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Am anderen Ende des Tunnels

von Ross Abel (Autor:in)
439 Seiten

Zusammenfassung

Mitte der achtziger Jahre kämpft sich die DDR durch den real existierenden Sozialismus und der sechzehnjährige Niko befindet sich mittendrin. Als wäre es nicht schon schlimm genug, sich in dieser speziellen Zeit zurechtzufinden, muss er sich tagtäglich mit den ganz normalen Herausforderungen des Erwachsenwerdens auseinandersetzen. Seine Freizeit verbringt Niko am liebsten auf dem Fußballplatz oder mit seinen Freunden vor der Eisdiele, dem Treffpunkt der örtlichen Jugend. Dort begegnet er eines Tages Sina und verliebt sich Hals über Kopf in sie. Ihre intensive Beziehung ist aber nicht von langer Dauer, da beide noch nicht reif genug dafür sind. In den folgenden Monaten warten viele spannende, lustige und traurige Erlebnisse auf ihn und er genießt die neuen Erfahrungen in vollen Zügen. Es passieren aber auch einige wirklich skurrile Dinge, wie die Massenkarambolage bei der Friedensfahrt, für die sein Freund Mike verantwortlich zu sein scheint. Trotz sehr guter Zensuren erhält er bei der Bewerbung zu seiner Wunschlehrstelle eine klare Absage und beginnt nun erstmals bewusst über die offensichtlichen Zusammenhänge nachzudenken. Demnach ist nicht allein die Leistung ausschlaggebend, sondern Beziehungen und die „richtige“ politische Einstellung. Ersteres hat er nicht und das andere dummerweise auch nicht. Als Einziger seiner Klasse hat er nicht an der Jugendweihe teilgenommen. Dieser Makel sowie die fehlende Parteimitgliedschaft seiner Mutter sind verantwortlich für die Absage der Bewerbung. Am 1. Mai findet das entscheidende Fußballspiel um die Kreismeisterschaft statt. Nikos Mannschaft verliert unglücklich das Ortsderby – mit schwerwiegenden Folgen. In betrunkenem Zustand zerstören Niko und einige Freunde den „Friedensplatz“ im Nachbarort und reißen dabei auch eine DDR-Fahne herunter. Was sie da angerichtet haben, begreifen sie erst, als die Staatssicherheit auftaucht und von einer politisch motivierten Straftat redet. Auf der Party seines Freundes Sigmar trifft er Sina wieder und sie verbringen die Nacht gemeinsam. Vielleicht hat ihre Liebe ja doch eine zweite Chance verdient. Niko muss lernen, sich seinen Problemen zu stellen und Verantwortung für sein Tun zu übernehmen, sei es in der Schule, der Freizeit oder der Liebe. „Am anderen Ende des Tunnels“ ist weder ein politischer Roman, noch handelt es sich um DDR-Satire á la „Sonnenallee“. Dieser Roman ist ein Porträt der DDR-Wirklichkeit in den achtziger Jahren, die am Alltag Nikos geschildert wird.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Einleitung


Ich hatte wieder schlecht geschlafen, und nun war ich wach, und niemand nahm Notiz von mir. Verdammt noch mal, musste ich sie denn erst anbrüllen? Im Hintergrund hörte ich doch ihre Stimmen. Gerade jetzt in diesem Moment. Auch wenn sich alles so weit entfernt anhörte, erkannte ich doch eindeutig den Klang einer männlichen Stimme. Der tiefe Bass verursachte in mir beinahe Kopfschmerzen, so sehr vibrierte er.

Wie lange das nun schon so ging, konnte ich nicht einmal mehr sagen. Ich lag in meinem Bett wie jeden Tag und dämmerte im Wachzustand vor mich hin. Am liebsten hätte ich laut los geschrien: "Warum zum Teufel hilft mir denn keiner? Seht ihr denn nicht, dass ich aufgewacht bin?", aber dieses Unterfangen war aussichtslos. Ich musste es wissen, denn ich hatte es immer und immer wieder versucht, sie auf mich aufmerksam zu machen: ohne Erfolg.

Einige Zeit hatte ich mir sogar eingebildet, dass sie mich nicht verstehen wollten. Vermutlich deshalb, weil ich ständig mit ihnen redete und sie mir nicht antworteten. Irgendwann kam mir der Gedanke, dass sie mich, aus einem mir unbekannten Grund, wirklich nicht hören konnten, aber das war doch völlig absurd. Schließlich konnte ich ihre Stimmen und andere Geräusche doch auch vernehmen. Wie konnte das dann sein?

Na gut, ohne mich hören zu können, wäre es für sie zugegebenermaßen nicht leicht gewesen zu erkennen, ob ich wach war oder schlief, denn ich konnte, seitdem ich zum ersten Mal wieder zu mir gekommen war, meine Augen nicht öffnen. Genauso wenig konnte ich mich bewegen. Mein Geist war zwar willig, aber das Fleisch war zu schwach. Ich lag einfach nur so da.

Trotzdem konnte ich nicht glauben, dass sie nichts merkten von meinen geistigen Aktivitäten. Mein Gehirn arbeitete ununterbrochen. Andauernd fielen mir Dinge aus meinem Leben ein, aus der Schule, von zu Hause, vom Fußball und von Sina. Das konnte ihnen doch nicht verborgen bleiben.

Auch vorhin hatte ich wieder einen dieser Träume, der wie alle anderen zuvor in der

Vergangenheit spielte. Ein bisschen Angst machte es mir schon, dass alles, was mein Gehirn hervorbrachte, ausschließlich bereits vergangen war, aber letztlich war das in Ordnung, denn es gab viele schöne Erinnerungen, die dadurch wieder an die Oberfläche kamen. Mir fielen Geschichten ein, von denen ich nicht mal erwartet hatte, dass sie in meinem Gedächtnis gespeichert waren. Es war schon eigenartig, sich jetzt noch einmal an den ersten richtigen Kuss oder die Streiche aus der Schulzeit erinnern zu können.

Seltsamerweise schien es in meinen Träumen keine Zukunft zu geben und ich fragte mich, was der Grund dafür sein mochte. Damals hatten sich meine Träume immer in kommenden Zeiten abgespielt und meine Phantasie hatte allerlei Sonderbares ausgeheckt, aber nun war es genau umgekehrt. Das war schon etwas komisch.

Konnte ich dieses Phänomen vielleicht sogar in Verbindung bringen mit den Dingen, die sich zwischen Leben und Tod abspielten? Darüber hatte ich schon häufiger gelesen oder etwas im Fernsehen gesehen und dieses Thema hatte auf mich immer eine große Faszination ausgeübt. Auch im Religionsunterricht bei Pfarrer Focke kamen wir des Öfteren damit in Berührung.

Jeder Mensch besaß, jedenfalls behaupteten das die Wissenschaftler, eine innere Uhr und diese weiß angeblich genau, wann die Zeit zum Sterben gekommen ist. Alle Personen, die in einer lebensbedrohlichen Situation waren, berichteten unabhängig voneinander, dass sie in dieser Zeit ihr gesamtes Leben an sich vorüberziehen sahen und sich an längst vergessen geglaubte Einzelheiten ihrer Vergangenheit erinnern konnten. Niemand sprach davon, dass er seine Zukunft gesehen hatte und ich stellte mir insgeheim die Frage, ob das nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war.

Entgegen meinem üblichen Pessimismus tendierte ich dazu, es als gutes Omen anzusehen, denn um von ihren Beobachtungen und Erlebnissen berichten zu können, mussten sie ja wohl überlebt haben. Andererseits konnte man es aber auch so sehen, dass die Verstorbenen es ebenso erlebten, nur sie konnten nicht mehr davon berichten. Wie dem auch sei, komisch war es jedenfalls.

Wenn ich doch wenigstens gewusst hätte, wo ich mich befand. War ich überhaupt noch am Leben? Natürlich war ich das, verwarf ich diesen törichten Gedanken sofort wieder. Und wenn nicht?

Bevor ich weiter darüber nachgrübeln konnte, überfiel mich eine starke Müdigkeit und ich sank in einen tiefen Schlaf. Kaum war ich eingeschlafen, begann ich wieder zu träumen.




Sina


Endlich war die Schule vorbei. Sechs lange Stunden. In der letzten Zeit konnte nicht schnell genug Schluss sein, denn danach fing der Tag eigentlich erst richtig an.

Um 15 Uhr trafen wir uns mit den anderen vor der Eisdiele. War nicht mehr viel Zeit, bis ich los musste.

Zum Glück brauchte ich heute keine Hausaufgaben mehr machen, weil sich zur Abwechslung mal Ralf darum kümmerte. Er hatte mir gegenüber noch etwas gutzumachen. So wusch eine Hand die andere.

Es war kurz vor um, und Mike kam wie immer zu spät. Wie mich das nervte. Aber schließlich hatte ich die anderen nur durch ihn kennen gelernt und das schwächte meinen Ärger über sein ständiges Zuspätkommen ein wenig ab. Ohne ihn würde ich wahrscheinlich noch immer nur mit den Leuten aus unserer Klasse rumhängen, und das wäre doch mächtig öde. Bbbrrr, daran mochte ich gar nicht denken.

Der höllische Krach unserer Klingel riss mich aus meinen Gedanken. Ich öffnete die Tür. Davor stand Mike, völlig verschwitzt und die Finger voll Schmiere.

"Meine Karre ist schon wieder kaputt", hechelte er bloß.

"Als ob das was Neues wäre", antwortete ich und machte ihm die Tür zum Bad auf.

Mike war bereits 16 und damit der einzige aus unserer Klasse, der schon einen Führerschein besaß. Er war auch mit Abstand der Älteste in unserer Klasse, aber nicht, weil er schon mal sitzen geblieben war, sondern weil ihn seine Eltern ein Jahr später eingeschult hatten. Als Kind war er nämlich körperlich etwas mickrig gewesen, wovon heute allerdings nichts mehr zu sehen war, ganz im Gegensatz dazu war er zu einem recht wohlgenährten Kerlchen herangewachsen.

Während er sich die Hände wusch, erzählte er mir, dass er dabei war, an seinem Moped den Auspuff aufzubohren, wegen dem besseren Klang und so. Ich glaube, ich war der Einzige aus unserer Klasse, den das wirklich nicht interessierte, aber ich hörte mir alles geduldig an und sagte nur ab und zu "echt" oder "ach wirklich?".

"So, was ist jetzt, können wir dann los? Die anderen sind schon lange da und wir kommen wieder mal als letzte", sagte ich mit etwas genervtem Unterton.

"Los geht’s!" erwiderte darauf Mike schon wieder gut gelaunt. Nach fünfzehn Minuten Fußmarsch kamen wir endlich an. Mike war ganz schön geschafft, weil er es nicht mehr gewöhnt war, mehr als hundert Meter zu laufen. Die restliche Sippschaft lachte sich erst mal ´nen Ast, als wir auftauchten.

"Ist euch die Klapperkiste unterm Hintern zusammengebrochen oder haben euch die Bullen das Teil eingezogen?" frotzelte Svenny.

"Na du musst es ja wissen", konterte Mike daraufhin, "wenn ich mich recht erinnere, steht dein Ofen doch schon seit drei Wochen mit einem Platten in der Garage von deinem Alten."

"Kriegt euch mal wieder ein, ihr Pappnasen, gleich kommt nämlich hoher Besuch! Frank will mit seiner neuen Flamme vorbeischauen. Vorstellungsbesuch sozusagen. Auf alle Fälle habe ich versprochen, dass wir uns von unserer besten Seite zeigen werden. Ich hoffe, das geht klar", sagte Rico.

"Man sollte nie Dinge versprechen, die man nicht halten kann", rief Svenny lachend dazwischen und wackelte strafend mit dem Zeigefinger in seine Richtung.

"Ha, ha, sehr witzig", gab er zurück.

"Keine Angst, das geht schon klar, ist doch keine Frage. Wir wollen die ja nicht gleich wieder vergraulen", witzelte Mike und rülpste lauthals in die Runde. Mann, gab das ein Gelächter. Nur Rico schüttelte den Kopf, und Petra guckte verächtlich zu uns herüber, so nach dem Motto: "Oh Gott, seid ihr blöd."

So verging auch heute der Nachmittag wie im Fluge, so wie jeder Tag in der Woche, seitdem wir uns hier trafen.

Die Eisdiele war der ideale Ort, weil sie in diesem Teil Mollins sehr zentral in Bahnhofsnähe lag. Im Prinzip musste jeder, der hier etwas zu erledigen hatte, an uns vorbei und genau das machte diesen Platz so interessant. Es kamen ständig Leute her, um zu quatschen und irgendwie die Langeweile totzuschlagen. Hier war einfach immer was los. Eigentlich war das hier der einzige Treffpunkt, den es noch in Mollin gab. Der Jugendklub war tagsüber schon seit Monaten geschlossen, außer an den Wochenenden. Da war meistens Disco, aber Einlass erst ab 16 Jahren, also nichts für einen Großteil von uns. In unserer Clique waren alle zwischen 13 und 16 und wenn wir es trotzdem mal probierten, uns Samstagabend Zutritt zur Disco zu verschaffen,

scheiterten wir Jüngeren meistens an den strengen Ausweiskontrollen und wurden nicht hineingelassen.

Wollte man also nicht zu Hause abhängen und sich langweilen, dann war das hier die einzige Alternative.

Inzwischen war es kurz nach 18 Uhr, als endlich Frank auftauchte. Er hatte zwei Mädels im Schlepptau, eine Dunkelhaarige und eine mit langen blonden Haaren. Zu ihm konnte nur die mit den dunklen Haaren gehören, denn obwohl er ständig neue Freundinnen anschleppte, war, wenn ich mich recht erinnere, noch nie eine Blondine dabei. Komisch, eigentlich.

"Hallo Leute, ist leider etwas später geworden", begrüßte uns Frank, "aber wir waren bei Antjes Eltern zum Kaffeetrinken eingeladen."

"Aber sicher", sagte Mike und grinste sich einen ab, während er die beiden Mädchen frech musterte.

"Hallo, ich bin Antje, und das ist meine beste Freundin Sina. Tut mir leid, dass wir so spät kommen", entschuldigte sie sich und gab zur Begrüßung jedem die Hand. Sina beließ es bei einem allgemeinen "Hallo" und setzte sich auf die Bank genau gegenüber. Mir fiel ein Stein vom Herzen, denn wie ich es erwartet hatte, gehörte Antje, das Mädchen mit den schulterlangen dunkelblonden Haaren, zu Frank. Doch das war mir in diesem Moment vollkommen egal. Meine Augen waren einzig und allein auf Sina gerichtet, denn sie sah einfach umwerfend aus.

Ich merkte, dass mein Herz zu rasen anfing und guckte etwas ängstlich in die Runde, weil ich dachte, man würde mir das vielleicht ansehen können. Glücklicherweise waren die anderen inzwischen fest ins Gespräch vertieft, und so fielen ihnen meine wohl mächtig erstarrten Gesichtszüge nicht auf.

In den folgenden Minuten redeten alle wild durcheinander, über Gott und die Welt, und Mike riss seine üblichen Witze. Da ich nicht irgendwas Falsches sagen wollte, hielt ich mich mehr im Hintergrund und lauschte den Gesprächen. Dabei versuchte ich ab und an, einen unauffälligen Blick von Sina zu erhaschen. Was hätte ich denn auch erzählen sollen?

Schließlich begann der große Aufbruch.

Sven brüllte uns noch ein "Morgen gleiche Stelle, gleiche Welle?" hinterher und wir

darauf "Na logo" zurück. Als ob das wirklich eine Frage wäre. Natürlich würden wir morgen Nachmittag wieder dort sein, so wie jeden Tag.

Auf dem Nachhauseweg quatschte Mike mal wieder wie ein Wasserfall darüber, wie er morgen sein Moped reparieren würde. Das war mir im Moment sehr recht, denn mit meinen Gedanken war ich ganz weit weg. Für mich gab es eigentlich nur eine wichtige Frage: Wann würde ich Sina wiedersehen und vor allen Dingen: wie könnte ich es dann anstellen, sie kennenzulernen? Ich zermarterte mir den Kopf darüber, kam aber zu keinem Ergebnis.

Mike holte mich wieder zurück auf die Erde.

"Sag mal, Niko, hörst du mir überhaupt zu?" fragte er mich.

"Na klar, was denkst du denn?" antwortete ich ertappt.

"Also, ich hole Dich morgen kurz vor sieben ab. Bis dann ", verabschiedete sich Mike.

"Bis dann", bekam ich gerade noch so raus und winkte Mike hinterher.

Nach dem Abendessen verzog ich mich früher als sonst auf mein Zimmer. Ich wollte jetzt nur noch allein sein. Im Bett ließ ich den Tag noch mal Revue passieren und überlegte, was als Nächstes zu tun wäre. Ich musste Sina wiedersehen, koste es was es wolle. Mit der festen Überzeugung, dass mir schon irgendwas einfallen wird, schlief ich zufrieden ein.


Es war Donnerstagnachmittag. Fußballtraining. Normalerweise war das der Teil meines Sports, auf den ich gut und gerne verzichten konnte, denn der Fleißigste beim Training war ich bestimmt nicht. Für mich war es ein leider notwendiges Übel. Außerdem konnte ich am Donnerstag deshalb nicht zur Eisdiele. Schluss war nämlich erst nach 20 Uhr und da war an unserem Treffpunkt schon Totentanz. Diesmal freute ich mich allerdings aufs Training, denn ich hoffte, Frank über Sina ausfragen zu können. Da Frank auf eine andere Schule ging als ich, hatte ich ihn seit dem letzten Mal an der Eisdiele nicht mehr gesehen.

Zum Beginn des Trainings mussten wir wie immer eine Runde um den Block laufen, was etwa 20 Minuten dauerte und ich suchte nach einer Möglichkeit, um mit ihm unter vier Augen sprechen zu können.

"Wann lässt du Dich denn mal wieder an der Eisdiele sehen?" begann ich das Gespräch.

"Ja, würde ich gerne mal wieder machen, aber im Moment muss ich für die Schule büffeln. Meine Eltern machen Stress wegen der 4 in Mathe. Ich habe ja nicht mal Zeit für Antje", keuchte Frank, dem das Laufen sichtlich schwerer fiel als mir.

Wir unterhielten uns über alles Mögliche, nur nicht über das, was ich mir erhofft hatte. Ich schaffte es einfach nicht, ohne dass es auffallen würde, unser Gespräch auf Sina zu lenken. Schließlich kam mir ein Zufall zu Hilfe, denn Frank begann von sich aus, über seine Beziehung zu Antje zu reden und damit automatisch auch über Sina.

"Mit Antje ist das auch so eine Sache. Jedes Mal wenn wir uns sehen, ist ihre Freundin mit dabei. Die beiden hängen zusammen wie Pech und Schwefel. Mit ihr mal alleine sein ist da nicht. Immer wenn ich Antje darauf anspreche, sagt sie, dass Sina nun mal ihre beste Freundin ist und ich das halt akzeptieren müsste. Am besten wäre wahrscheinlich, wenn Sina auch einen Freund haben würde, nur das ist nicht so einfach", erzählte er mir.

Damit hatte er mir meine wichtigste Frage bereits beantwortet. Sie war also noch solo. Ich atmete tief durch und fragte ihn, warum das mit dem Freund bei ihr nicht so einfach wäre.

"Na ihr letzter Typ war wohl ein ziemliches Arschloch und hat nebenbei noch was anderes zu laufen gehabt. Deshalb hat sie jetzt erst mal die Schnauze voll von Kerlen."

So war das also.

Inzwischen waren wir wieder am Sportplatz angekommen und da wir die letzten waren, mussten wir zur Strafe eine Extrarunde im „Stadion“ absolvieren. Ich war mit meinen Kräften völlig am Ende, aber das eigentliche Training fing nun erst an. Zum Glück standen heute hauptsächlich Torschussübungen auf dem Programm. Das war nicht so anstrengend und machte mir eigentlich immer den meisten Spaß, obwohl ich das Tor aus 25 Metern nur selten traf. Der Großteil meiner Schüsse ging leider am Kasten vorbei, aber darauf kam es als Mittelstürmer ja auch nicht an. Da zählten schließlich nur Tore, völlig egal wie diese zustande kamen. Wen interessierte es schon, wie ich meine Tore schoss. Hauptsache war doch, dass ich welche schoss. In

dieser Saison immerhin 11 Stück. Damit war ich unser Torschützenkönig. Das war sicher auch der Grund, warum ich vom Trainer zufrieden gelassen wurde. Trotzdem hätte er sich wahrscheinlich gewünscht, dass ich mich im Training mehr reinhängen würde, aber entscheidend war die Leistung im Spiel, und die brachte ich fast immer.

Für mich waren Training und Spiel zwei völlig verkehrte Paar Schuhe. Zum Punktspiel musste mich niemand motivieren, da gab ich immer alles. Sobald ich auf dem Platz stand, war ich ein anderer Mensch. Das machte halt tierisch Spaß. Aber Training....

Nach über zwei Stunden konnten wir endlich unter die Dusche. Wie meistens war ich einer der letzten, die mit dem Umziehen fertig waren. Ich hatte mich bereits aufs Fahrrad geschwungen und wollte gerade losfahren, als mir Frank hinterher brüllte.

"Hey, Niko, warte doch mal!" rief er und kam angerannt.

"Was gibt‘s denn Wichtiges?" fragte ich ihn und hatte das Gefühl, dass er irgendetwas auf dem Herzen hat.

"Weißt du, ich wollte Dich fragen, ob du mir nicht einen Gefallen tun würdest?"

"Na ja, das kommt auf die Art des Gefallen an", antwortete ich skeptisch.

"Am Montag ist doch der 30. April und auf dem "Platz der Freundschaft" findet wie jedes Jahr das Maifeuer statt mit anschließendem Kinofilm. Da werde ich mit Antje und Sina hingehen. An dem Abend sind meine Eltern nicht zu Hause; ich habe sozusagen sturmfreie Bude. Und da wollte ich dich fragen, ob du nicht Lust hast mitzukommen".

" Ich soll mich also um Sina kümmern, damit ihr euch klammheimlich verdrücken könnt?" sprach ich das aus, was er offensichtlich meinte und fügte sofort hinzu: "Gar keine so schlechte Idee, aber wie soll das denn funktionieren?"

"Das weiß ich leider auch nicht. Ich dachte, dass dir vielleicht was einfallen würde", sprach Frank und machte einen etwas resignierenden Eindruck auf mich.

" Okay", sagte ich, "ich werde mir schon irgendwas ausdenken. Das kriegen wir hin. Bis Montag sind ja noch ein paar Tage Zeit, um sich was zu überlegen."

Frank war ziemlich aus dem Häuschen. Wahrscheinlich hatte er nicht damit gerechnet, dass ich mich ohne viel Federlesen auf diese Sache einlassen würde, aber etwas Besseres konnte mir gar nicht passieren. Nur davon hatte er ja nicht die

leiseste Ahnung.

"Mann, wenn das klappt, hast du bei mir ewig was gut", versprach mir Frank.

"Das möchte ich auch hoffen", sagte ich aus Spaß zu ihm und schwang mich auf mein altes Fahrrad.

Wir hatten uns für Montagabend 18 Uhr am Bahnhof verabredet.

Auch in der Schule gab es nur ein Thema: das große Maifeuer und der Kinofilm danach. Allzu viele Höhepunkte gab es in unserem kleinen Ort ja nicht, aber der 30. April war so einer und hatte inzwischen jahrzehntelange Tradition. Darauf freuten sich alle schon Wochen vorher. Die Gerüchteküche brodelte wie jedes Jahr, welcher Film wohl zu sehen sein würde, aber etwas Genaues wusste keiner. Im vorigen Jahr wurde "Das fliegende Auge" gezeigt und wir hatten es bereits eine Woche früher gewusst. Diesmal war nichts durchgesickert. Eigentlich war es auch egal, welcher Film laufen würde. Hauptsache war doch, dass endlich mal etwas los war hier und man sich mit Leuten treffen konnte, mit denen man selten zusammenkam. Irgendwie war es wie ein Volksfest für groß und klein. Der frühe Abend gehörte den Eltern und ihren Kindern mit dem Fackelzug und anschließendem Maifeuer und danach nahm die Jugend den Platz beim Open- Air- Kino in Beschlag.

Genauso wie Frank, der für die Schule büffeln musste, erging es mir nun auch, da die Zeit bis zu den Zeugnissen unaufhörlich näherrückte. Obwohl ich das wusste, machte mir die Schule überhaupt keinen Spaß mehr und meine Motivation dafür ließ sehr zu wünschen übrig. Dass mein Abschlusszeugnis der 9. Klasse entscheidend war für die Bewerbung um einen Ausbildungsplatz, wusste ich natürlich selbst und auch, dass ich den Antrag für eine Lehrstelle mit Abitur noch längst nicht sicher in der Tasche hatte.

Beim letzten Besuch meiner Großeltern hatte ich mir, meine schulischen Leistungen betreffend, eine ziemliche Standpauke anhören müssen. Vor allen Dingen mein Opa konnte nicht verstehen, dass ich mir durch mangelnden Fleiß möglicherweise die Chance entgehen ließ, das Abitur machen zu dürfen, welches die Vorraussetzung für ein späteres Studium war.

