach Münster. Es muss sein. Außerdem hoffe ich dort auch neue Auftraggeber zu finden. Aber am Donnerstag nächste Woche bin ich wieder zurück.“

„Eine ganze Woche!“, klagte Romy und stellte lakonisch fest: „Na prima, dann sehen wir uns wohl auch dieses Wochenende nicht. Ein Wunder, dass du heute mal für mich Zeit hattest.“ Oliver lächelte schuldbewusst und nahm sie in die Arme. In seiner Gegenwart schaffte sie es einfach nicht, ihm etwas übel zu nehmen.

 

Der Arbeitstag im Kollaps begann wie immer, und so nach und nach trudelten die Mitarbeiter ein. Frau Brandner war die erste, gleich darauf kam Frau Hellwig. Es war ein Tag wie jeder andere, nur der Chef des Unternehmens fehlte. Er war in den frühen Morgenstunden nach Münster geflogen, Schröter würde ihn zum Leidwesen aller Mitarbeiter vertreten.

Frau Brandner saß grübelnd über den Abrechnungen. Die Bestellungen der letzten Wochen und Monate passten einfach nicht zu den laufenden Messungen und Projekten. Die Reagenzien, die neuerdings bestellt wurden, waren andere, als die Mitarbeiter bisher zur Herstellung und zum Testen der Wirkstoffe verwendeten. Auch den erhöhten Verbrauch an Ampullen und Etiketten konnte sie sich nicht erklären. In dem Augenblick riss Schröter die Tür auf und knallte ihr eine neue Bestellung auf den Tisch.

„Was, schon wieder neue Filterspitzen? Wir hatten doch erst vorige Woche einen Karton bestellt“, wunderte sie sich.

Ungehalten entgegnete er: „Machen Sie einfach, was ich Ihnen sage.“

Die Bemerkung „Sie haben ja gar nichts gesagt, weder Bitte noch Danke“, verkniff sie sich. Stattdessen gab sie pikiert Schröters Bestellung auf und war froh, als er ihr Sekretariat wieder verließ. Gleich nach seiner Dienstreise würde sie Dr. Schyllbach auf die Unregelmäßigkeiten bei den Bestellungen und Schröters Verhalten ansprechen.

Doch diesen Gedanken verwarf sie bald wieder. Ihr Verhältnis zueinander war nicht mehr so vertraut wie zu Beginn der Unternehmensgründung. Im Geheimen gab sie Romy Caralus die Schuld daran. Seit er mit ihr zusammen war, gab es einen leisen Missklang in der Beziehung zwischen Frau Brandner und ihm. Sie tranken zwar fast jeden Morgen noch gemeinsam ihren Kaffee, aber es war nicht mehr das Gleiche wie zuvor. Die Vertrautheit der ersten Jahre hatte sich nie wieder eingestellt.

Frau Brandner war unschlüssig, wie sie sich verhalten sollte. Konnte sie offen mit ihm sprechen und ihren Verdacht äußern? Sie wüsste zu gerne, was Schröter da in seinem Labor trieb. Oder deckte gar ihr Chef, Herr Dr. Schyllbach, irgendwelche anderen Aktivitäten? Nein, das konnte sie sich nicht vorstellen. Aber diese junge Freundin von ihm gefiel ihr nicht. Sie hatte Frau Caralus von Anfang an nicht gemocht, auch nicht, als sie und Dr. Schyllbach noch kein Paar waren. Hatte sie nicht immer befürchtet, dass Romy Caralus ihn nur ausnutzen würde? Für Frau Brandner war klar: Das gerissene Luder hatte sich den Chef geangelt, und er war leider darauf reingefallen. Sie überlegte weiter, wem sie sich mit ihren Bedenken bezüglich der auffälligen Bestellungen anvertrauen könnte. Frau Dr. Hellwig? Nein, auf keinen Fall. Die Abfuhr wollte sie sich ersparen. Henriette Schönherr war eigentlich ganz nett, zumindest grüßte sie immer mit einem freundlichen Lächeln. Aber war sie kompetent genug, um sich ein Urteil zu erlauben? Frau Brandner bezweifelte es. Trotzdem nahm sie sich vor, die junge Kollegin bei Gelegenheit mal anzusprechen.

 

Kurz nach sechzehn Uhr stellte Romy das Messgerät aus. Schluss für heute. Aber was sollte sie mit diesem angebrochenen Nachmittag anfangen? Sie würde Oliver eine Nachricht schreiben und fragen, ob er gut in Münster angekommen sei und wie es denn auf der Tagung so laufe, dachte sie mit einem kleinen Lächeln. Aber das wäre albern. Es sähe ja geradezu danach aus, als spioniere sie ihm hinterher. Trotzdem kramte sie ihr Smartphone aus der Tasche. Vielleicht hatte er ja zwischenzeitlich versucht, sie zu erreichen? Nein, natürlich nicht. Weder ein verpasster Anruf noch eine ungelesene Mitteilung. Aber Romy sah, dass ihr Akku fast leer war. Wieder mal typisch, dachte sie resigniert. Sie hatte vergessen, ihn aufzuladen. Gleich zu Hause würde sie daran denken.

Eine halbe Stunde später suchte sie in ihrer Wohnung nach dem Ladekabel. Es war nicht zu finden. Sie durchwühlte nochmal ihre Tasche und schüttete letztendlich den gesamten Inhalt auf ihren Couchtisch. Das Kabel war nicht dabei. Angestrengt überlegte sie, wann und wo sie es das letzte Mal benutzt hatte. Vorgestern in Olivers Wohnung! Sie hatte es, bevor sie zu ihm fuhr, noch schnell eingepackt und ihr Handy dann bei ihm aufgeladen. Das Kabel hatte sie mit Sicherheit bei ihm liegengelassen. Romy überlegte: Schon lange hatte sie einen Wohnungsschlüssel zu seiner Wohnung, ebenso wie er einen zu ihrer hatte. Aber es war eine stille Vereinbarung, dass keiner ohne den anderen die fremden Räume betrat, es sei denn, sie hatten es so abgesprochen. Aber was blieb ihr übrig? Sie brauchte dringend ihr Ladekabel.

Vor dem Haus, in dem Oliver wohnte, hielt sie einen Augenblick inne. Dann schloss sie die Haustür auf, stieg die beiden Stockwerke empor und zögerte dann abermals vor seiner Wohnungstür. Unnötigerweise klingelte sie und kam sich im gleichen Augenblick lächerlich dabei vor. Beherzt schloss sie auf und betrat die leere Wohnung. Wie eine Fremde sah sie sich darin um. Sie ging vom Wohnraum in das angrenzende Schlafzimmer, das er auch als Arbeitsraum nutzte. Wie erwartet steckte das Kabel noch in der Steckdose neben dem Schreibtisch. Erleichtert zog sie es heraus. Da sie nun schon einmal hier war, schaute sie ziellos über seinen Arbeitsplatz. Außer zwei Ordnern und einigen Schriftstücken lag nichts weiter darauf. Sie wusste, es stand ihr nicht zu, hier herumzuschnüffeln. Zumal in seiner Abwesenheit. Trotzdem hob sie vorsichtig einen kleinen Stapel Papiere an.

Da entdeckte sie eine Buchungsbestätigung. Sie kam von einem Wellnesshotel in Münster. Ja klar, die Tagung fand dort statt. Oliver liebte den Komfort, vor allem auch bei Dienstreisen. Warum also sollte er sich nicht etwas Luxuriöses für die paar Tage ausgesucht haben? Romy wollte die Buchungsbestätigung schon wieder zurück unter den Stapel legen, da fiel ihr Blick auf eine entscheidende Passage.

Und plötzlich fühlte sie sich wie vor den Kopf geschlagen. Oliver hatte eine Suite für zwei Personen gebucht, genau für das kommende Wochenende, das zwischen den Tagen seines dortigen Aufenthaltes lag. Hatte er vor, sie zu überraschen? Sollte sie nachkommen? Nein, dann hätte er sie schon längst darum gebeten. Romy entschloss sich, ihn sofort anzurufen und sich ahnungslos zu stellen. Nach dem fünften Klingelton nahm er den Anruf entgegen. Gebannt hörte sie ihm zu; er klang etwas übereifrig.

„Ja, Schatz, ich bin gut angekommen und wollte mich nachher sowieso bei dir melden. Das Wochenende? Du, das kann ich dir noch nicht sagen. Die Planung sieht ziemlich dicht aus. Am Samstagvormittag werden Poster vorgestellt, nach dem Mittagessen werden Kurzvorträge gehalten, am Abend findet ein Gesellschaftsabend statt, so eine Art Pflichtveranstaltung, mir graut schon davor, und am Sonntagvormittag hält ein Gastredner aus den USA einen Vortrag.“ Romy wollte ihn unterbrechen, aber er sprach unbeirrt weiter: „Nachmittags gibt es eine kurze Stadtführung und danach wieder einen Workshop. Der Veranstalter hat viel mit uns vor. Entsprechend hoch war ja auch die Teilnehmergebühr. Du, Schatz, ich muss gleich wieder los. Wir rufen uns zwischendurch nochmal an, und spätestens am Donnerstag bin ich ja sowieso wieder zurück. Also mach’s gut, ja? Kuss und bis bald.“

Soweit zu dem Wochenende für zwei Personen. Ihre letzte Hoffnung, an die sie sich geklammert hatte, war zerschlagen. In ihrem Kopf drehten sich die Gedanken wie ein Kreisel. Für einen Moment erwog sie, unangekündigt im Hotel zu erscheinen. Aber was genau wollte sie dort? Ihn zur Rede stellen, eine Szene machen? Man würde ihn von der Rezeption aus anrufen und sie ankündigen. Mit Sicherheit ließe er sich verleugnen. Und wie weiter? Also müsste sie in der Lounge rumhängen und ihn abpassen. Nein, die Sache wäre zu peinlich, einfach unter ihrer Würde und sinnlos dazu.

So nach und nach wurde ihr das ganze Ausmaß der Situation bewusst. Hatte er vor, sie zu verlassen? Und sie selber? Wollte sie diese Beziehung noch?

Erst einmal musste sie raus aus seiner Wohnung. Sie schloss ab und eilte die Treppe hinunter. Hoffentlich hatte niemand sie gesehen. Ihr Auto ließ sie stehen, sie würde ein Stück laufen, um den Kopf frei zu bekommen. Wie sollte es jetzt für sie und Oliver weitergehen? Und das Fatale an der ganzen Situation war, dass er ihr Chef war. Eine Trennung von ihm zöge mit Sicherheit berufliche Konsequenzen nach sich. Sie würde nicht bei Schyllbach & Co. Labs weiterarbeiten. Abgesehen von ihrem persönlichen Kummer war sie völlig verunsichert. Wie sollte sie sich Oliver gegenüber verhalten? Wäre es klug, ihn wissen zu lassen, dass sie ihn durchschaute? Aber dann müsste sie ja zugeben, dass sie während seiner Abwesenheit in der Wohnung war und auf dem Schreibtisch herumgeschnüffelt hat.

Romy fand in dieser Nacht kaum Schlaf. Sie wälzte sich von einer Seite auf die andere. Mal nahm sie sich vor, ihn zur Rede zu stellen, dann verwarf sie den Gedanken wieder. Sie überlegte, wie sie ihm gegenüber begründen könnte, dass sie von seinem Seitensprung wusste. Ihm etwas vorspielen und behaupten, sie spüre, dass er sie betrog? Doch er würde den Spieß umdrehen und sie fragen, wie sie zu dieser Annahme käme. Er war so wortgewandt und selbstsicher. Für alles hätte er eine Erklärung. Und nur zu gerne würde sie ihm dann glauben.

Schließlich kam sie zu dem Schluss, die heutige Entdeckung vorerst mit keiner Silbe zu erwähnen. Sie würde abwarten, wie er sich ihr gegenüber verhielte. Gegebenenfalls könnte sie die Beziehung langsam auslaufen lassen, sich sprichwörtlich gesehen emotional „aus dem Staub machen“. Ja, das wäre wohl die einfachste Lösung. Aber so ohne weiteres würde ihr das nicht gelingen. Romy wusste aus Erfahrung, dass es ihm mit Leichtigkeit gelänge, sie wieder um den Finger zu wickeln.

Endlich, weit nach Mitternacht, fiel sie in einen unruhigen Schlaf.



Kurz nach Frau Hellwig betrat Henriette das Labor und war sichtlich erleichtert, als Lisa wenig später hinzukam. Leise raunte sie ihr zu: „Ich muss dir nachher was erzählen, aber möglichst nicht, wenn Romy dabei ist.“ Lisa schaute verwundert auf, blies die vorwitzige Haarsträhne aus ihrem Blickfeld und hob eine Augenbraue, ihr Gesichtsausdruck war ein einziges Fragezeichen. Unwillkürlich musste Henriette lachen. Als Frau Hellwig das Labor verließ, nutzte sie die Gelegenheit.

„Frau Brandner sprach gestern mit mir. Ihr ist aufgefallen, dass die Bestellungen in der letzten Zeit nicht zu den laufenden Forschungsarbeiten und Testreihen passen. Neuerdings werden Reagenzien bestellt, die bisher noch nie verwendet wurden, auch jede Menge Ampullen.“ Sie schaute Lisa bedeutungsvoll an, bevor sie mit gesenkter Stimme fortfuhr: „Ich sage dir, irgendetwas stimmt hier nicht, da gehe ich jede Wette ein. Frau Brandner denkt vermutlich, es läge an Schröter. Aber ich sehe da ehrlich gesagt eher einen Zusammenhang mit den intensiven Laborarbeiten unseres Chefs. Sag aber bitte kein Wort zu Romy. Sie ist ja ohnehin genervt, weil Schyllbach kaum noch Zeit für sie hat. Oder meinst du, sie steckt da mit drin?“ Lisa wurde jeglicher Antwort enthoben, denn in diesem Augenblick kam Romy etwas abgehetzt ins Labor.

„Mensch, heute habe ich es verschlafen.“

„Hast du gestern länger gemacht?“

„Nein, überhaupt nicht. Ich habe in der vergangenen Nacht nur ziemlich schlecht geschlafen.“

Henriette warf Lisa einen vielsagenden Blick zu, aber die zuckte nur mit den Schultern.

 

3. Ein perfider Plan

Am darauffolgenden Morgen standen alle Stühle im Kollaps mit den Sitzflächen nach unten gekehrt auf den Tischen, weil die Reinigungsfirma in aller Frühe die Räume, Labore und den Flur gewischt hatte. Es war kein einladender Anblick, weder die hochgestellten Stühle noch das Resultat der Bodenreinigung. Auf dem Flur lagen in einer Ecke Flusen, an manchen Stellen sah es aus, als wäre der Dreck nur zusammengeschoben worden. Wahrscheinlich hatte wieder einmal das Personal gewechselt.

In einer Bodenritze an der Wand lag eine kleine Glasampulle. Sie war irgendwo heruntergefallen und wurde dann beim Säubern mit dem Wischmopp achtlos dorthin geschoben. Die Ampulle war etikettiert, und auf dem Etikett stand gut lesbar die Bezeichnung LoWei Plus. Sie enthielt eine klarflüssige Lösung. Spätestens bei der nächsten Bodenreinigung würde sie zuerst im Wischeimer und dann später im Ausguss verschwinden. Doch es sollte anders kommen.

 

Frau Hellwig schien an diesem Morgen besonders schlecht gelaunt. Auch wenn Romy ohnehin kein freundliches Wort von ihr erwartete, so trafen sie der eisige Blick und das beharrliche Schweigen heute besonders hart. Was mochte dieser übellaunigen Frau schon wieder nicht passen? Ebenso war mit Henriette nicht viel anzufangen. Romy hatte den Eindruck, dass sie nur mechanisch antwortete, wenn sie gefragt wurde. Aber nach Unterhaltung war Romy selbst nicht zumute. Nur mit großer Anstrengung gelang es ihr, die Enttäuschung über Oliver vor den anderen zu verbergen. Zumindest Lisa schien gutgelaunt zu sein. Plaudernd und über die Hellwig lästernd, als diese mal kurz das Labor verließ, bereitete sie routiniert ihre Messreihe vor. Keiner der Mitarbeiter wusste, ob Schröter im Haus war. An manchen Tagen war er schon vor um sieben in seinem Labor oder Dienstzimmer, mitunter kam er später, blieb dann aber meist bis in die Abendstunden hinein. Obwohl Oliver Schyllbach jetzt schon den zweiten Tag auf Dienstreise war und Schröter stellvertretend dessen Geschäfte übernahm, hatten ihn die Mitarbeiter des Kollaps bisher kaum gesehen. Ihnen konnte es nur recht sein. Jeder hatte seine konkreten Aufgaben, und der Laden schien momentan auch ohne einen Vorgesetzten zu laufen. Um nicht gänzlich isoliert in ihrem Sekretariat zu sitzen, ließ Frau Brandner neuerdings die Tür zu ihrem Zimmer einen Spalt breit offen. Auf diese Weise bekam sie nebenbei mit, wer morgens verspätet erschien oder überpünktlich den Arbeitsplatz verließ. Und ihr war es möglich, die Gespräche der anderen mitzuhören. Der Aufenthaltsraum lag praktischerweise gleich gegenüber. Ein Nachteil der offenen Tür war jedoch, dass sie zu spät bemerken würde, wenn Schröter in ihr Zimmer stürmte. Dieser Mensch verunsicherte sie in höchstem Maße.


 

«»«»«»

 

Leise öffnete sich die Tür des kleinen Archivraumes. Eine Gestalt schob sich durch den Türspalt und hielt inne. Alles war still und stockdunkel. Unglücklicherweise hatte Schröter an diesem Tag bis in die späten Abendstunden hinein gearbeitet. Erst vor ein paar Minuten hatte er das Gebäude verlassen. Vom langen Ausharren in dem kleinen, mit Regalen vollgestellten Raum schmerzte ihr ganzer Körper, ihre Beine waren eingeschlafen und kribbelten höchst unangenehm. Und die Blase drückte zusehends. Auf der Toilette wagte sie nicht, zu spülen. Um sich in der Dunkelheit zurechtzufinden, nutzte sie die Taschenlampenfunktion ihres Handys. Dann öffnete sie die Tür zu Oliver Schyllbachs Labor und schaute sich vorsichtig um.

An den Wänden standen offene Regale und einige verschließbare Schränke. In dem Moment, als sie nach dem Schlüsselkasten suchte, hörte sie zu ihrem großen Entsetzen die Eingangstür zu den Räumlichkeiten des Kollaps. Sofort schaltete sie das Licht ihres Handys aus. Es konnte nur Schröter sein, der irgendetwas vergessen hatte und zurückkam. Er hatte doch hoffentlich nicht den Lichtschein vom Parkplatz aus gesehen? Voller Panik suchte sie nach einem geeigneten Versteck. Ihr fiel nichts Besseres ein, als in aller Eile unter den Labortisch und dort in die hinterste Ecke zu kriechen – weit weg von der Tür. Bald darauf betrat jemand den Raum und schaltete die helle Deckenbeleuchtung an. Sie sah Männerschuhe in Richtung der Regale gehen. Mit äußerster Anstrengung zwang sie sich zur Ruhe und hoffte nur, dass er ihre Atmung und ihren rasenden Puls nicht wahrnahm. Die Zeit kam ihr endlos vor. Noch immer suchte Schröter – es konnte nur er sein – in den Regalen. Dann hielt er plötzlich inne. Rasch öffnete er einen Karton und entnahm etwas. Als er sich endlich entfernte, das Licht löschte und das Labor verließ, blieb sie geduckt und reglos unter dem Labortisch sitzen. Erst nach einer Viertelstunde kroch sie vorsichtig hervor und schlich zu Tür. Der Gang lag im Dunkeln. Mit angehaltenem Atem lauschte sie in die Finsternis: vollkommene Stille. Zurück im Labor spähte sie durch die halb zugezogenen Lamellen auf den spärlich beleuchteten Parkplatz. Er war leer; weit und breit war kein Auto zu sehen. Jetzt konnte sie sich erneut ihrer Suche widmen. Sie war festentschlossen, Oliver Schyllbachs wochenlangen und vor den Mitarbeitern geheim gehaltenen Aktivitäten auf den Grund zu gehen. Sie sah sich um. Wenn es etwas gab, das für alle anderen tabu war, dann hatte er es mit Sicherheit in einem der abgeschlossenen Schränke untergebracht, so waren ihre Gedanken.

Gleich neben der Tür befanden sich ein Verbands- und ein Schlüsselkasten. Sie entnahm ein kleines Schlüsselbund und probierte die Schlüssel einen nach dem anderen an den Schrankschlössern aus. Bald fand sie den passenden für den ersten Schrank. Zum Durchsuchen der untergebrachten Flaschen und Packungen zog sie Laborhandschuhe an. Doch sie entdeckte nichts Außergewöhnliches. Nachdem sie den Schrank wieder verschlossen hatte, suchte sie den passenden Schlüssel für den nächsten. Aber auch hier wurde sie nicht fündig.

Nach einer Stunde war sie beim letzten Schrank angelangt. Enttäuscht schloss sie ihn zehn Minuten später wieder ab und hängte den Schlüsselbund zurück in den Kasten. Nichts. Sollte sie sich so getäuscht haben? Nein, auf keinen Fall. Alle Indizien deuteten darauf hin, dass er an einem geheim gehaltenen Projekt arbeitete, schon wochenlang und augenscheinlich mit Erfolg. Sonst bliebe er nicht so beharrlich an der Sache dran. Und sie würde der Angelegenheit nachgehen und letztendlich zu einem Ergebnis kommen. Womöglich forschte er auf illegalem Terrain? Ihre Augen suchten den Raum ab. Momentan war sie ratlos, wo sie noch nachschauen könnte. Mit Sicherheit nicht in den offenen Regalen. Sie waren frei zugängig und zur Unterbringung von Pipetten, Reagenzgläsern und anderem Verbrauchsmaterial vorgesehen. Doch möglicherweise hatte er ja genau das bedacht: Hier würde niemand etwas Außergewöhnliches vermuten. Mit neuer Energie und Hoffnung suchte sie jetzt Regal für Regal ab und stieg auf eine Leiter hinauf, um auch in die obersten Fächer zu schauen.

In einem von ihnen fiel ihr oben in der hintersten Ecke eine Box auf, sie stand verborgen hinter einem leeren Karton. Vorsichtig zog sie die Packung hervor und öffnete sie. In ihr lag eine unüberschaubare Menge an Ampullen, und alle waren mit der Aufschrift LoWei Plus versehen. Die Kapazität einer einzelnen betrug 0,25 ml, gefüllt waren sie mit einer klarflüssigen Lösung. Behutsam schob sie die Box wieder zurück und stieg die Leiterstufen hinab. Unten angekommen atmete sie tief durch. Jetzt musste sie unbedingt herausbekommen, was es mit den Ampullen und der unbekannten Bezeichnung auf sich hatte. Sie schaute sich aufmerksam um. Aber im Labor fand sie keine Unterlagen. Sein Dienstzimmer! Sie schlich auf den Gang und lauschte wieder in die Dunkelheit. Alles war still. In seinem Zimmer schaltete sie den Rechner an. Zu ihrem Glück war er nicht mit einem Passwort gesichert – wie leichtsinnig von ihm. Gezielt suchte sie nach dem Stichwort LoWei Plus. Und siehe da, unter diesem Begriff fand sie eine umfangreiche Datei.

Sie begann zu lesen und traute ihren Augen kaum: Oliver Schyllbach hatte eine Designerdroge entwickelt. Das ursprüngliche Ziel war die Herstellung eines Mittels zur Gewichtsreduktion. Die Buchstaben LoWei waren eine Abkürzung und leiteten sich von den Worten Lose Weight her. Das Plus bedeutete, dass es einen weiteren Effekt gab – und der war der springende Punkt. Ursprünglich war vorgesehen, den Kunden ein hochwirksames Mittel anzubieten, mit dem sie schon nach kurzer Anwendung Gewicht verlieren. Aber zusätzlich, praktisch so nebenbei, hatte sich herausgestellt, dass das Mittel vor allem aufputscht und beim Verbraucher euphorische Zustände hervorruft. LoWei Plus war demnach ein Rauschmittel mit euphorisierender Wirkung, das zuverlässig und schnell zur Gewichtsabnahme führte.

Sie las weiter, dass es bereits Verhandlungen zum Verkauf der Droge gab und Oliver Schyllbach sich in den nächsten Tagen bei einem Interessenten, einem Herrn Lohmann, melden würde.

Das eben Gelesene stimmte sie sehr nachdenklich. Der vorgeblich so integre Dr. Oliver Schyllbach, Chef des Unternehmens Schyllbach & Co. Labs, hatte demnach stillschweigend ein Rauschmittel hergestellt und bot es zum Verkauf an. Dann straffte sie die Schultern und überflog im Eiltempo den Rest des Textes. Die Herstellung und die Zusammensetzung der Droge wurden detailliert beschrieben. Sie schloss die Datei und klickte auf sein E-Mail-Fach. Wie leichtfertig von ihm, dass er das Passwort gespeichert hatte, und ein Leichtes für sie, die E-Mails der letzten drei Wochen zu lesen. Dabei stieß sie auf eine interessante Nachricht. Gesendet wurde sie von Oliver Schyllbach an den besagten Herrn Lohmann. In der E-Mail teilte er mit, dass die Untersuchungen zum Produkt fast abgeschlossen seien und er die Bankverbindung für die Überweisung der vereinbarten Summe in Höhe von 1.600.000 € demnächst bekannt gäbe. Nach Eingang des Betrages würde er dann die Ware wie abgesprochen per Kurier an die zuvor genannte Anschrift verschicken.

In ihr reifte ein perfider Plan. Um ihn auszuführen, musste sie die Zeit nutzen, solange er nicht vor Ort war. Erst in der nächsten Woche am Donnerstag käme er von der Tagung zurück. Trotzdem war Eile und umsichtiges, entschlossenes Handeln geboten.

Vor ihrem geistigen Auge sah sie die Anordnung der Garderobenfächer in der Gemäldegalerie. Die Spinde waren mannshoch. In Erinnerung hatte sie, dass sie zuletzt ein Fach belegt hatte, das unauffällig in der Mitte lag. Angestrengt dachte sie nach, welche Nummer es hatte. Und ihr fiel ein, dass es die 42 war.