Wie immer bei solchen Anlässen, begann er Geschichten aus seiner Jugendzeit zu erzählen. In aller Ausführlichkeit berichtete Großvater davon, dass er damals selber gerne studiert hätte, es aber zu seiner Zeit nicht möglich war für die einfachen Leute,

zu denen seine Familie nun einmal gehörte. Seine Eltern hatten in der Zeit der großen Weltwirtschaftskrise ganz andere Sorgen, schließlich galt es in der kleinen 4-Zimmerwohnung im Herzen Berlins neun Münder zu stopfen. Außer seinen Eltern und der Oma mütterlicherseits, teilten sich mit ihm insgesamt sechs Geschwister die zwei winzigen Kinderzimmer, wobei der Raum für die vier Jungen nicht viel mehr war als eine Schlafunterkunft. Es gab nicht mal einen Tisch darin, und zum Schulaufgaben machen benutzten sie alle den großen im Wohnzimmer, und dort herrschte jedes Mal ein grenzenloses Chaos.

Oma dagegen war in Mollin groß geworden und hatte seitdem noch nie woanders gewohnt. Ihr Vater war aus dem ersten Weltkrieg nicht wiedergekommen, und ihre Erinnerung an ihn war nicht sonderlich groß, aber er war es gewesen, der damals mit dem Geld einer Erbschaft, hier das kleine Grundstück erworben hatte, auf dem sie später ein Haus bauten. Zwei Jahrzehntelang lebten dort drei Generationen von Frauen unter einem Dach: meine Oma, ihre Mutter und deren Mutter. Dort lernten sich meine Großeltern schließlich auch kennen, denn ohne männliche Unterstützung im Haushalt war es unumgänglich für Reparaturen der unterschiedlichsten Art Handwerker zu holen. Opa arbeitete zu dieser Zeit als Klempner bei einem Notdienst, und als eines Tages die Toilette im Haus verstopft war, nahm das Schicksal seinen Lauf.

Genauso wie Oma ihren Vater kaum kennen gelernt hatte, war es mir ergangen, denn meiner war bei einem Unfall gestorben, als ich noch ein Baby war. Was genau passiert war, hatte ich bis jetzt nicht in Erfahrung bringen können. Mutti sprach fast nie von ihm, und in unserer Wohnung gab es, mit Ausnahme einiger Fotos, nichts, was an ihn erinnert hätte. Das meiste über ihn wusste ich daher durch meinen Opa, der mir ab und zu Geschichten von damals erzählte, von gemeinsamen Familienfeiern oder Sonntagsausflügen mit Picknickkörben in den Tanndorfer Forst. An derselben Stelle im Wald veranstalteten wir immer unsere schon legendären Federballturniere mit anschließendem Essen und Trinken bis zum Umfallen. Laut Opa war ich dabei der legitime Nachfolger meines Vaters, da ich in den vergangenen Jahren, so wie er damals, kaum ein Spiel verloren hatte. Überhaupt meinte Opa des Öfteren, er würde ihn, von der Art meiner Bewegungen, in mir wiedererkennen. Oma

hielt sich zwar mit solchen Sprüchen weitestgehend zurück, aber manchmal sah sie mich mit großen aufgerissenen Augen an, schüttelte den Kopf und sagte: "Junge, du siehst aus wie dein Vater."

Ehrlich gesagt, konnte ich diese angebliche Ähnlichkeit mit ihm nicht entdecken, allerdings konnte ich zum Vergleich nur die wenigen Fotografien heranziehen, die existierten. Unsere Gesichtszüge waren meiner Meinung nach keineswegs gleich, das einzige, was ich offenbar hundertprozentig von ihm geerbt hatte, waren die Haare, und das war nun wirklich nicht gerade der Teil an mir, auf den ich sonderlich stolz war. Trotz häufigem Waschen sahen sie nämlich fast immer strähnig und fettig aus, und fingen ab einer bestimmten Länge an zu verwuscheln, aber am schlimmsten war es, wenn ich in einen Regenguss kam. Dann hingen die sich durch die Nässe gebildeten Löckchen regelrecht verklebt in meinem Gesicht. In so einem Fall konnte ich nur zusehen, schnell nach Hause zu kommen, ganz schnell. Und etwas anderes störte mich auch noch: meine Größe. In unserer Klasse war ich einer der kleinsten, und beim Fußball sah es nicht viel besser aus. Auf dem Hochzeitsfoto meiner Eltern war eindeutig zu sehen, dass mein Vater nicht besonders groß war, und ich befürchtete, dass ich das ebenfalls geerbt haben könnte und nicht mehr weiterwachsen würde, aber jeder, den ich darauf ansprach, meinte nur, ich solle mich da nicht in etwas hineinsteigern. Garantiert würde ich später, mit 17 oder 18, noch einen Schub machen, nur dessen war ich mir nicht so sicher.

Am Wochenende wurde mir nun auch von meiner Mutter endgültig klargemacht, dass ich allmählich etwas für die Schule tun musste, nachdem sie beim vergangenen Elternabend von meinem Klassenlehrer zur Seite genommen worden war.

"Ich muss ihnen leider sagen, dass Niko mit dem Desinteresse und seiner Faulheit, die er an den Tag legt, im Moment nicht damit rechnen kann, von mir für eine Bewerbungskarte mit Abitur vorgeschlagen zu werden. Sie können sich doch sicher vorstellen, wie schwer es ist, bei einer Klasse mit 28 Schülern. Ich habe nur die Möglichkeit, bei den fünf Besten eine dementsprechende Empfehlung an den Kreisschulrat zu geben, und vor einem halben Jahr wäre Niko auf jeden Fall darunter gewesen, aber seitdem weiß ich auch nicht, was mit ihm los ist. Er macht in einigen Fächern kaum noch mit im Unterricht und seine Hausaufgaben, wenn er denn mal

welche hat, sind mangelhaft. Ich will gar nicht davon sprechen, wann er das letzte Mal pünktlich zur Schule gekommen ist. Ich weiß, dass es für sie nicht leicht ist, alleine mit den Kindern, und dass sie erst spät am Abend nach Hause kommen, aber am Ende des Schuljahres entscheidet sich der weitere Lebensweg ihres Sohnes, und noch können sie darauf Einfluss nehmen. Vielleicht können sie ihm ja den Ernst seiner Lage klar machen, auf mich hört er jedenfalls nicht." Er machte eine kurze Pause zum Luftholen. "Ich würde es sehr schade finden, falls Niko nicht unter den Fünfen sein sollte, schließlich war er immer einer der besten Schüler seiner Klasse und es ärgert mich, dass er sein Potential nicht ausschöpft. Von allen hat er immer die leichteste Auffassungsgabe gehabt. Andere, wie sein Banknachbar Ralf zum Beispiel, müssen sich zu Hause stundenlang auf den Hosenboden setzen, um Leistungen zu erreichen, wie sie für Niko sonst ganz normal waren, aber aufgrund seiner Faulheit ist das jetzt eben nicht mehr so. Versuchen sie bitte, ihm das klarzumachen, noch hat er Zeit und kann etwas ändern!"

Seit der Elternversammlung gab es dicke Luft zu Hause und ich musste Mutti versprechen, mich ab der kommenden Woche wieder verstärkt der Schule zu widmen, was natürlich auch die Hausaufgaben mit einschloss.

Nach unserem Gespräch, das am Sonnabendnachmittag stattgefunden hatte, war mit mir überhaupt nichts mehr anzufangen, und ich machte mir viele Gedanken darüber. Am Sonntag dachte ich aber auch über etwas ganz anderes nach, nämlich darüber, was ich am Montag in Sinas Gegenwart erzählen könnte, ohne mich zu blamieren. Mir viel einfach nichts Sinnvolles ein. Ich stand stundenlang im Badezimmer vor dem Spiegel und übte Gespräche ein, die so bestimmt niemals stattfinden würden. Das flaue Gefühl in der Magengrube wurde immer stärker, je näher der Montag kam.

Schließlich war es soweit.

Seit über einer Stunde war ich jetzt schon im Bad, als meine Schwester Sabine wutentbrannt gegen die Tür donnerte.

"He, du Blödmann, ich muss da auch mal rein. Das Scheißhaus gehört schließlich nicht dir alleine", brüllte sie durch die geschlossene Tür.

"Immer mit der Ruhe", sagte ich ganz cool, "ich bin gleich fertig."

"Das will ich auch hoffen für dich", antwortete mir darauf Sabine.

Normalerweise gingen unsere Dispute nicht so friedlich ab. Allein dieses "He, du Blödmann" hätte dazu geführt, dass ich mir erst recht Zeit gelassen hätte. Doch heute hatte ich keine Lust, mich mit ihr rumzustreiten.

Inzwischen war es 20 Minuten vor 18 Uhr und ich beschloss, loszugehen. So hatte ich genug Zeit, um nicht abgehetzt am Bahnhof anzukommen. Mein Herz fing mächtig zu rasen an und ich versuchte, ganz tief durchzuatmen, in der Hoffnung, so ein wenig ruhiger zu werden. Zu meiner eigenen Überraschung klappte das sogar einigermaßen.

Als ich am Bahnhof ankam, hatte ich noch einige Minuten Zeit. Vom "Blauen Bock", wie unser Orts-Express im Volksmund genannt wurde, war noch nichts zu sehen. Also setzte ich mich auf eine der Bänke auf dem Bahnsteig und wartete gespannt darauf, dass der Zug einfahren würde.

Der "Blaue Bock" war die einzige richtige Verkehrsverbindung in Mollin, und fuhr stündlich zwischen den beiden größten Ortsteilen hin und her, die sich seit Beginn der dreißiger Jahre, als viele Berliner der Stadt den Rücken gekehrt hatten und hierher aufs Land gezogen waren, in den Umgebungen der Bahnhöfe gebildet hatten. Im Prinzip bestand unsere Gemeinde aus etlichen weit auseinander liegenden Siedlungen, die man nach dem Krieg zur besseren Verwaltung einfach zusammengelegt hatte. Daher gab es auch kein Zentrum im herkömmlichen Sinne. In der Nähe vom "Platz der Freundschaft" waren zwar einige Geschäfte, unter anderem die Post, ein Schreibwaren- und ein Schuhladen, aber die restlichen waren über ganz Mollin verstreut. Eine Einkaufsstraße, auf der man alles Notwendige finden konnte, so wie es sie eigentlich in jedem Dorf gab, suchte man hier vergebens. Für jede noch so kleine Besorgung benötigte man, wollte man nicht stundenlang unterwegs sein, ein Fahrrad, ein Moped oder besser noch ein Auto. Letzteres besaß in unserer Familie leider niemand, so dass wir die meisten Wege mit unseren Rädern zurücklegten, vorausgesetzt, dass sie gerade funktionstüchtig waren.

Am anderen Ende Mollins befand sich dagegen unser Treffpunkt, die Eisdiele, und nicht weit davon entfernt lag der Sportplatz, und nicht zu vergessen die Drogerie, in der kurz vor dem Jahreswechsel immer die Hölle los war, weil dort die

Silvesterknaller verkauft wurden. Jahr für Jahr stellten sich einige Verrückte bereits gegen Mitternacht an, um am nächsten Morgen als einer der ersten die begehrten Raketen, Harzer Knaller, Bengalischen Feuer oder sonstige Utensilien zu ergattern, mit denen in der Silvesternacht das neue Jahr begrüßt wurde.

Die großen Entfernungen im Ort waren auch der Hauptgrund dafür, dass es bis zum heutigen Tag zwei Schulen gab, obwohl für die paar tausend Einwohner bestimmt eine große ausgereicht hätte. Jedenfalls war es äußerst selten, dass in den Molliner Schulen pro Jahrgang mehr als eine Klasse zusammenkam. Es gab aber noch einen anderen Grund, der hing damit zusammen, dass Mollin von den Eisenbahnschienen des Berliner Außenringes, über den ein Großteil des Güter- und Personenverkehrs Richtung Süden abgewickelt wurde, regelrecht in zwei Hälften geteilt wurde.

Zum Beispiel gingen die Schüler, die im "Dorf" wohnten, das war die Gegend entlang der Maxim-Gorki-Straße, an der sich der Dorfanger und die Kirche befanden, nicht mehr in unsere Schule, seitdem vor einigen Jahren der Schulbus eingestellt wurde, der sie sonst immer hergefahren hatte. Zu Fuß oder mit dem Fahrrad führte die kürzeste Strecke von dort über einen unbeschrankten Bahnübergang und die Eltern hatten berechtigte Angst, dass ihre Kinder statt dem ungefährlichen, aber längeren Weg am Bahnhof, die Abkürzung nehmen würden. Um einer unnötigen Gefährdung vorzubeugen, hatten sie schließlich durchgesetzt, dass ihre Kinder auf die andere Schule wechseln durften. Diese war zwar etwas weiter vom "Dorf" entfernt, aber dafür auf derselben Seite der Bahnschienen.

Im Hintergrund hörte ich nun das ratternde und quietschende Geräusch des alten Waggons.

Die ersten Leute stiegen aus dem Zug und ich versuchte, in dem Gewimmel jemanden zu erkennen. Zuerst sah ich Frank, der mit seinen 1,80 Metern ja auch nicht zu übersehen ist. Dahinter liefen Antje und Sina. Mann, war ich aufgeregt.

Jetzt hatte auch Frank mich entdeckt und deutete in meine Richtung. Kurz darauf standen die drei vor mir.

"Hallo, Niko, schön das du da bist. Musstest du lange warten?" begrüßte mich Frank, der sichtlich erfreut war, mich zu sehen.

"Nein, ich bin gerade erst gekommen", antwortete ich ihm und wendete mich den Mädchen zu.

"Ich glaube, ich muss mich erst mal vorstellen", begann ich etwas zögerlich, worauf mir sofort Antje ins Wort fiel.

"Das ist nicht nötig. Frank hat uns schon eine ganze Menge über dich erzählt."

"Ja, und zwar fast nur Gutes", lächelte mich Sina an.

"Das möchte ich auch hoffen", gab ich zur Antwort und drehte mich Frank zu.

Das Eis war damit sofort gebrochen und wir unterhielten uns, als ob wir uns schon ewig kennen würden. Meine Bedenken, die ich wegen heute hatte, waren wie weggeblasen.

Langsam gingen wir die Straße entlang zum Rummelplatz, welcher seit einer Woche auf dem Parkplatz in der Nähe der Post aufgebaut war. Dort standen im Halbkreis etwa zehn verschiedene Wagen, unter anderem eine Schießbude und ein Kettenkarussell. Heute herrschte hier natürlich Hochbetrieb. Der "Platz der Freundschaft" war nur einige hundert Meter entfernt und da noch eine gute Stunde Zeit war, bevor das große Spektakel beginnen würde, trafen sich die meisten vorher hier.

Wir steuerten die Imbissbude am äußeren Rand des Rummelplatzes an und bestellten uns was zu trinken.

"Hat jemand Lust, da drüben Bälle zu werfen?" deutete Frank auf einen großen blauen Wagen, an dessen Seite ein riesiges Schild mit der Aufschrift "Jeder Wurf ein Treffer" angebracht war. So richtig begeistert war keiner von dem Vorschlag, aber um Frank nicht in den Rücken zu fallen, sagte ich "Klar, warum nicht?"

Drei Bälle kosteten 50 Pfennig und wir beschlossen, dass jeder von uns 3 Bälle werfen muss. Ich hatte das zweifelhafte Vergnügen, anfangen zu dürfen, konnte die Pyramide aber nicht umwerfen. Den anderen erging es allerdings auch nicht besser. Sina war die einzige von uns, die getroffen hatte und erhielt 1 Punkt. Was sollte man bloß mit einem Pünktchen anfangen? Dafür gab es gerade mal einen Kugelschreiber oder eines dieser hässlichen Plasteautos. Wir guckten uns die Auslage an und versuchten, irgendwas Sinnvolles darin zu entdecken. Außer einer Flasche billiger Rotwein war dort aber nichts. Für den Wein musste man 6 Punkte haben, und wir entschlossen uns dazu, die fehlenden 5 Punkte zu werfen. Als wir die Flasche

endlich in unseren Händen halten konnten, waren wir um 15 Mark ärmer, aber wir hatten unser Ziel erreicht.

Die Rotweinflasche steckte ich vorerst in die Innentasche meiner Jacke, denn noch war es viel zu hell, als dass wir uns getraut hätten, sie in aller Öffentlichkeit zu trinken. Das hätte einen Höllenärger gegeben, wenn uns ein Lehrer, von denen hier einige zu sehen waren, mit einer Pulle Wein erwischt hätte. Also warteten wir die Dämmerung ab.

Kurz nach 20 Uhr, nachdem der Fackelzug wieder am Platz angekommen war, wurde das Maifeuer entzündet. Diesmal kam es mir noch gewaltiger vor, als in den vergangenen Jahren. Die Flammen loderten meterhoch, und der Wind trieb die Funken in den Abendhimmel. Am Horizont waren nur noch rötliche Streifen zu sehen und die Dunkelheit hielt Einzug.

"Was ist, wollen wir nicht endlich den Wein aufmachen? Der Film wird sicher bald losgehen", sagte Sina und zeigte auf meine Jackentasche.

"Klar, von mir aus gerne. Lasst uns mal ein ruhiges Plätzchen suchen!" antwortete ich.

Am hinteren Ende des Platzes waren einige hohe Sträucher, wo wir ungestört die Flasche öffnen konnten. Da wir leider keinen Korkenzieher dabei hatten, zog ich meinen rechten Schuh aus und schlug mehrere Male mit voller Kraft auf den Flaschenboden. Langsam hob sich der Korken, so dass ich mit den Zähnen nachhelfen konnte. Es hatte zwar eine Weile gedauert, aber nun war die Flasche offen. Ich reichte, ganz Gentlemen, den Wein zu den Mädels rüber. Zuerst nahm Antje einen großen Schluck und schüttelte sich.

"Igitt, ist der süß!" sprach sie verächtlich und reichte die Flasche sofort weiter zu Sina.

Nachdem auch sie ein wenig davon getrunken hatte, reichte sie mir ohne Kommentar die Flasche. Ihrem Gesichtsausdruck war nicht anzumerken, ob ihr der Wein geschmeckt hatte oder nicht.

Nun war ich an der Reihe. Ich setzte den Flaschenhals an meinen Mund und trank etwas davon. Erleichtert stellte ich fest, dass der Wein gar nicht so schlecht schmeckte. Klar, war er ein wenig zu süß, aber was konnte man denn von einem 6-

Punkte-Wein auf dem Rummel erwarten?

Die Flasche machte nun ständig die Runde, bis der letzte Tropfen ausgetrunken war. Bei vier Leuten dauerte das ja auch nicht allzu lange.

Inzwischen war es stockdunkel geworden und auf der großen Bühne begann der Kinoabend, wie immer mit dem "Augenzeugen". Als ob das jemand sehen wollte!

Frank nahm Antje an der Hand und ging los in Richtung Leinwand. Nach ein paar Metern drehte er sich zu uns um.

"Na los, lasst uns mal einen vernünftigen Platz suchen! Der Film wird sicher gleich anfangen", forderte er uns zum Mitkommen auf.

"Geht schon mal vor, wir kommen gleich nach!" antwortete Sina und guckte mich mit ihrem unvergleichlichen Lächeln an. Da sie mein verwundertes Gesicht sah, setzte sie zu einer Erklärung an.

"Antje wollte endlich mal mit ihrem Schatz alleine sein und deshalb haben wir ausgemacht, dass sich die zwei bei einer günstigen Gelegenheit absetzen. Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass jetzt nur noch wir beide übrig sind. Aber wir werden uns schon vertragen, oder?"

Ich war erst mal mächtig baff, versuchte aber, mir das nicht zu sehr anmerken zu lassen.

"Das will ich doch hoffen, dass wir uns vertragen. Lass uns rüber zur Leinwand gehen!"

Vor der Bühne hatten sich einige hundert Leute versammelt, so dass alle Sitzplätze längst besetzt waren. Wir stellten uns hinter die Sitzbänke und warteten gespannt darauf, welchen Film es wohl zu sehen gäbe.

Endlich war es soweit. Der Vorspann des Films lief und es ging ein Raunen durch die Menge.

Es war "Das verrückte California Hotel". So ein alter Schinken. Das durfte doch wohl nicht wahr sein. Gerade vorletzte Woche kam der Film im Ersten. Zwar im Westfernsehen, aber das guckten doch sowieso alle.

Während sich die Handlung des Films langsam vorwärts quälte, guckte ich mehrfach zu Sina herüber, um herauszufinden, ob ihr der Film gefiel oder nicht. Um von ihrem Gesicht eine Reaktion ablesen zu können, war es leider viel zu dunkel. Als ich wieder

zu ihr rüber sah, trafen sich unsere Blicke.

"Willst du den Film zu Ende gucken?" fragte sie mich.

"Wenn ich ehrlich bin, nicht unbedingt", flüsterte ich ihr ins Ohr, "so toll ist der Film ja auch nicht. Außerdem kam der gerade erst im Fernsehen."

"Gut, von mir aus können wir gehen. Ich muss sowieso bald zu Hause sein", hauchte sie mir so leise wie möglich zu.

Wir schlenderten in aller Ruhe durch die Nacht und redeten über gemeinsame Freunde, die Schule, Musik und und und. Es war eine Vertrautheit zwischen uns, als ob wir uns schon ewig kennen würden. Obwohl wir einige Umwege gemacht hatten, kamen wir schließlich bei mir zu Hause an. Statt uns zu verabschieden, standen wir noch einige Minuten vor meinem Hauseingang und unterhielten uns. Irgendwann guckte Sina auf ihre Uhr und bekam einen ganz schönen Schreck.

"Ich muss jetzt schnell los", sprach sie sichtlich aufgeregt und fügte leise hinzu, "Das wird bestimmt Ärger geben. Eigentlich sollte ich um 23 Uhr spätestens da sein und jetzt ist es schon kurz nach halb 12."

"Warte mal, ich hab eine Idee! Wir holen mein Fahrrad und das meiner Schwester aus dem Keller und radeln schnell zu dir. Zurück fahre ich dann mit beiden Rädern. Na, was meinst du?"

Erleichtert sah sie mich an. "Ist eine Super Idee."

Nach nur 10 Minuten waren wir bei ihr. Wir stellten hastig die Fahrräder ab.

"War ein toller Abend, Niko. Können wir von mir aus sehr gerne mal wiederholen." Ihr Gesicht war nur wenige Zentimeter von meinem entfernt, und ich konnte ihren Atem spüren.

In diesem Moment lag eine unheimliche Spannung zwischen uns und ehe ich etwas antworten konnte, küsste sie mich zaghaft auf den Mund. Wie weich doch ihre Lippen waren. Es war ein unbeschreibliches Gefühl.

"Ich muss jetzt rein. Vielleicht sehen wir uns ja mal", verabschiedete sie sich und winkte mir zum Abschied zu.

"Wir werden uns sicher sehen", rief ich ihr leise hinterher, bevor sie in der Dunkelheit verschwand.

Nun war ich alleine mit meinen Gedanken in dieser warmen Frühlingsnacht und

machte mich mit den beiden Fahrrädern auf den Nachhauseweg. War gar nicht so einfach, wie ich mir das vorgestellt hatte. Mit der linken Hand lenkte ich mein Rad, während ich mit der rechten Hand, die ich in der Mitte des Lenkers vom anderen Fahrrad hatte, versuchte, Sabines Rad zu steuern. Zum Glück waren keine Autos unterwegs, so dass ich die Straße für mich allein hatte. Und die brauchte ich auch.

Ohne auch nur einmal gestürzt zu sein, kam ich kurz nach Mitternacht zu Hause an. Drinnen war alles ruhig und ich schlich mich auf den Zehenspitzen leise in mein Zimmer. Dort angekommen, zog ich meine Sachen aus und legte mich ins Bett. Überglücklich lag ich noch lange wach und malte mir aus, wie es wohl zwischen uns weitergehen würde. Eines wurde mir auf jeden Fall klar: ICH HATTE MICH ZUM ERSTEN MAL VERLIEBT.


Von Toren, einer Feier und seltsamen Flecken


Am 1. Mai hatten wir Besuch bekommen von meinem Onkel Hans und seiner Frau Ingrid aus Westberlin. Eigentlich wollten sie einen Tag später, zum Geburtstag meiner Mutter, kommen, aber das hätte sich nach der Arbeit nicht mehr gelohnt und so hatten sie beschlossen, den Feiertag auszunutzen. Am darauffolgenden Tag waren nach der Schule meine Großeltern da und wir feierten bis spät abends Muttis Geburtstag.

An der Eisdiele war ich schon seit Tagen nicht mehr gewesen. Komischerweise verspürte ich danach auch kein Bedürfnis. Das einzige, was mir im Moment durch den Kopf ging, war Sina. Die jetzige Situation war irgendwie unbefriedigend, denn ich wusste nicht so recht, woran ich bei ihr war. Ich hatte gehofft, dass sie sich bei mir melden würde, aber wahrscheinlich erwartete sie von mir den nächsten Schritt. Ich spürte, dass ich jetzt gefordert war und beschloss, heute vor dem Fußballtraining bei ihr vorbeizugehen.

Da ich mit Mädchen bisher nicht viel Erfahrung hatte, begann ich in der Schule Jens auszufragen. Wir kannten uns seit frühester Kindheit an, denn er wohnte gleich bei mir um die Ecke und wir hatten immer zusammen gespielt. Unser Verhältnis war recht gut, obwohl er fast anderthalb Jahre älter war als ich und die anderen aus der 10. Klasse mit uns "Kleinen" nichts zu tun haben wollten.

Ich schilderte ihm meine Situation und er hörte sich alles interessiert an. Als ich mit dem Erzählen fertig war, blickte er mir in die Augen.

"Du willst also wissen, was du jetzt machen sollst? Ist doch gar kein Problem. Wenn du heute Nachmittag zu ihr hingehst, fragst du sie einfach, ob sie mit dir gehen will! Was soll schon passieren? Mehr als nein sagen kann sie ja nicht. Außerdem, nach allem was du mir erzählt hast, wird sie nicht nein sagen."

Sein Wort in Gottes Ohr, dachte ich mir, aber sollte ich sie das wirklich fragen? Ich wusste es nicht so richtig. Jens riss mich aus meinen Gedanken.

"Wird schon schief gehen, Alter", klopfte er mir auf die Schulter, "bei mir hat das bis heute immer funktioniert. Viel Glück."

Er ließ mich stehen und ging wieder zu seinen Kumpels, die am Ende des Schulhofs unter den großen Pappeln standen.

Nach der Schule beeilte ich mich, schnell nach Hause zu kommen. Heute war ich mit Einkaufen dran und musste danach noch den Abwasch von gestern machen. Beides dauerte zum Glück nicht so lange, wie ich erwartet hatte. Schnell packte ich meine Sportsachen ein und machte mich auf den Weg zu Sina.

Als ich bei ihr ankam, war es erst kurz nach 17 Uhr. Bis zum Training hatte ich also noch genug Zeit. Ich lehnte mein Fahrrad an den Gartenzaun und klingelte. Meine Hände zitterten etwas, aber alles in allem war ich weniger aufgeregt als beim letzten Mal.

Ich klingelte noch einmal. Nichts. Anscheinend war niemand zu Hause.

Das war ja eine schöne Pleite, dachte ich und wusste nicht so recht, was ich nun machen sollte. Ich nahm mein Rad und fuhr ziellos durch die Gegend, um irgendwie die Zeit rumzukriegen bis zum Beginn des Fußballtrainings. Zur Abwechslung war ich dadurch sogar mal zu früh da, was bei mir äußerst selten vorkam. Normalerweise kam ich immer auf den letzten Drücker, weil ich zu spät losfuhr, oder die Bahnschranken geschlossen waren.

Mein Trainer guckte ungläubig auf seine Armbanduhr, als er mich sah.

"15 Minuten zu früh, dass ich das noch mal erleben darf", lachte er und fasste sich theatralisch an sein Herz. "Wenn du willst, kannst du schon die Bälle aufpumpen!"

Neben ihm lag ein Netz mit etwa 10- 15 Fußbällen und einer Ballpumpe.

"Geht klar, Trainer, ich ziehe mich bloß schnell um", antwortete ich und ging an ihm vorbei zur Umkleidekabine.

Während ich mich an die Arbeit machte, trudelten nach und nach die anderen Spieler ein. Frank erschien als einer der letzten. Nachdem er mich gesehen hatte, kam er schnurstracks auf mich zu.

"Hallo, Niko, schön dich zu sehen", begrüßte er mich per Handschlag. "Danke noch mal für Montag. Hast du ja prima eingefädelt."

Ich überlegte einen Moment, ob ich ihm die Wahrheit sagen sollte, entschied mich aber, es nicht zu tun.

"Hoffentlich hattet ihr noch einen schönen Abend", erwiderte ich.

"Kann ich mich nicht beklagen", bedeutete er mir vielsagend, "den Film haben wir uns auf jeden Fall nicht angesehen. Und was ist mit euch, wie lange wart ihr noch da?"

"Allzu lange sind wir auch nicht dageblieben. Maximal eine halbe Stunde. Der Film war diesmal ja nicht so toll."

"Na und?"

"Was na und?"

"Na du weißt schon, was ich meine. Ist was gelaufen zwischen euch?" wollte er wissen.

"Nein, wo denkst du hin. Ich habe sie nur nach Hause gebracht."

"Das war alles? Nach dem was Antje mir erzählt hat, dachte ich schon, dass sonst was passiert sein muss. Auf Sina musst du auf jeden Fall einen mächtigen Eindruck gemacht haben. Sie hat Antje ziemlich was vorgeschwärmt von dir."

"Hat Antje das wirklich zu dir gesagt?" fragte ich ihn ungläubig.

"Sicher, was denkst du denn? Übrigens würde ich mich an deiner Stelle heute ein bisschen anstrengen. Nachher wollen die beiden nämlich zum Training zugucken kommen."

"Was ist los, Herr Kleber, zieht sich der Herr freundlicherweise auch mal um? Ich würde gerne mal mit dem Training beginnen, wenn’s denn recht ist", grantelte der Trainer und deutete Frank den Weg zur Kabine. Im selben Moment drehte er sich schon wieder um und brüllte laut "Kann es dann endlich losgehen?" über den Platz.

Heute war der erste Donnerstag im Monat und das bedeutete: Konditionstraining. Die große Runde außerhalb des Sportplatzes fiel daher aus. Als besonderes Bonbon hatte sich unser Trainer ausgedacht, den sogenannten Coopertest durchzuführen. Dabei mussten wir zuerst 3000 Meter im Stadion zurücklegen, natürlich nach Zeit. Danach durften wir fünf Minuten verschnaufen, um neue Kräfte zu sammeln. Die brauchten wir auch, denn jetzt wurden nacheinander je drei Mal die 60, 100 und 200 Meter gelaufen. Nachdem das hinter uns lag, wurden uns wieder einige Minuten Pause gegönnt.

Ich war fix und fertig. Zwischendurch schaute ich immer wieder zur Tribüne herüber, auch wenn man das eigentlich nicht so nennen konnte, um zu sehen, wann Sina und Antje auftauchen. Bisher war allerdings Fehlanzeige.

"Nicht so schlapp, Leute, seid ihr Männer oder was? Auf zur 2. Runde. Erst laufen wir 2000 Meter, dann sind die 400 dran und schließlich die 800."

Unser Trainer war so richtig in seinem Element. Ich glaube, es machte ihm Spaß, uns rumzuscheuchen, als Sportoffizier bei der Armee machte er das ja sogar berufsmäßig. Andererseits würden wir ohne ihn wahrscheinlich immer noch eine Niederlage nach der anderen kassieren.

"Auf die Plätze, fertig, los", rief er uns zu und klatschte in seine Hände.

Am Ende jeder Runde feuerte er uns an und wir versuchten wirklich, das Beste aus uns herauszuholen. In der letzten Runde lieferte ich mir mit Rene einen Kampf um den 1. Platz, den ich am Ende auch knapp erreichte. Ohne Pause mussten wir nun die 400 Meter und zum krönenden Abschluss die 800 Meter laufen. Nach dem Überqueren der Ziellinie ließ ich mich völlig erschöpft auf den Rasen fallen. Für heute hatten wir den Coopertest geschafft.

Minutenlang lag ich regungslos im Gras, das längst mal wieder gemäht werden musste, und hatte meine Augen geschlossen. Als ich sie wieder öffnete, sah ich im Augenwinkel Sina auf der Tribüne stehen. Wie lange sie wohl schon da war? Ihre blonden Haare wehten im Wind und ließen so das schwarze Kleid, das sie trug, hervorragend zur Geltung kommen. Bisher hatte sie ihre Haare immer zusammengebunden, aber so sah es noch besser aus. Ob sie sich extra für mich schick gemacht hatte?

Die Stimme meines Trainers holte uns alle zurück in die Wirklichkeit.

"Dann wollen wir mal wieder. Jeder holt sich einen Ball und stellt sich danach am 16er auf."

Bernd kann schon ins Tor gehen. Los, los, nicht so müde."

Ich nahm mir einen der Bälle, die ich vorhin aufgepumpt hatte und ging damit auf die linke Torseite. Da ich mit meinem rechten Fuß besser schießen konnte, schoss ich meistens von dieser Seite, um so einen größeren Effet in den Torschuss zu kriegen. Auf dem Weg zum 16-Meterraum tippte mir Frank sachte auf die Schulter.

"Schon gesehen, wer da ist?" deutete er unauffällig in Richtung der Tribüne.

"Klar, schon lange", antwortete ich.

Beim Torschuss üben war ich heute so gut wie seit langem nicht mehr. Lag wahrscheinlich daran, dass ich wusste, Sina guckt zu und da wollte ich mich natürlich nicht blamieren. Mein Trainer sah einige Male anerkennend zu mir herüber und dachte sicherlich schon über unser kommendes Spiel am Sonntag nach. Unser Gegner war dann der Tabellenführer und da konnte es ihm nur recht sein, wenn sein Mittelstürmer im Training ein Tor nach dem anderen schoss. Zum Abschluss machten wir noch ein lockeres Spielchen, das meine Mannschaft klar mit 5:2 gewann.

Nachdem das Spiel zu Ende war, liefen Frank und ich zu den Mädels und begrüßten sie. Sina lächelte mich an und gab mir einen Kuss auf die Wange. Noch bevor wir uns groß unterhalten konnten, brüllte unser Trainer über den Platz, dass wir doch erst mal duschen gehen sollten, weil er auch irgendwann noch nach Hause will.

"Wir sind gleich wieder hier. Dauert nicht lange", sagte ich und mit einem Satz sprang ich über das Geländer, welches die Tribüne vom Innenraum trennte.

Unter der Dusche stand wie jedes Mal nur noch Torsten, unser Bummelletzter, und wir beeilten uns so schnell wir konnten. Als wir fertig waren und uns vom Trainer verabschiedeten, war Torsten immer noch nicht soweit.

"Leute, ihr wisst Bescheid wegen Sonntag?" fragte er uns.

"Aber logo, 11 Uhr 30 auf dem Sportplatz", erwiderten wir, wie aus der Pistole geschossen.

"Na dann, Tschüß und viel Spaß noch", deutete er in Richtung der beiden Mädchen.

Endlich war das Training vorbei und wir hatten Zeit für Antje und Sina. Wir unterhielten uns über alles Mögliche und werteten auch den letzten Montag aus.

"Vorhin habe ich beim Einkaufen unseren Rotwein im Konsum gesehen. Schätzt mal, was der gekostet hat!" fragte ich in die Runde.

"Bestimmt nicht mehr als 3,50 Mark, so wie der geschmeckt hat", frotzelte Antje und die anderen lachten laut los.

"Ihr werdet es nicht glauben, aber der kostete nur 2,80 Mark. Das war der billigste Fusel im ganzen Regal. Da haben die vom Rummel einen guten Gewinn durch uns eingeheimst."

"Stimmt schon, aber Spaß gemacht hat es trotzdem, oder?", warf Sina ein und sah mich dabei augenzwinkernd an.

"Das ist wohl wahr", grinste ich zurück.

Antje und Frank verabschiedeten sich, weil sie um 21 Uhr zu Hause sein musste und so blieben wir beide alleine zurück.

"Was machen wir jetzt mit dem angebrochenen Abend?" wollte ich von Sina wissen.

"Weiß nicht so genau, vielleicht könnten wir ja nachträglich mit einer richtigen Begrüßung beginnen. Vorhin war ja leider keine Zeit dafür." Sie musterte mich und versuchte herauszufinden, wie ich reagieren würde. Wir standen uns einige Zehntelsekunden gegenüber und schauten uns ganz tief in die Augen.

"Ich finde auch, wir sollten die Begrüßung wiederholen", flüsterte ich ihr leise zu, während ich sie langsam in meine Arme nahm. Unsere Lippen trafen sich und wir küssten uns leidenschaftlich. Ich war überglücklich in diesem Moment und erlebte ein Gefühl, das ich bisher nicht gekannt hatte. Ihre Lippen schmeckten samtig-weich und unsere Zungen verschlangen sich ineinander, als wären sie eins. Es war ja nicht so, dass ich zum 1. Mal ein Mädchen küsste, schließlich gab es in unserer Schule alle 14 Tage eine Disco, wo bei der langsamen Runde im Dunklen schon ab und zu mal Küsse ausgetauscht wurden, aber das hier...

Der Kuss dauerte eine kleine Ewigkeit, in der wir ganz fest umschlungen da standen, und ich konnte förmlich Sinas Herz schlagen hören. Sie schien genauso aufgeregt zu sein, wie ich selbst. Wir drückten uns so eng aneinander, dass ich ihre festen Brüste an meinem Körper spüren konnte. Am liebsten wäre ich ewig so mit ihr stehen geblieben, aber schließlich trennten sich unsere Körper wieder voneinander.

"Wow, kannst du gut küssen. Das war toll", sagte sie mächtig beeindruckt und strich mir durch die Haare.

"Du hast das sicher auch nicht zum ersten Mal gemacht. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, es war... überwältigend."

Wir guckten uns in die Augen und fingen an zu lachen. Sollte ich sie nach diesem Kuss überhaupt noch fragen, ob sie mit mir gehen wollte? Eigentlich war doch damit alles gesagt.

Ich war mir nicht ganz schlüssig.

"Ich muss nach Hause, bringst du mich?"

"Ja gerne, gehen wir", gab ich zur Antwort und nahm mein Fahrrad in die rechte Hand.

"Hast du eigentlich den Tag Ärger bekommen, weil du zu spät zu Hause warst?" fragte ich sie etwas besorgt.

"Nein, nicht richtig. Ich habe meiner Mutter einfach die Wahrheit erzählt und sie war deshalb auch nicht böse auf mich."

"Und was hast du ihr erzählt?" erkundigte ich mich neugierig, "das interessiert mich jetzt aber."

"Ich habe ihr gesagt, dass ich einen tollen Jungen kennen gelernt habe. Darauf hat sie dann gesagt, wenn der so toll ist, dass ich erst mitten in der Nacht nach Hause komme, möchte sie ihn auch kennenlernen."

"Das hat sie wirklich gesagt?" erwiderte ich sehr überrascht.

"Genau so war’s."

Wir hatten inzwischen Sinas Gartentor erreicht. Für mich war klar, dass ich mir meine Frage sparen konnte und das sollte mir nur recht sein. Aber sie schien noch irgendetwas auf dem Herzen zu haben.

Schließlich rang sie sich durch und fragte mich: "Sag mal, würde es dir was ausmachen, am Wochenende zum Kaffeetrinken herzukommen? Meine Mutter möchte schon gerne wissen, mit wem ich mich in meiner Freizeit rumtreibe. Na ja, wie Mütter eben so sind. Du brauchst auch keine Angst zu haben, sie wird schon nicht beißen."

"Gut, können wir machen. Ich freue mich drauf, wirklich. Bleibt nur die Frage, wann?" sprach ich zu ihr.

"Wir sind Sonnabend und Sonntag da. An uns soll es also nicht liegen. Sag einfach einen Tag", blinzelte sie mir zu und presste ihre Lippen zusammen.

"Also mir wäre es am liebsten am Sonntagnachmittag, nach dem Spiel, so gegen 15 Uhr. Was meinst du?"

"Ist eine ganz hervorragende Idee", lachte sie mich an. "Sehen wir uns vorher noch? Ich meine, kann ich dich vielleicht besuchen kommen?"

"Würde ich mich riesig drüber freuen. Wenn du willst, morgen nach der Schule. Ab 16 Uhr wäre okay."

"Na gut, dann bis morgen Nachmittag. Ich muss jetzt rein", sagte sie und gab mir zum Abschied einen dicken Kuss.

Kurz danach verschwand sie im Garten und ich rief noch leise " Tschüß und gute Nacht" hinterher.

Überglücklich machte ich mich auf den Heimweg. Zu Hause angekommen, machte ich mir noch schnell eine Kleinigkeit zu essen und zog mich auf mein Zimmer zurück. Morgen stand in der zweiten Stunde eine Klassenarbeit in meinem "Lieblingsfach" Mathematik auf der Tagesordnung und ich hatte noch nicht eine Minute dafür gelernt. Irgendwann nach Mitternacht schlief ich völlig erschöpft ein.


Es war Sonntagmittag. In der Umkleidekabine hielt unser Trainer eine flammende Rede, in der Hoffnung, uns etwas Selbstbewusstsein eintrichtern zu können. Schließlich wartete heute nicht irgendein Gegner auf uns, sondern der bisher ungeschlagene Tabellenführer. In der Hinrunde hatten wir mit 0:6 eine kostenlose Lehrstunde erhalten, obwohl wir mit dem Ergebnis sogar noch zufrieden sein konnten. Diesmal waren die Vorzeichen nicht viel anders, außer dass wir im Abstiegskampf unbedingt punkten mussten. Wir standen also ziemlich unter Druck.

Die erste Halbzeit verlief genau so, wie wir es erwartet hatten. Unser Gegner zog sein Spiel auf nach Belieben und wir kamen nicht einmal richtig über die Mittellinie. Warum wir nur 0:2 zurücklagen, konnten wir selber nicht verstehen. In der Halbzeitpause brüllten alle durcheinander. Die Stürmer schimpften über die schwache Verteidigung, welche wiederum der Meinung waren, dass im Mittelfeld zu wenig passierte, und auch wir Stürmer bekamen unser Fett weg. Alles sah nach einem Debakel wie im Hinspiel aus. Nur heute war es irgendwie anders. Vielleicht hatte uns auch bloß die Ansprache unseres Trainers in der Pause wachgerüttelt, aber als der Schiedsrichter die zweiten 45 Minuten anpfiff, waren wir plötzlich heiß und hatten den Glauben an uns selbst zurückgewonnen. Sicher waren die anderen uns spielerisch klar überlegen, aber bei uns kämpfte jetzt jeder für jeden. Kein Ball wurde verloren gegeben und wir erarbeiteten uns eine Chance nach der anderen.

In der 78. Spielminute war es endlich soweit. Nach einer abgewehrten Ecke befand sich die gegnerische Verteidigung bereits wieder in der Vorwärtsbewegung, als Rene seinem Gegenspieler den Ball abnehmen konnte und von links außen eine Flanke auf die Höhe des Elfmeterpunktes hereinbrachte. Der Torhüter blieb zu meinem Erstaunen auf der Torlinie stehen und da ich zuerst am Ball war, hatte ich keine Mühe, den Anschlusstreffer zu erzielen. Jetzt wollten wir natürlich den Ausgleich und kämpften bis zum Umfallen. Leider war unser Tor zu spät gefallen, um das Spiel noch umbiegen zu können. Ein zweites Tor gelang uns nicht mehr.

Nach dem Schlusspfiff wurden wir von den gut 150 Zuschauern mit Beifall verabschiedet, was in der letzten Zeit eher selten passierte und was viel wichtiger war, wir glaubten wieder an uns.

Ich war nach diesem Spiel, und vor allem durch mein Tor, blendend gelaunt. Die zwei Bier später in der Umkleidekabine hatten sicher auch ihren Anteil daran, dass ich ungemein ruhig war, als ich zum Kaffeetrinken bei Sina und ihrer Mutter ankam. Vorher hatte ich mir schon so meine Gedanken gemacht, aber jetzt war ich überhaupt nicht aufgeregt.

Ich klingelte und wenig später saß ich auch schon am Kaffeetisch, der mit einer Kirschtorte und einem Käsekuchen für uns 3 reichlich gedeckt war.

"Wie ist euer Spiel ausgegangen?" wollte Sinas Mutter wissen.

"Wir haben 1:2 verloren, aber gegen den Gegner ist das keine Schande. Die haben in 18 Punktspielen gerade mal fünf Punkte abgegeben."

"Und wo steht ihr in der Tabelle?" fragte Sina interessiert.

"Im Moment sind wir 11. von 14 Mannschaften. Die beiden letzten steigen ab. Also sind wir mittendrin im Abstiegskampf, aber ich bin ziemlich optimistisch, dass wir nicht absteigen werden. Hoffe ich doch stark.“

"Dann wünsche ich euch viel Erfolg. Wird schon klappen", versuchte ihre Mutter, mir etwas Mut zu machen.

Wir unterhielten uns eine ganze Weile und ich hatte ein gutes Gefühl dabei. Obwohl die Unterhaltung eher einem Frage- und Antwortspiel glich. Aber das war sicherlich meistens so, wenn man den Eltern beziehungsweise einem Elternteil zum ersten Mal vorgestellt wird.

Nach dem Kaffeetrinken zeigte mir Sina ihr Zimmer. Es war nicht besonders groß, aber für sie alleine reichte es. In meiner Klasse hatten viele gar keinen Raum für sich, sondern mussten sich ihr Zimmer mit Geschwistern teilen. Da war ich froh, dass ich mein kleines Reich hatte und Sina ging es genauso.

Erstaunlicherweise hingen bei ihr keine Poster von Musikgruppen an der Wand, so wie bei mir. Stattdessen hatte sie ein großes Bild über dem Bett zu hängen mit einer Landschaft von der Ostseeküste im Winter. Sah toll aus. Auf der gegenüberliegenden Seite stand ein Schreibtisch. An der Wand dahinter waren etliche Fotos angepinnt, auf denen Sinas Familie und Schulfreunde zu sehen waren.

"Dein Zimmer gefällt mir. Ist sehr gemütlich", sagte ich und schaute mich im Raum um.

"Sag mal, kann man sich auch irgendwo hinsetzen? Meine Knochen tun mir ganz schön weh vom Fußball spielen."

"Klar, ist ja keine Stehhalle hier", antwortete sie und zeigte auf das Bett.

"Eigentlich wollte ich mich nur hinsetzen, aber von mir aus...können wir auch ins Bett gehen."

"Ja, ja, das könnte dir so passen, was? Aber da wirst du noch eine ganze Weile warten müssen." Sie lachte mich mit dem süßesten Lächeln der Welt an und kam langsam auf mich zu.

"Meine Mutter ist übrigens begeistert von dir, und das will was heißen. Sie findet dich sogar richtig nett, obwohl ich das wiederum gar nicht verstehen kann", frotzelte Sina und drückte sich leicht an mich.

"Also ich kann das sogar gut verstehen", konterte ich, "schließlich bin ich ein netter Typ. Oder etwa nicht?" Ohne eine Antwort abzuwarten, umarmte ich Sina und küsste sie.

Wir verbrachten einen wunderschönen Nachmittag und ich war unheimlich froh, dass ich auf ihre Mutter einen guten Eindruck gemacht hatte.

Von diesem Tage an, sahen wir uns fast täglich und waren jede freie Minute zusammen. Für mich war eine völlig neue Zeitrechnung angebrochen.

Auch an der Eisdiele ließ ich mich nun wieder öfter sehen, teilweise mit Sina zusammen, die dort inzwischen fast alle kennen gelernt hatte. Meine Freunde hatten sie hervorragend aufgenommen, was allerdings kein Wunder war, denn Sina war eine Seele von Mensch. Man musste sich einfach gut mit ihr verstehen. Mit ihren Freunden hatte ich aber auch keine Probleme. Einige aus ihrer Klasse kannte ich ja schon länger, da sie in meiner Fußballmannschaft spielten. Außerdem war es seit neuestem so, dass zur Schuldisco Freunde und Bekannte auch aus anderen Schulen mitgebracht werden durften. Dadurch lernte ich viele neue Leute kennen, vor allen Dingen aus Sinas Schule.

Es war Ende Mai und ich war schon seit einem Monat mit Sina zusammen.

An diesem Wochenende fanden für die achten Klassen des Ortes die Jugendweihefeiern statt.

Natürlich freuten sich alle riesig darauf, denn danach gehörten sie angeblich zum Kreis der Erwachsenen. Dass es damit aber nicht allzu viel auf sich hatte, hatten wir im vergangenen Jahr ernüchtert feststellen müssen, denn im Prinzip hatte sich durch diesen für viele so wichtigen Tag nichts geändert, wenn man mal davon absah, dass wir von einigen Lehrern von da an nicht mehr geduzt wurden.

An der Eisdiele kamen wir auf unsere Jugendweihe vom Vorjahr zu sprechen und ich schilderte den wenigen, die diese Geschichte nicht kannten, nochmals in aller Ausführlichkeit, was sich so zugetragen hatte.

So wie jetzt auch hatten sich alle, sogar ich, auf die Jugendweihe vorbereitet. Dazu gehörten nicht nur die entsprechenden Jugendstunden, die absolviert werden mussten, sondern auch alles Drumherum mit Feier und Geschenken. Da ich katholisch war, hatte ich eine gute Ausrede gehabt, um nicht offiziell daran teilnehmen zu müssen. Ich sah in dieser staatlich verordneten Feier und dem Gelöbnis, das jeder ablegen musste, nämlich nicht viel Sinn, aber an den Feierlichkeiten danach wollte ich natürlich teilhaben. Ich hatte meinen Anzug von der Firmung herausgekramt und mich für den Abend schick gemacht. Um 18 Uhr hatten wir uns an der Schule getroffen und waren dann in kleinen Grüppchen durch den Ort gezogen.