In Oliver Schyllbachs Namen schrieb sie jetzt:

 

Sehr geehrter Herr Lohmann,


die Untersuchungen wurden erfolgreich abgeschlossen, aber organisatorisch hat sich eine unvorhergesehene Änderung ergeben. Anstelle einer Banküberweisung soll der genannte Betrag in bar am kommenden Mittwoch um 11 Uhr im Bildermuseum in Berlin im Garderobenfach 42 hinterlegt werden. Den Schlüssel legen Sie bitte obenauf über das Fach. Ab 14 Uhr finden Sie in dem Garderobenfach die gewünschte Ware. Diese Änderung der Modalitäten ist zwingend erforderlich. Kontaktieren Sie mich auf keinen Fall per E-Mail! Nach erfolgreicher Übergabe melde ich mich bei Ihnen.

 

Mit freundlichen Grüßen

Oliver Schyllbach

 

Und senden! Vorsorglich löschte sie die gerade verschickte E-Mail im Ausgangspostfach ebenso wie alle anderen Mails, die den Schriftwechsel zu LoWei Plus betrafen. Es waren nur drei. Sie vergaß auch nicht, den virtuellen Papierkorb zu leeren, und entfernte alle verräterischen Spuren, die sie bei der Suche hinterlassen hatte. Doch es blieb die Unsicherheit, etwas übersehen zu haben. Dann schaltete sie den Rechner aus, verließ das Zimmer und ging in sein Labor zurück. Sie musste jetzt schnell handeln. Eilig stieg sie die Leiter empor, bis sie das obere Fach des Regals erreichte, griff nach der Box mit dem verfänglichen Inhalt und entnahm die Ampullen. In einem unauffälligen leeren Karton, der davor gestanden hatte, brachte sie alles unter. Die Leiter stellte sie zurück, verließ mit ihrem brisanten Diebesgut das Labor und schloss die Etage ab.

In weniger als einer Minute hatte sie den Ausgang des Gebäudes erreicht und schaute sich nach allen Seiten um. Unterdessen war es nach Mitternacht; außer ihr war keine Menschenseele unterwegs. Dann eilte sie mit hastigen Schritten über den leeren Parkplatz. Noch nie kam ihr der Weg so lang vor. Endlich erreichte sie die Hauptstraße. Per Handy rief sie ein Taxi und merkte, als die Spannung langsam von ihr abfiel, wie erschöpft sie war. Jetzt war ihr dringendster Wunsch, nach Hause zu kommen, zu duschen und wenigsten ein paar Stunden zu schlafen. Am nächsten Tag, gleich nach Dienstschluss, würde sie ein Schließfach bei der Bank mieten.


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Die Kaffeemaschine röchelte, der Kaffee war gleich durch. Henriette saß schlaff und mit müden Augen vor ihrer Tasse. Romy kam hinzu, ergriff die Kaffeekanne und goss ihnen ein.

Mit einem kurzen Blick zu Henriette fragte sie: „Was ist denn mit dir los?“

„Nichts ist los. Ich habe einfach schlecht geschlafen und seit heute Morgen Halsschmerzen. Ich befürchte bald, mich hat’s erwischt.“ Ihre Stimme klang heiser.

„Na, dann bleib ich dir mal lieber fern.“ Romy nahm ihre Tasse und ging zurück ins Labor. Nach kurzer Zeit erschien Frau Dr. Hellwig. Mit einem Lächeln nickte sie Romy zu. Übertroffen wurde deren unerwartete Freundlichkeit durch Lisas überaus guter Laune.

Romy meinte lakonisch: „Jetzt fehlte eigentlich nur noch, dass Schröter hereinkäme und uns allen eine Gehaltserhöhung ankündigen würde.“

Das Gegenteil geschah: Er erschien mürrisch wie immer und forderte alle zu einer kurzen Besprechung in sein Dienstzimmer auf.

„Meine Damen und Herren, es gibt leider unangenehme Neuigkeiten“, fing er an, nachdem sich alle in seinem Zimmer eingefunden hatten. „Aber vielleicht ist es ja gar keine Neuigkeit für Sie. Die derzeitige Lage am Markt erfordert jetzt eine besondere Flexibilität von uns allen. Das Unternehmen steht momentan finanziell nicht gerade rosig da.“ Er registrierte die Unruhe, die sich ausbreitete. Unbeirrt fuhr er fort: „Und zu allem Übel ist auch noch ein entscheidender Auftraggeber abgesprungen.“ Nun holte er zum entscheidenden Schlag aus. „Ich bitte Sie daher um Verständnis, dass die Gehälter bis auf weiteres um zehn Prozent gekürzt werden. Das betrifft selbstverständlich und vor allem auch Herrn Dr. Schyllbachs und mein Gehalt.“ Er ließ das eben Verkündete ein paar Sekunden nachwirken, um dann mit einem jovialen Lächeln zu erklären: „Sobald sich die Auftragslage gebessert hat, werden die Gehälter wieder in bisheriger Höhe gezahlt. Ich danke für Ihr Verständnis.“

Romy glaubte, sich verhört zu haben, Henriette wirkte noch angeschlagener als zuvor, Lisa war nicht mehr ganz so gutgelaunt und Frau Dr. Hellwigs Freundlichkeit ließ sichtbar nach.

„Halt, Torsten, warum wird das jetzt in Abwesenheit von Oliver Schyllbach verkündet?“, fragte sie in forschem Ton.

„Weil Oliver Schyllbach nun mal auf Dienstreise ist und nicht gleichzeitig hier sein kann“, erwiderte er bissig.

„Ist die Lage denn wirklich so prekär? Hat es nicht Zeit, bis er wieder zurück ist?“

Insgeheim bewunderte Romy Frau Dr. Hellwigs Mut und Hartnäckigkeit. Sie selbst hätte diese offene Konfrontation mit Schröter nie gewagt.

Der reagierte jetzt ungehalten. „Hat es nicht. Sonst hätte ich diese Besprechung nicht einberufen. So, von meiner Seite aus gibt es nichts weiter. Bleibst du noch einen Moment hier, Petra?“ Der Satz klang weder nach einer Frage noch nach einer Bitte. Es war eine Anweisung. Die anderen verließen schweigend das Zimmer. Lisa blieb einen Augenblick vor Schröters Tür stehen und lauschte. Aber was darinnen besprochen wurde, konnte sie akustisch nicht verstehen. Auf jeden Fall klang es nach einem handfesten Streit. Gerade noch rechtzeitig gelang es ihr, sich von der Tür zu entfernen, denn im nächsten Augenblick stürmte Frau Hellwig wutentbrannt heraus.

 

Der Tag schleppte sich bis zum Dienstschluss dahin, und Lisa war froh, als sie sich von den anderen verabschieden konnte. Nein, von der miesen Stimmung und Henriettes Erkältung würde sie sich nicht anstecken lassen, sie freute sich auf das bevorstehende Wochenende.

Ganz anders empfand Romy. Dieses einsame Wochenende fürchtete sie.

Wie so oft in den letzten Wochen, wenn Oliver auch an den Samstagen arbeitete, hatte sie vormittags die Wohnung aufgeräumt und sich dann in das Einkaufsgetümmel der Innenstadt gestürzt. Aber wie sollte sie den trostlosen Abend überstehen?

Letzten Endes verbrachte sie ihn vorm Fernseher.

Am Sonntag fühlte sie sich noch miserabler. Normalerweise frühstückten sie an diesem freien Tag gemeinsam und ausgiebig und entschieden dann, was sie unternehmen würden: je nach Wetter und Jahreszeit einen Ausflug, eine Radtour, einen Kino- oder Museumsbesuch. Manchmal trafen sie sich auch mit Freunden. Ihr fiel auf, dass es vorrangig seine aus alten Studienzeiten waren.

Deprimiert hing sie am späten Sonntagnachmittag in ihrer Wohnung herum und gab sich trüben Gedanken hin. Lustlos zappte sie sich durch alte Filme und Serien, doch sie hatte keine Freude dabei und konnte sich nicht konzentrieren. Hätte sie doch nach Münster fahren und sich vor Ort von Olivers Untreue überzeugen und ihn kompromittieren sollen? Doch wozu Geld, Zeit und Nerven in ein aussichtsloses Unterfangen investieren, wenn letztendlich nur Peinlichkeiten und Enttäuschung auf sie warteten. Nein, ihr Stolz und ihre Selbstachtung verbaten ihr, ihm nachzureisen. Sie hatte mit ihm abgeschlossen, es war unwiederbringlich aus. Entgegen ihrem festen Vorsatz, der gemeinsamen Zeit mit ihm nicht nachzutrauern, kamen ihr die Tränen. Wieder war sie in Versuchung, sich ihrem Selbstmitleid hinzugeben. Sie dachte an die letzte Nacht, die sie kurz vor seiner Dienstreise zusammen verbrachten. Alle Zweifel, dass er sie nicht mehr begehrte, waren da verflogen.

Jetzt im Nachhinein musste sie annehmen, dass er schon in Vorfreude auf das bevorstehende Wochenende mit der Anderen war. Der Gedanke daran war ihr unerträglich. Doch bald wich dieses hilflose Gefühl der erlittenen Demütigung wieder einer kalten Wut: auf ihn und auf ihre eigene Naivität.

Ihr fehlte eindeutig eine Freundin. Sollte sie jetzt Lisa anrufen? Unentschlossen holte sie ihr Handy hervor und drückte auf Lisas Nummer. Aber noch bevor das erste Rufzeichen ertönte, brach sie die Verbindung ab. Nein, nicht Lisa, und Henriette erst recht nicht. Anne fiel ihr wieder ein, doch deren Nummer hatte sie nicht, und sie hatte sich bisher nicht gemeldet.

 

Auch andere verbrachten ein einsames Wochenende.

„Na, Lust auf ein Bierchen?“ Aber das hatte Petra Hellwig nicht, zumindest nicht mit dem Typ aus dem Fitnessstudio. Sie vermutete nicht zu Unrecht, dass er vom Chef der Muckibude auf sie angesetzt wurde. Mit geübtem Blick hatte dieser schon bald herausgefunden, dass Frau Dr. Petra Hellwig offensichtlich alleinstehend und möglicherweise einsam war. Warum sonst würde sie regelmäßig an den Sonntagnachmittagen hier auftauchen? Natürlich nicht nur an diesen freien Tagen, aber sonntags eben immer. Sie hatte augenscheinlich nichts Besseres vor und wollte dem Pärchen- und Familienbetrieb da draußen aus dem Weg gehen.

Petra Hellwig rang sich ein dürres Lächeln ab und schüttelte den Kopf. „Danke, nein.“ Sie schaute auf die Uhr. Das für sie stets trübselige Wochenende hatte sie fast hinter sich gebracht, es war schon siebzehn Uhr. Sie wollte sich nicht immer in ihrer Wohnung verkriechen, obwohl sie sich da bestens zu beschäftigen wusste.

Seit ihre Beziehung damals zerbrach, war sie allein. Verbittert und misstrauisch geworden, hatte sie sich nie wieder gebunden. Einen Ausgleich suchte sie in der Arbeit. Aber den fand sie im Kollaps nicht. Weder die dortige Tätigkeit im Labor noch die Kollegen sagten ihr zu. Sie fühlte sich eindeutig unterfordert, missachtet und von Torsten Schröter und Oliver Schyllbach schwer enttäuscht. Vor Jahren hatten sie ihr zwar in einer schwierigen Zeit geholfen und sie im Unternehmen aufgenommen, aber dies geschah nicht ganz uneigennützig. Das hatte Petra Hellwig längst erkannt. Letztendlich wurde sie unter ihrer Qualifikation beschäftigt und als „Mess- und Prüfknecht“ ausgenutzt. So zumindest empfand sie ihre derzeitige Situation, die schon Jahre andauerte. Zudem ließen sowohl Schyllbach als auch Schröter sie unterschwellig spüren, dass sie von ihnen abhängig war und indirekt in ihrer Schuld stand.

Im Gleichmaß der Tretbewegungen am Crosstrainer reagierte sich Petra Hellwig ab. Sie stellte mit grimmiger Genugtuung fest, dass sie dabei im Rhythmus der Rotation kraftvoll nach unten trat.

 

 

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An diesem Mittwochmorgen ging ihr nichts von der Hand. Obwohl sie alles genau durchdacht hatte, war sie nervös. Kurz vor zwölf Uhr verließ sie das Gebäude. Es fiel nicht weiter auf, denn die Mittagspause wurde hin und wieder genutzt, um Privates zu erledigen.

Ihr erster Weg führte sie zur Bank. Dort nahm sie aus dem Schließfach das Paket mit den Ampullen und packte es in die mitgebrachte große Sporttasche. Halb eins war sie vor Ort. Um nicht aufzufallen, kaufte sie an der Kasse eine Eintrittskarte. Verstohlen schaute sie sich um. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie womöglich in eine Falle tappte. Was würde geschehen, wenn es sich gar nicht um einen Interessenten für die Ampullen, sondern um einen verdeckten Ermittler handelte, dem sie die E-Mail geschrieben hatte? Äußerlich gelassen, aber mit erhöhtem Puls schlenderte sie in den Garderobenbereich. Am Fach mit der Nummer 42 lief sie erst einmal vorbei. Sie nahm das übernächste Fach, schloss auf und legte ihre Jacke und die Sporttasche hinein. Dann ging sie langsam zurück, an der 42 vorbei, griff wie beiläufig oben auf den Garderobenschrank und ertastete dort tatsächlich den Schlüssel. Sie wagte nicht, sofort das Fach aufzuschließen. Stattdessen lief sie wieder in den Eingangsbereich und gab sich den Anschein, als warte sie auf jemanden. Ziellos blätterte sie in einem der dort ausliegenden Kataloge. Dabei wanderte ihr Blick unauffällig durch den Raum. Wie gerufen kam laut lärmend eine Schulklasse herein. Jetzt oder nie! Entschlossen legte sie den Prospekt beiseite und lief mit zügigen Schritten in den Garderobenbereich zurück, holte aus ihrem Fach die Sporttasche heraus und trat zum übernächsten Spind, Nummer 42. Ihre Hand zitterte, als sie ihn aufschloss. Im Fach lag ein brauner Lederkoffer.

Hastig schaute sie sich nach beiden Seiten um und zog die mitgebrachten Laborhandschuhe über. Dann beugte sie sich in das Garderobenfach hinein, öffnete vorsichtig den Koffer und überprüfte dessen Inhalt. In ihm lagen 32 Banderolen zu je 100 Scheinen á 500 €. Nie zuvor hatte sie eine derart große Menge Bargeld gesehen. Doch sie fasste sich schnell, holte aus ihrer Sporttasche das Paket mit den Ampullen und legte es ins Fach. Dabei sah sie immer wieder rasch auf, um sicher zu sein, dass sie nicht beobachtet wurde. Dem Lederkoffer entnahm sie die Banderolen und steckte sie in die Sporttasche. Wie erwartet war sie ziemlich schwer. Darüber, wie viele Kilo genau eine Million und Sechshunderttausend Euro wogen, hatte sie keine Vorstellung. Doch ihr blieb keine Zeit, einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden – sie musste sich beeilen. Den Koffer ließ sie im Garderobenschrank, schloss ab und legte den Schlüssel wieder obenauf an die gleiche Stelle zurück.

 

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4. Der Zugriff

Der Donnerstagmorgen begann wie immer, aber alle waren ein wenig geschäftiger als sonst. Den Morgenkaffee trank man etwas zügiger und kehrte bald darauf an den Arbeitsplatz im Labor zurück. Oliver Schyllbach würde bald eintreffen; gestern am späten Nachmittag ging die Tagung in Münster zu Ende. Die Mitarbeiter befürchteten zwar keine mahnenden Worte des Chefs, das nicht. Nein, sein Missfallen drückte er in der Regel subtiler aus. Mitunter waren es nur ein erstaunter Blick oder ein enttäuschtes Lächeln, die einen unausgesprochenen Vorwurf erkennen ließen.

Es war kurz vor um neun, gleich würde er kommen. Und sicher wie immer schwungvoll, bestens gelaunt und mit einem souveränen Lächeln.

Und genauso war es. Kurz nach neun Uhr schaute Oliver Schyllbach ins Labor, voller Elan, offensichtlich gut erholt, grüßte freundlich in die Runde und gab Romy einen Kuss. Er verhielt sich ihr gegenüber völlig ungezwungen, so als wäre seinerseits alles in bester Ordnung. Sie dagegen fühlte sich sehr zu ihrem Ärger befangen und verlegen. Doch das schien er nicht zu bemerken, sondern ging zu Frau Brandner ins Sekretariat. So, wie er es erwartet hatte, stand schon der Kaffee bereit, und auf seinem Teller lag ein kleines Gebäckstück. Sie begrüßte ihn freundlich aber ein wenig reservierter als gewöhnlich.

„Na, Frau Brandner, was gibt’s Neues? Lief der Laden auch ohne mich?“ Sie antwortete nicht gleich, sondern ordnete ein paar Unterlagen auf ihrem Schreibtisch. Leicht belustigt und mit hochgezogenen Brauen beobachtete Schyllbach ihre Geschäftigkeit.

„Nun rücken Sie schon damit heraus. Was bedrückt Sie?“

„Ach, ich weiß nicht. Kaum sind Sie mal eine Woche weg, schon gibt es Ärger.“ Oliver Schyllbach schwieg und wartete. „Herr Dr. Schröter hat dieser Tage verkündet, dass die Gehälter erst einmal um zehn Prozent gekürzt werden sollen. Dass die Auftragslage zurzeit nicht gerade rosig ist, sehe ich ja selber. Aber jetzt gleich so drastische Maßnahmen zu ergreifen … War das mit Ihnen abgesprochen?“ Sie war noch immer mit den Papieren auf ihrem Schreibtisch beschäftigt.

„Nun setzen Sie sich doch erstmal einen Moment mit an den Tisch und trinken mit mir eine Tasse Kaffee. Sie verbreiten hier eine Unruhe ...“, meinte er lächelnd. Frau Brandner nahm zögernd Platz. „Herr Schröter und ich haben in den Tagen vor meiner Dienstreise etliches besprochen. Auch über unbequeme Maßnahmen mussten wir reden. Aber es gibt für alles eine Lösung, Frau Brandner. Nun machen Sie sich mal keine Sorgen. Ich gehe jetzt sowieso gleich zu Herrn Schröter. Gibt es noch etwas Dringendes, was wir beide bereden müssten?“ Er schaute sie aufmunternd an. Aber sie wich seinem Blick aus und schüttelte den Kopf.

Schon die ganze Zeit, während er bei ihr im Zimmer saß, hatte er eine leichte Veränderung in ihrem Wesen bemerkt, eine Art Verunsicherung. Er konnte nicht benennen, was es war. Aber er spürte mehr als zuvor die leichte Entfremdung zwischen ihnen. Was war es nur, was in ihrem Blick lag? Misstrauen? Eine unbestimmte Erwartung? Als ihrerseits keine weitere Erklärung kam, trank er seinen Kaffee aus und erhob sich.

„Ja, dann bis später, Frau Brandner. Ich schaue jetzt erst einmal bei Herrn Schröter vorbei. Mal sehen, was er mir zu berichten hat.“ Schyllbach verließ das Zimmer.

Eine halbe Stunde später meldeten sich im Sekretariat zwei Herren. Es waren Beamte der Kriminalpolizei. Sie zeigten ihre Dienstausweise und fragten nach dem Geschäftsführer, Herrn Dr. Schyllbach.

„Ach, das passt jetzt gerade überhaupt nicht. Der Chef kam gerade von einer Dienstreise zurück, und es ist noch sehr viel aufzuarbeiten“, entgegnete Frau Brandner. Sie wollte sich wieder ihrer Arbeit widmen, aber der resolutere der beiden, es war Kriminalhauptkommissar Wiesmann, schritt auf ihren Schreibtisch zu und stützte sich mit den Händen auf der Platte ab.

Leicht vorgebeugt und mit dem Gesicht höchstens vierzig Zentimeter von ihrem entfernt, stellte er klar: „Vielleicht habe ich mich ja missverständlich ausgedrückt. Auf jeden Fall haben Sie mich falsch verstanden. Das ist keine Bitte, sondern eine Aufforderung, der Sie nachzukommen haben. Sie führen uns jetzt zu Herrn Schyllbach.“

Mit pikierter Miene erhob sie sich und ging voraus. An seiner Tür klopfte sie und meldete lakonisch: „Es tut mir leid, Herr Dr. Schyllbach, aber Sie haben schon früh am Morgen Besuch.“

Wenn er in diesem Augenblick unangenehm überrascht war, so zeigte er es nicht. Höflich bat er Kriminalhauptkommissar Wiesmann und dessen Begleiter am Besuchertisch Platz zu nehmen.

„Herr Dr. Schyllbach, wir müssen einer Meldung nachgehen. Heute früh erhielten wir dieses Schreiben.“ Wiesmann legte ihm ein Schriftstück vor. Es handelte sich um eine anonyme Mitteilung und war an die Staatsanwaltschaft adressiert. In ihm formulierte der Absender den Verdacht, dass im Unternehmen illegal Drogen hergestellt wurden. Beigefügt im Umschlag war eine sorgsam verpackte Ampulle mit der Aufschrift LoWei Plus.

Einen Augenblick lang starrte Oliver Schyllbach verständnislos darauf. Dann meinte er gelassen: „Vermutlich wieder eine Intrige von einem Konkurrenten. Leider gibt es Neider.“ Er schmunzelte über sein Bonmot. Wiesmann lächelte nicht.

„Haben Sie eine Vorstellung, wer es verfasst haben könnte?“

„Wie gesagt, es kann nur von einem Konkurrenten kommen. Unser Unternehmen ist in Fachkreisen recht bekannt, und es hat im Forschungs- und Entwicklungssektor einen sehr guten Ruf.“ Und ein wenig übereilt fügte er hinzu, dass er und sein Team sich nichts vorzuwerfen hätten.

„Genau, und damit jeder Verdacht von vornherein im Keim erstickt wird, werden wir umgehend eine Durchsuchung vornehmen.“ Diesmal legte Hauptkommissar Wiesmann einen Durchsuchungsbeschluss vor.

Schyllbach studierte einen Moment lang fassungslos das Schriftstück, dann versuchte er es abermals mit einem Scherz und protestierte lächelnd. Aber Wiesmann schien gegen jeglichen Charme immun. Er gab seinem Mitarbeiter ein Zeichen, und kurz darauf betraten fünf weitere Beamte die Räumlichkeiten des Unternehmens.

„Außerdem müssen wir alle Computer beschlagnahmen, Ihre und die Ihrer Mitarbeiter. Es wird nicht lange dauern.“

„Das ist jetzt nicht Ihr Ernst!“

„Leider doch, Herr Dr. Schyllbach.“ Wiesmann gelang zumindest eine bedauernde Miene.

 

In Windeseile hatte sich herumgesprochen, dass die Kripo im Haus war. Henriette warf Lisa einen vielsagenden Blick zu. „Ich habe es ja kommen sehen. Hier stimmt was nicht.“

„Meine Damen und Herren, halten Sie sich bitte für weitere Befragungen zur Verfügung. Wir rufen Sie dann einzeln auf.“ Lisa schaute den Beamten entgeistert an, Romy war leichenblass und Henriette lief puterrot an. Nur Frau Hellwig arbeitete seelenruhig im Labor weiter.

Da die Vernehmungen parallel liefen, wurden die Mitarbeiter nacheinander in den Aufenthaltsraum oder ins Sekretariat gerufen.

Frau Brandner wusste nicht so recht wohin mit sich. Weder in ihrem Zimmer noch im Aufenthaltsraum konnte sie bleiben. Ins Labor zu den anderen Kollegen mochte sie nicht gehen – sie gehörte nicht dazu. So nahm sie auf einem Besucherstuhl im Eingangsbereich Platz. Selten zuvor hatte sie sich so unwohl und verunsichert gefühlt wie gerade jetzt.

Die Vernehmungen brachten bisher kaum neue Erkenntnisse. Niemand aus dem Unternehmen wollte etwas Außergewöhnliches gesehen oder Verdächtiges bemerkt haben. Nein, der Begriff LoWei Plus war nicht bekannt.

Vier Stunden später wurden die Computer zurückgebracht – alle, außer der von Schyllbach. Wiesmann bestellte ihn ins Sekretariat.

„Herr Dr. Schyllbach, gegen Sie liegt ein dringender Tatverdacht wegen illegaler Drogenherstellung und Vertrieb eines Rauschmittels vor.“

„Das ist unmöglich!“, rief Schyllbach, jetzt schon sichtlich angeschlagen.

„Wir müssen Sie bitten, uns zu begleiten. Sie haben das Recht auf einen Anwalt. Alles was Sie aussagen, kann gegen Sie verwendet werden.“

Diesen Spruch kannte er bislang nur aus TV-Sendungen. Fassungslos und wie festgenagelt hockte er im Sessel. Es war genau der Platz, an dem er heute Morgen Frau Brandner gegenübersaß und mit ihr eine Tasse Kaffee getrunken hatte. Irritiert fuhr er sich mit der Hand über die Augen. Sein Wunsch, dies alles möge nur ein bösartiger Traum sein, erfüllte sich nicht.

„Herr Dr. Schyllbach, bitte, machen Sie es sich und uns nicht noch schwerer. Wenn Sie mir jetzt bitte folgen würden.“

Ein paar Mitarbeiter, die sich auf dem Flur aufhielten, schauten betreten zu Boden, als Oliver Schyllbach in Begleitung der Beamten das Gebäude verließ. Frau Brandner stand wie versteinert im Eingangsbereich. Mit regloser Miene sah sie ihrem Chef nach.

Im Hinausgehen drehte Wiesmann sich noch einmal um: „Bitte bleiben Sie alle vor Ort, und halten Sie sich auch für die nächsten Stunden zur Verfügung.“

Im Kommissariat wurde Schyllbach mit der ganzen Misere konfrontiert.

„In Ihrem Labor fanden wir diese leere Box.“ Wiesmann hatte sie bringen lassen und beobachtete sein Gegenüber ein paar Sekunden lang, bevor er fortfuhr: „Das heißt, sie war nicht ganz leer. Zwei Ampullen hatten Sie wohl vergessen. Sie sind mit der Bezeichnung LoWei Plus beschriftet, genau wie jene, die der anonymen Anzeige beigefügt war. Der Inhalt der Ampullen wird gerade in unseren Laboren analysiert.“ Wieder wartete er einen Augenblick auf Schyllbachs Reaktion. Als diese ausblieb, holte er zum entscheidenden Schlag aus: „Auf Ihrem Rechner haben wir zu dem Begriff LoWei Plus eine umfangreiche Datei gefunden, deren Aussage das Ergebnis unserer Analyse vorwegnimmt: Es handelt sich demnach eindeutig um ein Rauschmittel. Der Absender des Schreibens hat mit seinem Verdacht also recht.“ Bevor sich Schyllbach dazu äußern konnte, fragte er scharf: „An wen haben Sie die anderen Ampullen, die sich ursprünglich in der Box befanden, weitergegeben beziehungsweise verkauft?“

Schyllbach schien sich aus seiner Erstarrung zu lösen. Heftiger, als es sonst seine Art war, entgegnete er: „Ich habe nichts verkauft! Keine einzige Ampulle!“ Im nächsten Moment hatte er sich wieder gefasst. „Ich versichere Ihnen, dass ich die Ampullen nicht verkauft habe.“ In dozierendem Ton erklärte er: „Sehen Sie, die Sache ist folgendermaßen: Seit geraumer Zeit betreibe ich Forschungsarbeiten zur Entwicklung eines hochwirksamen Medikamentes zur Gewichtsreduktion. Die Sache zog sich über Monate hin. Und als ich schließlich erste Ergebnisse erzielt hatte, kontaktierte mich ein potentieller Interessent. Sein Name ist Dr. Lohmann. Er hat eine leitende Funktion im Bereich Vermarktung von Arzneimitteln in einem Pharmaunternehmen.“

Wiesmann unterbrach ihn: „Den Namen Lohmann haben wir in Ihrer Datei gefunden. Wie heißt das Unternehmen?“

„Das ist mir leider nicht bekannt. Ich habe Herrn Lohmann auch nicht persönlich kennengelernt. Er meldete sich per E-Mail und bat mich, ihn zu informieren, wenn ich mit den Abschlusstests fertig wäre.“

„Dann geben Sie uns wenigstens seine E-Mail-Adresse.“

„Die weiß ich natürlich nicht aus dem Kopf. Aber Ihre Kollegen müssten sie unter meinem E-Mail-Account gefunden haben.“

„Dort haben wir keinen Schriftverkehr zum Vorgang LoWei Plus entdeckt, also auch keine Adresse“, erwiderte Wiesmann knapp.

Schyllbach sah jetzt ratlos aus. „Ich bin mir aber sicher, dass ich ihm geschrieben und von ihm auch mindestens zwei Mitteilungen erhalten habe.“ Es folgte ein kurzes Schweigen, und Oliver Schyllbach grübelte, wieso die Beamten hierzu nichts gefunden hatten.

„Dann sagen Sie mir zumindest, was Sie diesem Lohmann mitgeteilt haben.“

Wiesmann schien jetzt sichtlich ungehalten, deshalb beeilte sich Schyllbach, zu erklären: „Ich habe ihm geschrieben, dass ich mich zu gegebenem Zeitpunkt mit ihm in Verbindung setzen werde, und zwar dann, wenn alle Tests erfolgreich verlaufen wären.“

„Und nach Ihrer Meinung war das nicht der Fall?“

Er schüttelte den Kopf. „Bei weiteren Untersuchungen stellte ich fest, dass sich eine von mir unbeabsichtigte komplexe Verbindung bei der Kombination der Substanzen ergab. Es entstand ein Mittel, dessen Wirkung auf den menschlichen Organismus denen bekannter Rauschmittel entspricht. LoWei Plus enthält somit stark wirksame psychotrope Substanzen, die nach der Einnahme veränderte Bewusstseinszustände hervorrufen können. In welchem Maße dies geschieht, kann ich noch nicht genau sagen. Hierzu sind umfangreiche Tests erforderlich, die bislang noch nicht durchgeführt wurden.“ Er beendete seine Ausführungen mit den Worten: „Sie sehen also, dass ein Verkauf nach derzeitigem Erkenntnisstand nicht in meiner Absicht liegen kann. Die Ampullen sind nicht mehr in meinem Besitz, und ich habe sie auch nicht verkauft. Jemand anderes muss sie entnommen und dann eine einzelne Ampulle zusammen mit der anonymen Anzeige an die Staatsanwaltschaft geschickt haben. Ich werde mich ja wohl nicht selbst anzeigen. Schon allein aus diesem Grund ist ersichtlich, dass sie in fremde Hände gelangt sind.“ Mit einem gewinnenden Lächeln sah er Wiesmann an. An dessen Gesichtsausdruck konnte er nicht erkennen, wie seine Erläuterungen ankamen.

Ungerührt meinte dieser: „Das ist ein weiterer Punkt, den wir noch klären müssen. Und selbstverständlich werden wir überprüfen, ob es einen Herrn Lohmann gibt und herausfinden, für wen er arbeitet.“ Es entstand eine kurze Pause. Für einen Augenblick empfand Schyllbach ein aufkommendes Gefühl der Hilflosigkeit. Ihm wurde bewusst, dass offensichtlich jemand geschickt gegen ihn intrigierte.

Wiesmann sprach den Gedanken aus, der Oliver Schyllbach ebenfalls gekommen war, und fragte: „Wer sind Ihre engsten Mitarbeiter? Soweit ich weiß, ist Dr. Schröter der stellvertretende Geschäftsführer. Gehört auch Frau Dr. Hellwig zur Geschäftsleitung des Unternehmens?“

„Nein, nur Herr Dr. Schröter.“

„Ich nehme an, die beiden Pharmazeuten sind an den Forschungsarbeiten zu LoWei Plus beteiligt beziehungsweise über das Projekt informiert?“

„Nein, ich habe sie nicht mit einbezogen.“ Er sah Wiesmanns Befremden und erklärte nachdrücklich: „Mir als Leiter des Unternehmens und auch Herrn Dr. Schröter steht es frei, neben den laufenden Aufträgen auch eigene Projekte zu verfolgen. Wir müssen uns nicht gegenseitig darüber informieren.“

Wiesmann notierte etwas und erkundigte sich dann: „Hat Frau Dr. Hellwig ebenfalls diese Freiheiten?“

Mit einem leichten Zögern erwiderte er: „Weitestgehend ja. Aber soweit mir bekannt ist, nutzt sie diese noch zu wenig. Wir werden sie demnächst wohl etwas von den Routineuntersuchungen entlasten, sodass ihr mehr Zeit zur Nutzung ihrer fachlichen Kapazität bleibt. Ich dachte auch bereits an ein eigenes Labor für sie. Die Zufriedenheit unserer Mitarbeiter liegt Herrn Schröter und mir sehr am Herzen.“ Schyllbach lehnte sich in seinem Stuhl zurück und bemühte sich, dabei entspannt zu wirken.

„Und trotzdem muss es ein Mitarbeiter Ihres Unternehmens gewesen sein, der uns dieses Schreiben zukommen ließ“, entgegnete Wiesmann. „Wie erklären Sie sich das? Haben Sie eine Vorstellung, wer die Anzeige erstattet haben könnte?“

Es dauerte ein paar Augenblicke, bevor Schyllbach antwortete. „Nein, ich habe keine Vorstellung, wer so etwas fertiggebracht hat. Diese Intrige trifft mich wie ein Schlag. Denn es handelt sich ja eindeutig um eine Intrige. Der Absender der Anzeige hat sich nicht die Mühe gemacht, das Gespräch mit mir zu suchen, sondern feige aus der Anonymität heraus gehandelt. Er konnte kein Hintergrundwissen dazu haben.“

„Offensichtlich doch. Die Bezeichnung LoWei Plus war demjenigen ein Begriff, und ebenso der Umstand, dass es sich hierbei um ein Rauschmittel handelt.“ Wiesmanns Miene war jetzt eisig und sein Ton unerbittlich. „Nein Herr Schyllbach, Ihre Schilderung überzeugt mich nicht. Bis zur Klärung des Sachverhaltes, wer die Ampullen genommen hat und wer dieser ominöse Herr Lohmann ist, müssen wir Sie wegen Gefahr in Verzug vorläufig festnehmen.“

Wiesmann erhob sich schwerfällig; Schyllbach blieb wie vom Donner gerührt auf seinem Platz.

„Das kann nicht Ihr Ernst sein!“ Schweigen. „Welche Gefahr sehen Sie denn in mir?!“ Als er einsah, dass alle Argumente und Fragen in dieser Situation nicht weiterhalfen, richtete er sich auf und bekundete: „Ich möchte jetzt mit meinem Anwalt sprechen.“

„Das steht Ihnen selbstverständlich frei.“

 

5. Offene Fragen

Die Stimmung im Kollaps war bedrückt und angespannt. Keiner sagte ein Wort.

Lisa brach als erste das Schweigen. „Das kann doch alles nicht wahr sein, hier muss ein Irrtum vorliegen.“

„Sie haben ja selbst gesehen, dass es offenbar kein Irrtum ist!“, erwiderte Frau Hellwig bissig und verließ das Labor.

Ein paar Minuten später stand Schröter in ihrem Dienstzimmer. „Was, um Himmels Willen, geht hier in dem Laden vor? Und was weißt du darüber?“ Er setzte sich an den kleinen Tisch. Herausfordernd stand sie ihm gegenüber; sie hatte nicht Platz genommen.

„Genau das wollte ich dich auch fragen, Torsten. Es kann dir doch nicht entgangen sein, dass hier noch etwas anderes lief!“

„Was soll das heißen, Petra? Unterstellst du mir jetzt, dass ich mit Oliver gemeinsam ein linkes Ding durchgezogen habe?“

„Wäre das so abwegig? Vorstellen könnt ich’s mir.“

Für einen Augenblick schien Schröter die Beherrschung zu verlieren: „Das gleiche könnte ich von dir behaupten! Hast du etwas von seinen Aktivitäten mitbekommen oder nicht? Setz dich bitte, du raubst mir den letzten Nerv!“

Widerwillig nahm sie Platz und lenkte ein: „Das bringt momentan überhaupt nichts, wenn wir beide uns jetzt gegenseitig Vorwürfe machen.“

Schröter rollte genervt mit den Augen: „Dann unterlass die blödsinnigen Provokationen! Also noch einmal von vorn: Fiel dir in letzter Zeit irgendetwas auf? Gab es aus deiner Sicht irgendwelche Unregelmäßigkeiten?“

Sie musste nicht lange überlegen: „Vor ein paar Wochen, als Frau Brandner mal nicht da war, kam eine Lieferung. Ich nahm sie entgegen und stellte sie in den Lagerraum. Von der Zulieferfirma hatte ich bis dahin noch nie was gehört. Als ich ein, zwei Tage später etwas aus dem Lager holen wollte, war der Karton weg. Und rate mal, wo ich ihn dann gesehen habe.“

„Du warst also in seinem Labor?“

„Das ist ja nicht verboten.“

„Was hattest du dort in seiner Abwesenheit zu suchen?“

Empört sprang sie auf. „Jetzt reicht es aber. Ist das hier auch ein Verhör, oder was? Und wieso nimmst du an, dass ich in seiner Abwesenheit drin war?“

Schröter ignorierte die Gegenfrage. „Hast du gesehen, was genau die Firma geliefert hatte?“

„Ja, habe ich“, kam es schnippisch zurück.

Er war jetzt ebenfalls aufgestanden und kam auf sie zu. Instinktiv wich sie einen Schritt zurück und erklärte: „Es waren alles Reagenzien, die nichts mit den laufenden Untersuchungen zu tun haben.“

Sie wollte das Zimmer verlassen, aber Schröter hielt sie zurück. Er klang gefährlich leise, als er fragte: „Hast du das auch diesem Wiesmann erzählt?“

„Was denkst du denn!“ Dann ließ sie ihn einfach stehen und ging.

 

Im großen Laborraum begannen die Mutmaßungen: „Wer wohl die Anzeige erstattet hat?“

„Keine Ahnung. Aber der- oder diejenige muss schon etwas Konkretes in der Hand gehabt haben. So mir nichts dir nichts kommt die Kripo nicht ins Haus.“ In dieser Art liefen die Gespräche weiter, bis Wiesmann erneut auftauchte. Zuerst wurde Dr. Torsten Schröter in den Aufenthaltsraum bestellt. Der Kommissar vernahm ihn diesmal persönlich. Interessiert betrachtete er sein Gegenüber.

„Ihnen als stellvertretender Geschäftsführer dürfte wohl kaum entgangen sein, was hier so in den Laboren geschieht.“

„Ich bin nicht allgegenwärtig. Und was der Chef treibt, ist seine Sache.“

„Wie stehen Sie zu Herrn Dr. Schyllbach?“ Schröter war drauf und dran, wieder aufzubrausen, beherrschte sich aber im letzten Moment.

„Wie soll ich schon zu ihm stehen? Er ist der Leiter des Unternehmens und ich der stellvertretende Geschäftsführer. Die Fronten sind geklärt.“

„Das ist keine Antwort auf meine Frage.“

„Also gut, wir kennen uns seit Jahren und der Laden läuft ganz passabel. Ich habe keinen Grund, in seinem Labor rumzuschnüffeln und zu schauen, was er so treibt, wenn Sie das meinen.“

Einerseits missfiel Wiesmann der rüde Ton, andererseits entband er ihn von jeglicher Höflichkeit seinerseits. Die direkte Art entsprach ohnehin seinem Naturell. „Sie wollen mir also wirklich weismachen, dass Sie keine Ahnung davon haben, was hier in dem Unternehmen so getrieben wird? Das wäre ja in höchstem Maße unverantwortlich!“ Interessiert beobachtete Wiesmann, wie Schröters Verstimmung wuchs. In zynischem Ton blaffte er, dass er nicht Schyllbachs Betreuer sei und daher nicht ständig dessen Aktivitäten beobachte, aber die konkreten Aufgaben aller Mitarbeiter sehr wohl im Auge habe. Ebenso wie der Chef kümmere auch er sich um die Belange des Unternehmens. Von Verantwortungslosigkeit könne demnach keine Rede sein.

Wiesmann sah, dass er hier momentan nicht weiterkam und beendete die Vernehmung. Im Hinausgehen ließ Schröter eine pampige Bemerkung fallen. Deutlich waren die Worte „Reine Zeitverschwendung“ zu verstehen.

Irgendwann war Romy an der Reihe und betrat den Aufenthaltsraum. An Kaffeekochen war an diesem Tag nicht mehr zu denken. Wiesmann schien ihre Gedanken zu erraten oder ihren verstohlenen Blick in Richtung der Kaffeemaschine bemerkt zu haben.

„Sie können ruhig ein paar Tassen Kaffee kochen. Ich mach einen Moment Pause.“ Verunsichert schaute sie ihn an, beeilte sich dann aber, die Maschine zu füllen. Und bald darauf war das vertraute Röcheln des Kaffeeautomaten zu hören. Romy nahm Wiesmann gegenüber Platz.

„Frau Caralus, Sie sind seit zwei Jahren mit Herrn Schyllbach befreundet.“ Auf ihren irritierten Blick hin ergänzte er: „Woher ich das weiß, spielt keine Rolle. Was wussten Sie über seine Tätigkeiten hier im Unternehmen? Sicher sprach er mit Ihnen auch privat über seine Projekte.“

Doch Romy schüttelte den Kopf. „Wir unterhielten uns kaum über die Arbeit. Wie ich Ihrem Kollegen bereits sagte, wusste ich nicht, woran er gerade forscht.“ Schweigend wartete sie auf die nächsten Fragen. Nein, viel gemeinsame Zeit hatten sie in den letzten Wochen nicht miteinander verbracht. Ja, natürlich fiel ihr das auf, und sie war darüber etwas enttäuscht, dachte sich aber nichts weiter dabei. Und nein, sie hatte dieser Tage keine Auffälligkeiten bemerkt, weder in seinem Verhalten noch in den dienstlichen Aktivitäten. Aber sie sei überzeugt, dass er sich nichts zu Schulden kommen ließ.

Wiesmann war unzufrieden, die Vernehmung hätte er sich sparen können. Es war ja klar, dass die Dame ihren Liebsten nicht gerade belasten würde, waren seine Gedanken. Trotzdem glaubte er, in ihrem Verhalten eine Widersprüchlichkeit zu bemerken, etwas Unbestimmtes, das der Situation nicht ganz entsprach. Er kam nicht darauf, was es sein könnte.

„Danke, das wär’s im Moment. Halten Sie sich aber bitte für weitere Fragen zur Verfügung.“ Erleichtert erhob sie sich und ging zur Tür. „Ach, Frau Caralus ...“ Erschrocken drehte sie sich um. „Der Kaffee!“

Zum ersten Mal sah sie ihn lächeln. Eilig nahm sie die Kanne, stellte Untertassen und Tassen auf ein Tablett und goss auch für ihn ein.

„Nehmen Sie Milch dazu?“

„Ohne.“ Romy brachte ihm den Kaffee und verließ mit Kanne und Tablett dann rasch den Raum. Wiesmann nahm einen Schluck und sah seine Notizen durch. Bei Schröter blieb er hängen. Jetzt, da der Chef in Untersuchungshaft saß, würde er die Geschäfte leiten, und wahrscheinlich fiele ihm das nicht leicht. Im Gegensatz zu dem geschmeidigen und eloquenten Schyllbach wirkte er rüde und poltrig. Wie würde er auf potentielle Geschäftspartner zugehen? Hatte er auch eine angenehmere Seite? Eine verbindlichere? Vermutlich war er Oliver Schyllbach in vielerlei Hinsicht unterlegen und von ihm abhängig. Dieser hatte das Unternehmen aufgebaut und geführt. Und irgendwie passte das Delikt nicht so recht zu dessen Persönlichkeit. Etwas an der Sache war unstimmig. Wiesmann trank den Rest seines Kaffees aus. Dabei kam ihm eine neue Erkenntnis: Er wusste jetzt, warum ihm Frau Caralus’ Verhalten seltsam vorkam. Sie schien von der Festnahme ihres Freundes in gewisser Weise unberührt. Der Umstand, dass er schwer belastet wurde, hatte sie augenscheinlich nicht erschüttert. Oder sie hatte sich gut im Griff. Unterschwellig war sie nervös. Und es war nicht auszuschließen, dass Schyllbach Romy Caralus entgegen seiner und ihrer Aussage in die Entwicklung der Droge einbezogen hatte. Wiesmann hielt das sogar für sehr wahrscheinlich.

Vom langen Sitzen schmerzte ihm der Rücken, er stand auf und lief ein wenig umher. Dabei kam ihm der Gedanke, dass die andere Mitarbeiterin, Frau Lisa Volkert, wesentlich verstörter auf ihn wirkte, als Frau Caralus selbst. Er hatte den Eindruck, als sei sie ständig auf der Hut, wie auf dem Sprung. In ihren Aussagen blieb sie vorsichtig und zurückhaltend. Wusste sie etwas über das Projekt LoWei Plus, dass sie zu verheimlichen suchte? An dieser Stelle würde er noch einmal nachhaken. Ganz im Gegensatz zu Frau Volkert gab sich die pummelige junge Frau mit dem Pferdeschwanz aufgeschlossen und kooperativ. Von ihr hatte Wiesmann denn auch erfahren, dass Romy Caralus und Oliver Schyllbach ein Paar waren. Diese Auskunft rutschte ihr vermutlich versehentlich heraus. Auf jeden Fall schwieg Henriette Schönherr daraufhin betreten. Aber nicht lange, ihr Mitteilungsdrang überwog. So wusste sie auch zu berichten, dass es in den letzten Wochen einen erhöhten Bedarf an Laborverbrauchsmaterial gab. Die Quelle, woher sie diese Information hatte, sei ihr angeblich entfallen.

Wiesmann nahm wieder Platz und schaute in seine Unterlagen. Bisher hatten ihm die Vernehmungen wenig gebracht. Schyllbach saß mittlerweile in Untersuchungshaft. Und er blieb hartnäckig bei der Version, von dem Verkauf nichts gewusst zu haben. Klar, so hatte ihn sein Anwalt instruiert. In Wiesmanns Augen sah die Lage für ihn so bescheiden aus, dass seiner Ansicht nach nur ein Geständnis infrage käme. Alle Indizien sprachen gegen ihn. Trotzdem blieben Zweifel. Sollte Oliver Schyllbach, wie er steif und fest behauptete, die Ampullen nicht selbst aus der Box genommen und verkauft haben, sähe die Sache schon anders aus. Dann hätte er einen gefährlichen Widersacher. Es gäbe jemanden in seinem Unternehmen, der ihn komplett ruinieren und ausschalten wollte. Die anonyme Anzeige sprach dafür. Plötzlich kam Wiesmann ein neuer Gedanke. Könnte es sein, dass dieser ominöse Herr Dr. Lohmann, wenn er tatsächlich existierte, in Wahrheit kein Interessent, sondern ein Konkurrent war und die Absicht hatte, dem Unternehmen zu schaden? Oliver Schyllbachs erste Reaktion war ja die Bemerkung, dass es Neider gäbe. Merkwürdig war, dass sich im E-Mail-Verkehr keinerlei Hinweise zu dem Vorgang LoWei Plus und zu Lohmann finden ließen. Wiesmann riss sich aus seinen Überlegungen und sah auf die Uhr, er musste weitermachen. Wen hatte er noch nicht vernommen? Frau Dr. Hellwig. Sein Kollege hatte ihm bereits von dieser eigensinnigen Dame berichtet. Wiesmann grinste. Es wäre doch gelacht, wenn er mit ihr nicht zurechtkäme. Wesentlich unangenehmer waren ihm allzu beflissene, übereifrige Zeugen. Mit ihnen konnte er wenig anfangen, sie nervten ihn einfach.

Er rief im Sekretariat an: „Schicken Sie Frau Dr. Hellwig zu mir.“ Frau Brandners spitzes „Wie Sie wünschen“ hörte er nicht mehr, er hatte bereits aufgelegt. Wiesmann setzte sich zurecht. Wenn die Dame das Zimmer betrat, würde er, den Blick auf seine Unterlagen gerichtet, nur kurz aufschauen und ihr mit einer knappen Geste einen Platz zuweisen. Gleich zu Beginn sollte Frau Dr. Hellwig zu spüren bekommen, wer hier das Sagen hatte. Er wartete und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf der Tischplatte. Mensch, wie lange dauerte das denn! Es klopfte. Na endlich. Frau Brandner betrat den Raum.

„Frau Dr. Hellwig lässt ausrichten, dass sie mitten in einer Messreihe steckt und den Versuch unmöglich abbrechen kann. So ungefähr in einer dreiviertel Stunde wäre sie bereit.“

Innerlich kochte Wiesmann. Diese Abfuhr war eindeutig ein Affront! Resolut packte er seine Sachen zusammen und bekundete: „Ich kann nicht länger warten. Sie soll morgen punkt neun Uhr im Kommissariat erscheinen. Sagen Sie ihr das. Es ist eine Vorladung!“ Er griff nach seiner Jacke und verließ aufgebracht den Raum und wenige Augenblicke später das Gebäude.

 

Am darauffolgenden Tag lief fast alles wie gewohnt weiter. Doch Kleinigkeiten deuteten darauf hin, dass die Situation äußerst angespannt war. Romy hatte den Eindruck, dass sich alle aus dem Weg gingen. Es wurde kaum ein privates Wort gewechselt. In der Kaffeepause setzte sie sich zu Lisa. Beide schwiegen.

Schließlich meinte Romy bedrückt: „Die Stimmung ist hier zurzeit echt mies, findest du das nicht auch?“

Lisa sah nicht einmal auf. „Was hast du denn erwartet? Irgendjemand hat die Anzeige erstattet und keiner weiß, wer es gewesen ist.“

„Stimmt. Und du hast sicher auch in der Presse gelesen, was über das Kollaps geschrieben wird. Von einem Drogenskandal ist die Rede! Und wenn ich den ungehobelten verschrobenen Schröter sehe, kann ich mir kaum vorstellen, wie er den Laden hier schmeißen will.“

Lisa zuckte nur mit den Schultern. Dann fragte sie unvermittelt: „Wie geht es jetzt eigentlich mit Oliver und dir weiter? Wirst du dich von ihm trennen?“

„Ich weiß einfach nicht, was jetzt mit uns beiden werden soll“, meinte sie ausweichend. Wieder folgte ein Schweigen. Um es zu beenden und auf ein anderes Thema zu kommen, fragte Romy: „Wo steckt eigentlich die Hellwig? Ich habe sie heute noch gar nicht gesehen. Hat sie frei?“

„Keine Ahnung. Ich vermisse sie nicht.“ Abrupt stand Lisa auf und stellte ihre Kaffeetasse in die Spüle.

Romy fiel die ungewöhnliche Wortkargheit ihrer Kollegin auf; sie unternahm einen letzten Versuch, das Gespräch in Gang zu halten. „Vielleicht hat Wiesmann sie ja ins Kommissariat vorgeladen, und sie kommt deshalb vorher gar nicht erst hier vorbei.“

„Schon möglich.“

 

Und so war es denn auch. Wiesmann saß in seinem Dienstzimmer im Kommissariat und schaute auf die Uhr. Es war bereits nach um neun. Gerade, als er wutentbrannt über mögliche weitere Maßnahmen nachdachte, kam ein Mitarbeiter herein und meldete, dass Frau Dr. Hellwig jetzt da sei.

„Richten Sie ihr aus, dass ich noch mindestens eine Viertelstunde beschäftigt bin. Ich rufe Sie an, wenn ich fertig bin.“ Er lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück. So, jetzt würde er die Dame erst einmal warten lassen.