Ich war mit meinem Sitznachbarn Ralf, Steffen, Molle und Karsten unterwegs gewesen. Zuerst hatten wir nacheinander deren Eltern besucht und überall was zum Anstoßen erhalten. Zum ersten Mal hatten wir im Beisein der Erwachsenen Alkohol trinken dürfen und das nicht zu knapp.

"Nachdem wir die Pflichtbesuche bei den Eltern hinter uns gebracht hatten, ging es weiter von einer Gartenparty zur nächsten", erklärte ich ihnen. "Überall wurde gefeiert, was das Zeug hielt. Es war eine einzige große Party und ein einziges großes Besäufnis. Für Mitternacht verabredeten wir uns noch an der Strohmiete hinter dem kleinen Wäldchen."

Dort trafen wir uns manchmal nach der Schule zum Quatschen oder auch zum Hausaufgaben austauschen. Neuerdings waren auch manchmal Leute aus der 8. Klasse unserer Schule dabei, mit denen wir uns, im Gegensatz zu denen aus der 10., gut verstanden.

"Als ich mit Molle und Steffen ankam, waren nur Simone und Katrin da. Ralf war schon um 23 Uhr nach Hause gegangen, oder besser gesagt gewankt und Karsten hatten wir bei seiner Mutter abgeliefert, nachdem er sich mehrfach übergeben hatte und daraufhin nicht mehr so lecker aussah. Den gesamten Anzug hatte er sich dabei eingesaut. Das war vielleicht eklig", fing ich mich an zu schütteln.

"Ich war zu diesem Zeitpunkt schon mächtig betrunken gewesen und hatte Mühe gehabt, mich verständlich zu artikulieren. Den anderen war es aber nicht viel besser gegangen. Der Abend hatte bei uns allen sichtbare Spuren hinterlassen. Nach und nach waren Marion, Kathleen, Rene, Kai und Robert eingetroffen und alle hatten Nachschub an alkoholischen Getränken mitgebracht. Ich hatte mich bloß gefragt, wer das noch trinken sollte. Zum Schluss - wie immer- waren Mike und Tanja aufgetaucht. Mike hatte seinen alten Kassettenrekorder unterm Arm gehabt und Tanja stützte ihn so gut es ging.

'Dann kann die Party losgehen', brüllte er wie am Spieß und drehte seine neue BAP-Kassette, die drin war, auf volle Pulle", erzählte ich und fügte hinzu: "Ein Höllenlärm war das. Nüchtern war in dieser Runde jedenfalls keiner mehr gewesen und die Stimmung war prima. Wir unterhielten uns über die unterschiedlichen Partys vom Abend, und jeder hatte eine schöne Geschichte zu erzählen. So war zum Beispiel bei Kathleen Ronny beim Pinkeln ins Gestrüpp gefallen und einfach liegengeblieben. Bei Robert waren die ersten schon um kurz nach 20 Uhr sturzbetrunken, allen voran sein Onkel. Der hatte dann das Kunststück fertiggebracht und in den Nudelsalat gekotzt, weil er es nicht mehr geschafft hatte, rechtzeitig vom Tisch aufzustehen. Daraufhin haben ihm das noch zwei Leute nachgemacht."

"Igitt, ist das widerlich", rief jemand dazwischen.

"Warte erst mal ab, was bei euch los sein wird!" entgegnete ich und fuhr fort. "Ich hatte mich da ebenfalls schon übergeben müssen, aber danach ging es mir wieder gut, oder anders gesagt, besser als vorher."

Einige Dinge, die sich damals abgespielt hatten, behielt ich aber für mich. Schließlich mussten sie ja nicht alles erfahren. Ich erzählte nur die allgemein bekannten Sachen.

Irgendwann hatte Mike eine Kassette mit Schmusesongs eingelegt, Sachen, die immer bei den langsamen Runden in der Schuldisco gespielt wurden, und hatte angefangen, mit Tanja zu tanzen. Kai hatte sich Simone geschnappt und Kathleen Robert. Ich selbst hatte Katrin aufgefordert, mit der ich damals meistens bei der Schuldisco getanzt hatte.

Nach einigen Liedern hatten Robert und Kathleen zu knutschen angefangen, die Hand von Mike war unter Tanjas Pullover verschwunden und Katrin hatte sich immer enger an mich herangekuschelt. Ich wusste in dem Moment nicht so recht, ob ich ihre eindeutige Anmache erwidern sollte, denn ich war viel zu betrunken, um einen klaren Gedanken fassen zu können.

"Was ist denn mit dir los? Du bist doch sonst nicht so abweisend", hatte sie zu mir gesagt.

"Nichts", antwortete ich, "ich bin nur ziemlich müde jetzt gerade."

"Ich dachte schon du kannst mich nicht mehr leiden", hatte sie darauf gesagt und mich auf den Mund geküsst. Ich hatte es geschehen lassen und war später mit ihr abgeschoben. Da ich viel zu betrunken war, war es aber nicht so schön gewesen wie einige Monate zuvor beim Fasching, und auch bei unserer letzten Schuldisco war es besser gewesen.

Mike hatte sich währenddessen mit Tanja zur Strohmiete verzogen, und außer uns tanzte nun keiner mehr. Kai hatte irgendwo im Dunkeln mit Simone gelegen und an ihr herumgefummelt. Ansonsten waren nur noch Molle und Steffen da gewesen, die allerdings volltrunken ihren Rausch ausschliefen.

Als mich die Müdigkeit völlig übermannt hatte, so dass ich fast beim Tanzen eingeschlafen wäre, hatte ich mich von ihr verabschiedet.

"Ich muss nach Hause, Katrin. Ist schon ziemlich spät", hatte ich mich versucht, einigermaßen aus der Affäre zu ziehen.

"Was, du willst jetzt wirklich gehen?" hatte sie daraufhin überrascht geantwortet, und es war mir so vorgekommen, als ob sie etwas sauer war darüber, aber ich war todmüde.

"Ich will nicht", hatte ich entgegnet, "aber ich muss. Soll ich dich nach Hause bringen?"

"Nein, lass mal gut sein, den Weg finde ich noch selber!" hatte sie zerknirscht erwidert und war grußlos gegangen.

Mein "Tschüß, bis Montag" hatte sie vermutlich nicht mehr gehört.

Als ich am nächsten Morgen aufgewacht war, hatte ich einen ekligen Geschmack im Mund gehabt und mein Kopf schmerzte höllisch. Ich hatte versucht aufzustehen, um mir erst mal die Zähne zu putzen und mich zu waschen, aber mein Körper wollte nicht so recht gehorchen. Wie ein Häufchen Elend hatte ich minutenlang auf dem Bett gesessen und meinen Kopf tief zwischen meinen Händen vergraben. So in mich zusammengesunken, hatte ich probiert, den gestrigen Abend zu rekonstruieren. Ich konnte mich anstrengen wie ich wollte, aber meine Erinnerung daran war ausgelöscht. Das war mir bis dahin noch nie passiert, obwohl ich natürlich schon mal das eine oder andere Bier getrunken hatte. Aber so was wie gestern....

Ich hatte auf meinen Wecker geguckt und da ich nicht glauben konnte, was ich dort sah, hatte ich mir die Augen gerieben:16 Uhr. Das konnte doch nicht wahr sein. Ich hatte nicht einmal gewusst, ob wir an diesem Tag ein Spiel hatten und ich meine Mannschaft im Stich gelassen hatte. Beim besten Willen, aber ich wusste es nicht. Ich bekam keinen klaren Gedanken zustande. Schließlich hatte ich mich doch irgendwann aufgerappelt und war duschen gegangen.

Nachdem ich im Bad fertig war und zwei Kopfschmerztabletten geschluckt hatte, waren langsam die Lebensgeister wieder da gewesen.

"Na, auferstanden von den Toten?" hatte mich meine Schwester begrüßt, als ich zum Kaffeetrinken ins Wohnzimmer kam. "Du siehst ja noch schlechter aus als sonst."

"Sehr witzig. Mir geht es auch schlechter als sonst", hatte ich erwidert und mich auf das Sofa fallen lassen.

"War es denn wenigstens gut?"

"Soweit ich mich erinnern kann, war es prima. Allerdings weiß ich nicht mehr, was ich gemacht habe, nachdem ich bei Sandras Fete abgehauen bin", hatte ich zur Antwort gegeben.

"Und wann war das?"

"Muss so gegen 22 Uhr gewesen sein."

"Weißt du denn wenigstens, wann du zu Hause warst?"

"Nicht so richtig. Wieso?" hatte ich sie gefragt.

"Sei froh, dass Mutti erst abends wieder von Oma und Opa zurückkommt. Sie war stinksauer, weil du erst um 4 Uhr hier warst und noch dazu völlig besoffen. An deiner Stelle würde ich ihr nachher aus dem Wege gehen", hatte sie mitfühlend zu mir gesagt, wahrscheinlich deshalb, weil sie gewusst hatte, wie ich mich in diesem Moment fühlte und was mich heute Abend erwartete.

Nachdem ich meinen Kaffee ausgetrunken hatte, beschloss ich, kurz zu Mike zu gehen. Vielleicht konnte er ja mein Gedächtnis auffrischen, hoffte ich. Auf mein Klingeln öffnete sein Vater.

"Hallo, Niko, siehst ja auch nicht gerade gut aus. Ich dachte schon, Mike war der einzige, der über die Strenge geschlagen hat, aber wenn ich dich so sehe", hatte er gesagt und mich von oben bis unten gemustert, "ich werde Mike mal sagen, dass Besuch da ist."

"Dankeschön", hatte ich leise geantwortet, aber das hatte Mikes Vater schon nicht mehr gehört, denn er war bereits hinter der Haustür verschwunden.

Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis er herauskam.

"Ach du bist es", hatte er schläfrig zu mir gesagt, und seine Augenringe hatten eine eindeutige Sprache gesprochen. "Lass uns mal etwas spazieren gehen!"

Als wir uns einige Meter vom Haus entfernt hatten, flüsterte er mir leise zu, dass es bei ihm mächtigen Ärger gegeben hatte, weil er erst um 5 Uhr daheim war. Das war selbst seinen Eltern zuviel gewesen, obwohl er sonst immer machen konnte, was er wollte. Der Hauptgrund, warum sie auf ihn böse waren, wird aber sicherlich gewesen sein, dass Mike sein ganzes Zimmer voll gekotzt hatte und seine Anzugjacke mehrere Brandlöcher aufwies. Wir tauschten uns darüber aus, was jeder noch von gestern wusste, aber besonders viel war es nicht. Auf jeden Fall, konnte er sich noch daran erinnern, dass wir um Mitternacht an der Strohmiete gewesen waren und dort weitergefeiert hatten, aber etwas Genaues wusste er auch nicht.

"Na, das kann ja was werden", riss mich plötzlich Hartmuts Stimme aus meinen Gedanken.

"Was?" fuhr ich erschrocken zusammen.

"Ich meine, das kann ja etwas werden morgen", wiederholte er.

"Das kannst du laut sagen. Das vergesst ihr bestimmt nicht so bald", entgegnete ich und dachte wehmütig zurück.

Die folgenden Wochen vergingen wie im Fluge, und nachdem wir die zwei Wochen Wehrlager hinter uns gebracht hatten, rückten die Ferien immer näher. Wie ich es Mutti versprochen hatte, war ich in den letzten Wochen des Schuljahres einigermaßen fleißig gewesen und hatte mir dadurch alle Möglichkeiten offen gehalten, doch noch die begehrte Bewerbungskarte mit Abitur zu erhalten. Ich hatte das mir Mögliche getan, und nun lag es an Herrn Ferner, eine gerechte Entscheidung zu treffen.

Alle in meiner Klasse machten bereits Pläne für den Sommer, ich natürlich auch. Ich hatte mich schon zu Beginn des Jahres, zusammen mit Svenny und Rico, beim Rat der Gemeinde um eine Ferienarbeit bemüht und am letzten Mittwoch hatten wir Bescheid bekommen, dass es damit klappte. Richtige Lust hatte ich nicht unbedingt dazu, aber da ich in den Ferien wegfahren wollte, brauchte ich dringend das Geld. Also musste ich eben in den sauren Apfel beißen und die ersten drei Wochen arbeiten gehen. Danach stand noch eine Woche Ostsee mit Mutti und Sabine an. Zum ersten Mal seit Jahren hatte meine Mutter wieder eine FDGB- Reise über ihre Arbeitsstelle erhalten und noch dazu auf der Insel Rügen. Darauf freute ich mich schon riesig, auch wenn es nur eine Woche sein würde und wir ein Zimmer bei Privatleuten hatten. Aber immerhin, besser als die ganzen Ferien über zu Hause sitzen. Was ich in der restlichen Zeit machen würde, wusste ich noch nicht. Am liebsten wäre ich mit Mike zu seinen Verwandten in den Harz gefahren, aber das war bis jetzt nicht hundertprozentig klar. Außerdem war ich mir nicht sicher, ob mich meine Mutter überhaupt fahren lassen würde. Schließlich wäre es das erste Mal, dass ich alleine länger von ihr weg sein würde. Andererseits war ich ja kein kleines Kind mehr. Aus meiner Klasse waren inzwischen schon mehrere Leute ohne die Eltern in den Ferien gewesen. Kommt Zeit, kommt Rat, dachte ich mir. Bisher hatte ich meinen Kopf noch immer durchgesetzt, mehr oder weniger.

Ein wenig traurig machte mich nur, dass ich Sina in den Ferien kaum zu Gesicht bekommen würde, denn im Juli wollte sie mit ihrer Mutter zu Verwandten fahren und im August war Ferienarbeit angesagt. Sie hatte sich mit einigen aus ihrer Klasse für so eine Art Ferienlager eintragen lassen, wo vormittags auf dem Feld gearbeitet wurde und sie nachmittags Freizeit hatte. Genauer gesagt nannte sich das "Lager für Arbeit und Erholung". Ich hatte auch erst überlegt, von unserer Schule aus so was zu machen, aber drei Wochen irgendwo auf dem Dorf... Das war nichts für mich.

Endlich war der letzte Schultag. Im Gegensatz zu manch anderen brauchte ich keine große Angst vor den Zeugnissen zu haben. Meine Leistungen in diesem Schuljahr waren zwar ziemlich schwankend gewesen, aber trotzdem hatte ich nichts zu befürchten. Wenn überhaupt, konnte ich nur in Mathe eine 3 kriegen. In den restlichen Fächern war ich mir sicher, dass ich Einsen und Zweien bekommen würde, aber ob das reichen würde, unter den fünf Besten zu sein, konnte ich nur hoffen.

In der 5. Stunde war es dann soweit. Unser Klassenlehrer rief wie jedes Mal alphabetisch die Schüler auf und jeder musste sich sein Zeugnis von vorne abholen.

Ich saß wie immer neben Ralf in der 4. Reihe am Fenster und guckte durch den Raum. Da mein Name im Alphabet ziemlich weit hinten stand, war ich noch lange nicht dran. Auf der anderen Seite saß Mirko, der mächtig nervös zu sein schien. Er war schon jeher einer der Schlechtesten gewesen, aber in diesem Jahr, musste er wirklich damit rechnen sitzen zu bleiben. Wie er so da saß, hatte ich das Gefühl, dass er selber nicht erwartete, in die nächste Klasse versetzt zu werden. Als er aufgerufen wurde, bestätigte sich leider meine Vermutung. Mit zwei Fünfen in Physik und Literatur war klar, dass er das Schuljahr wiederholen musste. Alle guckten ihn mitleidig an, aber helfen konnte ihm in diesem Augenblick keiner. Zum allerersten Mal war jemand aus unserer Klasse sitzen geblieben und das gerade in diesem Jahr, wo so viel von dem Zeugnis abhing.

Nun war ich an der Reihe.

"Niko, kommst du dann bitte nach vorne?" deutete Herr Ferner auf mich. "Du hast schon erheblich bessere Zensuren gehabt, aber wenigstens im letzten Halbjahr hast du dich wieder etwas mehr angestrengt. Ich hoffe, im nächsten Jahr zählst du wieder zu den Allerbesten. Trotzdem kannst du dich freuen, denn ich habe dich vorgeschlagen für die Abiturkarte. Herzlichen Glückwunsch dazu und ich will sehr hoffen, dass du etwas daraus machst."

Wieder auf meinem Platz angekommen, schlug ich das Zeugnis auf. Ich hatte nur Einsen und Zweien, so wie ich es erwartet hatte; sogar in Mathematik stand dort eine Zwei. Die Beurteilung war allerdings nicht besonders. Da stand zum Beispiel, dass ich meine Fähigkeiten nicht ausnutze und mit mehr Fleiß viel wichtiger für das Klassenkollektiv sein könnte. Das stimmte sicherlich, war mir aber vollkommen egal. Was ging mich denn das Klassenkollektiv an?

Nachdem auch Ralf sein Zeugnis hatte, verglichen wir unsere Zensuren und wie in jedem Jahr waren meine besser, obwohl der Unterschied nicht mehr so groß war, wie in den Jahren zuvor. Auf jeden Fall konnten wir mit unseren Zeugnissen zufrieden sein.

"So, meine Damen und Herren, ich hoffe sie ziehen aus ihren Zeugnissen die richtigen Schlüsse für das kommende Schuljahr, aber bis dahin wünsche ich ihnen schöne Ferien und ein paar erholsame Wochen. Wir sehen uns dann in alter Frische wieder am 3. September", verabschiedete sich Herr Ferner und beendete den Unterricht.

Draußen verabredete ich mich mit Sven für Montagmorgen. Er wollte mich abholen, um dann gemeinsam zum Rat der Gemeinde zu fahren. Wir sollten uns dort um 7 Uhr einfinden. Bisher hatten wir noch keine Ahnung, was uns dann erwarten würde, aber darüber machten wir uns keine großen Gedanken. Nach dem, was wir so vom letzten Jahr gehört hatten, war es ziemlich locker zugegangen. Zum Großteil mussten Bäume entästet und Unkraut im Park gejätet werden. Auf jeden Fall hatte sich im Vorjahr keiner totgearbeitet und das sollte uns auch in diesem Jahr nur recht sein.

Am Nachmittag ging ich zur Eisdiele. Heute waren von uns bestimmt 30 Leute da, es war fast wie bei einer Fete. Alle diskutierten natürlich über die Zeugnisse, was ja auch nicht anders zu erwarten war. Hardy, der in Sinas Klasse ging, war gerade so versetzt worden und man konnte ihm die Erleichterung geradezu ansehen. Seine Eltern waren heute zu Verwandten gefahren und so beschloss er kurzerhand, Morgenabend bei sich zuhause eine Party zu machen, um seine Versetzung gebührend zu feiern.

Inzwischen war auch Sina gekommen. Sie war vorher noch bei ihrer Oma gewesen und hatte ihr Zeugnis gezeigt. Wie in jedem Jahr war sie eine der Besten in der Klasse und hatte außer Einsen nur eine Zwei in Geographie und eine in Staatsbürgerkunde, aber diese Fächer brauchte doch ohnehin keiner.

"Hallo, mein Schatz, schon lange hier?" begrüßte sie mich und gab mir einen dicken Schmatzer.

"Seit einer Stunde höchstens", erwiderte ich. "Wir sind Morgen bei Hardy zur Fete eingeladen. Hast du Lust hinzugehen?"

"Sicher, warum nicht? Wird bestimmt lustig."

"Find ich auch eine gute Idee. Ansonsten ist ja eh nichts los", sagte ich.

Bis zur Abenddämmerung blieben wir noch an der Eisdiele und redeten darüber, was wir in den Ferien alles anstellen werden.

Am nächsten Tag zeigte ich mein Zeugnis meinen Großeltern, die sich sehr darüber freuten, und mein Opa steckte mir einen Zwanziger zu. Somit hatte ich wenigstens etwas Geld, um für heute Abend eine Flasche Wein zu besorgen. Wir hatten mit Hardy ausgemacht, dass jeder was zu trinken mitbringt, was aber sowieso klar war.

Um 19 Uhr holte ich Sina ab und wir gingen zusammen zur Fete. Hardy wohnte gleich um die Ecke, maximal 500 Meter entfernt. Als wir ankamen, war die Feier bereits in vollem Gange.

"Da seid ihr ja endlich, wir dachten schon, ihr kommt nicht mehr", begrüßte uns der Gastgeber nicht mehr ganz nüchtern.

"Als ob wir uns deine Fete entgehen lassen würden", sprach ich und wollte ihm die Weinflasche überreichen.

"Das will ich auch hoffen. Die Flasche könnt ihr dort hinten auf den Tisch stellen", antwortete er und zeigte mit der linken Hand auf einen großen Tisch, der neben der Garage stand.

"Okay, machen wir. Wir werden dann mal den anderen Hallo sagen", deutete ich in Richtung der Garage und ging mit Sina herüber.

Auf dem Tisch standen bereits etliche Flaschen, so an die fünfzehn Stück. Von Wein über Sekt und Schnaps war alles dabei. Einige Flachen waren schon geöffnet. Unter dem Tisch waren noch ein Kasten Bier und die antialkoholischen Getränke. Wir guckten uns beide an und staunten nicht schlecht über die Menge an Getränken. Man hätte denken können, dass er den halben Ort zur Party erwartete.

Schließlich nahmen wir uns erst mal was zu trinken und schoben den Vorhang zur Seite, welcher an der Garage angebracht war, damit es dunkler war zum Tanzen.

Drinnen war es stockfinster und man konnte kaum etwas erkennen. Auf dem Tisch am anderen Ende waren die Umrisse von einer Stereoanlage und einem Mischpult zu erkennen, und dahinter machte sich jemand, der einen Kopfhörer aufhatte, an einer großen Kiste zu schaffen. Das konnte eigentlich nur Frank sein, denn bei den meisten Feten sorgte er für die Musik. Sein Vater borgte ihm immer die Anlage aus ihrem Partykeller und half auch beim Aufbauen mit. Aus den beiden Boxen, die rechts und links neben dem Tisch aufgebaut waren, dröhnte das neue Nena Stück, und um uns herum wurde ausgelassen getanzt. Irgendjemand hatte inzwischen die bunten Partylampen eingeschaltet, und so konnten wir wenigstens ein bisschen sehen.

Die Sitzplätze waren leider alle besetzt, so dass wir beschlossen, zuerst mal zu Frank herüber zu gehen. Er war gerade dabei, die folgende Kassette zum Liedanfang zu spulen und schien ziemlich beschäftigt zu sein. In dem Moment entdeckte uns Antje und kam von der Tanzfläche auf uns zu.

"Da seid ihr ja endlich", begrüßte sie uns und fiel Sina um den Hals.

"Die Fete ist total klasse. Ich glaube, ich habe noch nie soviel Wein getrunken", lallte sie.

Genau den Eindruck machte sie auch auf mich. Antje hatte mächtige Probleme, das Gleichgewicht zu halten und Sina versuchte, sie so gut es ging zu stützen. Auf jeden Fall erfuhren wir, dass die meisten schon am Nachmittag mit dem Feiern begonnen hatten, und das erklärte natürlich einiges.

Je länger der Abend dauerte, desto besser gefiel es uns. Die Party war wirklich ein riesiger Erfolg, was sicherlich zu einem großen Anteil daran lag, dass der Alkohol in Strömen floss.

Obwohl Sina und ich fast alle der Gäste kannten, verbrachten wir die meiste Zeit über zusammen. Schließlich würden wir uns die nächsten Wochen kaum sehen.

Inzwischen war es weit nach Mitternacht, und der Großteil der Leute hatte bereits den Heimweg angetreten. Einige schliefen ihren Rausch aus und wir tanzten eng umschlungen neben den anderen Pärchen. Frank hatte eine Kassette mit langsamen Stücken reingelegt und ließ diese jetzt durchlaufen. Den ganzen Abend hatte er die Musik gemacht, und hatte kaum Zeit für seine Antje, aber nun tanzten die beiden und schienen glücklich zu sein.

Zwischen Sina und mir hatte sich eine unglaubliche Spannung entwickelt und ich merkte, dass ich ganz schön erregt wurde. In meiner Hose tat sich auch so einiges, was mir unheimlich peinlich war, aber ich konnte nichts dagegen machen. Meine Sorge war nur, dass Sina davon etwas mitbekommen könnte und deshalb fragte ich sie, ob wir nicht lieber nach Hause gehen wollen.

"Klar, von mir aus gerne. Ist ja schon mächtig spät", antwortete sie und deutete auf ihre Uhr.

Es war 1 Uhr 30.

"Ich bringe dich noch", sagte ich, "sonst fängt dich mir noch jemand weg."

Wir liefen Arm in Arm durch die Finsternis. Plötzlich begann es, wie aus Gießkannen zu regnen. Wir stellten uns unter eine große Buche und warteten darauf, dass der Regen nachlassen würde, aber davon konnte überhaupt keine Rede sein. Das Gegenteil war der Fall.

"Komm, lass uns da unten hinsetzen! Wer weiß, wie lange das noch dauert", zeigte sie auf das Gebüsch neben der Buche.