Die Viertelstunde könnte er normalerweise problemlos überbrücken, aber im Moment fühlte er sich neben der Spur. Gedankenverloren trat er ans Fenster und schaute hinaus. Nach drei Minuten sah er wieder auf die Uhr. Doch er war noch nicht bereit, sie hereinrufen zu lassen. Jetzt sollte sie warten. Er ging zurück zum Schreibtisch und überflog noch einmal die Unterlagen. Frau Dr. Petra Hellwig, fünfundvierzig Jahre alt, ledig, Promotion an der Freien Universität Berlin, seit knapp acht Jahren bei Schyllbach & Co. Labs beschäftigt. Demnach war sie schon kurz nach der Unternehmensgründung mit hinzugekommen. Doch offensichtlich hatte Schyllbach nie erwogen, sie in die Geschäftsleitung mit einzubeziehen. Und soweit Wiesmann informiert war, hatte Frau Dr. Hellwig bisher weder ein separates Labor noch die Freiheiten und zeitlichen Möglichkeiten, über die Routineuntersuchungen hinaus an eigenständigen Projekten zu forschen. Schyllbach selber hatte bei der Vernehmung betont, dass ihm die Zufriedenheit der Mitarbeiter am Herzen läge. Angenommen, Frau Hellwig war nicht zufrieden, so könnte diese Frustration möglicherweise ein Grund sein … In dem Moment klopfte es energisch an der Tür, und ohne auf ein „Herein“ zu warten, trat eine resolute rothaarige Frau ins Zimmer.

„Sie hatten mich für Punkt neun Uhr bestellt, und jetzt ist es zwanzig nach neun!“

Wiesmann blieb äußerlich gelassen. So, wie er es sich vorgenommen hatte, wies er ihr mit einer knappen Geste einen Stuhl zu. Er konnte froh darüber sein, dass er in dem Moment, als sie unangekündigt hereinplatzte, nicht gerade müßig am Fenster stand. Wie war es ihr eigentlich gelungen, an seinem Mitarbeiter vorbei zu ihm vorzudringen? Mit strengem Blick begann er die Vernehmung.

„Sie sind seit nunmehr fast acht Jahren bei Schyllbach & Co. Labs beschäftigt.“

„So ist es.“

„Sind Sie mit Ihrer Tätigkeit in dem Unternehmen zufrieden?“

„Wenn nicht, hätte ich mir was anderes gesucht.“

„Nun, das ist ja nicht unbedingt eine Sache des Wollens, sondern auch der Möglichkeiten“, warf Wiesmann ein.

„Ich hätte etwas gefunden.“

„Wie kam es zu der Zusammenarbeit zwischen Herrn Schyllbach und Ihnen?“

„Ich hatte mich beworben.“

„Schon klar, ich meinte, kannten Sie Herrn Schyllbach vorher persönlich?“

„Ja.“

Wiesmanns Geduld schien erschöpft. In sarkastischem Ton forderte er: „Ich möchte Ihren Redefluss ja nur ungern unterbrechen, aber könnten Sie das etwas ausführlicher erläutern, zum Beispiel woher Sie ihn kennen, ob Sie mit ihm befreundet sind usw. Es hält nur unnötig auf, wenn ich Ihnen alles aus der Nase ziehen muss. Sie haben es doch so eilig, oder?“ Er glaubte, einen amüsierten Zug um ihre Mundwinkel zu erkennen. Eigentlich sah sie gar nicht übel aus, er fand sie sogar recht attraktiv; die sportliche Figur und ihre herbe Ausstrahlung sprachen ihn an. Sein Kollege hatte allerdings untertrieben. Sie schien nicht nur eigensinnig, sondern regelrecht starrköpfig zu sein.

Unwillig erklärte sie: „Oliver Schyllbach und ich waren im gleichen Studienjahr; und nein, wir sind nicht befreundet.“

„Wann bemerkten Sie zum ersten Mal, dass Herr Schyllbach nebenher noch etwas anderes, illegales betrieb?“

„Ich habe nicht behauptet, dass ich etwas bemerkt hätte“, stellte sie klar.

„Stimmt, das haben Sie nicht gesagt. Aber Sie müssen es vermutet haben. Spätestens bei der Entgegennahme der Lieferung.“ Frau Hellwig sah ihn mit eisigem Blick an und schwieg. „Halten Sie es für möglich, dass nebenbei und völlig unbeabsichtigt bei der Herstellung eines Mittels zur Gewichtsreduktion ein Rauschmittel entstehen kann?“

„Durchaus.“ Dann schwieg sie wieder.

„Nun, unsere Spezialisten sind da anderer Meinung.“

„Warum fragen Sie dann mich?“

„Ich wollte Ihre Meinung dazu hören.“

„Und testen, wie glaubwürdig ich als Zeugin bin?“ Wiesmann gab keine Antwort darauf. Nach zwei, drei Sekunden hakte sie nach: „Sie halten mich für unglaubwürdig.“

„Na endlich kommt mal so was ähnliches wie ein Dialog zustande.“ Er grinste und fuhr fort: „Ihre Aussage, dass Sie eine unbeabsichtigte Nebenwirkung dieser Art für möglich halten, ist zumindest anfechtbar. Ihnen als promovierter Pharmazeutin nehme ich das einfach nicht ab.“

„Es ist nicht mein Fachgebiet.“

„Warum haben Sie dann nicht mit einem schlichten Ich weiß es nicht geantwortet?“

„Ich weiß es nicht.“

Wieder musste er grinsen. Dann fragte er fast beiläufig: „Wissen Sie, was ich annehme?“

„Woher soll ich das wissen?“ Seinem forschenden Blick hielt sie stand.

„Richtig, woher sollen Sie das wissen. Aber ich schätze Sie als intelligent genug ein, um selber Schlüsse zu ziehen.“ Wieder entstand eine kurze Pause, bevor Wiesmann fortfuhr: „Ich wage die Behauptung, dass Sie spätestens bei der Lieferung der ungewöhnlichen Reagenzien den Braten gerochen haben. Sie sprachen Herrn Schyllbach daraufhin an und schlugen ihm dann einen Deal vor. Sie verlangten, dass er Sie mit einbeziehe und an dem Gewinn beteilige, und als er das ablehnte, zeigten Sie ihn an.“

Jetzt zumindest schien Frau Dr. Hellwig für einen Augenblick fassungslos. „Wie kommen Sie auf diese abwegige Idee?!“

„Das habe ich Ihnen doch gerade erklärt. Und ich halte sie keineswegs für abwegig. Stammt die Anzeige von Ihnen?“

„Nein.“

„Frau Dr. Hellwig, Sie wissen, dass eine anonyme Anzeige nicht strafbar ist. Also noch einmal: Haben Sie das Schreiben an die Staatsanwaltschaft geschickt?“ Wiesmann beugte sich leicht vor und verschränkte die Arme auf der Schreibtischplatte. Er sah sie direkt an und schaute in grüne, kühlblickende Augen.

„Die Anzeige ist nicht von mir“, beharrte sie.

„Wer könnte Schyllbach dann Ihrer Meinung nach angezeigt haben?“

„Es könnte jeder im Unternehmen gewesen sein.“

„Nein, nicht jeder. Es muss jemand gewesen sein, der entsprechendes Fachwissen und etwas gegen Herrn Schyllbach hat. Noch einmal zu meiner Frage: Wer von den anderen Mitarbeitern könnte aus Ihrer Sicht die Anzeige erstattet haben?“

„Woher soll ich das wissen? Und da Sie mich ohnehin für unglaubwürdig halten, ist meine Antwort auf Ihre Frage irrelevant.“

Die Dame war noch schwieriger, als Wiesmann sich das vorgestellt hatte. Erbost bekundete er: „Danke, die Befragung ist aus meiner Sicht beendet. Sie können gehen.“ Sofort erhob sie sich und verließ grußlos den Raum.

Ein paar Minuten lang saß Wiesmann reglos da. Wie war es möglich, dass die Vernehmung so daneben ging? Was lief schief? Klar, er hatte sie absichtlich warten lassen und später mit seiner Behauptung, sie hätte Schyllbach angezeigt, unangemessen provoziert. Aber mit ihren unwilligen und wenig hilfreichen Antworten hatte sie ihn einfach zur Weißglut gebracht. So etwas durfte ihm nicht noch einmal passieren.

In dem Moment kam sein Mitarbeiter herein. „Herr Kriminalhauptkommissar, Sie wollten mich nach einer Viertelstunde anrufen. Die ist jetzt schon lange um. Und die Zeugin Frau Dr. Hellwig ist offensichtlich nicht mehr da.“

Wiesmann winkte müde ab. „Danke, die Sache hat sich erledigt.“

 

6. Freundinnen

Gegen Feierabend packte Romy ihre Sachen zusammen und holte die Jacke aus dem Schrank. Wie gern würde sie jetzt mit einer vertrauten Person über ihre Situation reden, über ihre Enttäuschung und Ängste. Aber im Kollaps gab es zurzeit niemanden, mit dem sie sprechen konnte, weder mit Lisa noch mit Henriette. Keiner von beiden würde sie anvertrauen, dass Oliver sie betrog. So war es eine willkommene Überraschung, als Anne anrief.

„Du, was ist denn bei euch los! Ich habe es in der Zeitung gelesen. Wollen wir uns heute Abend treffen?“

„Sehr gerne, Anne, aber unter einer Bedingung: Die Themen Drogenskandal und Oliver werden nicht länger als fünf Minuten besprochen. Ich bin es so leid! Wie wäre es, wenn du heute Abend auf ein Glas Wein zu mir kämest?“ Sie nannte Anne ihre Adresse.

„Um Himmelswillen, wo liegt das denn? In dem Stadtteil kenne ich mich absolut nicht aus.“

„Pass auf, wir machen einen zentralen Treff aus, und ich nehme dich auf der Heimfahrt mit dem Auto mit. Ich fahre jetzt gleich los.“

 

Eine Stunde später saßen sich die beiden Freundinnen in Romys Wohnung gegenüber.

„Tut mir leid“, begann Anne, „ich wollte mich eigentlich schon viel früher bei dir melden. Aber du weißt ja, wie das ist. Die Zeit vergeht so rasend schnell, und bei mir war auch immer etwas los.“

Wieder einmal nahm Romy wahr, wie attraktiv ihre ehemalige Schulfreundin war. Das dunkle, leicht gelockte Haar trug sie halblang, und es sah immer ein wenig zerzaust aus. Wenn sie lachte, und Anne lachte oft und laut und herzlich, schüttelte sie dabei übermütig ihre Locken. In einem reizvollen Kontrast zu dem dunklen Haar standen ihre blaugrauen Augen. Sicher ein Erbe ihrer irischen Großmutter, meinte Anne einmal im Spaß.

Das alles betrachtete Romy ohne Neid. Die beiden Schulfreundinnen fielen durch ihr ziemlich gegensätzliches Äußeres auf. Anne war groß und schlank, Romy hingegen eher zierlich. Sie hatte lange blonde Haare; und ungewöhnlich hierzu waren ihre braunen Augen – Augen wie dunkler Bernstein. Im Scherz meinten ihre Mitschüler damals, dass die beiden Freundinnen sie wohl vertauscht hätten.

Jetzt saß Anne ihr also gegenüber, und Romy war glücklich. „Ich hatte mich wirklich riesig gefreut, als wir uns zufällig trafen. Erzähl erst einmal, was du so getrieben hast.“ Und Anne berichtete, wie sie die letzten Wochen verbracht hatte, von ihren Sorgen im Verlag und erwähnte beiläufig, dass sie sich verliebt hätte.

Romy stichelte sofort: „Typisch, Anne und die Männer! Sag mal ehrlich: Wie viele hast du in deinem Leben schon unglücklich gemacht?“

Aber Anne lachte nur: „Keine Ahnung. Ich würde es dir auch nicht verraten.“

Doch Romy gab sich nicht zufrieden. „Erzähl schon: Sieht er gut aus? Wo hast du ihn kennengelernt? Ist es etwas Ernstes?“

„Ach Romy, so viele Fragen. Nur so viel dazu: Unterdessen bin ich schon wieder solo.“

Anne sah nicht glücklich dabei aus, und Romy schlussfolgerte: „Aha. Die Sache hat also einen Haken.“ Als Anne nickte, bohrte sie weiter. „Und der wäre?“

Nach einem kurzen Schweigen rückte sie damit heraus: „Er ist nicht mehr frei.“

„Dacht ich’s mir doch. Aber eigentlich bist du doch nicht der Typ, der so leicht aufgibt.“

„Stimmt, aber diesmal habe ich keine Chance.“

„Ist er verheiratet? Hat er Familie?“ Gleich darauf bereute sie ihre indiskrete Fragerei. Denn Anne schien mit den Tränen zu kämpfen. Doch nach ein paar Augenblicken schüttelte sie alle düsteren Gedanken ab.

„Egal, vergiss jetzt meinen blöden Liebeskummer, Romy, und erzähl mal, wie bei euch der Stand der Dinge ist, und vor allem, wie es dir geht. Das muss dich ja alles unheimlich mitgenommen haben. Hattest du eigentlich einen Verdacht oder sonst etwas in der Richtung vermutet?“ Jetzt war sie es, die ihre Freundin ausfragte. Und als diese bekümmert schwieg, fügte sie schnell hinzu: „Wie versprochen reden wir nicht länger als fünf Minuten darüber.“

Romy seufzte: „Die Ermittler fragten auch, ob ich etwas bemerkt hätte. Schlimmer noch, die denken womöglich, dass ich bei der Herstellung der Droge involviert war. Aber ehrlich, von Olivers heimlichen Aktivitäten habe ich nichts mitbekommen. Allerdings fiel mir in den letzten Wochen auf, dass er viel länger als sonst im Labor arbeitete. Für mich hatte er kaum noch Zeit“, gestand sie leicht verbittert.

„In der Presse las ich etwas von einem anonymen Brief und einer Ampulle, die jemand an die Staatsanwaltschaft geschickt hätte. Hast du eine Ahnung, wer es gewesen sein könnte?“ Romy hob die Schultern und schüttelte ratlos den Kopf. „Komm schon, es muss doch irgendein Indiz, einen Anhaltspunkt geben!“, versuchte Anne, ihre Freundin herauszulocken.

„Wirklich nicht. Ich habe keine Vorstellung darüber, wer so was fertigbringt.“

Nach einem Augenblick des Schweigens meinte Anne leichthin: „Ich kenne dich lange genug, um zu spüren, dass du doch etwas weißt, oder zumindest vermutest.“

Zögerlich rückte Romy dann heraus: „Na gut. Aber das bleibt jetzt bitte unter uns.“ Anne wartete gespannt. Ihren eigenen Kummer schien sie vergessen zu haben. „Dieser Frau Dr. Hellwig trau ich eigentlich alles zu. Ihr gegenüber war ich schon immer misstrauisch. Sie wirkt verbittert und unzufrieden, und sie mag Oliver nicht, da bin ich mir sicher. Das aber nur unter uns. Bei der Vernehmung würde ich so einen unbegründeten Verdacht nie äußern.“

„Selbstverständlich erzähle ich das nicht weiter“, versicherte Anne. „Wem auch, ich kenne doch sowieso niemanden von euch. Aber wie wird es jetzt für dich weitergehen? Liebst du ihn noch? Auch jetzt, nach seinem Betrug?“ Als Romy einen Augenblick mit der Antwort zögerte, wiederholte sie ihre Frage. „Liebst du ihn?“

„Natürlich.“

„Und er, liebt er dich?“

„Mensch Anne, was fragst du denn für Sachen.“ Sie war hin und hergerissen. Nur zu gerne würde sie mit einer ihr vertrauten Person über ihre Enttäuschung reden.

„Ich sehe dir einfach an, dass du mir etwas verheimlichst, dass da noch etwas anderes ist“, hakte ihre Freundin nach.

Romy druckste noch einen Moment herum und entschied sich dann, von der Buchungsbestätigung des Wellnesshotels, die sie auf Olivers Schreibtisch gefunden hatte, zu erzählen. Fast entschuldigend fügte sie hinzu: „Normalerweise gehe ich nicht allein in seine Wohnung, aber was blieb mir anderes übrig?“

„Verstehe. Und da hatte er die Unterlagen einfach so offen liegengelassen? Das finde ich leichtsinnig und blöd von ihm. Ich meine, wenn er dich schon mit einer anderen betrügt, dann hat er es reichlich ungeschickt angestellt.“ Romy sah ihre Freundin betroffen an, mit dieser Sichtweise hatte sie nicht gerechnet. Und Anne beeilte sich, zu erklären: „Entschuldige, Romy. Nicht gerade feinfühlig von mir. Aber glaube mir, die Kerle sind es alle nicht wert, dass man ihnen lange nachtrauert.“ Um Annes Mund lag jetzt ein harter Zug.

„Wie lange bist du jetzt eigentlich schon geschieden?“, wollte Romy wissen.

„Fast drei Jahre. Aber das ist immer noch ein schwieriges Thema für mich. Glaub mir, in der Zeit habe ich einiges durchgemacht.“ Mit einer wegwerfenden Geste schob sie die Erinnerungen beiseite. „Vorbei ist vorbei. Vergessen wir’s!“ Dann fragte sie unvermittelt: „Hast du der Kripo eigentlich von der Buchungsbestätigung erzählt?“

„Ich bin doch nicht blöd! Dann würde dieser Wiesmann wohl gleich annehmen, dass die Anzeige von mir käme.“

„Und, warst du’s?“

Einen Augenblick lang starrte Romy ihre Freundin ungläubig an. „Das ist jetzt nicht dein Ernst!“

„Nein, natürlich nicht.“ Aber zu Romys Verblüffung gestand sie gleich darauf: „Das ist wohl der Unterschied zwischen uns beiden. Ich hätte es wahrscheinlich getan.“ Und mit einem bitteren Lächeln fügte sie hinzu: „Ich war schon immer impulsiver als du. Aus Eifersucht wäre ich wohl zu einigem fähig, was ich später dann bereuen würde.“

Romy seufzte und bat: „Versprich mir, niemandem, wirklich niemandem von dieser verdammten Buchungsbestätigung zu erzählen!“

Mit ihren wachen blaugrauen Augen schaute Anne ihre Freundin nachdenklich an. „Von mir wird keine Menschenseele etwas davon erfahren. Ich befürchte allerdings, dass dir die Sache irgendwann selber rausrutscht. Vielleicht mal gegenüber einer Kollegin oder schlimmer noch, bei einer Vernehmung.“ Als Romy widersprechen wollte, fügte sie hinzu: „Aber mit Sicherheit hat die Kripo seine Wohnung durchsucht und die Buchungsbestätigung gefunden.“

„Nein, ich habe sie mitgenommen und zu Hause zerrissen.“

„Dann ist’s ja gut. Warum bist du ihm eigentlich an dem Wochenende nicht nachgereist und hast ihn zur Rede gestellt?“

„Ich war hin und hergerissen. Aber schließlich dachte ich mir, wozu Geld ausgeben und Nerven lassen, wenn doch am Ende sowieso nichts dabei rauskommt.“

Anne schaute sie verständnislos an. „Mensch, Romy, du hättest das Luder, das ihn dir wegschnappen will, kennenlernen und vielleicht eure Beziehung retten können!“

Romy zuckte mit den Schultern. „Da reagieren wir wirklich grundverschieden, Anne. Aber sagtest du nicht selbst vorhin: Die Kerle sind es nicht wert, dass man ihnen lange nachtrauert?“

Doch sie entgegnete mit Nachdruck: „Wenn es der Richtige ist, lohnt es sich auf jeden Fall zu kämpfen.“ Dann räumte sie ein: „Aber natürlich nur, wenn es eine Chance gibt. Vielleicht ist er ja auch nicht der Richtige für dich?“

Wieder hob Romy die Schultern. „Ich weiß es einfach nicht. Wechseln wir doch einfach das Thema. Und außerdem sind die eingeräumten fünf Minuten längst um“, fügte sie mit einem schiefen Lächeln hinzu.

Sie erzählten noch ein wenig aus vergangenen Tagen, aus ihrer Schulzeit und von ehemaligen Schulkameraden. Nach zwei Stunden verabschiedete Anne sich, und Romy fühlte sich deutlich besser als die Tage zuvor. Es tat ihr einfach gut, mit ihrer Freundin zu reden. Sie war spontan und nahm auch bei heiklen Themen kein Blatt vor den Mund.

 

7. Erste Anzeichen

Die Tage im Kollaps vergingen, ohne dass etwas Bemerkenswertes geschah. Hauptkommissar Wiesmann tauchte nicht nochmal auf, und so nach und nach kehrte ein Stück Normalität zurück. Von Schröter sahen die Mitarbeiter nicht viel. Manchmal stand er plötzlich im Labor, gab seine Anweisungen und verschwand gleich wieder. Allen war es recht, wenn sie so wenig wie möglich von ihm mitbekamen.

Romy hatte ihre Messreihen abgeschlossen und wertete die Daten aus. Aber mit ihren Gedanken war sie nicht so recht bei der Sache. Sie dachte an Oliver. Wie mochte es ihm jetzt gehen? Ob er von ihr erwartete, dass sie ihn besuchte? Durfte sie ihn während der Untersuchungshaft überhaupt sprechen? Sie rief Wiesmann an und erkundigte sich.

„Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, Frau Caralus. Bei dem derzeitigen Ermittlungsstand ist ein Besuch momentan nicht gestattet.“ Damit wäre die Sache also erledigt. Und sie hatte ihn schon richtig verstanden. Ein Kontakt zwischen dem mutmaßlichen Täter und ihr war untersagt. Romy schloss daraus, dass Wiesmann ihr nach wie vor eine Beteiligung bei der Herstellung und dem Verkauf der Droge unterstellte. Doch im Grunde genommen war sie erleichtert, Oliver nicht sehen zu müssen. Sie wüsste momentan nicht, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollte.

Und wieder kam ihr Annes forschender Blick in den Sinn, als sie fragte, ob sie ihn noch liebe.

Im Kollaps hatten sich alle ein wenig verändert. Am auffälligsten war, dass Frau Dr. Hellwig etwas umgänglicher wurde. Sie wirkte merklich freundlicher als sonst, manchmal lächelte sie sogar, und sie hatte sich ein wenig „aufgehübscht“, wie Lisa es nennen würde. Frau Hellwig trug die Haare nicht mehr ganz so kurz, sie waren in einem brillanteren Rotton gefärbt, und die Lippen hatte sie dezent geschminkt. Der harte Zug um ihre Mundwinkel schien gemildert.

Anders war es bei Lisa. Zweimal hatte Romy sie angesprochen und gefragt, ob es ein Problem gäbe. Aber Lisa verneinte und gab sich befremdet über diese Frage. Romy spürte förmlich, wie der Kontakt zu ihr langsam entglitt.

Da blieb noch Henriette. Sie verhielt sich fast wie immer. Romy bemerkte, dass die etwas dickliche und unbeholfene Kollegin sich so nach und nach figürlich veränderte. Statt der Schlamper-T-Shirts trug sie jetzt häufiger figurbetonte Blusen und engere Jeans. Ihr Laborkittel war mindestens eine Größe kleiner als zuvor. Romy machte ihr ein Kompliment und fragte, wie sie das geschafft hätte.

Verlegen wehrte Henriette ab: „Der Stress der letzten Wochen hat wohl allen etwas zugesetzt. Aber in jedem Übel liegt auch etwas Gutes. Sorgen sind wohl die beste Diät!“ Doch sie wirkte keineswegs besorgt, im Gegenteil, sie schien in Vorfreude auf ein schönes Ereignis zu sein.

 

 

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Wie geht man mit einer solch großen Menge Bargeld um? Ewig konnte sie nicht von Barzahlungen leben. Es würde auffallen, wenn es kaum noch Kontobewegungen gäbe. Vorerst wagte sie auch nicht, das Geld anzulegen. Garantiert ließ Wiesmann die Vermögen und Konten aller Mitarbeiter prüfen. Sicher wäre es möglich, sich jetzt ein paar Annehmlichkeiten zu leisten, zum Beispiel Designerstücke und Schmuck zu kaufen, oder auch eine Reise zu buchen. Aber eine Eigentumswohnung oder Wertgegenstände wie Gemälde und Goldbarren bezahlte man üblicherweise per Überweisung. Sie brauchte demzufolge ein Nummernkonto im Ausland. Bis jetzt hatte sie keinerlei Vorstellung davon, wie sie das anstellen könnte. Vorerst musste sie einen Weg finden, die Scheine legal auf ein normales Bankkonto in Deutschland einzuzahlen.

 

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Am nächsten Morgen schaute Frau Brandner ins Labor. „Nur zu Ihrer Information: Frau Volkert hat sich krankgemeldet.“

Romy sah Henriette betroffen an: „Ich hab’s doch geahnt. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr. Sie verhielt sich in letzter Zeit so merkwürdig und hat kaum noch mit mir geredet. Hast du das auch bemerkt?“

Doch Henriette hob gleichgültig die Schultern. „Mir ist ehrlich gesagt nichts aufgefallen.“

Natürlich nicht. Sie war offensichtlich mit sich selbst beschäftigt.

Der Arbeitstag zog sich endlos dahin, und Romy war froh, als er vorüber war und sie weder Schröter noch Frau Hellwig zu Gesicht bekam. Müde und abgespannt kam sie am frühen Abend zu Hause an, schaute in den Briefkasten und stieg die Treppe hoch. Noch im Hinaufgehen sah sie schnell die Post durch. Es war nichts Aufregendes dabei und glücklicherweise auch keine Vorladung ins Kommissariat. Sie schloss die Wohnungstür auf, stellte die Tasche ab und hängte ihre Jacke an die Garderobe. Wie fast jedes Mal trat sie dabei auf die quietschende Holzdiele im Flur. Zusammen mit der tiefer knarzenden Leiste vor ihrer Spüle in der Küche ergab es eine Terz. Oliver und sie hatten sich so manches Mal den Spaß erlaubt, im Wechsel auf die Diele vor der Garderobe und der Küchenspüle zu treten, Oliver im Flur und Romy in der Küche. Den ersten Takt von „Hänschen klein“ bekamen sie hin: Quietsch, Knarz, Knarz, – Flur, Küche, Küche. Aber das war nun lange her. Und würde wohl auch nie mehr geschehen.

Romy ersparte sich den Blick in den Garderobenspiegel. Ihre Augenringe waren unübersehbar; sie schlief unruhig und fühlte sich im Kollaps nicht mehr wohl. So absurd es auch war: Oliver fehlte ihr.

Sie schaute in Richtung Küche und stutzte. Wieso war die Küchentür geschlossen? Romy war sicher, dass sie diese wie immer am Morgen offengelassen hatte. Wahrscheinlich hatte sie diesmal die Tür unbewusst und gegen ihre sonstige Gewohnheit geschlossen. Sie verschwendete keinen weiteren Gedanken daran und trat in die Küche, um sich einen Tee zu kochen. Wieder kam ihr Lisas verändertes Wesen in den Sinn. Fast verhielt sie sich so wie damals, als sie von dem Verhältnis zwischen Oliver und Romy erfuhr. Doch was könnte jetzt der Grund für ihr abweisendes Verhalten sein? Nahm sie an, Romy verheimliche etwas und wüsste mehr zu der ganzen Angelegenheit?