Rund um den Baum waren Sträucher zugewuchert, und aus den Wurzeln, welche aus dem Boden gewachsen waren, sprossen Äste in die Höhe. Es sah aus wie eine Räuberhöhle.

"Los, komm schon!" forderte mich Sina auf und streckte mir ihre Hand entgegen.

Ich nahm ihre Hand und folgte ihr in das Gebüsch.

Es war mächtig dunkel und man konnte nur mit viel Phantasie die Umrisse erkennen. Ich kam mir wirklich vor wie in einer Höhle oder vielleicht sogar einem Iglu. Drinnen war es erstaunlicherweise trocken, aber dafür ziemlich sandig, weshalb ich meine Jacke auszog und unter uns legte.

"Hier könnte ich es eine Weile aushalten", hauchte sie mir ins Ohr und begann mich vorsichtig zu streicheln.

Ich wollte etwas darauf erwidern, doch dazu kam ich nicht mehr. Sie hielt mir den Mund zu und küsste mich auf den Hals, woraufhin ich Sina in meine Arme nahm und sie ganz fest an mich drückte. Wir streichelten uns gegenseitig und unsere Küsse wurden immer leidenschaftlicher.

Irgendwann fuhr mir Sina mit der Hand unter mein T-Shirt und nun wagte ich es auch, ihr unter die Bluse zu fassen. Sie schien nichts dagegen zu haben und ließ mich gewähren, was mich etwas mutiger machte. Ich versuchte ihren BH zu öffnen, aber ich bekam ihn einfach nicht auf.

"Ist gar nicht so leicht, was? Ich helfe dir mal lieber, mein Schatz", flüsterte sie mir zu.

"Dankeschön", flüsterte ich zurück und fuhr mit meinen Händen über ihren Rücken. Langsam tastete ich mich nach vorne, bis ich schließlich ihre Brüste berührte, zuerst sehr vorsichtig, aber dann doch etwas kräftiger. Sie waren so weich und fest zugleich. Es war ein unglaublich schönes Gefühl, sie dort berühren zu dürfen.

Ich konnte an ihrem Atem spüren, dass es ihr auch gefiel, denn sie atmete schwerer als normal. Aber auch meine Erregung war kaum noch zu unterdrücken, und ich merkte wieder, wie es in meiner Hose zu pochen anfing. Sina war das allerdings auch nicht entgangen und sie strich mir sachte über die Stelle.

Nach und nach glitt ich tiefer mit meiner Hand, streichelte die Innenseiten ihrer Schenkel und als ich den obersten Knopf ihrer Hose öffnen wollte, hielt sie mich plötzlich zurück.

"Das möchte ich lieber nicht, Niko. Sei mir bitte nicht böse, aber soweit sollten wir noch nicht gehen. Dafür haben wir später noch genug Zeit, okay?"

Auf meine Reaktion wartend schaute sie mich an.

"Entschuldige bitte, ich wollte nichts machen, was du nicht selber willst. Wir können uns soviel Zeit lassen, wie du brauchst", sagte ich und drückte Sina an mich.

Nachdem wir uns wieder voneinander gelöst hatten, strich ich ihr durchs Haar und guckte ihr tief in die Augen.

"Ich habe dich unheimlich lieb", stammelte ich.

"Ich dich auch, mein kleiner Liebling. Ich dich auch", antwortete sie.

Inzwischen hatte es aufgehört zu regnen, und wir verließen unser immer noch trockenes Liebesnest. Es war weit nach 4 Uhr und ich brachte Sina nach Hause. Zum Glück war ihre Mutter diese Nacht nicht zu Hause. Ansonsten hätte es bestimmt großen Ärger gegeben, aber sie war bei Sinas Schwester und passte auf deren einjährige Tochter auf.

"War ein toller Abend. Schade, dass wir uns die nächsten Wochen nicht sehen können. Ich werde aber jeden Tag an dich denken, dann vergeht die Zeit schneller", sagte ich traurig, denn jetzt hieß es leider Abschied nehmen für die kommenden Wochen.

"So schlimm ist es ja auch wieder nicht. Ich werde dir ganz oft schreiben und am 27. Juli bin ich ja erstmal wieder zurück von meiner Oma. Dann sehen wir uns sofort, ja? Also, nicht traurig sein."

Zum Abschied fielen wir uns noch mal in die Arme und küssten uns lange. Dann verabschiedete ich mich und verschwand mit meinem Fahrrad in der Dunkelheit.

Zu Hause schlich ich mich aufs Zimmer, in der Hoffnung, dass keiner mein spätes Nachhausekommen bemerken würde. Wenige Minuten danach schlief ich überglücklich ein.


Die ersten Wochen der Sommerferien waren ziemlich öde. Von Montag bis Freitag war Arbeiten angesagt und nachmittags waren wir meistens im Seebad. Zum Glück spielte wenigstens das Wetter mit, ansonsten wäre es noch langweiliger gewesen.

Die Ferienarbeit an sich war eigentlich recht locker. Zusammen mit Sven, der mich jeden Tag abholte, waren wir fast täglich woanders eingesetzt. Mal mussten wir einen Lkw-Anhänger mit Unrat und Müll beladen, dann wieder im Park die Sträucher entästen und Unkraut hacken, aber die letzte Woche verbrachten wir auf dem Friedhof. Dort mussten wir täglich auf dem sowjetischen Ehrenfriedhof, der an den Molliner Dorffriedhof angrenzte, die Gräber der gefallenen Soldaten gießen und für Ordnung sorgen. Im Prinzip kam uns diese Aufgabe wie bloße Beschäftigungstherapie vor, aber das konnte uns ja egal sein. Es machte auf jeden Fall mehr Spaß als die anderen Sachen, und vor allem hatten wir dort weitestgehend unsere Ruhe. Es hätte eine richtig fetzige Woche werden können, wenn nicht andauernd der Friedhofswächter nach uns geguckt hätte. Sein Name war Alfred und er war äußerst seltsam oder besser gesagt eigenartig. Im Ort hatte er den Spitznamen Quasimodo, und der Vergleich war gar nicht von der Hand zu weisen, obwohl er mir eher wie eine Schöpfung Frankensteins vorkam. Es wurde erzählt, dass er als Junge im Krieg unter einen Panzer gekommen sein soll, und seitdem hatte er eine Metallplatte im Kopf und konnte sein rechtes Bein nicht mehr richtig bewegen, so dass er es immer etwas nachzog. Im Großen und Ganzen war Alfred ganz nett, aber er quatschte uns manchmal stundenlang zu, ohne dass wir eine Ahnung gehabt hätten, was er eigentlich sagen wollte. Wir redeten einfach völlig aneinander vorbei.

Einen Tag zum Beispiel regnete es in Strippen und Alfred schlug uns vor, unsere Frühstücksstullen in der Kapelle zu essen. Auf dem Friedhofsgelände war das der einzige Platz, wo wir uns vor dem Regen unterstellen konnten. Als wir so dasaßen und seelenruhig unsere Stullen mampften, fing er an, von der Geschichte der Kapelle zu erzählen und deutete mit den Händen auf den Fußboden.

"Seht ihr da unten die Flecken auf dem Steinfußboden?" fragte er uns.

An der Stirnseite der Kapelle war eine Art Tisch aus Marmor, auf dem wahrscheinlich bei der Beerdigungsfeier der Sarg aufgebahrt wurde, und daneben waren zwei größere Flecken zu sehen.

Gelangweilt guckte ich Sven an.

"Ist ja nicht zu übersehen", antwortete Sven.

"Na ja, das muss so 1965 oder nein, nein, ich weiß das war glaub ich 1963. Ja 63 war das." Alfred stotterte ein Zeug zusammen. Das war echt unglaublich.

"In dem Sommer war das richtig heiß, nicht wie dieses Jahr, nein, das war richtig heiß, so 30 Grad immer. Da sind ganz viele gestorben, wegen der Hitze und so, viele alte Leute sind da gestorben. Da hatten wir über das Wochenende, hatten wir da, vier Tote hier, aber unten passen ja nur drei Särge hin, unten im Keller. Da haben wir einen Sarg hier oben aufgebahrt, weil unten ja alles voll war."

Alfred hörte nicht auf zu erzählen und ich kaute genüsslich auf meiner Käsestulle in der Hoffnung, dass endlich der Regen draußen aufhört. Lieber wäre ich weiter arbeiten gegangen, als mir diesen Schwachsinn anzuhören. Sven schien es nicht anders zu gehen.

"Na gut und weiter", sagte ich.

"Na ja, das war doch so heiß in dem Jahr. 63 war das. Da bin ich dann am Montag früh gekommen und hab geguckt nach dem Rechten. Gegen Mittag sollte die alte Frau Gerber, oder war das die Frau Neudert, na die sollte doch beerdigt werden. Da bin ich in die Kapelle gegangen, weil da ja die Blumen gebracht werden sollten, und als ich die Tür geöffnet habe, da war so ein mächtiger Gestank, war da. Ich also rein gegangen und drinnen sehe ich, dass neben dem aufgebahrten Sarg rechts und links so Wasserflecken auf dem Boden sind. Da wusste ich gleich, dass das von der toten Frau, ich glaub das war doch die Frau Neudert, sein musste. Der Pfarrer hat dann gesagt, dass wegen die große Hitze das ganze Leichenwasser aus dem Sarg gelaufen ist und das hat er auch noch nicht gesehen. War schon komisch, das. Na ja und das sind da die Flecken, weil die gingen ja nicht mehr wegzumachen."

Den letzten Satz hatte ich bereits nicht mehr gehört. Mein gesamter Magen hatte sich umgedreht und mir war unsäglich schlecht. Ich rannte heraus und musste mich übergeben. Kurze Zeit später kam auch Sven heraus. Er war leichenblass und es dauerte nicht lange, bis er sich ebenfalls übergab.

Wir waren minutenlang völlig geschockt und konnten nicht sprechen. Wollte er uns vielleicht nur auf den Arm nehmen? Nein, der hatte sich keinen Spaß mit uns erlaubt, er hatte die Wahrheit gesagt. Für ihn war das einfach nur eine Geschichte von seiner Arbeit, und er konnte bestimmt nicht verstehen, warum wir uns wegen so was übergeben hatten, aber für uns war der Tag gelaufen. Die Kapelle betraten wir auf jeden Fall nicht wieder, und mir wird noch immer schlecht, wenn ich nur daran denke.

Inzwischen war der letzte Tag unserer Ferienarbeit gekommen, und ich freute mich darauf, endlich meine Ferien genießen zu können. Wie in den Tagen zuvor, wartete ich darauf, dass Sven mich mit seinem Fahrrad abholte, und pünktlich auf die Minute klingelte es an der Tür.

Ich öffnete ihm.

"Hallo, alles klar?" begrüßte ich ihn, "ich geh bloß noch mal schnell aufs Klo."

"Okay, dann geh ich schon raus. Beeil dich mal! Heute wollte der Typ von der Gemeinde kommen, und der wird sicher zeitig da sein."

"Ja, ich bin gleich soweit", antwortete ich und verschwand im Badezimmer.

Als ich nach draußen kam, bastelte Sven an seinem Rücklicht herum und schraubte gerade den Deckel fest.

"Dann wollen wir mal wieder", sprach er.

Wir schwangen uns auf die Räder und wollten losfahren. Im selben Moment kam uns völlig aufgeregt ein Mann entgegen und winkte uns schon von weitem zu.

"Gibt es hier irgendwo ein Telefon?" wollte er wissen.

Noch bevor wir antworten konnten, begann er völlig aufgelöst zu erzählen, dass zweihundert Meter von hier entfernt, zwei Züge zusammengestoßen seien und wir schnell Hilfe holen müssten. Ich wusste nur von unserem Hausmeister, dass er ein Telefon besaß und wir rannten sofort zu ihm. Vor seiner Haustür war ein großer Tumult, und als er uns sah, rief er uns kurz zu, dass Krankenwagen und Polizei schon unterwegs seien. Wir guckten uns beide an und beschlossen, zur Unglücksstelle zu gehen, um zu helfen. Von der Eisenbahnbrücke sahen wir das ganze Ausmaß der Katastrophe. Wie gelähmt standen wir nebeneinander und trauten unseren Augen nicht. Mehrere Waggons waren entgleist und lagen kreuz und quer über die Schienen verteilt. Andere Zugabteile waren aufgerissen. Es sah aus wie auf einem riesigen Schrottplatz. Wie lange wir bewegungslos auf der Brücke standen, weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich waren es nur Sekundenbruchteile, aber mir kam es wie eine Ewigkeit vor. Schließlich hörten wir im Hintergrund Hilferufe, was die gesamte Atmosphäre noch gespenstischer machte.

"Los, wir müssen die Böschung da runter! Vielleicht können wir uns nützlich machen", deutete ich in Richtung der Züge und zitterte am ganzen Körper.

Unten angekommen, waren bereits viele Helfer da, zum Großteil sicher Fahrgäste, die unverletzt geblieben waren, aber auch einige Leute in Uniform.

"Steht hier nicht rum!" herrschte uns einer der Uniformierten an, "wenn ihr helfen wollt, dann geht nach dort hinten", und zeigte zu einem der aufgerissenen Wagen.

Auf dem Weg dorthin, kam uns ein älterer Mann entgegen, dessen hellgrauer Anzug von oben bis unten mit Blut verschmiert war. Er hatte eine Platzwunde am Kopf und an seinem Oberkörper war der Anzug an mehreren Stellen zerrissen und es drang dort Blut aus den Wunden. Trotzdem hatte er anscheinend Glück gehabt, denn er kam aus dem Zugabteil, indem noch einige Leute eingeschlossen waren. Später erfuhren wir, dass es in diesem Abteil die meisten Toten gegeben hatte.

An dem Wagen angekommen, den uns der Uniformierte gezeigt hatte, halfen wir zuerst den Leuten beim Aussteigen. Es waren unheimlich viele kleine Kinder dabei, aber das war ja auch kein Wunder, denn schließlich waren Schulferien. Viele weinten oder stöhnten vor Schmerzen. Die Schreie der im Zug eingeschlossenen wurden immer unerträglicher und es lief mir eiskalt den Rücken herunter. Welche Qualen mussten die Leute erleiden?

Nachdem alle Leute, die alleine den Wagen verlassen konnten, draußen waren, begannen wir, die Koffer und Taschen herauszuschaffen, damit die Sanitäter Platz hatten, um nach drinnen zu gelangen.

Inzwischen rückten Feuerwehrleute mit Schneidbrennern an und wir freiwilligen Helfer wurden aufgefordert, die Schienen wieder zu verlassen und die weiteren Hilfsmaßnahmen nicht zu behindern.

Also verließen wir die Unglücksstelle und gingen die Böschung nach oben. Auf der Brücke hatten sich bereits dutzende Menschen versammelt und beobachteten das Schauspiel. Angewidert davon und mitgenommen vom gerade erlebten, gingen wir an der Menge vorbei. Gerade mal 45 Minuten waren vergangen, und obwohl wir beide noch unter Schock standen, mussten wir zur Arbeit. Wir fuhren schnell los und kamen gegen 8 Uhr 30, mit anderthalb Stunden Verspätung, auf dem Friedhof an.

Dort erzählten wir Alfred von dem Zugunglück, aber davon hatte er schon im Radio gehört.

"Kommt runter in den Keller!" forderte er uns auf, "wir müssen da mal Platz machen, falls die uns die Toten herbringen. Der Herr Kamm von der Gemeinde hat nämlich angerufen und gesagt, das könnte passieren, wenn viele Tote sind und irgendwo müssen die ja hin."

Ich dachte, ich höre nicht richtig und brüllte völlig hysterisch los.

"Sind die vollkommen bescheuert? Die können uns doch nicht die Leichen herschleppen. Ich habe für heute genug davon."

Wieder zitterte ich am ganzen Körper und mich überkam eine riesige Übelkeit bei dem Gedanken daran. Aber Alfred hatte recht. Unser Friedhof war der einzige in der Nähe des Unfallortes und es bestand durchaus die Möglichkeit, dass man den nächstgelegenen Friedhof zum Aufbewahren der Toten auswählen würde.

Wir hatten die ganze Zeit über das Kofferradio von Alfred an. In den ersten Nachrichten nach dem Unglück war keine Anzahl der Toten und Verletzten durchgesagt worden, aber in den 10- Uhr- Nachrichten war es dann soweit.

"...bei dem schweren Zugunglück in der Nähe des Berliner Außenrings hat es bisher 5 Tote, 22 Schwer- und an die hundert Leichtverletzte gegeben. Die Rettungsmaßnahmen dauern an, da im 3. Wagen des aus Dresden kommenden Zuges mehrere Personen weiterhin eingeschlossen sind und mit schwerer Räumtechnik der Einsatzkräfte befreit werden müssen. In diesem Wagen wird mit weiteren Toten und Verletzten gerechnet..."

Kaum waren die Nachrichten vorbei, hörten wir in der Ferne lautes Sirenengeheul. Zwar waren seit dem Morgen ständig Sirenen zu hören gewesen, aber immer in einiger Entfernung. Diesmal kamen sie allerdings näher. War es jetzt also soweit?

Nun konnten wir den Krankenwagen sogar sehen. Es gab keinen Zweifel. Er kam genau auf uns zu. Erstarrt stand ich neben Sven und wir warteten gespannt darauf, was jetzt passieren würde. Zu unserer größten Überraschung hielt er aber nicht an, sondern fuhr am Friedhof vorbei. Von dem Moment an kamen Notarzt- und schwarze Leichenwagen alle paar Minuten vorbeigefahren, aber bis zum Feierabend war für uns nichts zu tun, zum Glück.

Hinterher erfuhren wir, dass die letztlich 9 Toten alle zur Gerichtsmedizin ins Kreiskrankenhaus gebracht worden waren, um an ihnen eine Obduktion durchzuführen.


Nach dieser aufregenden Woche war ich wirklich urlaubsreif und konnte es nicht erwarten, endlich mit meiner Mutter und meinem Schwesterherz an die Ostsee zu fahren.

Die Woche auf Rügen verging wie im Flug. Wir hatten Glück mit dem Wetter und waren fast jeden Tag am Strand baden, und auch unsere Unterkunft war nicht schlecht. Bei einem älteren Ehepaar hatten wir für uns ein kleines Zimmer mit Bad und einen separaten Eingang. Für eine Woche war das vollkommen ausreichend, denn schließlich verbrachten wir die meiste Zeit ja ohnehin am Strand.

Erstaunlicherweise stritt ich mich kaum mit Sabine, was daheim an der Tagesordnung war, aber hier verstanden wir uns sehr gut. Das lag sicherlich auch daran, dass sie einige Leute aus Berlin kennen gelernt hatte und abends mit denen durch die Gegend zog. Dadurch hingen wir uns nicht so sehr auf der Pelle wie zu Hause.

Auf jeden Fall war es ein sehr schöner Urlaub gewesen und ich hatte Mutti überreden können, dass ich doch mit Mike zu seinen Verwandten in den Harz fahren durfte. Allerdings musste ich ihr versprechen, sie alle paar Tage auf Arbeit anzurufen.

In den folgenden Tagen war ziemlich viel Langeweile angesagt. Von meinen Freunden war kaum jemand da. Sina hatte ich wegen unserem Ostseeaufenthalt auch nicht zu Gesicht bekommen und nun war sie bereits die zweite Woche in ihrem komischen "Lager für Arbeit und Erholung" und Mike war mit seinen Eltern noch nicht wieder aus dem Riesengebirge zurück. Es war ganz schön trostlos. Wenigstens spielte das Wetter mit und ich konnte baden fahren. Am See traf ich mich mit Siggi, Torsten, Thomas und einigen anderen und meistens war es dort ganz gut. Am Abend spielte ich manchmal mit Matthias auf der großen Wiese hinter unseren Häusern Fußball, und so vergingen die Sommerferien.

Mike war seit vorgestern wieder da und wollte heute vorbei kommen, um alles für unsere Fahrt abzusprechen. Als er kam, gingen wir in unseren kleinen Garten hinterm Haus und setzten uns auf die Hollywoodschaukel.

"Mensch Alter, das fetzt ja echt ein, dass du mitfahren darfst. Ich habe schon nicht mehr daran geglaubt", sagte er und freute sich riesig.

"Na, frag mich mal. Ich dachte, ich muss den ganzen August über hier abhängen. Dann erzähl mir mal, wann es endlich losgeht!"

"Also, pass auf! Meine Eltern haben gestern noch mal bei meinem Opa angerufen und haben jetzt ausgemacht, dass wir am Sonntag um 8 Uhr 34 von Schönefeld losfahren. Wenn alles klappt, sind wir um 12 Uhr 58 da, und werden dann vom Bahnhof mit Auto abgeholt. Na, was sagst du?" fragte er und schaute mich freudestrahlend an.

"Was soll ich sagen, ist total super. Von mir aus kann es sofort losgehen", antwortete ich.

"Das Beste kommt aber erst. Wenn wir wollen, können wir im Zelt schlafen. Meine Großeltern haben einen großen Garten, und dort ist genug Platz für das Familienzelt von meinem Onkel. Er würde uns auch beim Aufbauen helfen. Nicht schlecht, oder?" Ohne eine Antwort abzuwarten, erzählte er weiter. "Der Vorteil dabei ist nämlich, dass wir tun und lassen können, was wir wollen, ohne dass andauernd einer angeschissen kommt, um zu gucken, was wir gerade so anstellen."

"Dass uns deine Verwandtschaft kontrollieren kommt, wird sich sowieso nicht vermeiden lassen, auch wenn wir nicht in der Wohnung schlafen, sondern draußen", wendete ich ein.

"Normalerweise hast du recht, Niko, vorausgesetzt der Garten wäre gleich hinterm Haus. Aber meine Großeltern wohnen in so einem Plattenbau und ihr Garten ist von dort mindestens fünfzehn Minuten zu Fuß entfernt, in einer Kleingartenanlage. Wir müssen nur zum Mittagessen vorbeigehen, ansonsten sind wir unser eigener Herr."

"Mann, das hast du echt super hingekriegt. Wirklich. Endlich können wir machen, was wir wollen", sprach ich sichtlich beeindruckt zu ihm.

"Das möchte ich aber auch sagen", triumphierte er. "Ach so, noch was, hast du eigentlich einen Schlafsack?"

"Nein, habe ich nicht, aber ich kann bestimmt Sabines bekommen. Sonst noch irgend etwas?"

"Mir fällt nichts mehr ein. Im Prinzip ist ja auch alles klar. Mein Vater fährt uns morgen früh zum Bahnhof. Ich schätze, wir werden etwa um 7 Uhr 45 hier sein."

Nachdem wir alle Sachen geklärt hatten, brachte ich Mike nach vorne.

"Also, bis morgen."

"Bis dann."

Drinnen erzählte ich Mutti erst mal alles, vermied es allerdings zu erwähnen, dass wir unser Zelt weitab vom Schuss in der Kleingartenanlage aufstellen würden.

"Hoffentlich geht das auch alles gut. Ich würde es ja besser finden, wenn ihr in der Wohnung der Großeltern schlafen würdet, aber wenn ihr unbedingt im Zelt schlafen wollt, kann man wohl nichts machen", sagte sie ein wenig ärgerlich.

"Mutti, du brauchst doch keine Angst um uns haben. Schließlich sind wir keine kleinen Kinder mehr, und außerdem sind Mikes Großeltern gleich in der Nähe, wenn wirklich irgendetwas sein sollte", flunkerte ich ihr vor.

"Pack dir auf jeden Fall die dicken Sachen ein! Lange Unterhosen können auch nicht schaden. Im Zelt wird das nachts mächtig kalt und in der übernächsten Woche geht die Schule wieder los", ermahnte sie mich.

„Mit den langen Männern ist jetzt aber nicht dein Ernst, oder? Es ist mitten im Sommer, Mutti“, beschwerte ich mich.

„Ich an deiner Stelle würde sie mit einpacken. Für alle Fälle“, sagte sie, „aber bitte wenn du nicht willst. Du musst ja dann erkältet zur Schule gehen, nicht ich.“

Ja, ja die Schule, dachte ich. Die Ferien gingen mit großen Schritten dem Ende entgegen, aber daran wollte ich nun wirklich noch nicht denken. Dafür war auch noch genug Zeit, wenn ich wieder aus dem Harz zurückkam.

"Ich werde dann schon mal meine Sachen einpacken", beendete ich das Gespräch und ging in mein Zimmer.












Urlaub im Harz


Am Bahnhof von Thalrode wartete der Onkel von Mike auf uns und begrüßte uns überschwänglich. Er freute sich sehr, dass mit der Zugfahrt alles so problemlos geklappt hatte und wir pünktlich auf die Minute angekommen waren. Nachdem wir unsere Rucksäcke in den Skoda gepackt hatten, fuhren wir zuerst zu Mikes Großeltern. Dort war eine riesige Kaffeetafel gedeckt, mit drei verschiedenen Torten und Gebäck und wir mussten uns erst mal den Magen voll schlagen. Sobald ich ein Stück aufgegessen hatte, kam von seiner Oma ein "Nu iss doch noch ein Stückchen, ist doch genug da!" Da ich nicht unhöflich erscheinen wollte, stopfte ich mir drei Tortenstücke hinter, was den Effekt hatte, dass mir danach tierisch schlecht war. Mike schien es genauso zu gehen, aber er ließ sich nichts anmerken. Erst als wir mit seinem Onkel die Wohnung verließen, um zum Garten zu fahren, guckten wir uns beide an und fingen an zu lachen.