Romy seufzte. Sie befürchtete, dass ihre Freundschaft unter der derzeit angespannten Lage zerbrechen würde. Aber vielleicht bildete sie sich das alles auch nur ein. Lisa war krankgeschrieben, hatte gesundheitliche Probleme und wollte offensichtlich mit niemandem darüber sprechen. Auch nicht mit ihrer nächsten Kollegin. Ja, das war sicher der eigentliche Grund für ihre Zurückhaltung.

Auf diese Weise versuchte Romy, ihre Verlustängste zu verdrängen.

Später zum Abendessen setzte sie sich mit einem Teller belegter Brote vor den Fernseher. Als sie auf dem Sofa saß und die Fernbedienung in Richtung des Gerätes richtete, sah sie es: Die Schublade der kleinen Konsole stand einen Spalt weit offen.

Wann hatte sie zuletzt etwas darin gesucht? Auf keinen Fall gestern, auch nicht in den letzten Tagen. Romys Puls schnellte in die Höhe. Wie von der Tarantel gestochen sprang sie auf. Das konnte nun kein Zufall mehr sein, erst die geschlossene Küchentür und jetzt die aufgezogene Schublade. Es waren Kleinigkeiten, winzige Indizien. Aber sie deuteten darauf hin, dass jemand in ihrer Wohnung war. Hastig schaute sie ins Schlafzimmer und hinter die Tür. Dann steckte sie den Wohnungsschlüssel ins Schloss, drehte ihn zweimal um und legte die Sicherheitskette vor. Plötzlich fühlte sie sich in ihren eigenen vier Wänden nicht mehr sicher. In ihrer Abwesenheit wurden ihre Zimmer durchsucht, davon war sie jetzt überzeugt.

In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken. Die Kripo konnte es nicht gewesen sein. Sie hätten ihr einen Durchsuchungsbefehl vorgelegt und in ihrem Beisein die Räumlichkeiten gesichtet. Sollte sie Wiesmann anrufen? Nein, noch nicht. Sie zwang sich zur Ruhe und goss sich ein Glas Chardonnay ein. Der Wein benebelte bald ihre Sinne und dämpfte die Panik. Sie zweifelte an ihrer Wahrnehmung. Hatte sie die Schublade gestern doch geöffnet? Momentan traute sie sich selbst nicht mehr.

Erst spät ging sie an diesem Abend zu Bett und schreckte bei jedem Geräusch hoch.

 

8. Eine Bedrohung

Wie gerädert wachte Romy am nächsten Morgen auf und schleppte sich in die Küche. Sie fühlte sich nicht wohl. Doch wenn sie jetzt im Kollaps anriefe und sich für den Tag krankmeldete, müsste sie ja tagsüber in ihrer Wohnung bleiben. Und davor hatte sie Angst. Sie nahm ihr Handy und wählte Wiesmanns Nummer im Kommissariat. Er meldete sich nicht. Erst danach schaute sie auf die Uhr und stellte irritiert fest, dass es ja noch nicht einmal um sieben war. Nachdem sie sich angezogen und ein schnelles Frühstück bereitet hatte, fuhr sie bald darauf ins Kollaps. Diesmal würde sie die Erste sein.

 

Frau Brandner kam gerade aus dem Sekretariat und blieb erschrocken stehen. „Frau Caralus! Was machen Sie denn um diese Uhrzeit hier?“ Eine Antwort erwartete sie nicht. Sie eilte in die Küche, holte Wasser und verschwand gleich darauf wieder in ihrem Zimmer. Den Morgenkaffee trank sie nun immer allein. Sie sah auch keinen Sinn mehr darin, sich an den kleinen Besprechungstisch zu setzen. Wozu auch. Oliver Schyllbach war nicht mehr da, und andere Gesellschaft wünschte sie nicht. Ab und an schaute Schröter herein. Er war jetzt der kommissarische Leiter des Unternehmens und somit Frau Brandners unmittelbarer Vorgesetzter. Aber mit Schröter kam sie nicht klar. Er stürmte urplötzlich und unangekündigt herein, knurrte ihr ein paar Anweisungen entgegen oder knallte die Unterlagen und Bestellaufträge auf den Tisch. In der nächsten Sekunde war er wieder verschwunden. Undenkbar für Frau Brandner, ihm einen Kaffee anzubieten. Wovon der Mensch sich überhaupt ernährte, war ihr ein Rätsel. Vielleicht aß er seine Schnitten, ebenso wie sie es tat, allein und nebenbei am Schreibtisch.

Romy zog sich im Dienstzimmer um. Jetzt, da keiner weiter hier war und sie etwas zur Ruhe kam, versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen. Im Nachhinein war sie froh, dass Wiesmann den Anruf nicht entgegengenommen hatte. Sie wollte nicht mehr Aufmerksamkeit als nötig erregen. Ihr Impuls, ihn anzurufen, war eindeutig übereilt. Trotzdem glaubte sie nicht, sich getäuscht zu haben. Und es wäre kein Einbruch im herkömmlichen Sinn, das Schloss zur Wohnungstür war unversehrt. Oliver hatte einen Schlüssel von ihr, aber er saß derzeit in Untersuchungshaft. Weiter kam sie nicht mit ihren Überlegungen, denn Henriette betrat das Zimmer. Sie war auffallend gut gekleidet, trug enge Jeans, eine kurze Lederjacke und Stiefeletten. Ihre Tasche schmiss sie schwungvoll auf den Stuhl und zog die Jacke aus.

Dann kam der Rückruf auf Romys Handy: „Sie wollten mich sprechen?“

Romy hatte nicht damit gerechnet, und es war ihr sichtlich unangenehm. Mit einem Blick in Henriettes Richtung sah sie, dass diese ihren Kittel übergezogen hatte und den Raum verließ.

„Danke für Ihren Rückruf, Herr Wiesmann, aber ich bin mir jetzt gar nicht mehr so sicher, ob es wirklich wichtig ist. Ich kann mich auch geirrt haben“, begann sie etwas umständlich. So panisch sie gestern Abend reagiert hatte, kam ihr doch momentan, seit sie hier im Kollaps war, alles wieder völlig normal vor.

„Vor einer reichlichen Stunde schien Ihnen, was immer Sie auch mitteilen wollten, wichtig genug zu sein, um bei mir anzurufen.“ Wiesmann ließ nicht locker. „Also? Wollen Sie heute mal im Kommissariat vorbeikommen? Sagen wir – so gegen sechzehn Uhr?“ Ihr blieb nichts anderes übrig, als zuzusagen.

Der Tag verging ohne bemerkenswerte Ereignisse. Frau Hellwig verschwand schon am zeitigen Nachmittag in ihrem Dienstzimmer und Schröter hatte sich noch gar nicht blicken lassen. Gegen fünfzehn Uhr wurde Romy nervös.

„Hast du was vor? Du bist so unruhig“, stellte Henriette fest.

„Ach, nichts weiter. Ich hau heute etwas zeitiger ab. Um vier bin ich nochmal mit Wiesmann verabredet.“

Kurz vor halb vier packte Romy ihre Sachen und bemerkte dabei, dass Henriette sie verstohlen beobachtete.

Gleich nachdem Romy sich verabschiedet hatte, zog auch sie sich um und lief, unbemerkt von Frau Brandner, am Sekretariat vorbei. Bald darauf saß Henriette in ihrem Auto. Ihre Laufschuhe hatte sie wie immer in der letzten Zeit im Kofferraum mit dabei, ebenso Jogginghose und -jacke. Meist fuhr sie gleich nach Dienstschluss zu dem Park nahe ihrer Wohnung und joggte eine halbe Stunde. Es kostete sie noch immer einige Überwindung, regelmäßig und mindestens aller zwei Tage zu trainieren. Doch so nach und nach wurde ihre Kondition besser, und sie genoss das neue Körpergefühl. Auch die vier Kilo, die sie unterdessen weniger wog, ließen das Laufen leichter fallen. Aber jetzt, da es herbstlich und ungemütlicher wurde, kam eine neue Schwierigkeit hinzu. Sie musste höllisch aufpassen, um nicht auf den belaubten nassen Wegen auszurutschen. Momentan war ihr jeder Vorwand recht, das Joggen ausfallen zu lassen. So auch heute. Sie parkte ihr Auto in einer Seitenstraße und stieg aus.

 

Wiesmann hatte sie schon erwartet. „Na, Frau Caralus, was gibt’s? Sie hatten heute früh sechs Uhr vierzig versucht, mich zu erreichen.“ Er wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.

Nachdem sie Platz genommen hatte, begann sie etwas verlegen: „Jetzt so im Nachhinein kommt es mir eigentlich albern vor. Aber gestern Abend war ich ziemlich irritiert.“ Romy kam nicht umhin, den Grund ihres Anrufes darzulegen, und betonte abschließend noch einmal: „Aber wie gesagt, ich bin mir jetzt überhaupt nicht mehr sicher, ob ich mich vielleicht doch geirrt habe.“

„Hm, auf jeden Fall war es richtig, die Polizei über Ihren Verdacht zu informieren. Sie sehen demnach einen Zusammenhang zu dem LoWei Plus-Projekt, sonst hätten Sie ja nicht gerade mich angerufen.“

„Der zeitliche Zusammenhang legt diese Vermutung nahe“, gab sie zu. „Und außerdem kenne ich hier niemanden persönlich, nur Sie.“

Wiesmann schaute sie einen Augenblick lang nachdenklich an, dann fragte er interessiert: „Was könnte derjenige bei Ihnen gesucht haben?“

„Das frage ich mich auch die ganze Zeit, aber ich habe dafür keine Erklärung.“

„Ihrer Aussage nach gibt es keine Einbruchspuren. Wie könnte der Täter in die Wohnung gelangt sein?“

Romy zuckte mit den Schultern. „Nur Oliver Schyllbach hat einen Zweitschlüssel zu meiner Wohnung. Aber er sitzt ja in Untersuchungshaft.“

„Wo bewahrt Herr Schyllbach Ihren Schlüssel auf?“

„Das weiß ich ehrlich gesagt nicht. Darüber haben wir nie gesprochen.“

Wiesmann überlegte einen Augenblick, dann entschied er: „Sie gehen jetzt erst einmal in Ruhe nach Hause, schauen sich aufmerksam um und rufen mich sofort an, falls Ihnen wieder etwas auffallen sollte. Ich gebe Ihnen die Nummer meines Diensthandys.“

Das Gespräch mit Wiesmann hatte keine zehn Minuten gedauert. Romy verabschiedete sich und fuhr direkt zu ihrer Wohnung. Noch im Nachhinein ärgerte sie sich, dass sie ihn überhaupt angerufen hatte. Sie hatte nur unnötigerweise seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Doch nun war es einmal geschehen. Alle sinnlosen Grübeleien schob sie beiseite und konzentrierte sich auf den dichter werdenden Berufsverkehr.

Eine Viertelstunde später schloss sie ihre Wohnungstür auf und betrat den kleinen Flur. So zeitig war sie selten zu Hause. Sie stellte ihre Tasche ab und zog die Jacke aus.

Zu spät nahm sie den leichten Geruch und die rasche Bewegung hinter sich wahr. Im nächsten Moment presste ihr jemand einen großen Wattebausch vor Nase und Mund. Augenblicklich verlor sie das Bewusstsein.

 

Schröter war den ganzen Tag unterwegs und kam erst am späten Nachmittag ins Kollaps. Mit zügigen Schritten lief er zum großen Laborraum und riss die Tür auf.

„Ist Frau Hellwig hier?“ Die beiden Mitarbeiter, die noch da waren, sahen erschrocken auf. Nein, hier war sie nicht. Ungehalten und ohne anzuklopfen, öffnete er die Tür zu ihrem Dienstzimmer. Es war leer, auch ihre Jacke hing nicht mehr im Schrank. Der Computer war ausgeschaltet. Merkwürdig, dass Petra Hellwig nicht mehr da war. Sie blieb gewöhnlich immer bis weit nach siebzehn Uhr. Schröter eilte in sein eigenes Zimmer, startete den Computer und las als erstes die E-Mails.

„Das kann ja wohl nicht wahr sein!“, fluchte er. Aber dann besann er sich. Vielleicht war es gar nicht verkehrt, wenn sie einige Zeit nicht hier vor Ort wäre. Die Dame wurde langsam unbequem, und der Urlaub stand ihr gesetzlich zu. Vom vorigen Jahr blieben ihr mindestens zwanzig Tage, die sie noch nicht genommen hatte. Also antwortete er mit „ok.“ Doch ungewöhnlich war es schon, dass Petra Hellwig diesmal gleich zwei Wochen frei nahm.

 

 

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Das Bargeld lag gesichert in einem Schließfach bei der Bank. Auch für die Einzahlung des Geldes auf ein legales Konto hatte sie unterdessen eine Lösung gefunden. Es wäre so eine Art Geldwäsche.

Beim Gewerbeamt gab sie als Nebentätigkeit Lebens- und Gesundheitsberatung an und ließ ein Firmenkonto einrichten. Für eine „Konsultation“ hatte sie sich einen fiktiven Honorarsatz von einhundert Euro erdacht und sorgfältig errechnet, wie viel sie maximal pro Tag und in der Woche einnehmen könnte. Drei Beratungen täglich wären durchaus möglich. Sie nahm sich vor, Zweitausend Euro wöchentlich einzuzahlen, und hoffte, dass dies nicht auffiele. Trotzdem würde es verdammt lange dauern, bis die Gesamtsumme von 1.600.000 Euro auf dem Konto wäre.

 

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9. Motive und Theorien

Romy öffnete die Augen. Ihr war speiübel, und sie hatte Kopfschmerzen. Als sie sich vorsichtig aufrichtete, drehte sich alles um sie herum. Sie legte sich wieder hin. Der Boden unter ihr war hart. Was war eigentlich geschehen? Langsam wandte sie den Kopf zur Seite und sah, dass sie in ihrem Wohnungsflur lag. Wieso war sie ohnmächtig geworden, und wie lange mochte sie hier gelegen haben? Sie entsann sich, dass sie gerade ihre Jacke an die Garderobe hängen wollte. Ja, das war ihre letzte Handlung, bevor sie das Bewusstsein verlor.

Es gelang ihr, sich aufzustützen. Alles war still in der Wohnung. Aber etwas Schlimmes war geschehen.

Nach und nach kehrte die Erinnerung zurück: Sie hatte diese schnelle Bewegung hinter sich und den widerlichen süßlichen Geruch wahrgenommen. Dann war es auch schon geschehen. Innerhalb weniger Sekunden hatte sie das Bewusstsein verloren.

Vorsichtig drehte sie sich auf den Bauch, kniete sich hin und stand mühsam auf. Mit einer Hand hielt sie sich an der Garderobe fest. Zu ihrem erbärmlichen körperlichen Empfinden kam jetzt Panik hinzu. Jemand hatte sie in ihrer eigenen Wohnung überfallen und betäubt. War sie momentan allein in ihren Räumen? Romys Herz raste, sie musste hier raus und sofort Wiesmann anrufen. Aber ihr war übel und noch immer schwindlig. Nach ein paar Augenblicken gelang es ihr, sich einigermaßen zu beruhigen und einen klaren Gedanken zu fassen. Offensichtlich hatte sie den Täter überrascht, weil sie früher als sonst nach Hause kam. Und mit Sicherheit hatte er ihre Wohnung und das Haus längst verlassen. Doch was wäre geschehen, wenn sie sich rechtzeitig umgedreht und ihn erkannt hätte?

Noch unsicher auf den Beinen tappte sie ins Wohnzimmer und öffnete das Fenster. Gierig sog sie die frische Luft ein und spürte, wie die Übelkeit allmählich schwand. Sie fühlte sich etwas besser und in der Lage, Wiesmanns Nummer einzutippen. Er nahm den Anruf sofort entgegen.

„Bleiben Sie vor Ort. Ich komme mit zwei Kollegen von der Spurensicherung vorbei.“

Eine Viertelstunde später klingelte es. Romy schreckte hoch, aber es konnte nur Wiesmann sein. Trotzdem meldete sie sich durch die Gegensprechanlage mit einem misstrauischen „Ja bitte?“ Kurz darauf traten Wiesmann und zwei weitere Beamten ein.

Die Kollegen von der Spurensicherung begannen, die Wohnung zu untersuchen. In der Zwischenzeit nahmen Wiesmann und Romy im Wohnzimmer Platz, Romy auf der Couch, er im Sessel ihr gegenüber.

„Nun erzählen Sie mal der Reihe nach, was geschehen ist.“ Und Romy schilderte alles so detailliert wie möglich: Den Augenblick, als sie die Wohnung betrat, die Tasche ablegte und die leichte Drehung seitwärts, als sie die Jacke auszog und aufhängen wollte. Dabei nahm sie flüchtig einen Schatten hinter sich wahr, eine rasche Geste. Aber derjenige hatte sich außerhalb ihres Blickfeldes aufgehalten. Im nächsten Moment hatte sie den Wattebausch vor Nase und Mund gespürt. Der süßliche Geruch nahm ihr sofort den Atem, und augenblicklich verlor sie das Bewusstsein. Erinnerlich war ihr nur ein lautes Dröhnen im Kopf. Wie lange sie bewusstlos am Boden gelegen hatte, wusste sie nicht.

Wiesmann unterbrach sie nicht. Zurückgelehnt saß er im Sessel und hörte ihr still zu. Als sie ihre Schilderung beendet hatte, schwieg er noch immer. Verunsichert wartete sie auf eine Reaktion von ihm. Mehr als sein Schweigen irritierte sie der unergründliche Gesichtsausdruck, mit dem er sie ansah.

Unvermittelt fragte er dann: „Sind Sie beim Fallen irgendwo aufgeschlagen? Haben Sie Prellungen vom Sturz?“

Romy schüttelte den Kopf. „Nein, mir war nur übel von dem Betäubungsmittel.“ So langsam hatte sie wieder Farbe bekommen und fühlte sich etwas besser.

„Hm, es ist ja verständlich, dass sie das Fenster zum Lüften geöffnet haben, aber so können wir nicht mehr feststellen, womit man Sie betäubt haben könnte.“ Romy registrierte, dass er den Konjunktiv benutzte. Womöglich glaubte er ihr gar nicht?

„Ich brauchte unbedingt frische Luft …“, begann sie.

Aber er unterbrach sie sofort: „Ich habe Ihnen doch gerade gesagt, dass es verständlich ist, aber es erschwert die Untersuchung.“

Die Spurensicherung war beendet, und die Kollegen nahmen zum späteren Vergleich Romys Fingerabdrücke. Mit Unbehagen ließ sie es geschehen.

„Wir werden heute noch Herrn Schyllbach befragen, wo er den zweiten Schlüssel zu Ihrer Wohnung aufbewahrt. Und Sie wissen wirklich nicht, was derjenige in Ihrer Wohnung gesucht haben könnte?“

„Keine Ahnung. Ich sagte ja bereits, dass ich keine Erklärung dafür habe.“

Wiesmann äußerte jetzt ungehalten: „Aber Sie müssen doch zumindest eine vage Vorstellung haben, warum bei Ihnen nun schon zum zweiten Mal eingebrochen wurde!“ Sie hob hilflos die Schultern. Der ganze Vorfall und Wiesmanns scharfer Ton zerrten an ihren Nerven.

„Vielleicht glaubt derjenige, Oliver hätte mich in das Projekt mit einbezogen, und die Ampullen oder das Geld befänden sich nun bei mir.“

„Und? Hat er Sie einbezogen?“

„Natürlich nicht! Wie ich bereits in der Vernehmung sagte, hatte ich keine Ahnung, womit er sich in den letzten Wochen beschäftigte.“

Keine Ahnung, keine Ahnung ...“, wiederholte er ihre Worte in verächtlichem Tonfall, um gleich darauf schneidend zu bekunden: „Ehrlich gesagt nehme ich Ihnen das nicht ab.“

„So ist es aber wirklich!“, versicherte Romy mit einem Anflug von Verzweiflung.

„Und natürlich haben Sie auch keine Ahnung, wer die anonyme Anzeige erstattet haben könnte! ... Na, nun weinen Sie doch nicht gleich“, lenkte er ein und bemühte sich um einen etwas verbindlicheren Ton.

Romy putzte ihre Nase und erwiderte: „Sie müssen doch verstehen, dass ich erstmal völlig durcheinander bin. Vor nicht mal einer Stunde hat mich jemand in meinen eigenen vier Wänden überfallen. Und jetzt soll ich Ihnen sofort Rede und Antwort stehen. Womöglich glauben Sie mir gar nicht?“

Er bestätigte diese Befürchtung. „Das Wort glauben kommt in meinem Beruf nicht vor. Ohne handfeste Beweise zweifle ich jede Aussage erst einmal an. Aber anderes Thema: Hatten Sie oder Herr Schyllbach Widersacher im Unternehmen? Denken Sie nochmal genau darüber nach.“

Nach ein paar Augenblicken schüttelte sie den Kopf. „Mir ist niemand bekannt, der ihm oder mir schaden wollte.“

„Wie ist aus Ihrer Sicht seine Beziehung zu Herrn Schröter und Frau Hellwig?“

„Die zu Herrn Schröter kann ich nicht einschätzen, aber zu Frau Hellwig hatte er mit Sicherheit kein gutes Verhältnis. Eigentlich hat sie zu niemandem im Unternehmen ein gutes Verhältnis.“

Wiesmann erhob sich schwerfällig aus dem Sessel. „Ich bin sicher, dass es keine weiteren Vorfälle geben wird, Frau Caralus. Lassen Sie trotzdem gleich morgen das Schloss wechseln. Ihre Meldung nehmen wir natürlich sehr ernst und ermitteln in alle Richtungen. Bleiben Sie heute Abend bitte zu Hause und hängen Sie die Sicherheitskette vor. Meine Handy-Nummer haben Sie ja. Morgen werde ich von der Spurensicherung die Auswertung erhalten. Außerdem wird uns Herr Schyllbach bis dahin verraten haben, wo er ihren Zweitschlüssel aufbewahrt.“

Nachdem sich Wiesmann verabschiedet hatte, stand Romy unschlüssig im Flur. In der Wohnung wollte sie nur ungern bleiben. Aber was blieb ihr anderes übrig? Also legte sie die Sicherheitskette vor, schloss ab und tapste in die Küche, um sich einen Tee aufzugießen. Sie fühlte sich noch immer etwas unsicher auf den Beinen. Mit der Tasse in der Hand trat sie auf den kleinen Balkon hinaus. Der Ausblick auf den großen Innenhof mit dem alten Baumbestand gefiel ihr. Jetzt im Herbst waren die Äste schon deutlich gelichtet. Das Restlicht der untergehenden Sonne streifte die verbliebenen ockerfarbenen Blätter und tauchte sie in einen warmen Goldton. Schräg gegenüber zu ihrem eigenen Balkon lag in gleicher Höhe ein Balkon vom Nachbarhaus. Hin und wieder saß ein Mann mittleren Alters dort und rauchte. Er schien alleinstehend zu sein, zumindest sah sie ihn nie in Gesellschaft. Von seiner Position aus konnte er, wenn er den Kopf zur Seite drehte, bequem in ihre Küche schauen. Vermutlich hatte er es schon oft getan.

Bisher hatten beide den Blickkontakt gemieden. Wenn er den Balkon betrat, sah sie schnell weg. Ebenso schaute er nur kurz in ihre Richtung. Wie natürlich wäre es, sich über die knapp zwanzig Meter Luftlinie hinweg zu grüßen oder zumindest zuzunicken. Manchmal bemerkte sie spätabends in der Dunkelheit nur das Glimmen seiner Zigarette.

Jetzt war ein Fenster seiner Wohnung erleuchtet. Dieser Anblick war ihr irgendwie tröstlich. Romy trat zurück in ihre Küche; wie immer knarrte die Diele unter ihren Füßen. Sie hatte das dringende Bedürfnis, mit jemandem zu reden. Lisa kam ihr in den Sinn. Seit sie krankgeschrieben war, hatte Romy nichts mehr von ihr gehört. Kurzentschlossen wählte sie ihre Nummer. Aber wie erwartet und zu Romys Enttäuschung kam sofort die Meldung, dass der Teilnehmer zurzeit nicht erreichbar sei. Dann war sie drauf und dran, Birgit anzurufen. Doch was sollte sie ihrer Schwester zu dem ganzen Vorfall schon erzählen. Sie würde sich nur Sorgen machen. Gerade, als sie das Handy wieder weglegen wollte, klingelte es. Ein Rückruf von Lisa? Nein, es war Anne!

„Dein Anruf kommt im wahrsten Sinne des Wortes wie gerufen!“

„Wieso?“, wunderte sie sich.

„Weil ich gerade dringend jemanden zum Reden brauche.“

„Dann passt es ja, ich nämlich auch!“, gab sie zu und ergänzte gleich darauf in entschuldigendem Ton: „Außerdem wollte ich nicht wieder so viel Zeit vergehen lassen wie beim letzten Mal. Hättest du Lust, auf ein Glas Wein zu mir zu kommen? Das Biergartenwetter ist ja nun leider endgültig vorbei.“

Romy war unschlüssig. Die Wohnung sollte sie ja vorläufig nicht verlassen, aber hier rumhocken mochte sie auch nicht länger. Es war noch nicht einmal neunzehn Uhr. Am liebsten würde sie rausgehen und unter Leuten sein.

Anne bemerkte das Zögern und fragte besorgt: „Irgendwie klingst du komisch. Geht es dir nicht gut? Soll ich lieber zu dir kommen?“

„Ein anderes Mal sehr gerne, Anne, aber Wohnungen kann ich momentan nicht ertragen – am allerwenigsten meine eigene. Ich würde lieber in das kleine Bistro bei mir gleich um die Ecke gehen. Könnten wir uns dort treffen?“

Nach kurzer Überlegung stimmte Anne zu. „Okay, ich werde es schon finden.“

 

10. Ein konkreter Verdacht

Eine halbe Stunde später saßen sich die beiden Freundinnen gegenüber. „Du siehst blass und erschöpft aus, Romy. Nun erzähl schon. Ist etwas passiert?“

„Und ob. Es ist alles ein Alptraum.“ Romy schilderte die Ereignisse der letzten Stunden.