"Oh, ist mir schlecht. Das ist jedes Mal dasselbe", flüsterte er mir zu.

"Ich glaube, das ist bei allen Großeltern so", flüsterte ich zurück.

Mit dem Skoda machten wir eine halbe Stadtrundfahrt durch Thalrode. Zu Fuß war der Garten, so versicherte uns sein Onkel, zwar gleich um die Ecke, weil man ihn durch einige Trampelpfade erreichen konnte, aber mit dem Auto musste man etliche Nebenstraßen entlangfahren. Noch dazu war heute die Hauptverkehrsstraße wegen Bauarbeiten ab dem Rathaus gesperrt, und wir mussten eine Umleitung in Kauf nehmen. Mikes Onkel ereiferte sich ziemlich heftig über die erneuten Arbeiten am Straßenbelag und erklärte uns, dass es heute bereits die vierte Sperrung innerhalb eines Monats war, und das alles nur deshalb, weil diese völlig, verblödeten Saukerle, wie er die Bauarbeiter nannte, beim ersten Mal gepfuscht hatten. Seitdem traten immer wieder Risse im Teer auf, und an diesen Stellen sackte die Straße etwas ein. Statt alles noch einmal aufzureißen und neu zu machen, hatten sie mit einer einzigen Flickschusterei begonnen, und ein Ende davon war nicht in Sicht.

Mir machte es aber nichts aus, dass wir länger zum Garten fahren mussten, denn ich starrte gespannt aus dem Autofenster, und erkundete mit meinen Augen, Stück für Stück, Thalrode. Es war nicht sehr groß, jedenfalls nicht so weitläufig wie Mollin, aber es gefiel mir auf den ersten Blick, wahrscheinlich weil es sich so von zu Hause unterschied. Entlang unserer Fahrtroute gab es sogar einige Fachwerkhäuser zu bestaunen, die bestimmt sehr alt waren. Teilweise waren sie allerdings nicht mehr so gut erhalten, und die ehemalige Schönheit war daher nur noch zu erahnen, was wirklich schade war. Durch die Stadt, obwohl Mollin garantiert größer war, kam dort fast niemand auf die Idee, es als Stadt zu bezeichnen, floss die Bitter, ein im Sommer wenig Wasser führender Fluss, der sich aber im Frühjahr, nach dem Abtauen des Schnees auf den umliegenden Bergen, in so manchen Jahren zu einem reißenden Strom entwickelte, und dann die Keller der angrenzenden Häuser überflutete. Das hatte mir Mike irgendwann mal erzählt. Als wir mit dem Skoda über eine Brücke fuhren, reckte ich meinen Kopf in die Höhe, um zu sehen, wie viel Wasser der Fluss denn momentan hatte, aber ich konnte es nicht genau erkennen.

Nach wenigen Minuten kamen wir am Garten an und stellten verblüfft fest, dass der vermeintliche Garten ein freies Feld war, mit einer Rasenfläche und etlichen Beeten, auf denen die unterschiedlichsten Dinge angepflanzt waren. Die eigentliche Kleingartenanlage mit den dazugehörigen Datschen befand sich auf der gegenüberliegenden Seite und war durch einen Weg getrennt. Auf der anderen Seite Richtung Osten und Westen begrenzten kleinere Berge unsere Sicht.

"Lasst uns das Zelt aufbauen bevor es dunkel wird!" forderte uns Mikes Onkel auf.

Wir luden das Auto aus und begannen mit dem Aufbau. Nach über einer Stunde waren wir endlich fertig. Das Zelt war einfach riesig. Es war quadratisch mit einem großen Vorzelt, einer Kochnische, einer Schlafkabine für zwei Leute und einem Vorraum, in den wir einen Tisch und zwei Stühle stellten. Mike erklärte mir, dass dieses Familienzelt sogar für vier Leute ausgelegt war, weil man anstelle des Vorraumes noch eine Schlafkabine einbauen konnte, aber da wir nur zu zweit waren, hatten wir so mehr Platz.

Währenddessen musterte uns sein Onkel.

"Ist nicht schlecht, oder? Wenn ich das so sehe, möchte ich auch noch mal in eurem Alter sein. Na ja, das ist bei mir ja schon ziemlich lange her", seufzte er nachdenklich.

"Komm schon, so alt bist du auch wieder nicht", munterte Mike ihn auf.

"Alt vielleicht nicht, aber verheiratet", sagte er im Spaß. "Dann werde ich euch mal alleine lassen. Ich hoffe, ihr habt alles. Falls irgendetwas fehlen sollte, geht ihr halt zu Oma und Opa vorbei, oder kommt zu mir. Fällt euch noch was ein?"

Wir guckten uns beide an und zuckten mit den Schultern.

"Ich glaube, wir haben alles. Außerdem sind wir morgen zum Mittagessen da, und bis dahin werden wir schon über die Runden kommen", antwortete Mike.

Schließlich verabschiedeten wir uns voneinander und bedankten uns nochmals für das Zelt und seine Hilfe beim Aufbauen.

"Da gibt es ja wohl nichts zu danken. Ist doch eine Selbstverständlichkeit. Also, macht es gut ihr zwei. Bis dann."

"Tschüß, bis dann", riefen wir ihm hinterher und winkten, als er mit seinem Skoda, eine dicke Rauchwolke hinter sich herziehend, hinter der nächsten Ecke verschwand.

An diesem Abend richteten wir uns gemütlich im Zelt ein, und es fehlte uns an nichts. Sein Onkel hatte an wirklich alles gedacht, sogar an Toilettenpapier für den Notfall. Allerdings hofften wir, davon keinen Gebrauch machen zu müssen.

Ansonsten war mit uns, nach diesem anstrengenden Tag, nicht mehr viel anzufangen, weshalb wir auch zeitig schlafen gingen.

Die darauffolgenden Tage verbrachten wir damit, die Gegend zu erkunden und Mikes Verwandten Besuche abzustatten. Am Dienstagabend gingen wir mit seiner Cousine und ihrem Freund "ZUM ANKER", angeblich die beste Kneipe hier. Es war ein ehemaliges Fährschiff, welches an einem kleinen See festgemacht hatte und sehr idyllisch am Rande der Stadt lag. Der See hatte auch eine kleine Verbindung zur Bitter, aber jetzt im Sommer war diese so gut wie ausgetrocknet.

Sie hatte uns auch nicht zuviel versprochen, denn es war dort sehr angenehm und es wurde ein sehr schöner Abend. So vergingen die ersten Tage schneller als es uns lieb war.

Am Mittwochnachmittag, wir waren gerade auf dem Weg zum Einkaufen, kamen wir an einem der Berge vorbei, die wir von unserem Zelt aus sehen konnten. Schon von weitem sahen wir auf einer Anhöhe am Berg, dass sich dort mehrere Jugendliche aufhielten und je näher wir denen kamen, desto mulmiger wurde uns. Hier kannte schließlich jeder jeden und dass wir nicht hierher gehörten, war nicht zu übersehen.

"Wir gucken einfach in die andere Richtung und ignorieren die", flüsterte ich zu Mike herüber und er nickte mir zustimmend zu.

Als wir auf gleicher Höhe waren, rief einer etwas zu uns herunter, aber wir verstanden nicht, was es war. Wir wollten schon weiterlaufen und so tun, als ob wir nichts gehört hätten, aber beim zweiten Mal verstanden wir ihn deutlich.

"Was ist los, habt ihr mal Feuer für uns, oder was?" rief er uns freundlich zu.

"Klar doch", antwortete ich und kramte meine Streichhölzer hervor, die ich immer für alle Fälle dabei habe, während wir den kleinen Pfad heraufstiegen. Ich hatte zwar ein komisches Gefühl, aber was sollte denn schon passieren?

Nachdem sich mehrere Leute Zigaretten angesteckt hatten, bot uns der eindeutig Älteste der Runde auch welche an. Mike nahm dankend eine Karo aus der Schachtel, aber ich lehnte ab. Rauchen war noch nie mein Fall gewesen.

"Danke Leute, ihr habt uns gerettet. Ihr glaubt gar nicht, wie schrecklich das ist, zwar was zum Rauchen zu haben, aber nichts zum Anzünden". Nach einer kurzen Pause stellte er sich uns vor. "Also, ich bin Vadder, und das hier oben ist die Clique von der Pflaume. Im Moment sind aber viele noch im Urlaub, deshalb ist nicht so viel los. Normalerweise sind immer 20 Leute hier. Was hat euch hierher verschlagen?"

"Wir sind eine Woche zu Besuch bei Mikes Großeltern. Ich bin übrigens Niko", sagte ich und reichte allen die Hand.

So lernten wir an diesem Nachmittag außer Vadder, der bereits 21 und so etwas wie der Boss in der Clique war, noch Iris, Irina, Franziska, Markus, Manni, Karsten und Peter kennen. Die meisten waren auch in unserem Alter, zwischen 14 und 16, und während wir uns über alles Mögliche unterhielten, stellten wir bald fest, dass wir viele gemeinsame Interessen hatten. Wir blieben über drei Stunden dort, mussten dann aber los zum Einkaufen.

"Wenn ihr Lust habt, kommt morgen ruhig vorbei. Ab 15 Uhr sind wir auf jeden Fall wieder hier", verabschiedeten sich die anderen von uns.

"Klar haben wir Lust, morgen wiederzukommen", sprachen wir beide gleichzeitig, "also, dann bis morgen."

Danach hatten wir natürlich kein anderes Gesprächsthema mehr, und wir konnten den nächsten Tag kaum erwarten. Mike hatte sich ein wenig in Irina verguckt und fragte sich die ganze Zeit, ob er wohl Chancen bei ihr hätte. Als er mich schließlich nach meiner Meinung dazu befragte, konnte ich ihm leider auch keine befriedigende Antwort geben, aber ich gab ihm den Rat, die Sache ganz langsam anzugehen und erst mal herauszufinden, ob sie nicht etwa innerhalb der Clique einen Freund hatte. Das es bestimmt Ärger geben würde, jemand aus der Clique die Freundin auszuspannen, leuchtete sogar ihm ein.

Er war aber nicht der einzige, der Gefallen an einem der Mädchen gefunden hatte. Iris war mir sofort aufgefallen, mit ihren langen blonden Haaren und ihrem süßen Lächeln. Allerdings hatte sie mir erzählt, dass sie einen Freund hatte, der irgendwo in Mecklenburg im Internat war und dort seine Ausbildung machte. Daher machte ich mir auch keine Illusionen, Iris betreffend.

Am nächsten Tag gingen wir wie verabredet zur Pflaume und trafen uns mit den anderen. Es waren zwei neue Leute da, Katja und Micha. Ansonsten war es genauso schön wie am gestrigen Tage, sogar noch etwas besser, weil wir jetzt das Gefühl hatten, dazuzugehören.

Irgendwann kam Vadder die Idee, dass wir ja Geld sammeln könnten, um was Trinkbares zu besorgen. Er schwang sich mit gut 30 Mark auf sein Moped und düste davon. Keine zehn Minuten später war er wieder zurück mit einem Rucksack voller Bier, einer Flasche Rotwein und einer Flasche Goldi.

"Dann kann die Party ja losgehen", meinte Markus und öffnete den Goldbrand.

Jeder nahm sich was zu trinken aus dem Rucksack. Weil mir der erste Schluck aus der Schnapsflasche nicht so zugesagt hatte, hielt ich mich lieber an das Bier und trank ab und zu beim Rotwein mit.

In dieser Zeit unterhielt ich mich sehr lange mit Micha, Peter und Franziska über Musik, während Mike am anderen Ende saß, natürlich in der Nähe von Irina. Leider saß auch Iris dort, so dass ich keine Möglichkeit hatte, mich mit ihr näher zu unterhalten.

"Ist die Weinflasche inzwischen leer?" fragte Manni in die Runde.

"Schon lange", antwortete Katja und zeigte die leere Flasche hoch.

"Willst du eine neue holen?" wollte Vadder wissen. "Falls ja, von mir aus gerne, der Rest ist nämlich auch schon alle." Er kramte die letzten Bierflaschen aus dem Rucksack und verteilte sie unter uns.

"Nein, deshalb habe ich nicht gefragt. Ich dachte, wir könnten ja mal wieder Flaschendrehen", sagte er und grinste sich eins.

Durch die Menge ging ein lautes Raunen, und die Mädchen fingen an zu kichern.

"Der Vorschlag kann echt nur von dir kommen", warf Iris ein. "Hast du nichts anderes im Kopf?"

"Im Kopf nicht", sagte er und deutete eine klare Körperbewegung an.

Daraufhin brachen alle in ein riesiges Gelächter aus.

Da die Meinungen zu Mannis Geistesblitz doch recht geteilt waren, beschlossen wir, darüber abzustimmen und zwar so, dass alle die Mehrheitsentscheidung akzeptieren mussten, egal wie es ausging. Letzten Endes waren nur Franziska und Iris dagegen, aber sie beugten sich der vorher gemachten Absprache.

Ich freute mich natürlich ganz besonders und hoffte auf etwas Glück beim Flaschendrehen, aber wie immer bei Spielen, mehr war es ja auch nicht, hatte ich kein Glück dabei. Dreimal hatte ich das Vergnügen mit Franziska und jeweils einmal mit den anderen Mädels, mit Ausnahme von Iris. Im Großen und Ganzen konnte ich mich nicht beklagen, denn sie küssten alle sehr gut, vor allen Dingen Irina, aber es war halt nur ein Spiel. Die einzigen, die sich richtig mit Zungenschlag küssten, Katja und Micha, waren sowieso zusammen. Mike schien sich auch mehr davon versprochen zu haben und war ein bisschen enttäuscht, aber zumindest war er einmal mit Irina dran gewesen, wenn auch nur kurz.

Die Dunkelheit war längst hereingebrochen und die ersten machten sich zum Nachhausegehen fertig.

"Liegt morgen irgendwas an?" fragte Iris, bevor sie ging.

"Was soll morgen schon sein?" rief Irina herüber, "Wir treffen uns hier wie immer, oder hast du was Besseres vor?"

"Das nicht, aber ich dachte, wir könnten ja zur Disco gehen. Unten am See soll Freiluft-Disco sein, ich glaube ab 20 Uhr."

"Ja, das haben wir vorhin auf einem Plakat am Bahnhof gesehen", mischte ich mich in das Gespräch ein. "Von mir aus können wir das gerne machen. Was meint ihr denn?"

"Okay, dann treffen wir uns hier wie immer und gehen danach zum Tanzen", sagte Iris und es kam mir fast so vor, als hätte sie das nur zu mir gesagt. Wahrscheinlich war sie nur erleichtert, dass ich ihren Vorschlag unterstützt hatte und hatte mich deshalb angelächelt. Ich war trotzdem glücklich, denn zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, ihr nicht ganz gleichgültig zu sein.

Auf unserem Weg zum Zelt musste ich Mike stützen, und das war bei seinem Gewicht kein Zuckerschlecken. Vielleicht hätte er beim Goldbrand trinken lieber eine Runde auslassen sollen, dachte ich mir.

"Sind wir bald da? Ich will ins Bett", lallte er mir in mein Ohr.

"Ein paar Meter müssen wir noch. Ist nicht mehr weit", beruhigte ich ihn.

Kurz nach Mitternacht waren wir endlich im Zelt und schliefen beide sofort ein.

Der Freitag begann für uns erst ziemlich spät, da Mike bis zum Mittag brauchte, seinen Rausch auszuschlafen. Aus diesem Grunde ließen wir unser Frühstück ausfallen und trabten gemächlich zu seinen Großeltern zum Mittagessen. Er sah immer noch schwer mitgenommen aus, und ich konnte nur hoffen, dass es ihnen nicht auffallen und er sich zusammenreißen würde. Dass Mike kaum etwas aß, verwunderte sie zwar etwas, aber ich erklärte ihnen, dass wir heute erst spät gefrühstückt hatten, und damit gaben sie sich zufrieden.

Die Zeit danach verbrachten wir vor unserem Zelt. Wir waren beide nicht allzu gesprächig und dösten so vor uns hin, bis Mike das Schweigen durchbrach.

"Heute Abend ist meine letzte Chance, an Irina ranzukommen. Wenn es heute nicht klappt, dann kann ich es vergessen", meinte er resigniert und musterte mich abschätzend. "Und ich glaube, das gilt nicht nur für mich."

"Wie ist das denn jetzt gemeint?" herrschte ich ihn an und richtete mich in meiner Liege auf.

"Als ob das zu übersehen wäre, so wie du Iris anschaust. Mann Alter, wir müssen uns irgendwas einfallen lassen. In drei Tagen geht es wieder nach Hause. Die Zeit rennt uns davon."

Da war etwas dran, soviel war klar.

"Ja, da hast du recht. Das Problem liegt bei mir aber anders", versuchte ich ihm zu erklären.

"Wieso, weil sie einen Freund hat und du eine Freundin? Scheiß doch drauf! Niko, wir sind hier in den Ferien. Sina ist weit weg und der Typ von Iris ist sonstwo. Woher sollen die denn erfahren, was hier los war? Also, ich kann schweigen wie ein Grab." Er legte seinen Finger auf den Mund. „Weißt du denn, was Sina gerade macht? Also, was ist jetzt?"

Ich dachte kurz darüber nach, was Mike zum Schluss gesagt hatte und musste zugeben, dass da schon etwas dran war. Woher sollte ich wissen, was Sina in ihrem „Lager für Arbeit und Erholung“ so anstellte.

"Wir können ja folgendes machen“, sagte ich schließlich. „Falls Irina und Iris zusammen tanzen sollten, gehen wir einfach hin und klatschen die beiden ab. Wenn sie sich darauf einlassen, hat jeder seine Chance und alles andere wird sich finden. Was meinst du?"

"Der Plan ist einfach, aber genial. So haben wir wenigstens die Möglichkeit, mal unter vier Augen mit den Mädchen zu sprechen. Du bist ein echtes Genie."

Mike klopfte mir anerkennend auf die Schulter. Ich konnte seine Euphorie allerdings nicht teilen, denn wer sagte uns, dass unser Plan überhaupt funktionieren würde, und was mich betraf war ich mir nicht einmal im Klaren, ob ich das überhaupt wollte. Schon beim Gedanken daran bekam ich, Sina gegenüber, ein schlechtes Gewissen.

Auf der Pflaume waren heute über zwanzig Leute da, wovon wir einige nicht kannten.

Die meisten hatten sich für die Disco herausgeputzt, vor allem natürlich die Mädels. Einige hatten sich in Schale geschmissen mit Kleid oder Minirock. Iris hatte ein dunkelgrünes Samtkleid an und dazu schwarze Wildlederschuhe mit einem hohen Absatz. Die Haare hatte sie nach oben gesteckt und sich im Gesicht ein wenig geschminkt. Sie sah umwerfend aus und wie sie in der Sonne dastand, hatte sie fast etwas Majestätisches an sich. Ich musste mich zusammennehmen, um nicht ständig zu ihr herüberzugucken, was mir sichtlich schwer fiel.

Kurz nach 19 Uhr begann der große Aufbruch. Vadder war der Meinung, dass wir zeitig da sein müssten, um für uns alle einen vernünftigen Tisch, in der Nähe der Tanzfläche zu ergattern. Damit hatte er nicht unrecht, denn wir wollten ja ein bisschen was zum Gucken haben. Obwohl mir eigentlich der Anblick von Iris ausreichte, den ich auf dem Weg zur Disco ausgiebig genießen konnte. Ich ging mit Mike extra am Ende der Clique und so hatten wir eine hervorragende Aussicht.

Die Freiluft-Disco befand sich schräg gegenüber vom "ANKER", auf einem großen freien Platz. Dort war eine Bühne aufgebaut, wo auf mehreren Tischen, die Anlage des DJ’s stand. Vor den Tischen hing ein Plakat mit der Aufschrift "DISKOTHEK RUND".

Unsere Pünktlichkeit hatte sich bezahlt gemacht. Wir hatten für uns, von der Bühne links außen, einen Tisch ergattert, mussten aber noch ein paar Stühle dazu organisieren, was gar nicht so einfach war. Die Disco war inzwischen bis auf den letzten Platz gefüllt und die Schlange am Einlass riss trotzdem nicht ab. Die anderen erklärten uns, dass es am Freitagabend im Umkreis von zwanzig Kilometern nur eine Disco gab und dass es deshalb immer so voll war.

Mir war es so auch lieber, denn je voller es war, desto anonymer war es auch, und bei dem, was wir vorhatten, konnten wir keine leere Tanzfläche gebrauchen. Bis es sich dort zu füllen begann, dauerte es wie meistens noch eine Weile. Ein Teil der Leute wartete darauf, dass es endlich dunkel wurde, und der andere Teil musste sich erst mal Mut antrinken, bevor man sich traute, jemand zum Tanzen aufzufordern. Bei uns zu Hause war es ganz genauso.

Als der Abend richtig in Fahrt kam, war es bereits finsterste Nacht, und ich konnte an mir feststellen, dass ich nach dem dritten Bier viel ruhiger war. Von unserem Tisch tanzten einige der Mädchen und als U2 gespielt wurde, stürmte ich mit Mike zu den anderen auf die Tanzfläche. Danach kamen noch mehr gute Lieder, und deshalb tanzten wir weiter.

Nach vier oder fünf weiteren Liedern machte der DJ eine Ansage.

"Wie immer um diese Zeit kommt jetzt die langsame Runde. Also Leute, Zeit zum Schmusen."

Mit einem Mal herrschte reges Treiben auf der Tanzfläche. Viele gingen runter, dafür kamen aber viele Pärchen nach vorne. Ich stand unschlüssig neben Mike, aber auch Iris und Irina standen noch auf der Tanzfläche. Das dieser blöde DJ unseren Plan durchkreuzt hatte, war nicht mehr zu ändern, also musste Plan B her. Ich stieß Mike unauffällig meinen Ellenbogen in die Seite und flüsterte ihm leise zu, dass es jetzt losging. Er verstand zwar nicht, was ich damit meinte, folgte mir aber zu den beiden.

"Habt ihr Lust zu tanzen, oder wartet ihr hier auf den Bus?" fragte ich und wäre am liebsten augenblicklich im Erdboden versunken, als mir die Peinlichkeit meines Spruches bewusst wurde.

"Eigentlich warten wir ja auf den Bus, aber der scheint wohl nicht zu kommen", antwortete Iris und lächelte mich an.

"Umso besser, dann tanzen wir halt solange bis er kommt", sagte ich.

"Meinetwegen", erwiderte sie darauf.

Ich legte ganz vorsichtig meine Arme um sie, traute mich aber nicht, sie fester zu umarmen. Nach dem nächsten Lied wurde ich etwas frecher und zog sie enger an mich heran, was ihr zu gefallen schien, denn sie schmiegte ihren Kopf an meine Schulter. Danach tanzten wir ganz eng zusammen, und ich strich ihr sanft über den Rücken und ihren Nacken, während sie liebevoll ebenfalls meinen Rücken streichelte. In der kurzen Pause zum Beginn des nächsten Stückes, guckten wir uns sekundenlang in die Augen und begannen schließlich, uns zu küssen. Zuerst ganz langsam, aber dann wurde es immer leidenschaftlicher. Wir drehten uns im Rhythmus der Musik und vergaßen alles um uns herum. Es war uns völlig egal, was die anderen dachten. Für den Moment gab es nur uns. Mit meinen Händen fuhr ich ihr durch die Haare und im nächsten Augenblick drückte ich meinen Körper ganz fest an ihren. Ich konnte ihre Brüste spüren und ihr Herz schlagen hören. Iris knetete zärtlich meinen Po und füllte mit ihrer Zunge meinen Mund aus. Es war wunderschön.

Das die Disco beendet war, merkten wir erst, als auf der Bühne grelles Licht angemacht wurde und sich einige von uns verabschiedeten. Irina und Mike standen an der Bar und unterhielten sich.

"Ich glaube, ich gehe dann mal. Ist mächtig spät geworden", sagte sie und strich mir durch die Haare. "War ein sehr schöner Abend. Dankeschön.". Sie küsste mich lange auf den Mund und wollte sich zum Gehen abwenden.

"Warte doch einen Moment! Ich sage bloß schnell Mike "Tschüß" und bringe dich dann nach Hause. Dauert nicht lange."

"Nein, lass mal Niko! Ich gehe mit Franziska, die wartet dort hinten auf mich. Trotzdem, danke für das Angebot."

"Na gut, wie du willst. Komm gut heim."

Ich drückte ihr einen letzten Kuss auf die Wange, und so trennten wir uns voneinander. Nach ein paar Metern drehte ich mich noch mal um und rief ihr hinterher.

"Sehen wir uns morgen?" aber das hörte sie schon nicht mehr und verschwand in der Dunkelheit.