„Das ist ja sehr beunruhigend. Möchtest du erst einmal bei mir übernachten?“, bot Anne spontan an.

Aber Romy lehnte ab: „Danke, Anne, ich muss jetzt eine generelle Lösung finden.“

„Ich rate dir dringend, gleich als erstes morgen früh ein neues Schloss einbauen zu lassen. Hast du wirklich keine Vorstellung, wer und warum es jemand auf dich abgesehen hat?“

„Mit der Frage hat mich Wiesmann auch schon gelöchert“, meinte sie seufzend. „Ich weiß es wirklich nicht.“

Beide schwiegen einen Moment und schauten in die Speise- und Weinkarte. Anne wählte einen Rotwein und eine Kleinigkeit zu essen, Romy nur ein Glas Wein.

„Ich würde keinen Bissen runterkriegen. Wenigstens ist mir jetzt nicht mehr übel.“

„Und du befürchtest also, dass Wiesmann dir nicht glaubt?“, hakte ihre Freundin nach.

„Ich bin mir sicher, dass er mir nicht glaubt. Aber morgen werden wir ja sehen, was die Ergebnisse der Spurensicherung bringen.“

Die Getränke kamen, und Romy nahm einen großen Schluck von dem Silvaner. „So langsam kehren meine Lebensgeister zurück“, stellte sie erleichtert fest. „Aber der Schock sitzt noch tief. Und ich habe absolut keine Ahnung, wer so etwas fertigbringt!“

„Der Täter wollte auf keinen Fall erkannt werden und dir auch keinen körperlichen Schaden zufügen.“

„Aber das hat er ja!“

„Hat er nicht, zumindest keinen nachhaltigen. Sonst hätte er dir von hinten eins übergezogen. Ebenso wenig wollte er dich umbringen, sonst wärst du jetzt tot“, erklärte Anne lapidar.

„Danke, das beruhigt ungemein!“

Aber Anne ließ sich nicht beirren und analysierte die Situation; eine Fähigkeit, die Romy sonst immer zu schätzen wusste, aber momentan war ihr mehr nach Trost zumute.

„Sicher hattest du ihn überrascht, weil du so früh nach Hause kamst. Überleg doch mal, wer in Frage käme. Wer im Unternehmen hat vor dir das Gebäude verlassen oder war heute gar nicht auf Arbeit? Dieser stellvertretende Chef vielleicht?“

„Schröter?“ Romy dachte einen Augenblick nach. „Es stimmt, heute hatte ihn noch niemand im Kollaps gesehen. Und auch die Hellwig war den ganzen Nachmittag nicht da. Aber davon einmal abgesehen: Wie sollten die in meine Wohnung gekommen sein? Einen Zweitschlüssel hat nur Oliver, und der sitzt im Knast.“

„Es gäbe auch noch eine andere Möglichkeit.“

„Und die wäre?“

„Du hast deinen eigenen Schlüssel doch sicher mit zur Arbeit genommen.“

Romy erschrak: „Daran habe ich noch gar nicht gedacht! Und während ich im Labor gearbeitet habe, könnte ihn jemand tagsüber unbemerkt aus meiner Tasche genommen und schnell einen Abdruck gemacht haben!“

„Oder er ist zum Schlüsseldienst und hat sich illegal einen Zweitschlüssel anfertigen lassen. Das ist zwar strafbar, aber sicher nicht unmöglich“, ergänzte Anne. „Die beiden Einbrüche könnten demnach auch auf diese Weise erfolgt sein.“ Sie empfahl nachdrücklich: „Wenn du also das Schloss ausgetauscht hast, solltest du den neuen Schlüssel auf keinen Fall mit zur Arbeit nehmen.“

„Aber wo könnte ich ihn denn sonst lassen? Um den Hals hängen kann ich ihn mir nicht.“

„Unter den Abtreter legen? … War nicht ernst gemeint.“

„Ich könnte ihn ja in den Briefkasten werfen.“

„Auf keinen Fall. Das finde ich viel zu unsicher.“ Schließlich schlug Anne halbherzig vor: „Vielleicht solltest du ihn im Auto deponieren.“

Romy fand die Idee gar nicht so abwegig. „Nicht ideal, aber es ginge. Und so schnell wird wohl keiner mein Auto knacken.“

Anne fasste die bisherigen Erkenntnisse zusammen: „Auf jeden Fall hätten wir schon mal zwei Kandidaten von eurem Kollaps und auch eine Möglichkeit gefunden, wie sie in deine Wohnung gekommen sein könnten. Jetzt müssen wir noch eine Theorie entwickeln, warum der Täter dich im Visier hat.“

„Das dürfte wohl schwerfallen.“

„Mir nicht“, bekundete Anne leichthin. „Der- oder diejenige wird der Annahme sein, dass Oliver Schyllbach dich in seine Pläne eingeweiht hat und unterstellt ein abgekartetes Spiel zwischen euch beiden.“

Romy sah ihre Freundin schräg an. „Du solltest dich mit Wiesmann zusammentun! Ihr tickt irgendwie ähnlich.“

Anne lächelte nur und schlussfolgerte weiter: „Eine Theorie könnte zum Beispiel sein, dass Schyllbach den Kopf hinhält und erst einmal als Verdächtiger gilt, während du in aller Ruhe das Finanzielle abwickelst. Da ihm auf diese Weise nichts nachgewiesen werden kann, wird er bald wieder freikommen.“

Fast hätte sich Romy am Wein verschluckt: „Du denkst wirklich wie Wiesmann! Aber er irrt sich!“

„Natürlich irrt er sich, und ich entwickle doch nur eine Theorie, was der Täter denken könnte“, unterbrach Anne ihre Freundin.

Aber Romy redete sich förmlich in Rage. „Ich war wohl ziemlich die Letzte, die hinter Olivers Aktivitäten etwas Illegales vermutete. Jeder, wirklich fast jeder im Kollaps, hatte in den letzten Tagen vor seiner Festnahme eine blöde Bemerkung zu seinem heimlichen Tun gemacht. Nein, Anne, ich hatte bis dahin wohl immer verdrängt, dass Oliver etwas Ungesetzliches treiben könnte.“

Ihre Freundin versicherte: „Ich glaub es dir ja, Romy. Aber wir müssen jeden Gedankengang des Täters in Betracht ziehen.“ Sie sah sich nach der Kellnerin um und bestellte für jede noch ein Glas Wein. Dann fragte sie unvermittelt: „Wer außer Oliver Schyllbach hätte eigentlich noch Zugang zu seinem Labor gehabt?“

Romy musste nicht lange überlegen. „Im Prinzip alle. Die Räume werden schon aus Sicherheitsgründen nicht abgeschlossen und sind daher für jeden Mitarbeiter zugänglich.“

Anne schien ein neuer Gedanke zu kommen. „Bist du eigentlich überzeugt davon, dass tatsächlich er es war, der das Zeug verkauft hat?“

Verunsichert entgegnete sie: „Davon gehe ich aus. Wer denn sonst?“

„Wenn jeder Zugang zu seinem Labor hatte, könnte theoretisch doch auch ein anderer die Ampullen aus seinem Labor genommen haben. Ist dir dieser Gedanke noch nicht gekommen?“

„Nein. Daran habe ich ehrlich gesagt noch gar nicht gedacht. Aber dann könnte es nur jemand gewesen sein, der Oliver abgründig hasst, und der seine Abwesenheit genutzt hat, um sein Labor zu durchsuchen.“

„Nicht zwingend. Vielleicht war derjenige nur extrem neugierig und witterte, als er die Ampullen entdeckte, ein profitables Geschäft.“

Doch Romy schüttelte zweifelnd den Kopf. „Und hat danach meine Wohnung durchsucht? Wenn er zuvor die Ampullen genommen hat, was will er dann noch von mir?“

„Das ist die Frage. Vielleicht will er dich ja einschüchtern.“ Anne kam ein weiterer Gedanke: „Oder du weißt etwas, von dem du noch gar nicht weißt, dass du es weißt!“

Romy schaute ihre Freundin verständnislos und wohl auch ein wenig dümmlich an. Jedenfalls lachte Anne laut auf: „Wenn du dich jetzt sehen könntest, Romy! Überleg doch mal, ob du irgendeine Information oder sonst etwas haben könntest, über dessen Bedeutung du dir noch nicht im Klaren bist.“

„Was sollte das sein? Nein, dazu fällt mir absolut nichts ein.“ Die Kellnerin brachte die Getränke. Nachdem sie sich wieder entfernt hatte, meinte Romy ein wenig schuldbewusst: „Wenn Wiesmann mich jetzt hier sähe, würde er mir den Vorfall in meiner Wohnung erst recht nicht glauben.“ Dann seufzte sie: „Zurzeit ist die Stimmung im Kollaps kaum auszuhalten, und ich habe den Eindruck, dass jeder jeden beobachtet, und ganz besonders mich.“

Doch ihre Freundin ließ ihr keine Zeit für Selbstmitleid. „Fassen wir doch mal zusammen: Wenn also weder Schyllbach noch du etwas mit dem Ampullen-Verkauf zu tun haben, dann halte ich es durchaus für möglich, dass jemand in seinem Labor herumgeschnüffelt, die Drogen gefunden und dann diese Anzeige erstattet hat. Äußerst perfide. Und derjenige vermutet nun weitere Hinweise bei dir. Für wahrscheinlicher halte ich allerdings, dass man dich einschüchtern will. Der Chef wurde geschickt aus dem Verkehr gezogen, und jetzt sollst auch du verschwinden.“

Romy fröstelte bei dem Gedanken. „Wer sollte so etwas wollen?“

„Der stellvertretende Geschäftsleiter zum Beispiel, oder diese andere Kollegin, Frau Hellwig oder wie sie heißt.“ Als Romy dazu schwieg, bohrte Anne weiter: „Wen hast du noch in Verdacht?“

Zögerlich erzählte Romy von Lisas merkwürdiger Reaktion, als das Verhältnis zwischen ihr und Oliver damals vor knapp zwei Jahren bekannt wurde, und dass sie sich jetzt, seit seiner Festnahme, wieder ähnlich verhielt.

„Du befürchtest also, dass es zwischen den beiden damals gefunkt hatte.“ Und nach einer winzigen Pause: „Vielleicht ist sie ja noch immer in ihn verliebt.“

Romy gab zu: „Genau das sind meine Befürchtungen.“

„Sieht sie gut aus?“

„Nicht nur das. Sie ist der Typ, dem die Männer nachschauen.“

„Hältst du es für möglich, dass sie die unbekannte Geliebte ist und mit ihm das Wochenende in dem Hotel verbracht hat?“

Unglücklich gestand Romy: „Dieser Gedanke ist mir schon mehr als einmal gekommen. Vielleicht ahnt Oliver sogar, dass ich ihm ein Verhältnis mit Lisa unterstelle.“ In einem Zug trank sie ihr Glas fast bis zur Hälfte leer. Sie bemerkte, dass ihr der Alkohol zu Kopf stieg und bestellte ein Mineralwasser. Nach ein paar Augenblicken sprach sie weiter: „Als Oliver von seiner Dienstreise zurückkam und mich im Kollaps begrüßte, war ich irgendwie verlegen. Ich glaube, er hat mich durchschaut.“

Anne unterbrach sie: „Mensch, Romy! Das klingt ja fast, als müsstest du dich vor ihm rechtfertigen, als hättest du ihn betrogen und nicht er dich! Du musst dich doch für nichts entschuldigen.“

„Stimmt. Aber er ist so wortgewandt, so selbstsicher. Wenn ich ihm vorwerfen würde, dass er ein Verhältnis hat, würde er den Spieß sofort umdrehen. Er würde mich fragen, wie ich zu dieser Unterstellung käme, und ich müsste dann zugeben, dass ich in seiner Wohnung war und die Buchungsbestätigung auf seinem Schreibtisch gefunden habe“, meinte sie kleinlaut.

„Aber du hattest doch einen guten Grund, in seine Wohnung zu gehen. Das Ladekabel von deinem Handy lag dort.“

„Genaugenommen habe ich auf seinem Tisch herumgeschnüffelt.“

„Und wenn schon. Skrupel bringen dich jetzt auch nicht weiter. Meinst du, deine Kollegin Lisa weiß auch von deinem Verdacht?“

Romy hob die Schultern: „Womöglich hat sie mir angesehen, dass ich von Olivers Untreue wusste und völlig durch den Wind war. Die ganzen Tage während seiner Dienstreise stand ich gewissermaßen neben mir. Ich habe mich zwar bemüht, mir nichts anmerken zu lassen, aber sie kennt mich einfach zu gut. Irgendwie hatte ich auch den Eindruck, dass sie mir aus dem Weg ging. Ich kann mich aber nicht mit ihr aussprechen, weil sie krankgeschrieben ist.“

„Seit wann genau fehlt sie?“, wollte Anne plötzlich wissen.

„Ziemlich bald, nachdem die Drogensache rauskam. Aber warum fragst du? Siehst du da einen Zusammenhang?“

Anne antwortete nicht direkt, als sie sich vergewisserte: „Die Einbrüche in deine Wohnung geschahen doch tagsüber, als du arbeiten warst.“ Romy nickte nachdenklich. „Also kämen außer Schröter und dieser Frau Hellwig auch Lisa in Betracht.“

Eine Weile schwiegen beide, dann bat Romy: „Belassen wir es jetzt einfach dabei. Außerdem habe ich dir gegenüber schon ein schlechtes Gewissen. Immer belaste ich dich mit meinem Kram. Du wolltest doch auch mit jemandem reden; das sagtest du zumindest am Telefon.“

Auf Romys Drängen hin erzählte Anne von ihren Sorgen bezüglich der angekündigten Umstrukturierungen im Verlag.

„Ich dachte, deine Stelle ist ziemlich sicher? Du bist doch dienstlich viel unterwegs.“

„Stimmt. Momentan läuft alles noch normal für mich. Aber das kann sich auch schnell ändern“, befürchtete sie.

Dann wechselten sie das Thema und erzählten von ihrer gemeinsamen Gymnasialzeit, ihren Besuchen bei Romys Schwester, und wen sie aus ihrer alten Klasse unterdessen wiedergetroffen hatten. So wurde es letztendlich auch für Romy ein entspannter Abend. Nach reichlich zwei Stunden verabschiedete sie sich.

„Willst du nicht doch bei mir übernachten?“, bot Anne nochmal an.

Für einen Moment zögerte Romy, dann meinte sie entschlossen: „Jetzt mach mir bitte keine Angst. Wiesmann selbst hat gemeint, dass nicht gleich wieder was passieren wird. Ich lass den Schlüssel von innen stecken und lege die Sicherheitskette vor.“

„Wie du meinst, aber du kannst nicht wissen, ob der Täter, während wir beide hier gemütlich gesessen haben, nicht doch nochmal zurückgekehrt ist“, gab Anne zu bedenken. „Ich bringe dich auf jeden Fall noch bis zur Haustür, es sind ja nur ein paar Schritte. Dann warte ich unten, und wenn du in fünf Minuten nicht am Fenster bist, komme ich hoch oder rufe die Polizei.“ Romy lachte etwas gezwungen, aber mit dieser Lösung war sie einverstanden.

Wenig später winkte sie ihrer Freundin vom Wohnzimmerfenster aus zu.

 

11. Aufkommende Zweifel

Nach dem gemeinsamen Abend mit Anne fühlte sich Romy wesentlich besser, vielleicht lag es ja auch am Wein, den sie reichlich genossen hatten. Doch jetzt, da sie wieder allein in ihrer Wohnung war, bereute sie, dass sie Annes Angebot, bei ihr zu übernachten, nicht angenommen hatte. Die Angst kam zurück. Sie konnte nicht einschlafen, ihre Gedanken kreisten wie ein aufgescheuchter Vogelschwarm.

Lisa kam ihr wieder in den Sinn und Annes Frage, seit wann sie krankgeschrieben sei. Sie hätte demnach reichlich Gelegenheit gehabt, tagsüber in Romys Wohnung einzubrechen – vorausgesetzt, sie war Olivers Geliebte und hatte den Zweitschlüssel an sich genommen. Dieser Gedanke ließ ihr keine Ruhe.

Dann schoss ihr plötzlich Annes Frage durch den Kopf, leichthin aber präzise formuliert: „Was hast du empfunden, als Oliver festgenommen wurde?“

„Ich war erschüttert!“, hatte Romy spontan geantwortet. Befremdet wäre wohl der passendere Ausdruck gewesen. Aber auch der traf nicht genau ihr Empfinden in jener Situation, als Oliver blass aber in aufrechter Haltung in Begleitung der Beamten das Gebäude verließ. Romys Blick fiel dabei auf Frau Brandners versteinerte Miene. Fast schien es, als träfe es sie persönlich.

„War nicht auch ein klitzekleines bisschen Genugtuung dabei?“, hakte Anne nach. „Immerhin hat er dich betrogen und damit zutiefst verletzt.“ Verärgert über Annes direkte und drastische Art entgegnete sie: „Das eine hat doch nichts mit dem anderen zu tun! Auch wenn ich wütend auf ihn war: Die Festnahme habe ich ihm wirklich nicht gewünscht.“

Dann hatten beide das Thema gewechselt und ihre gemeinsamen Erinnerungen hervorgekramt.

 

Romy lag noch lange wach. Als sie doch ein wenig weggedöst war, fuhr sie bei dem leisesten Geräusch wieder hoch, lief barfuß zur Wohnungstür und spähte durch den Spion ins dunkle Treppenhaus. Aber alles war still und dunkel, niemand stand vor ihrer Tür. Mit Wiesmanns Worten „Ich bin sicher, dass es keine weiteren Vorfälle geben wird“, versuchte sie, sich zu beruhigen. Aber woher nahm er diese Zuversicht?

In den frühen Morgenstunden war sie dann doch kurz eingeschlafen, war aber letztendlich froh, als die Nacht vorüber war. Als Erstes musste sie sich um den Einbau eines neuen Schlosses kümmern. Romy schaute auf die Uhr; sie würde Frau Brandner mitteilen, dass sie heute etwas später käme.

Punkt um sieben rief sie an.

Nach zwei, drei Telefonaten und der Zusage der Hausverwaltung, die Genehmigung umgehend nachzureichen, gelang es Romy, einen Fachmann aufzutreiben, der das Schloss sofort austauschen würde.

Kurz nach elf Uhr war alles erledigt. Romy überlegte, ob sie gleich den ganzen Tag freinehmen sollte, entschied sich aber letztendlich dagegen. Bei Wiesmann würde sie nach Dienstschluss vorbeischauen.

Im Kollaps erwartete sie die nächste Überraschung: Frau Dr. Hellwig machte Urlaub. Und das hatte Romy in den zwei Jahren, seit sie im Unternehmen beschäftigt war, noch nie erlebt. Sie konnte sich nicht entsinnen, dass Frau Hellwig auch nur einen einzigen Tag freigenommen hätte. Niemand wusste, ob sie verreist war, und wenn ja, wohin. Über private Dinge sprach sie ohnehin nicht.

Romy hatte den Eindruck, als würden sich die Reihen im Kollaps so nach und nach lichten. Lisa fehlte jetzt schon eine ganze Woche, und zwei Kolleginnen hatten gekündigt. Henriette und Romy waren momentan die Einzigen, die im Aufenthaltsraum ihren Kaffee gemeinsam tranken. Doch in deren Gegenwart fühlte sich Romy verunsichert; sie hatte den Eindruck, Henriette würde sie ausfragen. Sie erzählte ununterbrochen und erkundigte sich leichthin und nebenbei über Schyllbach, ob Romy ihn mal besucht hätte, ob sie nochmal vernommen wurde, ob und wie die Polizei wohl an das Geld aus dem Verkauf der Drogen herangekommen sei. Bisher hatte Romy ihre Kollegin für etwas naiv gehalten, aber da hatte sie sich möglicherweise getäuscht. Sie spürte mit Sorge, dass ihr vertrautes Umfeld wegbrach. Nichts schien so, wie es war. Romy begann, sich selbst und die anderen zu beobachten. Nur mit Mühe gelang es ihr, äußerlich gelassen zu erscheinen. Im Kollaps versuchte sie, die Kollegen im Blick zu behalten. Das war anstrengend und gleichsam unmöglich. Aber sie wusste nicht, woher die Gefahr kam, und das ließ sie schreckhaft und misstrauisch werden. Den Wohnungsschlüssel bewahrte sie, wie von Anne empfohlen, nicht mehr in ihrer Handtasche auf. Wie Recht sie damit hatte, zeigte sich, als sie zum Dienstschluss ihre Sachen wegpackte. Der Reißverschluss ihrer Tasche war ein Stück offen. Sie war ziemlich sicher, dass sie ihn, bevor sie ins Labor ging, zugezogen hatte. Oder doch nicht? Eine Unsicherheit blieb, und sie ärgerte sich wieder einmal über ihre Nachlässigkeit. Doch wer auch immer gestern in ihrer Wohnung war, musste davon ausgehen, dass sie jetzt ein neues Schloss und einen anderen Schlüssel hatte. Grund genug, sich ein Duplikat anfertigen zu lassen. Hastig zog Romy ihre Jacke über und verabschiedete sich von Henriette.

„Musst du wieder zu Wiesmann? Hat er dich nochmal vorgeladen?“

„Nein, ich muss zu Hause saubermachen. Du weißt doch, wie es aussieht, wenn die Handwerker da waren.“ Und schon war sie auf dem Weg zum Parkplatz. Von ihrem Handy aus rief sie im Kommissariat an, um sich bei Wiesmann anzumelden.

 

Unschlüssig saß Wiesmann an seinem Schreibtisch. In ein paar Minuten würde Romy Caralus hier sein. Was sollte er ihr schon sagen? Die Auswertung der Spurensicherung ergab nichts, weder fremde Fingerabdrücke noch sonstige Hinweise, die auf einen Einbruch hindeuteten. Etwas anderes hatte er im Grunde genommen auch nicht erwartet. Der mutmaßliche Täter wird umsichtig genug gewesen sein, keine Spuren zu hinterlassen. Wenn es denn tatsächlich einen Einbruch und einen Überfall gegeben hatte. Die junge Dame kam ihm reichlich nervös und nicht sehr glaubwürdig vor. Aber es war seine Pflicht, sie ernst zu nehmen. In diesem Augenblick klopfte es, und ein Mitarbeiter führte Romy Caralus herein.

„Nehmen Sie Platz. Na, ist das neue Schloss eingebaut worden? Gut, dann sollten Sie jetzt Ruhe haben. Aber ich muss Sie enttäuschen: es wurden keinerlei Spuren gefunden. Der Täter ist also sehr vorsichtig vorgegangen. Heute haben wir Herrn Dr. Schyllbach bezüglich der Aufbewahrung Ihres Schlüssels befragt. Er sagte aus, dass dieser vermutlich in der oberen Schublade seines Garderobenschrankes liegen würde. Dort hat unser Kollege aber nichts gefunden. Herr Schyllbach kann sich nicht entsinnen, wann und ob er den Schlüssel überhaupt schon mal benutzt hatte. Tut mir leid, Frau Caralus. An dieser Stelle kommen wir also nicht weiter.“ In ihren Gesichtszügen sah er eindeutig Enttäuschung.

„Das ist für mich jetzt alles sehr irritierend.“

„Für uns auch.“

„Aber Sie bezweifeln doch hoffentlich nicht, dass es die beiden Einbrüche und den Überfall gab! Warum sollte ich Ihnen was vormachen wollen?“

„Ja, warum sollten Sie.“ Ebenso wie das wenig hilfreiche Ergebnis der Untersuchung beunruhigte sie Wiesmanns lakonische Antwort. Es war offensichtlich, dass er ihr nicht glaubte.

„Danke für Ihr Kommen. Ich denke, dass wir Sie in den nächsten Tagen nicht nochmal befragen müssen. Mit dem neuen Schloss können Sie sich erst einmal sicher fühlen. Ihre Wohnung können wir leider nicht rund um die Uhr bewachen, aber ein Mitarbeiter wird tagsüber mal nach dem Rechten schauen.“ Für Wiesmann war das Gespräch beendet. Zum Schluss kam die übliche Aufforderung: „Und zögern Sie nicht, mich anzurufen, wenn Sie doch nochmal Unregelmäßigkeiten bemerken sollten.“

Und genau das werde ich mit Sicherheit nicht noch einmal tun, dachte Romy und verabschiedete sich rasch.

Auf dem Heimweg kamen ihr wieder Henriettes Fragen, Lisas merkwürdiges Verhalten und Frau Hellwigs plötzliche Abwesenheit in den Sinn. Nur mit Mühe gelang es ihr, die beunruhigenden Gedanken zu verdrängen und sich auf den Verkehr zu konzentrieren.

 

Schröter stand am Fenster seines Dienstzimmers. Der Blick nach draußen trug nicht dazu bei, seine Stimmung aufzuhellen – draußen war es grau und regnerisch. Doch das triste Novemberwetter passte genau zu seiner Laune. Nicht genug, dass die Kripo ihn ständig belästigte – schon Wiesmanns Anblick brachte ihn zur Weißglut – so hatte das Unternehmen zudem erhebliche Schwierigkeiten, lukrative Aufträge an Land zu ziehen. Die Pressemitteilungen über den Drogenskandal zeigten langfristig Wirkung. Zwei weitere Kunden waren abgesprungen.

Abrupt wandte er sich vom Fenster ab und vertiefte sich wieder in seine Unterlagen. Die finanziellen Probleme nahmen zu, selbst die angekündigten Gehaltskürzungen würden nicht ausreichen, um das Unternehmen aus der wirtschaftlichen Schieflage wieder heraus zu manövrieren. Momentan war es ihm nicht unrecht, dass noch ein weiterer Kollege gekündigt hatte. Die Ratten verließen das sinkende Schiff, alles lief zurzeit gewaltig aus dem Ruder. Er musste schnellstens eine Lösung finden – oder Konkurs anmelden. Doch das war für ihn keine Option.