Beim Frühstück werteten wir den letzten Abend aus. Auf der einen Seite war ich natürlich vollkommen happy, denn meine Träume waren in Erfüllung gegangen, aber auf der anderen Seite machte mir das schlechte Gewissen zu schaffen.

Mike hatte auch einen schönen Abend gehabt und hatte sich lange und intensiv mit Irina unterhalten. Allerdings war es dabei auch geblieben. Den Grund dafür konnte er sich nicht erklären.

"Bei der langsamen Runde lief zuerst auch alles nach Plan. Wir haben von Lied zu Lied immer enger getanzt und nach einigen Liedern versuchte ich, sie zu küssen. Daraufhin hat sie dann gesagt, sie möchte lieber etwas trinken gehen. Das war alles. Ich werde daraus nicht schlau. Verstehst du das?"

"Wenn ich ehrlich bin: nein. Zumindest nicht richtig. Vielleicht hat sie keine Lust auf eine Drei-Tage -Liebschaft. Was weiß ich?" antwortete ich.

"Darüber musst du dir ja auch keine Gedanken machen. Bei dir hat ja alles hingehauen", meinte er etwas säuerlich.

"Komm schon, du kannst mir doch nicht die Schuld geben, dass es bei mir geklappt hat und bei dir nicht. Dafür kann ich nun wirklich nichts", verteidigte ich mich. "Außerdem hast du stundenlang mit Irina geredet und sie dadurch besser kennen gelernt. Ich weiß jetzt zwar, dass Iris gut küssen kann und wie sie sich anfühlt, aber dafür habe ich keine zwei Sätze mit ihr gesprochen. Ich weiß genauso wenig von ihr, wie am ersten Tag."

"Super, wenn du mich fragst, hätte ich wirklich gerne mit dir getauscht. Wen interessiert schon das Gequatsche?" sagte er verächtlich und verzog das Gesicht.

Manchmal konnte ich ihn beim besten Willen nicht verstehen. Was hatte er denn erwartet? Wahrscheinlich glaubte er, nur einmal mit dem Finger schnipsen zu müssen, und schon gingen all seine Wünsche in Erfüllung. Ich hätte ja auch gar nichts dagegen, wenn dem so wäre, nur leider funktionierte das so nicht, außer bei Jeanny vielleicht.

Zur Kaffeezeit standen plötzlich Vadder und Markus vor unserem Zelt. Wie es sich für einen guten Besuch gehört, hatten sie natürlich was zum Trinken dabei und stellten eine Flasche undefinierbaren Inhalts auf den Tisch. Vadder erklärte uns, dass er die Flasche aus dem Keller seiner Eltern hat mitgehen lassen, als er sie das letzte Mal besuchte.

"Das ist Holunderbeerwein. Ihr glaubt ja nicht, wie lecker der schmeckt. Vor allen Dingen dreht das Zeug wie verrückt." Nach einer kurzen Pause, in welcher er gekonnt den Korken herausgedreht hatte, fuhr er fort. "Eigentlich sind wir auch nur vorbeigekommen, um euch auf eine Party einzuladen."

Markus unterbrach ihn.

"Auf eine Party ist ja wohl schwer untertrieben. Es ist die Party des Jahres", sagte er mit sichtlicher Begeisterung.

"Meinetwegen auch das. Markus hat schon Recht. Es ist nicht irgendeine Feier."

"Was soll denn so Besonderes daran sein?", wollte Mike wissen.

"Dann passt mal auf!" räusperte sich Vadder, nachdem er einen großen Schluck aus der Flasche genommen hatte. "Jedes Jahr am letzten Augustwochenende, also vor Beginn des neuen Schuljahres, steigt an den Teichen eine riesige Party. Das ist inzwischen feste Tradition und meistens auch ziemlich gigantisch. Die Teiche sind drei kleinere Seen, etwa sieben Kilometer entfernt von hier mitten im Wald und in der Nähe der Russenkaserne. In diesem Jahr haben es die Verrückten fertiggebracht, irgendwoher ein 40- Mann- Armeezelt aufzutreiben, und das Teil steht jetzt am Ufer des mittleren Teiches."

"Außerdem will Henri seine Stereoanlage mitbringen und die irgendwie über Autobatterie laufen lassen. Das wird ein Spektakel", sagte Markus und guckte mit leuchtenden Augen zu Vadder herüber. "Kannst du dich noch an letztes Jahr erinnern? Mann, war da was los. Ich bin ja bloß gespannt, ob die Bullen wieder auftauchen."

"Darauf bin ich ja auch gespannt", erwiderte Vadder und erzählte uns, was sich im Vorjahr abgespielt hatte. Die Polizei war, angeblich wegen Lärmbelästigung, nach Mitternacht mit mehreren Mannschaftswagen aufgetaucht und hatte alle, die noch da waren, mitgenommen. Auf dem Revier waren die Personalien von allen notiert worden, was bei 22 Leuten Stunden gedauert hatte, und Wochen später hatten einige Strafen bezahlen müssen, wegen Zusammenrottung und Trunkenheit in der Öffentlichkeit oder solch einen Scheiß.

"Okay, was ist, habt ihr Bock mitzukommen?" Markus musterte uns, "Oder wollt ihr euch das entgehen lassen."

"Wohl kaum, logisch sind wir dabei", antwortete ich. "Wann soll es denn losgehen?"

"Wir holen euch um sieben ab. Ach so, und nehmt mal lieber den Schlafsack mit! Vielleicht schlafen wir da im Zelt."

"Alles klar", sagte Mike, "sollen wir sonst noch etwas mitbringen, was zu trinken oder so?"

"Essen und Getränke sind schon da, aber jeder muss ein Pfund in die Kasse packen", erklärte uns Vadder.

"Also, Leute, dann bis nachher."

Für das erste verabschiedeten wir uns voneinander.

Pünktlich holten uns die anderen ab. Außer den beiden waren noch Manni, Peter, Karsten, Micha, Katja und Irina dabei. Von Iris war weit und breit keine Spur. Obwohl ich darüber etwas traurig war, ließ ich mir nichts anmerken.

Mit der lauten Musik aus Peters Kassettenrekorder, er hatte seine Iron Maiden-Kassette eingeworfen, setzten wir uns in Bewegung in Richtung Teiche.

Unser Weg dorthin führte uns durch eine sehr schöne Gegend, anfangs durch einen Wald entlang eines Bächleins und später über Feldwege zwischen riesigen Maisfeldern. Genüsslich knabberte ich einen Maiskolben und lauschte dem Gespräch von Markus und Manni, die neben mir liefen, als Irina mich unauffällig zur Seite nahm.

"Kann ich dich kurz sprechen?"

"Natürlich, was gibt es denn?" fragte ich neugierig und fügte hinzu: "Geht es um Mike?"

Überrascht schaute sie mich an.

"Wieso um Mike?" Anscheinend verstand Irina nicht, was ich damit sagen wollte. "Es geht um dich, Niko."

"Das verstehe ich nicht. Was meinst du damit?"

"Ich meine wegen gestern Abend mit Iris."

"Was soll denn sein deswegen? Habe ich irgendwas falsch gemacht?"

"Nein, im Prinzip nicht. Schließlich hätte sie sich ja nicht darauf einlassen müssen, aber dummerweise ist vorhin ihr Freund über das Wochenende gekommen und sie hat Angst, dass er etwas darüber erfahren könnte. Aus diesem Grund kann sie heute nicht mitkommen und lässt dir ausrichten, dass ihr der Abend sehr gefallen hat mit dir."

"Hat sie etwa Angst, dass ich etwas verraten würde?"

"Nein, das ganz sicher nicht, aber bei den vielen Leuten, die euch gestern zusammen gesehen haben, ist es nur eine Frage der Zeit, bis irgendjemand plaudert, und deshalb hat sie ziemliche Angst um dich. Ihr Freund ist", sie machte eine kleine Pause, „sagen wir mal, mächtig eifersüchtig. Wenn du verstehst, was ich damit meine."

Ich verstand nur zu gut, was Irina damit andeutete. Es roch nach verdammt viel Ärger, sollte ich dem Freund von Iris begegnen. Er war nicht bloß zwei Jahre älter als ich, sondern auch noch einen halben Kopf größer. Den Rest konnte ich mir gut ausmalen.

"Mach dir mal nicht so viele Gedanken!" ermunterte sie mich, "wahrscheinlich begegnet ihr euch ja gar nicht."

"Wieso wahrscheinlich?" fragte ich aufgeregt.

"Na ja, das ist heute nicht irgendeine Party. Er war seit drei Wochen nicht mehr zu Hause und wird bestimmt auch hingehen wollen, um seine Kumpels zu treffen. Aber Iris wird sich schon eine Ausrede einfallen lassen", meinte sie zuversichtlich.

"Das hoffe ich. Auf alle Fälle vielen Dank für die Vorwarnung. Das war sehr nett von dir", bedankte ich mich.

Nachdem wir einige Zeit wortlos nebeneinander hergelaufen waren, fragte sie mich, wie ich das vorhin gemeint hätte mit Mike, worauf ich ihr alles ganz genau erzählte, denn schließlich hatte sie jetzt bei mir einen dicken Stein im Brett. Sie schien davon nicht unbedingt begeistert zu sein, hatte damit anscheinend auch nicht gerechnet.

"Ehrlich gesagt, bin ich ziemlich überrascht. Das hätte ich nicht gedacht, wirklich nicht", sagte sie erstaunt. "Ich finde Mike total nett, er ist ein echter Kumpel, aber das war es dann auch schon. Was mache ich denn jetzt bloß?"

"Soll ich es ihm sagen? Du hast ja noch etwas gut bei mir."

"Laß mal sein! Ich werde selber mit ihm reden, das ist bestimmt besser für euer Verhältnis", deutete sie vorsichtig mit der Hand nach hinten. "Er guckt schon die ganze Zeit zu uns herüber."

Tatsächlich ging Mike schräg hinter uns und versuchte herauszukriegen, worüber wir uns so lange unterhielten.

Nach anderthalb Stunden Fußmarsch kamen wir endlich an den Teichen an. Die Sonne lag für den heutigen Tag in den letzten Zügen und hüllte den Abendhimmel in einen rötlichen Schleier.

Die Party war bereits in vollem Gange und wir wurden mit großem "Hallo" begrüßt. Nach meiner Schätzung waren mindestens hundert Leute zugegen, wenn nicht noch mehr. Die Musik kam im Moment noch aus einem Stereo-Kassettenrekorder, aber hinter dem Armeezelt waren einige damit beschäftigt, die 200-Wattanlage anzuschließen.

Das Zelt befand sich, nur wenige Meter vom Wasser entfernt, auf einer großen Rasenfläche. Im Inneren standen verschiedene Tische mit Schüsseln voller Salate, unter anderem eine Keramikschüssel mit Nudelsalat, und Teller mit belegten Brötchen. Daneben standen feinsäuberlich aufgereiht die Getränke. Es fehlte an nichts. Alleine die Mengen an Bierkästen reichten aus, um hier jeden einzelnen besoffen zu machen. Vadder hatte definitiv nicht zuviel versprochen, denn ich konnte mich nicht erinnern, jemals eine Party solchen Ausmaßes gesehen zu haben. Er hatte absolut Recht, es war gigantisch.

Nachdem wir unsere Klamotten im Zelt in eine Ecke gepackt hatten, gingen wir nach draußen zu einem Typen, der Theo hieß. Bei ihm bezahlten wir unsere zwanzig Mark und setzten uns dann zu den anderen auf den Rasen. Langsam ging im Hintergrund die Sonne unter, und es wurde dunkel.

Die Musik dröhnte aus den Boxen, und es wurde ausgelassen getanzt und getrunken. Irina hatte sich mit Mike ausgesprochen, woraufhin er sich ein Bier nach dem anderen hinter goss und kaum noch ansprechbar war. Ich hatte mir den heutigen Abend eigentlich auch anders vorgestellt nach gestern, aber das war halt leider nicht zu ändern, und ich ließ mir deshalb nicht die Laune verderben.

Ich tanzte viel mit Irina und insgeheim ärgerte ich mich, dass ich nicht versucht hatte, lieber mit ihr etwas anzufangen. Zumindest verbrachten wir heute viel Zeit zusammen und hatten furchtbar viel Spaß. Das war doch auch was.

"Guck mal, wer da ist!" flüsterte Irina zu mir herüber und deutete in Richtung Wasser.

In der Dunkelheit konnte ich nur die Konturen erkennen, aber die langen blonden Haare waren nicht zu übersehen: Iris. Daneben stand ein sportlich wirkender Typ, einen Kopf größer als sie, von dem ich nur vermuten konnte, dass es ihr Freund war.

Ich hatte kein gutes Gefühl bei der Sache und beschloss, mir ein neues Bier zu holen. Etwas zu trinken brauchte ich jetzt auf jeden Fall.

Im Zelt traf ich auf Mike. Er stand mit einigen Leuten zusammen und sie diskutierten über Fußball. Da ich keine große Lust verspürte, Iris' Freund zu begegnen, beschloss ich vorerst, drinnen zu bleiben und gesellte mich dazu. Es dauerte nicht lange und ich war genauso betrunken wie die restliche Runde.

Irgendwann kam jemand auf die Idee, baden zu gehen, und wir gingen hinunter zum Wasser und entledigten uns unserer Klamotten. Nackend, mit einer Bierflasche in der einen und einem Kanten Brot in der anderen Hand, torkelten Mike und ich in das kalte Wasser, und in dem Moment, als wir mit unserem Bier anstoßen wollten, verschwand der Boden unter meinen Füßen ... und ich unter Wasser. Als ich nach ein paar Sekunden völlig verdutzt wieder auftauchte, konnten sich die anderen vor Lachen kaum noch einkriegen. Vadder lag am Ufer und trommelte wie ein Verrückter mit den Händen auf den Boden. Ich hatte es geschafft, die Aufmerksamkeit aller noch Anwesenden auf mich zu ziehen, obgleich ich keine Erklärung dafür hatte, wie das passieren konnte. Beim Versuch wieder an Land zu kommen, war dann alles klar. Es gab überhaupt kein Ufer, denn vom Rasen ging es sofort in die Tiefe. Mit einiger Mühe und nach mehreren Versuchen schaffte ich es, wieder aus dem Wasser zu kommen. Dort zog ich mir schnell meine Sachen an und holte mir auf diesen Schreck als erstes ein neues Bier, denn das andere lag irgendwo in der Tiefe des Teiches.

Da es sich inzwischen mächtig abgekühlt hatte, war kaum noch jemand vor dem Zelt. Die restlichen Partygäste hatten sich nach drinnen verzogen, so dass es dort jetzt richtig voll war.

Ich war nach dem Baden wieder einigermaßen klar im Kopf und hielt Ausschau nach Iris, konnte sie aber nirgendwo entdecken. In der hintersten Ecke saß Irina neben Markus und zwei Mädchen, die ich nicht kannte, und ich ging zu ihnen herüber.

"Das war ja ein wirklich großer Auftritt vorhin", empfingen sie mich und fingen an zu kichern.

"Ich habe bloß versucht, die Stimmung anzukurbeln, und das ist mir ja wohl gelungen, oder?" redete ich mich raus.

"Also, das kannst du laut sagen. Mit dem Auftritt wirst du in die Geschichte der Teichfeten eingehen. Soviel ist mal sicher", klopfte mir Markus auf die Schulter. "Aber um ehrlich zu sein, du bist nicht der erste, dem das passiert ist, und du wirst auch nicht der letzte gewesen sein."

"Wie ist das denn nun schon wieder gemeint?" erkundigte ich mich.

"Was meinst du wohl, warum Vadder und die anderen euch haben vorgehen lassen?" fragte mich Markus, und ohne eine Antwort abzuwarten, fügte er hinzu: "Alle, die schon mal an den Teichen waren, wissen doch Bescheid, dass es gleich tief ins Wasser reingeht..."

"... außer den doofen Neulingen, die zum ersten Mal dabei sind", beendete ich seinen Satz. "Jetzt ist mir alles klar", lachte ich laut los und brauchte eine Weile, um mich wieder zu beruhigen. "Was wäre denn gewesen, wenn wir keine Lust zum Baden gehabt hätten?" sprach ich nach kurzem Nachdenken.

Markus zuckte mit den Schultern. "Bis jetzt hat es immer geklappt."

"Was soll’s, in der Schule ich bin auch der Klassenclown. Warum soll es dann hier anders sein?"

"Kann ich mir gut vorstellen", blinzelte mich Irina an.

Plötzlich wurde es laut vor dem Zelt, und es waren mehrere aufgebrachte Stimmen zu hören. Ich schwankte nach draußen, um zu gucken, was dort los war und erkannte im Kerzenlicht unter anderem Peter und Vadder.

"Was ist denn los?" wollte ich wissen.

"Ach, die Russen machen wieder Ärger, wie im letzten Jahr. Gerade ist einer von denen hier gewesen und hat uns voll gequatscht, dass es ihnen zu laut ist, weil sonst die Fische nicht beißen." Vadder machte eine wegwerfende Handbewegung. "Als ob die Arschgeigen hier überhaupt offiziell angeln dürfen."

"Ich hätte da ja eine ganz gute Idee", meldete sich ein Typ zu Wort, den ich nicht kannte.

"Ich meine, wenn die uns nicht feiern lassen, dann lassen wir sie eben auch nicht angeln. Ist doch logisch, oder?"

"Na gut und was willst du dagegen machen?" fragte ihn Mike, der inzwischen aus dem Zelt gekommen war und interessiert zugehört hatte.

"Hier liegen doch überall Steine herum. Wir sammeln einfach ein paar davon und schmeißen die rüber ins Wasser, wo die Russen angeln. Das ist alles", sagte er.

Sofort machten sich die ersten auf die Suche nach Wurfgeschossen.

"Ich glaube nicht, dass es eine so gute Idee ist", mischte sich eines der Mädchen ein. "Was ist denn, wenn die ihre Waffen dabei haben? Ich meine, das kann man bei denen doch nicht wissen."

Sie hatte recht, so betrunken wie einige waren, musste man damit rechnen, dass vielleicht jemand das Ziel verfehlte und die Russen sich angegriffen fühlen könnten. Außerdem war es stockfinster und man konnte kaum seine Hand vor Augen sehen.

Bevor ich versuchen konnte, die anderen davon abzuhalten, flogen bereits die ersten Steine und es entwickelte sich eine gespenstische Atmosphäre. Von der anderen Seite brüllten sie etwas zu uns herüber, aber wir konnten nicht genau verstehen, was sie riefen. Es hörte sich wie lautes Fluchen an und war es wahrscheinlich auch. Nach wenigen Minuten hatten wir unsere Munition verschossen und es kehrte eine beängstigende Ruhe ein. Die Russen hatten Hals über Kopf das Weite gesucht und waren mit ihren zwei Autos davon gerauscht.

Ich hatte kein gutes Gefühl bei der Sache, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Russen es auf sich beruhen ließen, aber für die anderen war die Schlacht geschlagen und es wurde ausgelassen weitergefeiert.

Im Zelt wurde es zunehmend ruhiger, und einige hatten bereits ihre Schlafsäcke ausgebreitet und sich hingelegt, um ihren Rausch auszuschlafen. Es waren noch höchstens 20 Leute da, denn die meisten hatten sich schon auf den Heimweg gemacht.

Ich suchte mir einen Platz für meinen Schlafsack und drängelte mich neben Mike, der seelenruhig schlief. Irina legte sich daneben und wir unterhielten uns leise.

"Hat Iris vorhin irgendwas über mich gesagt?" versuchte ich sie auszufragen.

"Nein, nicht viel. Wir hatten ja kaum Zeit, alleine zu reden. Die meiste Zeit war schließlich ihr Freund mit dabei, und lange waren sie ja auch nicht hier", antwortete sie und fügte hinzu: "Sie hat ihm das von gestern aber erzählt. Als er nicht davon abzubringen war, unbedingt hierher zu fahren, wollte sie nicht das Risiko eingehen, dass er es von jemand anderem erfährt".

"Ach du Scheiße und wie hat er reagiert?" fragte ich.

"Darüber hat sie nicht viel gesagt, aber er hat ihr wohl eine mächtige Szene gemacht und es hat sie viel Überredungskünste gekostet, dass er hier keinen Ärger angefangen hat. Deshalb sind sie auch so schnell wieder verschwunden."

"Hoffentlich kann sie das wieder hinbiegen. Tut mir wirklich leid, dass es sich so entwickelt hat", sagte ich bedauernd.

"Darüber mach dir mal nicht zuviel Gedanken!", tröstete sie mich.

Kurze Zeit später war auch ich eingeschlafen.

Es dauerte nicht lange, und ein raschelndes Geräusch riss mich aus dem Schlaf. Im Zelt war alles dunkel, und ich konnte nichts erkennen, deshalb legte ich mich wieder hin, aber wenig später war es wieder zu hören, und diesmal wusste ich auch, woher es kam. Hinter meinem Schlafsack lag ein Pärchen, und jetzt konnte ich die Umrisse eines Körpers sehen, der sich langsam hob und senkte.

"Mann, sei doch etwas leiser, sonst kriegen die anderen noch was mit!" flüsterte sie so laut, dass ich jedes Wort verstehen konnte.

"Hab dich nicht so. Noch leiser geht es nun wirklich nicht", antwortete er keuchend.

"Los, mach schon schneller. ...Oooh ja. ... komm schon. ... Oooh, oooh....”

"Mir kommt‘s gleich", stöhnte er, und seine Bewegungen wurden immer schneller.

Ist ja wie im Kino hier, dachte ich und hoffte auf ein baldiges Ende, um endlich weiterschlafen zu können.

Lange dauerte es auch nicht mehr, und es kehrte wieder Ruhe ein.

Irgendwann im weiteren Verlauf der Nacht wurde ich von Vadder geweckt. Schlaftrunken hob ich meinen Kopf.

"Was ist denn jetzt schon wieder los?" grantelte ich. "Kann man nicht mal in Ruhe schlafen?"

"Wir packen unser Zeug zusammen und verpissen uns. Weck mal Mike und Irina auf!"

"Wieso das denn?" fragte ich etwas ungehalten. "Es ist mitten in der Nacht."

"Das weiß ich selber, du Schlauberger, aber ich habe kein gutes Gefühl wegen der Sache mit den Russen. Im vorigen Jahr kamen die Bullen auch erst frühmorgens, als der Großteil der Leute nicht mehr hier war, und ich könnte drauf wetten, dass die hier noch auftauchen. Deshalb sollten wir zusehen, dass wir vorher weg sind." Nach einer Pause fügte er hinzu: "Ich hau auf jeden Fall ab, egal ob ihr mitkommt."

Ich versuchte, einen vernünftigen Gedanken zu fassen, aber da ich fürchterliche Kopfschmerzen hatte, war ich dazu momentan nicht fähig.

"Meinetwegen, dann wecke ich eben die anderen", antwortete ich widerstandslos.

Wenig später hatten wir unser Zeug zusammengepackt und machten uns zu viert auf den Heimweg. Besonders erfreut waren wir zwar nicht, im Halbschlaf durch die Finsternis zu laufen, aber sicherlich war das besser, als von der Polizei mitgenommen zu werden. Vorausgesetzt natürlich, dass die wirklich kommen würden, und da hatte ich so meine Zweifel. Mir kam es eher so vor, als ob Vadder keine Lust gehabt hatte, alleine nach Hause zu gehen und sich darum diese Geschichte ausgedacht hatte. Das war ja jetzt aber auch egal. Ich wollte nur noch schlafen...

Sofort nachdem wir an unserem Zelt ankamen, legten wir uns so wie wir waren hin, ohne die Sachen auszuziehen, denn dazu waren wir nicht mehr in der Lage. Sekunden später war ich eingeschlafen und fiel in einen tiefen Schlaf.

Ich träumte, dass ich mit Iris wieder bei der Disco zusammentanzte und sie sich an mich schmiegte. Sie flüsterte mir etwas ins Ohr, aber ich konnte nicht verstehen, was sie sagte. Ich guckte sie verliebt an und wir küssten uns. Es war, als ob wir auf einer Wolke schwebten, alles um uns herum vergessend. Mit einem Mal wurde diese Idylle zerstört, denn irgendjemand packte mich an der Schulter und schüttelte mich kräftig durch. Ich drehte mich herum, aber ich konnte nicht erkennen, wer es war. Plötzlich überkam mich ein böser Verdacht, aber noch ehe ich Zeit hatte, darüber nachzudenken, wurde ich abermals durchgeschüttelt. In meiner Angst versuchte ich mich loszureißen, und schließlich erwachte ich schweißgebadet.

Neben mir kniete Mike, und ich begriff, dass ich wohl nur geträumt hatte. Anscheinend hatte ich im Schlaf gesprochen, und er war deshalb aufgewacht, aber das war nicht der Grund, weshalb er mich geweckt hatte.

"Draußen ist irgendwer", flüsterte er und zitterte am ganzen Körper, "Mann, ich hab totalen Schiss. Was wollen die denn von uns?"

Er erzählte mir, dass er seit mindestens zehn Minuten draußen etwas Rascheln gehört hatte und jemand um unser Zelt schlich. Es mussten auf jeden Fall mehrere sein, denn die Geräusche kamen aus unterschiedlichen Richtungen. Nachdem er minutenlang vergeblich gehofft hatte, dass es vor unserem Zelt wieder ruhig werden würde, hatte er beschlossen, mich zu wecken.