 

 

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Ihr „Geschäft“ lief gut. Jeden zweiten oder dritten Tag zahlte sie 500 Euro an verschiedenen Automaten ein. Höhere „Einnahmen“ wagte sie nicht, auf ihr Firmenkonto zu transferieren, es könnte womöglich auffallen. Doch ständig befürchtete sie, beobachtet zu werden. Um die Wege zu ihrem Bankschließfach auf ein Minimum zu reduzieren, hatte sie eine größere Summe mit nach Hause genommen. Doch das Bargeld wollte sie nicht in ihrer Wohnung aufbewahren. Als vorläufiges Versteck wählte sie den Wäscheboden. Dort hatten sie und andere Mieter ihren alten, nichtbenötigten Hausrat abgestellt. Auch wenn die Dachkammer nur selten benutzt wurde, war ihre Wahl äußerst riskant. Den Schlüssel zum Bankschließfach hatte sie in ihrem Nähkasten versteckt.

 

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12. Der Nachbar

Die folgenden beiden Wochen verliefen für Romy relativ ruhig und ereignislos. Dank des neuen Türschlosses gab es keine weiteren unangenehmen Überraschungen. Und die Unterbringung ihres Wohnungsschlüssels im Auto hatte sich bewährt. Sie steckte ihn immer gleich, nachdem sie früh ins Auto gestiegen war, in einen Handschuh und schob diesen weit nach hinten ins Handschuhfach. Trotzdem betrat sie jedes Mal in banger Erwartung die Wohnung und sah sich rasch nach allen Seiten um. Aber sie bemerkte keine Auffälligkeiten, nichts, was sie beängstigte oder stutzig machte. Das neue Schloss gab ihr Sicherheit, und niemand außer ihr besaß einen Schlüssel dazu. Außerdem versuchte sie sich mit der Vorstellung zu beruhigen, dass der Täter sein Interesse an ihr wohl längst verloren hätte. So nach und nach entspannte sie sich ein wenig und fand zu ihrer früheren Gelassenheit zurück.

Manchmal zog sie dann abends eine Jacke über, nahm ihre Tasse und setzte sich für ein paar Minuten auf den Balkon. Jetzt Mitte November wurde es schon zeitig dunkel, aber für die Jahreszeit war es noch ungewöhnlich mild.

Mit der Tasse in der Hand saß sie auf der kleinen Bank. Das Fenster gegenüber in der Wohnung war erleuchtet, ihr unbekannter Balkonnachbar war demnach ebenfalls zu Hause. In diesem Moment ging das Licht aus, und kurz darauf betrat er den Balkon. In der Dunkelheit sah sie nur die Umrisse seiner untersetzten Figur. Romy saß still in ihrer Ecke und beobachtete ihn. Nach ein paar Sekunden zündete er sich eine Zigarette an. In dem kurzen Aufflackern des Feuerzeuges sah sie einen Teil seines Profils; sicher hatte er ein volles, gutmütiges Gesicht.

Romy gab sich ihren Gedanken hin. Momentan fühlte sich alles relativ normal an. Schröter sah sie kaum noch. Entweder hielt er sich in seinem Labor auf oder war dienstlich unterwegs. Frau Hellwig war weiterhin im Urlaub. Romy vermisste beide nicht. Hin und wieder dachte sie an Oliver. Wie es ihm derzeit wohl ergehen mochte? Noch immer saß er in Untersuchungshaft. Nicht im Traum wäre es Romy eingefallen, dass man ihn länger als ein, zwei Tage festhalten würde. Ihn in dieser erniedrigenden Situation zu wissen, schmerzte sie. Doch die aufkommenden Emotionen verdrängte sie schnell. Lisa fiel ihr wieder ein. Oliver und Lisa … Nein, es konnte nicht sein. Das durfte einfach nicht wahr sein. Nicht Lisa, mit der sie befreundet und die ihr so vertraut war.

Unterdessen war auf dem Nachbarbalkon alles dunkel, die Zigarette war aus. Bald darauf sah sie wieder das Licht hinter seiner Balkontür.

Als es Romy zu kalt wurde, trat sie zurück in ihre Küche.

 

Am nächsten Morgen lief Romy an der halbgeöffneten Sekretariatstür vorüber und grüßte flüchtig. Im Vorbeieilen fing sie Frau Brandners Blick auf. Nein, sie war der jüngeren Kollegin nicht wohlgesonnen. Sicher hatte sie ihr nie verziehen, dass Oliver Schyllbach sich in sie verliebt hatte. Romy unterdrückte ein Grinsen: Frau Brandner nahm doch wohl nicht im Ernst an, dass sie selbst eine Chance gehabt hätte! Doch warum eigentlich nicht? Sie war ein paar Jahre älter als ihr Chef, aber der Altersunterschied zu ihm war geringer als der zwischen Romy und Oliver. Seit er in Untersuchungshaft saß, hatte Frau Brandner niemanden mehr, mit dem sie ein paar Worte wechseln konnte. Für einen Moment hatte Romy wieder die erstarrte Miene vor Augen, mit der sie ihrem Chef und den Beamten nachsah, als sie das Gebäude verließen.

Henriette war schon im Dienstzimmer und zog sich um.

„Hast du mal wieder was von Lisa gehört?“, fragte Romy. Und zu ihrem Erstaunen erfuhr sie, dass sie gestern ausgiebig miteinander telefoniert hätten, dass Lisa ein paar Tage bei ihren Eltern war und es ihr mittlerweile wieder besser ginge. Die Informationen sprudelten nur so aus Henriette heraus.

„Gut, dass du sie erreicht hast. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht.“ Dann schaute Romy ihre Kollegin aufmerksam an. „Sag mal, hast du noch weiter abgenommen?“

„Ach was, nur zwei bis drei Kilo!“

„Aber jetzt hör mal wieder auf damit! Du trägst ja sicher schon die Größe 36.“

Henriette lachte und drehte sich übermütig im Kreis. „Ein paar Kilo müssen schon noch runter. Aber der Anfang ist gemacht!“ Beschwingt verließ sie das Dienstzimmer, und Romy sah ihr verblüfft nach. Henriette hatte sich nicht nur äußerlich verändert. Für ihre Euphorie und die schwindenden Pfunde gab es nur eine Erklärung: Sie war verliebt.

Romy zog ihren Kittel über und dachte wieder an Lisa. Einerseits war sie erleichtert, dass Henriette sie telefonisch erreicht hatte, andererseits stimmte sie die Tatsache, dass Lisa augenscheinlich nicht bereit war, mit Romy zu sprechen, sehr nachdenklich. Sie nahm ihren Anruf nicht entgegen und rief auch nicht zurück. Diese Ablehnung bestärkte ihren Verdacht.

Im großen Labor waren Romy und Henriette außer zwei weiteren Mitarbeitern allein. Durch die derzeit miese Auftragslage gab es im Kollaps nicht allzu viel zu tun, und so zog sich der Arbeitstag endlos lang hin. Die Gespräche mit Henriette und den anderen beiden Kolleginnen strengten sie an. Sie drehten sich hauptsächlich um das ungemütliche Herbstwetter, vergangene Urlaubstage und Mutmaßungen, warum und wo Frau Hellwig ausgerechnet jetzt, in dieser trüben Jahreszeit, ihren Urlaub verbrachte. Die Themen langweilten Romy. Sie hing ihren eigenen unerfreulichen Gedanken nach und war froh, als der Feierabend nahte und sie endlich ihre Sachen packen konnte.

Über den weitläufigen Parkplatz eilte sie zu ihrem Wagen und drückte die Fernbedienung am Autoschlüssel. Doch die Tür war gar nicht verriegelt. Hatte sie etwa vergessen, sie abzuschließen? Hastig stieg sie ein und öffnete das Handschuhfach. Doch ihre Befürchtung, dass jemand wegen des Schlüssels ihr Auto aufgebrochen hatte, bestätigte sich nicht. Der Wohnungsschlüssel lag zum Glück genau dort, wo sie ihn heute früh hingelegt hatte, im Handschuh in der hintersten Ecke des Faches. Erleichtert atmete sie auf. Aber so ein Leichtsinn durfte ihr nicht noch einmal passieren. Künftig musste sie sich konzentrieren und ihre Gedanken zusammennehmen.

Zu Hause angekommen schloss Romy die Wohnungstür auf und betrat zögernd den Flur. Vorsichtig schaute sie in alle Räume. Aber sie fand die Wohnung genauso vor, wie sie diese am Morgen verlassen hatte. Romy atmete tief durch und versuchte, sich zu entspannen. Auf Dauer konnte es so nicht weitergehen, sie musste anfangen, wieder normal zu leben. Doch der Überfall vor nunmehr zwei Wochen blieb nach wie vor ungeklärt; das konnte und durfte sie nicht vergessen. Wiesmann hierzu nochmal zu befragen, fand sie sinnlos. Wenn es neue Erkenntnisse gäbe, hätte er sie schon längst darüber informiert. Am wahrscheinlichsten aber war, dass er ihre Aussage gar nicht ernst nahm.

Nach dem Abendessen beschloss sie, Lisa nochmal anzurufen. Sie wählte ihre Nummer, und abermals kam die Nachricht, dass der Teilnehmer zurzeit nicht erreichbar sei. Frustriert legte sie ihr Handy beiseite und schaltete den Fernseher ein. Wie so oft in den letzten Tagen blieb sie bei belanglosen Sendungen hängen. Romy war besorgt und mit sich selber unzufrieden. Und sie fühlte sich einsam.

Als sie auf die Uhr schaute, war es schon weit nach zweiundzwanzig Uhr und für einen weiteren Anruf, diesmal bei Anne, zu spät. Morgen würde sie sich bei ihr melden und sich vielleicht mit ihr verabreden.

Romy kam die Idee, mit einem Glas Wein diesen einsamen Abend zu beschließen. Am nächsten Tag sähe vielleicht schon alles leichter aus. Sie nahm ihre Jacke von der Garderobe und zog sie über, goss sich in der Küche von der angerissenen Flasche Chardonnay ein Glas ein und löschte überall das Licht. Dann trat sie auf den Balkon hinaus und setzte sich mit dem Weinglas in der Hand auf die kleine Bank. Sie schaute zu der Wohnung schräg gegenüber. Der Balkon ihres Nachbarn lag im Dunkeln, aber in einem der Fenster brannte Licht. Er war also noch auf, obwohl es mittlerweile fast um elf war. Romy trank einen Schluck Wein, stellte das Glas auf dem kleinen Tisch ab, streckte die Beine aus und sog die frische Abendluft ein.

Plötzlich horchte sie auf. Das Geräusch war vertraut, aber es passte nicht, etwas war unstimmig.

Ganz behutsam wurde ihre Wohnungstür aufgeschlossen. Kurz darauf hörte sie das leichte Knarren der Holzdiele vor ihrer Garderobe – jemand betrat ihren Flur!

Dann war alles still. Siedend heiß fiel ihr ein, dass sie die Sicherheitskette an der Wohnungstür nicht vorgelegt hatte. Und ihr Schlüssel? Offensichtlich steckte er nicht im Schloss. Wo lag ihr Wohnungsschlüssel? Wenn er auf dem Garderobentisch lag, würde derjenige sofort bemerken, dass sie sich in der Wohnung aufhielt. Wenigstens hatte sie ihre Lederjacke an, sie hing also nicht an der Garderobe. Als Romy sich aus ihrer Erstarrung gelöst hatte, zog sie ganz vorsichtig die Balkontür zu. Jetzt sah sie durch das kleine Fenster zu ihrem Bad den Lichtschein einer Taschenlampe. Wie sollte sie sich verhalten? Die Polizei anrufen! Fieberhaft überlegte sie, wo ihr Handy war. Vor Stunden hatte sie versucht, Lisa zu erreichen. Es lag demnach im Wohnzimmer auf dem Tisch. Sie empfand eine lähmende Hilflosigkeit. Ihr blieb nur die Möglichkeit, vom Balkon aus um Hilfe zu rufen. Jetzt hörte sie die knarrende Diele vor ihrer Spüle in der Küche. Romy zwängte sich hastig unter die Balkonbank und legte sich flach hin. Ihr Herz hämmerte wie wild. Hoffentlich war nicht zu erkennen, dass die Tür zum Balkon nicht verschlossen, sondern nur zugezogen war. Sie versuchte, auf die Geräusche in der Küche zu lauschen, aber das Blut rauschte in ihren Ohren. Minutenlang lag sie vor Angst erstarrt unter der Bank. Die Härte und Kälte des Fußbodens spürte sie kaum. Als nichts weiter geschah, kroch sie vorsichtig hervor. Offenbar hatte der Täter die Küche wieder verlassen und schlich jetzt zum Wohnzimmer oder in ihr Schlafzimmer. Hilflos stand Romy auf ihrem Balkon. Da sah sie, wie in der Wohnung schräg gegenüber das Licht ausging und kurz darauf ihr unbekannter Nachbar hinaustrat. Im Dunkeln zündete er sich eine Zigarette an, und für einen Augenblick waren wieder seine Gesichtszüge zu erkennen.

„Hallo“, raunte Romy mit gedämpfter Stimme, und noch einmal etwas lauter: „Hallo, hören Sie mich? Ich brauche Hilfe! In meiner Wohnung ist ein Einbrecher.“

Sofort ging die Zigarette aus. Nach zwei Sekunden antwortete er: „Bleiben Sie auf dem Balkon, ich bin gleich an ihrer Haustür und klingle Sturm. Wie ist Ihr Name?“

„Caralus, dritte Etage!“, erwiderte sie hastig. Augenblicklich trat er in seine Wohnung zurück. Besorgt wartete Romy auf ihrem Balkon. Wie lange würde er brauchen, bis er an ihrer Haustür wäre? Sie versuchte herauszufinden, wo sich der Täter jetzt aufhielt. Weder durch das kleine Badfenster noch durch die Glasscheibe der Balkontür sah sie einen Lichtschein. Angespannt lauschte sie in die Finsternis hinein. Und zu Romys Entsetzen war in diesem Moment das leise Dielenknarren wieder in der Küche zu hören, aber nirgends sah sie Licht. Voller Panik zwängte sie sich erneut unter die schmale Bank. Und das keine Sekunde zu früh: Die Balkontür wurde aufgezogen.

Das Weinglas!, fiel Romy mit Schrecken ein – es stand noch auf dem Tisch. Aber in diesem Moment klingelte es von unten an der Haustür Sturm. Mit unendlicher Erleichterung hörte sie, wie der Unbekannte eilig zurück in die Küche trat und gleich darauf die Wohnung verließ. Die Wohnungstür zog er hinter sich zu. Romy blieb in ihrer unbequemen Stellung unter der Balkonbank liegen. Es klingelte noch einmal. Vorsichtig kroch sie hervor und schlich im Dunkeln an die Tür. Als sie durch den Spion schaute, sah sie nur das dunkle Treppenhaus. Entschlossen drückte sie auf den Summer und hörte in der Gegensprechanlage: „Ich bin’s. Ich komme hoch.“

Im Treppenhaus ging das Licht an, und wenige Augenblicke später stand ihr ein mit ausgeleierter Jogginghose und Sweatshirt bekleideter Mann mittleren Alters gegenüber. Er war völlig außer Atem und verschwitzt. Wie sie schon vermutet hatte, war er recht korpulent. Das semmelblonde, schüttere Haar klebte an seinem Kopf. Aber ebenso abgehetzt stand Romy im Türrahmen, sie zitterte am ganzen Leib.

„Nun beruhigen Sie sich erst einmal. Es ist sicher sinnvoll, gleich die Polizei zu rufen.“

Doch Romy schüttelte resigniert den Kopf und fragte: „Ist Ihnen im Treppenhaus jemand begegnet?“

„Nein, aber ich gehe gleich nochmal nach oben und schaue dort nach.“ Eine Minute später war er zurück. „Da ist auch niemand. Wahrscheinlich ist der Täter im Dunkeln runtergestürmt und durch die hintere Haustüre in den Innenhof raus. Meinen Sie nicht doch, dass wir die Polizei rufen sollten?“

Statt einer Antwort trat sie beiseite: „Bitte kommen Sie doch herein. Sie haben mich in sprichwörtlich letzter Sekunde gerettet.“ Romy sah so derangiert, erschöpft und vom Staub unter der Balkonbank beschmutzt aus, dass er ihr sofort glaubte. Sie bat: „Könnten wir bitte zusammen schnell durch die Zimmer gehen? Ich möchte nachschauen, ob etwas fehlt oder zerstört wurde.“

Auf den ersten Blick sah alles völlig normal aus, so als wäre nichts geschehen. Nicht einmal eine Schranktür oder Schublade stand offen.

Ratlos schaute Romy ihren Nachbarn an: „Sie glauben mir doch hoffentlich, dass es wirklich einen Einbruch gab?“

„Warum sollte ich das nicht?“, erwiderte er verwundert. „Und Sie wirken ja auch völlig durch den Wind! Aber nach einem herkömmlichen Einbruch sieht es wirklich nicht aus. Was könnte derjenige denn bei Ihnen gesucht haben?“

„Mich!“

„Wie bitte?“ Er schaute sie verständnislos an, und Romy kam nicht umhin, ihm die ganze Vorgeschichte in kurzen Worten zu schildern. Und ebenso den Grund dafür, warum sie sich von der Polizei nichts mehr versprach.

„Hm. Aber warum ist der Täter so hartnäckig? Und warum sollte er es jetzt auf Sie persönlich abgesehen haben?“

„Er ist scheinbar fest davon überzeugt, dass ich etwas verborgen habe oder Näheres zu dem Drogenprojekt weiß. Bestimmt will er mich zum Reden zwingen!“ Bei dieser Vorstellung begann sie wieder heftig zu zittern.

„Und Sie haben keine Ahnung, wer es sein könnte?“

„Doch, nach meiner Ansicht kommen mindestens zwei, wenn nicht gar drei Personen aus unserem Unternehmen infrage. Aber beweisen kann ich nichts.“

„Könnte es nicht auch ein Konkurrent sein? Oder derjenige, an den die Ampullen verkauft wurden? Über die Presse muss er ja bestens informiert sein und weiß daher, dass er an Herrn Dr. Schyllbach nicht mehr rankommt. An Sie aber schon.“

Romy schwieg betroffen, und er sah, dass ihr dieser Gedanke offensichtlich noch nie gekommen war.

„Ich heiße übrigens Frenzel, Harald Frenzel.“

„Angenehm, ich bin Romy Caralus“, erwiderte sie geistesabwesend.

„Wenn ich Sie richtig verstanden habe, wurde insgesamt schon dreimal bei Ihnen eingebrochen. Wo bewahren Sie eigentlich Ihren Wohnungsschlüssel auf?“

„Seit ich das neue Schloss habe, verstecke ich ihn im Auto“, verriet sie zögerlich. Und sofort fiel ihr die entriegelte Autotür wieder ein.

Während sie versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, kam Harald Frenzel zu dem Schluss: „Meiner Ansicht nach sind die Vorkommnisse Grund genug, hier auszuziehen und niemandem, wirklich keiner Menschenseele die neue Adresse zu verraten.“ Er schaute auf seine Uhr: „Es ist schon nach halb zwölf. Heute noch in ein Hotel zu ziehen, halte ich für sinnlos. Trauen Sie es sich zu, hier in der Wohnung zu übernachten? Die Sicherheitskette müssen Sie natürlich vorlegen und Ihren Schlüssel von innen stecken lassen.“ Romy nickte matt und mutlos, und Harald Frenzel entschied: „Nee, wir machen es anders. Sie packen jetzt ein paar Sachen zusammen und gehen in meine Wohnung. Ich übernachte bei einem Kumpel.“ Als Romy halbherzig protestierte, unterbrach er sie: „Das ist überhaupt kein Problem. Ich warte, bis Sie hier fertig sind, und dann verschwinden wir durch den Hinterausgang über den Hof rüber zu mir.“ Romy war sprachlos, nickte aber dankbar und holte ihre kleine Reisetasche.

„Warum machen Sie das alles für mich?“

„Na ja, weil ich gerne helfe und vielleicht auch, weil wir uns ja schon so lange kennen, theoretisch zumindest“, meinte er schmunzelnd. Wie ein großer Teddy saß er in ihrem Sessel und wartete geduldig, bis sie fertig gepackt hatte.

 

13. Ein schwerer Entschluss

So nach und nach trudelten die ersten Kollegen im Kollaps ein. Durch die halbgeöffnete Tür beobachtete Frau Brandner, wer pünktlich und wer wieder einmal zu spät kam. Siehe da, Lisa Volkert schaute ins Sekretariat herein und meldete sich gesund. Und Frau Dr. Hellwig war aus dem Urlaub zurück. Etwas freundlicher als gewöhnlich grüßte sie knapp in Richtung der Tür. Zwanzig Minuten später sah Frau Brandner, wie Henriette Schönherr vorbeihuschte. Missbilligend schüttelte sie den Kopf. Sie konnte sich nicht entsinnen, wann die junge Frau überhaupt einmal pünktlich kam. Auch Frau Caralus hatte sie heute noch nicht gesehen. Oder sollte sie unbemerkt vorbeigegangen sein? Nein, das wäre kaum möglich, ihr entging selten etwas. Sie vertiefte sich in die Abrechnungen. Plötzlich schrak sie hoch.

Henriette Schönherr stand im Raum und fragte: „Frau Caralus kommt heute wohl später? Hat sie angerufen und irgendwas gesagt?“

„Mich hat sie nicht informiert!“, kam es spitz von Frau Brandner zurück. Wieder schüttelte sie missbilligend den Kopf. Herrn Schröter hatte sie ebenfalls nicht zu Gesicht bekommen. Ihn persönlich vermisste sie nicht; im Gegenteil, sie war froh, ihn nicht so oft zu sehen. Aber es lagen ein paar Dinge an, die sie dringend besprechen müssten. Wie umsichtig hatte sich doch Herr Dr. Schyllbach immer verhalten! Sie seufzte tief und widmete sich wieder den Abrechnungen. Die finanzielle Lage war alles andere als erfreulich.

Kurz nach zehn Uhr holte Frau Brandner die Post aus dem Firmenbriefkasten. Es waren wieder einige Rechnungen von Lieferanten dabei, aber keine neuen Aufträge von Geschäftspartnern oder potentiellen Kunden. Ein Brief kam von Romy Caralus. Neugierig öffnete sie ihn und riss im nächsten Moment die Augen auf. Mit einer Kündigung hatte sie nicht gerechnet. Eilig überflog Frau Brandner die Zeilen. Nein, einen Kündigungsgrund hatte Frau Caralus nicht genannt, nur dass sie aus persönlichen Gründen mit sofortiger Wirkung das Arbeitsverhältnis beendete. Für ein paar Sekunden starrte Frau Brandner auf einen imaginären Punkt in der Ferne. Wie würde Dr. Schröter wohl darauf reagieren? Sie legte den Brief vorerst beiseite und widmete sich den Rechnungen. Bei der schwachen Auftragslage gab es momentan auch für sie nicht viel zu tun. Aber im Gegensatz zu den anderen Mitarbeitern, die im Labor und im Aufenthaltsraum ihre Freiräume mit einem Schwätzchen ausfüllten, hatte sie niemanden, mit dem sie sich unterhalten konnte – und wollte. Gelangweilt nahm sie eine Zeitschrift zur Hand, die sie in ihrer Schreibtischschublade liegen hatte. Doch es gelang ihr nicht, sich auf deren Inhalt zu konzentrieren. Ihre Gedanken wanderten wieder zu dem unerwarteten Kündigungsschreiben.

„Sie haben wohl nichts zu tun!“

Erschrocken fuhr Frau Brandner hoch. Schröter stand plötzlich neben ihr, sie hatte ihn nicht kommen hören. Pikiert legte sie die Zeitschrift beiseite und konterte: „Das Kündigungsschreiben von Frau Caralus wird sie vielleicht interessieren.“

Mit kaum verhohlener Schadenfreude beobachtete sie seine Reaktion. Aber beim Lesen des Briefes zeigte Schröter keinerlei Regung. Vielleicht kam es ihm sogar gelegen, dass künftig ein weiteres Gehalt wegfiele? Schweigend legte er das Schreiben auf den Tisch zurück und verließ wortlos das Zimmer. Die Tür ließ er offenstehen. Was hatte er eigentlich bei ihr gewollt?

 

„Ich freu mich so, dass du wieder da bist, Lisa!“, bekundete Henriette und schaute ihre Kollegin erleichtert an. „Aber irgendjemand fehlt immer. Was mag wohl mit Romy sein? Vielleicht musste sie nochmal ins Kommissariat? Übrigens war die Hellwig unterdessen im Urlaub. Sie ist heute den ersten Tag wieder hier.“

„Sag bloß! Ich habe in den drei Wochen wirklich eine Menge verpasst! Ist sie weggefahren?“

„Keine Ahnung. Und wenn, dann sicher nicht in den Süden, so blass wie die aussieht.“

„Vielleicht hat sie eine Kreuzfahrt gemacht! Eine Kreuzfahrt in den hohen Norden bei regnerischem Novemberwetter“, witzelte Lisa. So langsam fand sie wieder zu ihrer alten Form zurück und stichelte weiter: „Vermutlich war es eine Clubreise, eine Reise mit dem Club der Ungeküssten!“ Es ging noch eine Weile auf Frau Hellwigs Kosten weiter, bis diese das Labor betrat und die Gespräche sich schlagartig einem neutralen Thema zuwandten.

Möglicherweise geschah dies ein wenig zu abrupt, denn Petra Hellwig hatte offensichtlich Freude daran, die anwesenden Mitarbeiter mit der folgenden Information zu schocken: „Sie wissen, dass Frau Caralus gekündigt hat?“

Lisa und Henriette blieb der Mund offenstehen. „Wieso das denn?“ Mit Genugtuung wandte sich Frau Hellwig ihren Messungen zu. Das saß! Für ein paar Minuten herrschte Schweigen.

Henriette fand als erste die Sprache wieder: „Gestern war sie doch noch da, und es schien alles in bester Ordnung zu sein. Ich verstehe das nicht!“

„Ich auch nicht“, erwiderte Lisa nachdenklich. „Aber sie muss wohl einen triftigen Grund haben. So ohne weiteres gibt man eine Stelle nicht auf. Wer weiß, was seit gestern vorgefallen ist.“

 

Harald Frenzel gab sich alle erdenkliche Mühe, Romy den Aufenthalt in seiner Wohnung so angenehm wie möglich zu gestalten. Er hatte ordentlich eingekauft und war zum Abendessen wieder da. Romy bedauerte, dass er rein äußerlich so gar nicht ihr Typ war und wünschte sich und ihm, dass er sich keine Hoffnungen machte. Irgendwie musste sie das von vornherein klarstellen, diplomatisch und einfühlsam. Aber Harald, sie nannten sich unterdessen beim Vornamen und waren beim Du, saß ihr zufrieden und gut gelaunt gegenüber.

„Na, hast du schon einen Plan, wie es weitergehen soll?“

„Ja, habe ich.“

„Erzähle?“ Er schmierte sich die dritte Scheibe Brot und schaute sie gespannt an.

„Heute früh habe ich mein Kündigungsschreiben in den Firmenbriefkasten eingeworfen.“

„Bist du sicher, dass das kein Fehler war? Immerhin hast du noch keine andere Arbeitsstelle.“

„Nein. Aber ich bin dabei, mich bundesweit zu bewerben. An zwei Firmen habe ich schon geschrieben.“ Er hörte ihr kauend zu, und Romy kam es vor, als würde sie ihn seit Ewigkeiten kennen. Kaum zu glauben, dass sie sich bis gestern nicht einmal gegrüßt hatten. „Und außerdem habe ich als Zwischenlösung eine preiswerte Unterkunft gefunden. Zumindest für die Zeit, bis ich, wo auch immer, eine neue Stelle gefunden habe.“

„Du weißt, dass du bis dahin auch in meiner Bude wohnen kannst.“

Aha, dachte Romy, aber sie lächelte nur und meinte dann: „Nein, das wusste ich nicht, und ich will dir auch nicht länger Umstände bereiten.“

„Machst du doch gar nicht“, widersprach er mit vollem Mund.

„Mach ich doch. Sieh mal, Harald, ich bin Hals über Kopf mit meinen Problemen in dein Leben geplatzt und bin dir unendlich dankbar, dass du mir geholfen hast. Aber ich muss die Situation, in der ich momentan stecke, allein in den Griff bekommen. Und deinen Rat, erst einmal zu verschwinden, habe ich angenommen. Ab morgen wohne ich vorübergehend in einer kleinen Pension am anderen Ende von Berlin, also weit genug von meiner Wohnung entfernt. Nächste Woche kommt eine Umzugsfirma, packt komplett meinen verbleibenden Kram in Kisten und kümmert sich auch um die Zwischenlagerung meiner Möbel. Es ist fast ein Rundum-Sorglos-Paket.“

„Hm, das klingt vernünftig. Und teuer. Melde dich bei mir, wenn du noch Hilfe brauchst.“

Nachdem Harald sein Bier ausgetrunken und Romy instruiert hatte, wo sie seinen Wohnungsschlüssel morgen einwerfen sollte, verabschiedete er sich von ihr. „Pass auf dich auf und melde dich mal wieder bei mir. Schade, dass unsere Bekanntschaft nur so kurz dauerte“, meinte er mit einem treuherzigen Blick.

Romy dankte ihm nochmal für seine Hilfsbereitschaft. „Wir werden uns nicht aus den Augen verlieren!“, versprach sie.

Diese Nacht würde sie noch einmal in seiner Wohnung verbringen, gleich morgen früh aus ihrer eigenen ein paar weitere Sachen holen und dann mit dem Auto zu der Pension fahren. Ihre Briefe ließ sie postlagernd an eine Filiale senden. Sie musste jetzt an so Vieles denken – organisatorisch, und wie es generell für sie weitergehen würde. Aber für heute sollte es erst einmal genug sein. Ihr kam die Idee, sich im Dunkeln auf Haralds Balkon zu setzen, so wie er es immer tat, allerdings ohne Zigarette.

Es war ein merkwürdiges Gefühl, aus dieser Perspektive in den Innenhof und schräg rüber auf ihren eigenen Balkon zu schauen. Der Gedanke, dass vermutlich schon im nächsten Monat ein neuer Mieter in ihren Räumen wohnen würde, stimmte sie traurig. Doch sie sah keinen anderen Ausweg, als wegzuziehen. Versonnen schaute sie zu ihrem Balkon hinüber.

Aber was war das?

Ein Lichtschein in ihrer Küche! Schlagartig wurde ihr klar, dass sich in ihrer Wohnung das gleiche Szenario wie gestern Abend wiederholte. Der Strahl schien sich durch den Raum zu tasten. Im nächsten Augenblick war alles finster. Romy stockte der Atem, gebannt starrte sie hinüber. Minutenlang harrte sie aus und wartete. Dann sah sie wieder das Licht. Der Täter war demnach in die Küche zurückgekehrt. Instinktiv duckte sie sich ab. Was würde als Nächstes geschehen?

Der Lichtstrahl erlosch, und Romy rechnete damit, dass derjenige gleich auf ihren Balkon trat. Dann würde sie den Täter mit eigenen Augen sehen! Sie spürte ihren Herzschlag bis zum Hals und beugte sich tiefer hinter die Brüstung.

Jetzt! Sie glaubte zu erkennen, wie die Tür geöffnet wurde!

Doch sie sah nur gähnende Finsternis. Vage nahm sie die Silhouette einer dunkel gekleideten Person wahr, die sich kaum vom schwarzen Hintergrund abhob. Wer auch immer in der Tür stand: Der oder die Unbekannte war nicht zu identifizieren. Vor Anstrengung brannten Romy die Augen und füllten sich mit Tränenflüssigkeit. Kurzzeitig verschwamm das Bild. Alles blieb dunkel.

Wenn sie bisher mit der Entscheidung, aus ihrer Wohnung auszuziehen, noch gehadert hatte, so bestärkte dieser neuerliche Vorfall ihren Entschluss. Reglos blieb sie auf Haralds Balkon sitzen. Als ihr dann kalt wurde und nichts weiter geschah, trat sie leise in seine Küche zurück und schloss die Glastür hinter sich. Da die Wohnung im rechten Winkel zu ihrer lag, war sie sicher, dass niemand von ihrem Balkon aus in sein Küchenfenster hereinschauen konnte. Trotzdem schaltete sie nur die kleine Tischlampe an. Grübelnd saß sie nun da. Spätestens morgen müsste sie noch ein paar Sachen aus ihrer Wohnung holen, aber allein wagte sie diese nicht zu betreten. Ob sie Anne bitten könnte, sie zu begleiten? Nein, nicht schon wieder Anne. Außerdem war sie dienstlich oft unterwegs. Und was würde geschehen, wenn der Täter sie dann beide anträfe? Also doch Harald bitten? Aber der musste zeitig am Morgen in seiner Firma sein. Ihre nächste Überlegung war, wie sie mit ihrem Auto ungesehen davonkäme. Es war nicht auszuschließen, dass der Täter ihre Wohnung und sie beobachtete und ihr bis zu ihrer neuen Unterkunft folgen würde. Sie musste eine Lösung finden.

 

Verärgert betrat Wiesmann am nächsten Morgen kurz vor acht Uhr sein Büro. Nicht genug, dass er mit dem lästigen LoWei Plus-Fall keinen Schritt weiterkam, so fielen nun auch noch zwei wichtige Mitarbeiter aus. Krank, Kasse! Das sollte er sich mal leisten. Schwerfällig ließ er sich in seinem Schreibtischsessel nieder. Kaum, dass er saß, klingelte das Telefon.

Er nahm ab und bellte ungehalten: „Wiesmann!“ Dann war seine Laune endgültig am Boden. Schweigend hörte er zu und meinte schließlich: „Okay, Frau Caralus. Dann machen wir es folgendermaßen: Wir schicken heute noch einen Kollegen bei Ihnen vorbei… Wann? Das kann ich Ihnen jetzt noch nicht genau sagen. Ich habe ja Ihre Handy-Nummer. Also, wenn Sie von uns einen Anruf bekommen, warten Sie unten vor Ihrer Haustüre. Der Kollege geht dann mit Ihnen in Ihre Wohnung … Das lassen Sie mal unsere Sorge sein. Frühstücken Sie schön in Ruhe und warten Sie auf unseren Rückruf. Wiederhören.“ Wiesmann holte tief Luft. Aus seiner Sicht gab es nun zwei Möglichkeiten: Entweder Romy Caralus war ernsthaft in Gefahr, oder sie hatte eine psychische Störung. Schon mehrmals in seiner langjährigen Dienstzeit waren ihm Fälle von Verfolgungswahn untergekommen. Es war immer das Gleiche – und äußerst lästig, weil die Meldungen ernst genommen werden mussten. Wen von seinen Mitarbeitern sollte er jetzt in die Spur schicken? Und das wahrscheinlich für nichts und wieder nichts. Einen Lichtschein hätte sie gesehen! Trotz seiner üblen Laune musste er laut lachen. Und Zeugen oder gar Spuren eines Einbruchs würde es natürlich wieder nicht geben. Aber sein Job war es nun einmal, jedem Hinweis, und sei er auch noch so absurd, nachzugehen. Wenn doch etwas an der Sache dran wäre und er es versäumt hätte, rechtzeitig Maßnahmen zu ergreifen, gäbe es ordentlich Ärger. Also griff Wiesmann wieder zum Hörer.

In wenigen Minuten hatte er geregelt, dass ein Kollege von der Spurensicherung Frau Caralus in ihre Wohnung begleiten und sich zudem um eine diskrete Abfahrt ihres PKWs kümmern würde. Schnaufend stieß er die Luft aus. So, jetzt hätte er hoffentlich mal Ruhe, um sich auf den liegengebliebenen Papierkram zu konzentrieren. Wiesmann sah auf die Uhr. In einer Stunde hatte er schon den nächsten Termin.

 

14. Gewonnene Freiheit

Seit seiner Haftentlassung war Oliver Schyllbach kaum zur Besinnung gekommen. Er war nicht mehr derselbe wie zuvor. Sein Ego war empfindlich angegriffen; die Zeit in der Untersuchungshaft hatte Spuren hinterlassen, und die Schmach saß tief. Sein Anwalt hatte bewirkt, dass er aus Mangel an Beweisen vorerst entlassen wurde. Obwohl alle Indizien gegen ihn sprachen, konnte man ihm einen Handel mit Drogen nicht eindeutig nachweisen. Auch in seinem Fall galt das Prinzip der Unschuldsvermutung, nach dem Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten.“

So richtig frei war er trotzdem nicht. Schyllbach bekam die Auflage, sich wöchentlich im Kommissariat zu melden. Berlin durfte er nur in einem Umkreis von achtzig Kilometern verlassen. Und das tat er jetzt.

Er fuhr gen Norden und checkte in einem exklusiven Hotel an einem See ein. Der Anblick und die Nähe zum Wasser brachte ihm um diese Jahreszeit nicht viel, aber Schyllbach sehnte sich nach Luft und Freiraum, und beides fand er hier. Von Freitag bis Sonntag würde er bleiben. Am Montag schon müsste er sich wieder bei Wiesmann melden.

Es war noch früh am Nachmittag, und Schyllbach lief, nachdem er sein Hotelzimmer bezogen hatte, eine große Strecke am Ufer entlang. An den Bäumen hingen nur noch vereinzelt ein paar vertrocknete gelbbraune Blätter, und der Wind pfiff durch die kahlen Äste. Die Wellen schlugen an das steinige Ufer des Sees und erzeugten beim Auftreffen ein glucksendes, schmatzendes Geräusch. Das ungemütliche Spätherbstwetter passte hervorragend zu Oliver Schyllbachs Stimmung. Mit gesenktem Blick und ausholenden Schritten marschierte er am verlassenen Uferweg entlang. Ihm war es recht, dass sich um diese Jahreszeit kaum ein Mensch hierher verirrte. Der frische Wind fegte buchstäblich die destruktiven Gedanken weg, und Schyllbach fühlte, wie sein Kopf frei wurde. Frei für andere Sichtweisen und neue Empfindungen. Mit Genugtuung hatte er seit seiner Haftentlassung festgestellt, dass die lähmende Ohnmacht, die ihn zeitweise ergriffen hatte, so nach und nach einer unbändigen Wut gewichen war. Wut auf sich selbst und auf denjenigen, der die Drogen gefunden und die Anzeige erstattet hatte. Wie konnte er nur so gutgläubig und naiv gewesen sein! Damals während der Tagung in Münster hatte sich in seiner Abwesenheit hinterrücks eine unerhörte Intrige abgespielt. Bis dahin war er immer davon ausgegangen, dass er das Vertrauen und die Sympathie der Mitarbeiter und Kollegen besaß, und ebenso hatte er sich auf deren Loyalität verlassen. Doch er hatte sich getäuscht. Zudem quälte ihn ein ganz konkreter Verdacht.

Jetzt Ende November wurde es bereits gegen sechzehn Uhr dämmrig, oder es lag an der dichten Wolkendecke, die tief am Himmel hing. Er kehrte um und trat den Rückweg zum Hotel an. Bisher hatte er noch kein Bedürfnis verspürt, jemanden aus dem Schyllbach & Co. Labs zu sprechen – geschweige denn zu sehen. Auch Romy nicht. Er hatte nie vorgehabt, sie zu betrügen. Bis zuletzt hatte er sich gegen die aufkommende neue Leidenschaft gewehrt. Doch hatte er das wirklich?

Vom ersten Augenblick an spürte er die unwiderstehliche Anziehungskraft, die von ihr ausging. Er wollte ihr nicht erliegen. Und nur deshalb hatte er sich ihr gegenüber so abweisend, ja fast ruppig verhalten. Aber er hätte sie nicht in das Café einladen dürfen. Seine Entschuldigung für die anfängliche Unhöflichkeit nahm sie lächelnd an – und er hatte nicht länger versucht, ihr zu widerstehen.

Sie konnte nicht wissen, dass er wieder auf freiem Fuß war. Würde sie jetzt, da seine Position so geschwächt war, noch zu ihm stehen? Er wusste es nicht. Für sie war er damals bereit, Romy zu verlassen. Doch dann hatte sich mit einem Schlag alles für ihn geändert. Seine Pläne waren zerplatzt, so viel war klar. Jetzt konnte er ihr nicht mehr die versprochene Zukunft bieten. Was konnte er überhaupt noch bieten? Seine Stellung als Leiter des Schyllbach & Co. Labs wäre in der jetzigen Situation indiskutabel. Und nach allem was geschehen war, würde er um keinen Preis zurückkehren. Schröter musste momentan allein klarkommen. Momentan? Voraussichtlich für immer. Wenn er das Unternehmen denn überhaupt retten konnte. In den Tagen und Wochen seiner Untersuchungshaft hatte Schyllbach natürlich auch die Presse gelesen. Er war also bestens darüber informiert, wie es um die derzeitige Auftragslage stand. Der Skandal um LoWei Plus hatte Wirkung gezeigt. Wer auch immer ihn, Oliver Schyllbach, in den ganzen Schlamassel hineingeritten hatte, wäre demzufolge für den voraussichtlichen Konkurs des Unternehmens mitverantwortlich. Er selbst fühlte sich nur bedingt schuldig.

Mit seinem Anwalt hatte er die Strategie besprochen: Schyllbachs Absicht war, ein hochwirksames Mittel zur Gewichtsreduktion zu entwickeln. Vom baldigen Verkauf der nicht hinreichend getesteten Droge sei nie die Rede gewesen. Und bei dieser Aussage würde er eisern bleiben. Aber Kommissar Wiesmann glaubte ihm nicht.

Ein unbeteiligter Beobachter würde sich über den gestikulierenden, kopfschüttelnden Herrn wahrscheinlich befremdet zeigen, doch weit und breit war kein Mensch zu sehen. Schyllbach stürmte im intensiven Selbstgespräch die Uferpromenade entlang. Als er das Hotel erreichte, schaute er auf die Uhr: Zum Abendessen war es noch zu früh. So beschloss er, die Sauna aufzusuchen und danach vielleicht ein wenig zu lesen.

Mit dem weißen hoteleigenen Bademantel bekleidet fuhr er im Fahrstuhl in das Kellergeschoss und betrat den Saunabereich. Dort zumindest war er nicht allein. Ein kleiner dicklicher Herr saß auf der Holzbank und schwitzte still vor sich hin. Schyllbach setzte sich möglichst weit von ihm entfernt in die andere Ecke und versuchte zu entspannen.

Dann später beim Abendessen im Hotelrestaurant sah er den Saunagast wieder. Oliver Schyllbach hatte kein Interesse an einer Unterhaltung. Deshalb nickte er ihm nur kurz zu und nahm an einem etwas weiter entfernten Tisch Platz. Wie erwartet war das Restaurant nur spärlich gefüllt. Außer zwei, drei Geschäftsreisenden, einem jungen Pärchen und eben diesem dicklichen Herrn aus der Sauna sah Schyllbach keine weiteren Gäste. Ihm konnte es nur recht sein. Er bestellte und legte als Zeichen, dass er nicht angesprochen werden wollte, einen belanglosen Prospekt vor sich auf den Tisch. Äußerlich scheinbar in das Schreiben vertieft, gab er sich seinen Gedanken hin.

Vielleicht wäre es der beste Weg, in die Offensive zu gehen. Er wollte nicht abgeduckt vor der Öffentlichkeit sein weiteres Leben führen. Ob es jetzt an der Zeit wäre, sich bei ihr zu melden? Bei den Vernehmungen hatte er sie völlig herausgehalten, nie ihren Namen genannt und Wiesmanns Fragen bezüglich seiner letzten Dienstreise so wahrheitsgetreu wie möglich beantwortet, aber das Wesentliche eben verschwiegen. Und es war nicht gelogen: Die Reise trat er allein an. Für die gesamte Dauer der Tagung hatte er ein normales Zimmer in dem Tagungshotel gebucht. Aber das Wochenende, an dem sie nachkam, verbrachten sie gemeinsam in der Suite in diesem Wellnesshotel. Daran dachte er jetzt, und sein Lächeln deutete die Kellnerin womöglich falsch. Als sie ihm den Schoppen Silvaner an den Tisch brachte, strahlte sie ihn unmissverständlich an. Sie nahm ihn als attraktiven alleinstehenden Herrn im besten Alter wahr. Schyllbach dankte höflich und trank den ersten Schluck Wein. Seit seiner Dienstreise vor nunmehr fast zwei Monaten hatte er sich nicht mehr derartigen Genüssen hingeben können. Der Silvaner, vielleicht auch der an der frischen Luft verbrachte Nachmittag und der anschließende Saunabesuch oder alles zusammen beflügelten die Gedanken. Schyllbach spürte förmlich, wie seine Lebensgeister zurückkehrten. Er war nicht der Typ, der sich von einem derartigen Schlag in die Knie zwingen ließe. In seiner langjährigen Karriere hatte er schon ganz andere Situationen gemeistert. Nein, das stimmte so nicht. Einen derartigen Tiefschlag hatte er bisher noch nie erlebt: Eine infame Intrige, in deren Folge er inhaftiert wurde. Für ihn war es eine persönliche Katastrophe. Aber er würde wieder aufstehen und sich der unerfreulichen Angelegenheit stellen. Seinen bis dahin makellosen Ruf als Wissenschaftler musste er verteidigen.

Die Vorspeise wurde gebracht, und Oliver Schyllbach genoss die Schaumsuppe von jungen Erbsen mit Wildkräutern und frittierten Flusskrebsen. Die Küche des Hotels war vorzüglich. Nach ein paar Minuten legte er zufrieden den Löffel beiseite. Gleich darauf nahm die Kellnerin mit einem koketten Lächeln den leeren Teller vom Tisch.

Eine weitere Sorge baute sich vor ihm auf und drohte, die Stimmung zu trüben: Wie konnte er sicher sein, dass Wiesmann nicht schon längst herausgefunden hatte, mit wem er das letzte Wochenende vor der Festnahme verbracht hatte? Außer der schriftlichen Buchungsbestätigung, die er zu Hause liegengelassen hatte, konnte die Hotelbuchung auch auf seinem PC nachvollzogen werden. Für die Kripo wäre es ein Leichtes, bei dem Hotel anzufragen, wer der zweite Gast war. Und ihm wäre es mehr als unangenehm, wenn Wiesmann eine Verbindung zu ihr hergestellt hätte. Doch sicher würde sie auch mit dieser prekären Situation nonchalant umgehen.

Wie mochte es ihr jetzt gehen? Ob sie ebenso oft an ihn dachte, wie er an sie? Kurzzeitig hatte er sogar erwogen, sich mit ihr in Verbindung zu setzen, um diese drei Tage hier mit ihr zu verbringen. Aber das wäre riskant. Womöglich wurden seine Aktivitäten überwacht.

Nach wie vor war ihm unerklärlich, warum Wiesmanns Leute in dem E-Mail-Account weder den Schriftverkehr zu LoWei Plus noch Lohmanns E-Mail-Adresse gefunden hatten. Sollte er im Unterbewusstsein doch alles gelöscht haben? Im Nachhinein warf er sich vor, wie gedankenlos, leichtsinnig und gutgläubig er in jeder Hinsicht war. Ein flüchtiger, beunruhigender Gedanke kam ihm genau in dem Augenblick, als die Kellnerin das Hauptgericht brachte.

„Darf es noch ein Schoppen Silvaner sein?“

„Gerne.“ Warum auch nicht? Er würde diesen Abend in vollen Zügen und mit einem gefüllten Glas genießen. Wieder musste er lächeln; aber um von der Kellnerin nicht noch einmal missverstanden zu werden, widmete er sich sofort den in Zitronengras marinierten Rehmedaillons auf Steinpilz-Wildkräuter-Risotto. Schyllbach schloss für einen Moment die Augen und ließ das zarte Fleisch auf der Zunge zergehen. Wann hatte er das letzte Mal etwas ähnlich Köstliches gegessen? Vielleicht im Chez Arabelle, aber das war eine Ewigkeit her. Beim Kauen schaute er zu den anderen Tischen im Restaurant hinüber und fing dabei den Blick des kleinen Dicken auf. Schnell wandte er sich wieder seinem Teller zu. Der flüchtige Gedanke, der ihm vor wenigen Minuten gekommen war, drang jetzt in sein Bewusstsein. Warum hatte der- oder diejenige nicht alle Ampullen aus der Box genommen, sondern noch zwei übriggelassen und dann die Anzeige erstattet? War es ein Zufall? Wurden sie übersehen? Wohl kaum. Vielmehr wollte sein Widersacher sichergehen, dass die Kripo die Ampullen in seinem Labor fand, dass es ihn persönlich träfe. Und für diese Absicht gab es nur einen Grund: Er, Oliver Schyllbach, sollte für eine lange Zeit hinter Schloss und Riegel gebracht und damit aus dem Weg geschafft werden. Wer könnte ein Interesse daran haben? Es fiel ihm nicht schwer, diese Frage zu beantworten. Sein anfänglicher Verdacht wurde durch einen neuen verdrängt.

Schyllbach legte das Besteck beiseite und tupfte mit der Serviette den Mund ab. Diesmal hatte er nicht alles aufgegessen. Nicht, weil es ihm nicht schmeckte, sondern weil ihm diese Erkenntnis auf den Magen schlug. Der Appetit war ihm gründlich vergangen.

„Darf es noch etwas sein? Möchten Sie nochmal in die Dessertkarte schauen?“

Abweisender als beabsichtigt erwiderte er: „Nein, danke. Schreiben Sie bitte alles auf meine Zimmernummer.“ Schyllbach erhob sich und verließ das Hotelrestaurant. Er schaute auf die Uhr; es war noch früh am Abend. Also beschloss er, noch eine kurze Runde zu drehen.

Der Wind hatte aufgefrischt. Schyllbach schlug den Kragen seiner Jacke hoch und lief am nunmehr beleuchteten Uferweg entlang. Er musste nachdenken, wie es für ihn beruflich weitergehen sollte. Ein Zurück ins Schyllbach & Co. Labs war ausgeschlossen, und deshalb würde er nicht umhinkommen, mit Torsten Schröter ein paar finanzielle Dinge zu klären. Das wäre sein nächster Schritt, bzw. sein übernächster. Er brauchte endlich Gewissheit.

Zeitiger als geplant kehrte er wieder um. Nach kurzer Überlegung beschloss er, an der Hotelbar ein Bier zu trinken. Er saß noch nicht lange, als der kleine Dicke neben ihm Platz nahm.

An Schyllbach gewandt meinte er beiläufig: „Na, das Wetter hätte ich mir auch etwas freundlicher gewünscht. Aber was will man machen.“ Schyllbach nickte nur und leerte sein Glas in einem Zug. „Herr Dr. Schyllbach, ich würde Sie gerne mal kurz sprechen. Wollen wir uns dort an den Tisch in der Ecke setzen?“

Entgeistert schaute er den Fremden an. „Ich wüsste nicht …“

Aber der Dicke unterbrach ihn. „Ich erkläre Ihnen gleich, woher wir uns kennen.“ Schyllbach war unangenehm berührt, ging aber mit hinüber zu dem Tisch und nahm Platz. Mit abweisender Miene schaute er sein Gegenüber an.

„Herr Dr. Schyllbach, es ist natürlich kein Zufall, dass ich Sie hier treffe.“ Nein, natürlich nicht, das wurde ihm augenblicklich klar. Er schwieg und wartete ab. „Der Name Lohmann dürfte Ihnen bekannt sein.“ Es war keine Frage, sondern eine Behauptung.

In Sekundenschnelle wurde Schyllbach bewusst, wen er vor sich hatte. Einsilbig erwiderte er: „Ja.“ Die Sache dürfte ja nun gestorben sein.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752123050
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (November)
Schlagworte
Intrige Pharmaunternehmen Mord Venezuela Bedrohung Verrat Reisegruppe Flucht Trekkingtour Droge Krimi Ermittler Thriller Spannung Cosy Crime Whodunnit

Autor

  • Katharina Kohal (Autor:in)

Eine Prise Humor, ein Schuss Romantik und mitunter ein Hauch Fernweh; das sind die Zutaten für ihre Kriminalromane. Katharina Kohal lebt mit ihrer Familie in Leipzig. Mit dem Eintritt in den Ruhestand entdeckte sie ihre Lust am Schreiben neu und veröffentlichte seither:
„Ein fast perfektes Team“,
„Ein perfider Plan – Projekt LoWei Plus“,
„Mehr als ein Delikt“,
„Eine mörderische Tour“ und
„Cyber Chess mit tödlicher Rochade“.