Wir saßen mucksmäuschenstill nebeneinander und überlegten, was wir tun könnten. Mir war klar, dass Mike denselben Gedanken hatte wie ich, nur sprach er nicht aus, was er dachte. Es gab nur Iris‘ Freund, der ein Interesse daran haben konnte, uns oder besser gesagt mir, einen Streich zu spielen, um sich an mir zu rächen. Sollte das Ende meines Traums Wirklichkeit werden?

"Sitz doch nicht so da! Wir müssen uns was einfallen lassen", redete er aufgeregt. "Dir fällt doch sonst immer irgendwas ein."

Ich saß geistesabwesend da und nahm das, was Mike zu mir sagte gar nicht richtig wahr. Träumte ich noch, oder passierte das wirklich? Ich konnte es nicht mit Bestimmtheit sagen. Genau in diesem Moment gab es einen lauten Knall. Der Krach kam eindeutig vom Vorzelt. Vermutlich war jemand gegen unseren Tisch gestoßen und hatte die Flaschen, die darauf standen, umgeworfen. Also musste derjenige bereits im Zelt sein, nur wenige Schritte von uns entfernt.

Jetzt gab es kein zurück mehr, wir mussten uns verteidigen. Mit einem Satz nahm ich mein Taschenmesser aus dem Rucksack und klappte die Klinge nach oben. Mike nahm die Taschenlampe in die eine Hand und in der anderen Hand hielt er den kleinen Hammer, mit dem wir die Zeltstangen festgemacht hatten. Wir guckten uns an.

"Ich zähle bis drei und dann rennen wir mit lautem Gebrüll heraus. Die sollen uns kennen lernen, diese Schweine", sagte ich selbstsicher.

"Den zeigen wir es", antwortete Mike und nickte zustimmend.

Kurze Zeit später stürmten wir nach draußen und brüllten wie am Spieß.

"Wir machen euch fertig, ihr Dreckssäcke. Los, kommt doch her, wenn ihr Mut habt!"

Völlig von Sinnen rannten wir um das Zelt und waren wirklich zu allem bereit, aber es war niemand da. Wahrscheinlich hatten wir mit unserem Geschrei die Angreifer in die Flucht geschlagen. Weit entfernt, am Ende des Feldes hörten wir lautes Getrampel, als ob mehrere Leute davonrannten.

Vor Angst zitternd standen wir vor unserem Zelt und leuchteten mit der Taschenlampe umher.

Neben dem Eingang zum Vorzelt hatten unsere leeren Flaschen gelegen, welche jetzt überall im Umkreis verstreut herumlagen. Zwei Plastestühle, die ebenfalls dort gestanden hatten, waren umgeworfen worden, und dem spärlichen Licht unserer Lampe, bot sich ein erschreckender Anblick.

"Mann, das ist ja echt gespenstisch, wie im Gruselfilm", sagte Mike und schüttelte sich.

"Bloß gut, dass wir hier keine weitere Nacht mehr schlafen müssen", atmete ich tief durch. "Ich hätte mir fast in die Hosen gemacht."

Wir beschlossen für die restliche Nacht nacheinander Wache zu halten.

Ich war zuerst dran. Davon abgesehen, hätte ich jetzt ohnehin kein Auge zumachen können und daher war das auch in Ordnung so. Außerdem war Mike sicherlich sowieso sauer auf mich und höchstwahrscheinlich auch nicht zu unrecht, denn dass die Sache mir galt, war uns eigentlich beiden klar.

Noch bevor meine Wache abgelaufen war, wurde es wieder hell und hinter dem Berg im Osten ging glutrot die Sonne auf....

Irgendwann im Laufe des Morgens musste ich eingeschlafen sein, und als ich erwachte, war Mike schon auf.

"Ich habe schon alles aufgeräumt, bis auf einige Flaschen ist nichts kaputt gegangen", empfing er mich, als ich den Reißverschluss der Schlafkabine öffnete. "Wir müssen uns übrigens beeilen. In anderthalb Stunden kommt mein Onkel. Bis dann muss das Zelt ausgeräumt sein."

Pünktlich auf die Minute kamen sein Onkel und seine Cousine, und wir begannen mit dem Abbau des Zeltes. Zu viert dauerte es auch nicht lange, und wir brauchten gerade mal eine halbe Stunde dazu.

Nachdem wir die Sachen im Auto verstaut hatten, guckten wir uns noch einmal auf dem Platz um, wo unser Zelt gestanden hatte, um sicher zu gehen, wirklich nichts vergessen zu haben. Mikes Onkel ging zum Kohlrabi-Beet und begann laut zu fluchen.

"Diese blöden Viecher waren wieder hier. Die haben das ganze Beet umgepflügt. Wird Zeit, dass endlich wieder die Jagdsaison beginnt und das Schwarzwild geschossen werden darf", ereiferte er sich. "Eine Sauerei ist das, jedes Jahr dasselbe", schnaubte er vor Wut.

"Wieso, was ist denn mit dem Schwarzwild?" erkundigte ich mich vorsichtig.

"Was soll schon sein? Das sieht man doch, oder?" Er deutete mit seiner Hand auf die zertrampelten Kohlrabi-Pflanzen. Es sah aus, als wäre jemand mit einer Walze drüber gegangen und nun dämmerte es mir, welcher Art unser Besuch in der letzten Nacht gewesen sein musste. Mike war natürlich auch sofort klar, wer uns solche Angst eingejagt hatte und wir brachen in ein schallendes Gelächter aus. Sein Onkel sah uns ziemlich verständnislos an und auch Mikes Cousine wunderte sich über unsere Reaktion. Wir erzählten den beiden danach aber von der vergangenen Nacht, und danach mussten wir alle lachen.

"Ich sehe schon, ihr habt euch also köstlich amüsiert", witzelte seine Cousine, "und soviel neue Leute kennen gelernt."

"Ja, die waren wirklich nett, nur fein weggehen kann man mit denen nicht", lachte ich, "weil die sich meistens wie die Schweine benehmen."

"Meistens?" entgegnete sie lachend.

Zum Mittagessen waren wir zum letzten Mal bei Mikes Großeltern, und wir verabschiedeten uns schon von ihnen, obwohl unser Zug ja erst am frühen Abend zurückfuhr. Wir hatten aber versprochen, heute noch auf der Pflaume vorbeizuschauen und wollten uns dort soviel Zeit wie möglich lassen.

Unsere Rucksäcke schlossen wir am Bahnhof in den Schließfächern ein und kauften noch eine Flasche Rotwein zum Abschied feiern. Damit machten wir uns auf den Weg zum Treffpunkt.

Auf der Pflaume war es heute voller als sonst. Alle, die wir in der letzten Woche kennen gelernt hatten, waren gekommen, um uns zu verabschieden und wir wurden herzlich begrüßt. Sogar Iris war gekommen und damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Wir tauschten mit einigen Leuten die Adressen aus, unter anderem mit Irina und Peter, und Vadder lud uns ein, bald mal wieder hier vorbeizugucken.

Schließlich war es an der Zeit aufzubrechen, denn unser Zug fuhr um 19 Uhr und bis dahin waren es nur noch 40 Minuten.

"Also, dann werden wir mal losgehen, sonst fährt der Zug ohne uns", sagte ich wehmütig und guckte zu Mike herüber.

Er unterhielt sich gerade mit Irina und ich konnte ihm ansehen, dass er am liebsten hier bleiben würde. Mir ging es genauso, aber leider waren die Ferien nun mal zu Ende und wir mussten bald wieder zur Schule.

"Na gut, meinetwegen. Lass uns gehen!" sprach er.

Irina und Iris fragten, ob sie uns zum Bahnhof begleiten dürften und dieses Angebot nahmen wir natürlich dankend an.

Danach guckten wir noch ein letztes Mal in die Runde und verabschiedeten uns endgültig.

"Wenn ihr irgendwann mal wieder hier in der Nähe seid, kommt auf jeden Fall vorbei! Ihr seid hier oben immer willkommen." Vadder drückte uns zum Abschied die Hand.

"Wir müssen uns jetzt aber sputen", erklärte ich und zeigte Mike meine Uhr. Es war wirklich nicht mehr viel Zeit, und daher mussten wir uns beeilen.

Im Gehen drehte ich mich nochmals um.

"Wir kommen wieder im nächsten Jahr", rief ich ihnen winkend zu.

Auf dem Weg zum Bahnhof unterhielt ich mich mit Iris, aber es war anders, als noch vor einigen Tagen. Wir liefen hinter den anderen beiden und hatten Mühe, mit ihrem Tempo Schritt zu halten. Ich hätte Iris soviel zu sagen gehabt, aber mir fiel nichts Vernünftiges ein und so sprachen wir nur über belangloses Zeug, statt über uns.

Der Zug nach Berlin stand schon bereit zum Einsteigen, so dass wir schnell unser Gepäck aus dem Schließfach holten und ins Abteil brachten. Mike machte sofort das Fenster auf, um sich mit Irina noch unterhalten zu können bis zur Abfahrt, und ich ging noch mal hinaus auf den Bahnsteig.

Iris kam mir entgegen und wir fielen uns in die Arme. Sie weinte und ich strich ihr mit meiner Hand übers Gesicht und trocknete ihre Tränen mit dem Ärmel meines Pullovers.

"Ich habe alles vermasselt", stammelte sie leise, „alles, was man falsch machen kann, habe ich auch gemacht. Es lag wirklich nicht an dir, das musst du mir glauben. Der Abend mit dir bei der Disco war einfach toll, aber meine Gefühle haben danach völlig verrückt gespielt. Ich habe mich ja selber nicht mehr wieder erkannt." Sie schluchzte, und die Tränen liefen ihr die Wangen herunter.

Ich musste mich mächtig zusammenreißen, um nicht ebenfalls zu heulen.

"Lass mal gut sein, so schlimm ist es doch auch nicht", versuchte ich sie zu trösten, "unseren gemeinsamen Abend werde ich niemals vergessen, und alles andere ist sowieso nicht mehr rückgängig zu machen. Wenn du willst, können wir uns ja schreiben, und vielleicht sehen wir uns in den nächsten Ferien wieder. Was meinst du?"

"Ja, das wäre schön", antwortete sie und ihr Gesicht hellte sich etwas auf.

"In den Zug nach Berlin bitte einsteigen!" tönte es aus den Lautsprechern.

"Ich werde dir schreiben, sobald wie möglich", sagte Iris und gab mir einen letzten Kuss.

"Tschüß und hoffentlich bis bald", gab ich zur Antwort und stieg in den Zug ein.

Als sich unser Zug langsam in Bewegung setzte, schauten wir noch aus dem Fenster und winkten den beiden zu, bis sie immer kleiner wurden und irgendwann nur noch winzige Punkte auf grauem Untergrund waren.

Nachdenklich setzte ich mich auf meinen Platz und starrte in den kommenden Stunden unbeweglich und innerlich aufgewühlt aus dem Fenster, bis es draußen finstere Nacht wurde.

Kurz nach Mitternacht kamen wir erschöpft in Berlin an und wurden von Mikes Eltern mit dem Auto abgeholt, und so ging die aufregendste Woche meines bisherigen Lebens vorbei.











Nichts als Ärger


Inzwischen hatte ich die ersten Tage des neuen Schuljahres hinter mir und sehnte mich schon wieder danach, Ferien zu haben. Da es sich unsere Lehrer anscheinend vorgenommen hatten, das in der schulfreien Zeit Vergessene möglichst schnell wieder in unser Gedächtnis zurückzubefördern, bekamen wir in den meisten Fächern so viele Hausaufgaben auf, dass an Freizeit gar nicht zu denken war. Deshalb hatte ich bisher auch keine Zeit gehabt, bei Sina vorbeizugehen, obwohl ich mir eingestehen musste, dass es doch eher einen anderen Grund dafür gab.

Sollte ich ihr erzählen, was im Harz passiert war? Ich hielt das für keine gute Idee. Eigentlich war ja auch nichts Schlimmes geschehen, und deshalb war es bestimmt besser, die Sache für mich zu behalten. Mike hatte mir versprochen, den Mund zu halten, wenn ich dasselbe tun würde, und das war doch wohl logisch.

Trotzdem war mir etwas mulmig bei dem Gedanken an unser Wiedersehen. Auf der anderen Seite war es aber komisch, dass sie sich auch noch nicht gemeldet hatte und ich beschloss, all meinen Mut zusammenzunehmen und sie am morgigen Donnerstag vor dem Fußballtraining zu besuchen. Vielleicht war sie ja krank und konnte deswegen nicht zu mir kommen.


Ich war ziemlich aufgeregt und merkte, dass mein Pulsschlag schneller wurde, aber jetzt hatte ich schon auf den Klingelknopf gedrückt und es gab kein Zurück mehr. Ganz ruhig bleiben, sagte ich mir und atmete tief durch.

Nachdem ich mehrere Male vergeblich geklingelt hatte, setzte ich mich wieder aufs Fahrrad und fuhr zum Sportplatz. Auf dem Weg dorthin ärgerte ich mich, dass ich nichts zu schreiben dabei hatte, um Sina eine kurze Nachricht zu hinterlassen.

Gerade in dem Moment, als ich in Gedanken versunken vom Fahrrad abstieg, stand sie plötzlich vor mir.

"Hallo, mein Schatz", begrüßte sie mich, "dachte ich mir doch, dass ich dich hier treffe."

Ich war eine Sekunde lang völlig verdutzt und stand vor ihr wie ein Trottel.

"Du könntest mir auch Hallo sagen, wenn du willst. Wir haben uns schließlich eine Ewigkeit nicht mehr gesehen."

"Ich freue mich riesig, dich zu sehen. Du glaubst gar nicht wie", stammelte ich und nahm sie liebevoll in meine Arme.

Wir standen ziemlich lange so umschlungen und ich erzählte ihr, dass ich gerade versucht hatte, sie zu besuchen. Leider hatte ich vor dem Training nicht mehr viel Zeit für Sina und daher verabredeten wir uns für nachher bei ihr. Ihre Mutter war in dieser Woche auf einem Seminar und sie hatte sturmfreie Bude.

Das Fußballtraining war diesmal nicht besonders. Weil nur acht Leute gekommen waren, hatten wir Konditionstraining und da ich in den Ferien überhaupt keinen Sport gemacht hatte, taten mir nach wenigen Minuten alle Knochen weh. Zum obligatorischen Spielchen am Ende des Trainings war ich so ausgelaugt, dass ich fast jeden Zweikampf verlor.

"Bloß gut, dass am Wochenende noch nicht die Meisterschaft anfängt, sonst könnten wir das Spiel nämlich gleich absagen", meckerte unser Trainer und hatte damit nur allzu recht. "Ich kann nur hoffen, dass ihr nächste Woche wieder vernünftig mitmacht, so und jetzt seht zu, dass ihr Land gewinnt! Mir reicht‘s für heute."

Er war mächtig sauer auf uns, aber das war auch verständlich, denn in diesem Jahr hatten wir uns Einiges vorgenommen. Wir wollten ganz oben mitspielen, und dafür mussten alle an einem Strang ziehen, und nun das.

Auf dem Weg zu Sina dachte ich noch über das Training nach und nahm mir vor, mich beim nächsten Mal besonders anzustrengen.

Bei Sina angekommen, klingelte ich einmal kurz, und sie öffnete mir strahlend die Tür.

"Da bist du ja schon", begrüßte sie mich, "komm rein!"

Sie hatte sich umgezogen und offensichtlich extra für mich schick gemacht, oder bildete ich mir da vielleicht zuviel ein? Auf jeden Fall trug sie ein rotes Samtkleid, das ihr bis kurz über die Knie reichte, und ihre langen Haare hatte sie zu einem Zopf geflochten, was ich bei ihr noch nie gesehen hatte. Es sah unheimlich süß aus.

Im Flur zog ich meine Schuhe aus und legte meine Jeansjacke über die Wäschetruhe. Danach trat ich ins Wohnzimmer ein.

Drinnen war es dunkel. Nur auf dem Tisch standen etliche Kerzen, die eine sehr gemütliche Atmosphäre verbreiteten und dem Raum etwas sehr Intimes gaben. Sie hatte sich sehr viel Mühe gegeben, und ich war davon sehr beeindruckt.

"Setz dich schon mal hin!" forderte sie mich auf und zeigte auf den Stuhl an der rechten Tischseite, "ich bin auch gleich da. Ich muss bloß noch die Soße fertig machen. Wenn du willst, kannst du ja schon die Weinflasche öffnen. Der Korkenzieher liegt neben der Serviette."

"Soll ich dir in der Küche etwas helfen?" fragte ich sie, aber sie winkte nur ab.

"Das schaffe ich schon."

Wenig später brachte sie das Essen herein, und zu meiner großen Überraschung war es Spaghetti mit Tomatensoße mit zwei Buletten, mein Lieblingsgericht. Ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern, dass wir uns jemals darüber unterhalten hatten, aber woher sollte sie es sonst wissen? War es vielleicht einfach nur Zufall?

"Ich hoffe, es schmeckt dir, auch wenn es nicht von deiner Mama zubereitet ist. Auf jeden Fall ist das Rezept dasselbe und daher wird es hoffentlich nicht soviel anders schmecken."

Ich verstand mal wieder nichts, aber Sina erklärte mir nun alles. Sie war in der letzten Ferienwoche bei mir gewesen, um mich zu besuchen. Da ich bis zuletzt selbst nicht gewusst hatte, ob es mit der Harzfahrt klappen würde, hatte ich ihr davon auch nichts geschrieben. Meine Mutter saß gerade beim Kaffee, als Sina geklingelt hatte und lud sie zu einer Tasse ein und sie unterhielten sich lange. Dabei kam dann auch mein Lieblingsessen zur Sprache und um die Überraschung nicht zu verderben, hatte mir meine Mutter von ihrem Besuch nichts erzählt.

Das Abendessen war vorzüglich, es war kaum ein Unterschied zu sonst festzustellen. Zum Nachtisch gab es Birnenkompott mit Vanille. Sinas Mutter weckte jedes Jahr welche aus dem Garten ein und sie waren deshalb auch viel schmackhafter als die gekauften.

Nachdem ich alles aufgegessen hatte, wollte sie wissen, ob es mir denn einigermaßen geschmeckt hat, und das konnte ich nur bejahen.

"Es war hervorragend", antwortete ich und das war noch untertrieben.

"Willst du noch einen Schluck Wein oder hast du vielleicht einen anderen Wunsch?" Sie guckte neckisch zu mir und formte ihre Lippen zu einem Kussmund.

"Ich glaube zwei Gläser Wein reichen mir. Wenn ich noch ein drittes trinke, muss ich wahrscheinlich mein Fahrrad nach Hause schieben und morgen die Schule schwänzen, aber ansonsten würde mir schon noch was einfallen", erwiderte ich und blinzelte sie an.

Langsam kam sie zu mir und setzte sich auf meinen Schoß. Wir guckten uns tief in die Augen und begannen uns leidenschaftlich zu küssen. Auf Dauer war es auf dem Stuhl aber doch zu ungemütlich und wir beschlossen, lieber in ihr Zimmer zu gehen. Vorher räumten wir noch schnell den Tisch ab und pusteten die Kerzen aus, bis auf eine, die wir nach nebenan mitnahmen.

Dort angekommen, machte Sina Musik an, und wir ließen uns auf der Kante ihres Bettes nieder.

Im Lichtschein der Kerze konnte ich zwar nur noch ihre Umrisse erkennen, aber ihren Körper konnte ich Stück für Stück ertasten und ich streichelte sie überall, während sie mich mit ihren feuchten Küssen immer heißer machte. Mein T-Shirt hatte Sina mir bereits ausgezogen und ich war nun meinerseits dabei, den Reißverschluss ihres Kleides zu öffnen, als sie mir mit ihrer Hand Einhalt gebot.

"Tut mir leid, Niko, ich dachte, ich bin endlich bereit für mehr, aber ich will das doch noch nicht", sagte sie leise und fügte nach einer kleinen Pause seufzend hinzu: "Sei mir bitte nicht böse, ja!"

"Nicht böse sein", dachte ich innerlich aufgewühlt und konnte Sina nicht verstehen.

Danach saßen wir lange, ohne etwas zu sagen, nebeneinander.

"Ich muss los", unterbrach ich die peinliche Stille. "Es ist spät geworden, und zu Hause gibt es bestimmt wieder Ärger, weil ich erst nachts komme." Ich holte tief Luft. "Aber es ist mir vollkommen egal, Ärger hin oder her, wenn ich nur einen so schönen Abend mit dir verbringen kann."

Das war die Wahrheit, aber trotzdem war ich vom Verlauf des Abends ziemlich enttäuscht und obwohl ich versuchte, es mir nicht anmerken zu lassen, konnte Sina es meinem Gesicht wohl ansehen.

Zum Abschied gab sie mir einen dicken Schmatzer und versprach mir, am Wochenende vorbeizukommen.

Auf dem Heimweg machte ich mir allerlei Gedanken, konnte Sina aber beim besten Willen nicht verstehen. Schließlich hatte sie mich eingeladen zum Essen bei Kerzenschein, und der Vorschlag, in ihr Zimmer zu gehen, kam auch von ihr und sie war es auch, die angefangen hatte, mich auszuziehen und nicht umgekehrt. Ich war ratlos.

Zu Hause schlich ich mich ganz leise in mein Zimmer. Alles war ruhig und anscheinend hatte ich mal wieder Glück gehabt.

Auf das Zähneputzen und Waschen verzichtete ich aber lieber, um keinen Krach zu machen und die anderen aufzuwecken. Ich zog mich schnell aus und ab ging es ins Bett.

Ich lag noch lange wach und dachte über Sina und mich nach. Je länger ich so dalag und vor mich hin träumte, desto erregter wurde ich bei der Vorstellung, dass wir heute Abend vielleicht zum ersten Mal miteinander geschlafen hätten.

In meiner Klasse gab es einige, die von sich behaupteten, schon mit einem Mädchen geschlafen zu haben, aber ob das wirklich stimmte, wusste niemand genau, und wenn ich ehrlich war, glaubte ich es ihnen auch nicht. Die wollten sich bestimmt nur wichtig machen.

Bis zum heutigen Abend hatte ich über so etwas eigentlich nie ernsthaft nachgedacht. Ich hatte zwar schon mit einigen Mädchen Petting gemacht, so mehr oder weniger, aber zu mehr war es nie gekommen, und jetzt lag ich im Bett und konnte an nichts anderes denken. Mein Penis war inzwischen so steif, wie ich es erst ein- oder zweimal frühmorgens nach dem Aufstehen erlebt hatte und ich begann ihn vorsichtig zu massieren. Es dauerte nicht lange und ich ejakulierte mit einem Mal in die Bettdecke. Im letzten Moment hatte ich noch versucht, mein Stofftaschentuch unterm Kopfkissen hervorzukramen, aber dazu war es nicht mehr gekommen, denn alles ging unwahrscheinlich schnell.

Eine schöne Sauerei hatte ich angerichtet und ich versuchte, die feuchten Stellen mit dem Taschentuch trocken zu reiben, so richtig wollte es mir aber nicht gelingen.

Ich war ziemlich durcheinander, denn mir gingen etliche Dinge durch den Kopf, zum Beispiel wie ich meiner Mutter die Flecken erklären sollte und was mit dem schmutzigen Taschentuch zu machen sei, aber letztlich überwog dieses Gefühl, dass ich bisher nicht kannte, irgendwie eine Mischung aus Entspannung und Glück. Ich konnte es mir nicht erklären, aber in dieser Nacht schlief ich zufrieden ein.

Als meine Mutter mich am nächsten Morgen wecken wollte, log ich ihr vor, dass ich erst später zur Schule muss, weil die erste Stunde ausfällt.

"Ich stehe in einer halben Stunde auf und frühstücke dann in der Schule. Nach der zweiten Stunde ist ja schon die große Pause, da lohnt sich das jetzt gar nicht", flunkerte ich ihr vor.

"Na gut, meinetwegen", antwortete sie, "aber nicht wieder einschlafen. Ich muss nämlich los jetzt, sonst fährt der Zug ohne mich. Also, bis heute Abend."

"Tschüß, bis heute Abend."

Nachdem die Wohnungstür ins Schloss gefallen war, sprang ich auf, zog schnell den Bettbezug ab und packte ihn, zusammen mit dem Taschentuch, zur restlichen Schmutzwäsche, die im Bad lag.

Das war also erledigt und nun musste ich mich beeilen, um wenigstens pünktlich zur zweiten Stunde in der Schule zu sein, was ich schließlich gerade so mit Ach und Krach schaffte.


Von nun an hatte mich der Alltag wieder fest im Griff. Mit Sina war eigentlich alles wie immer, wir trafen uns regelmäßig am Treffpunkt, gingen zusammen spazieren, und auch beim Fußballtraining kam sie meistens kurz vorbei, aber irgendetwas war seit dem letzten gemeinsamen Abend anders. Hätte man mich gefragt, was denn anders war, ich hätte es nicht sagen können. Tatsache war aber, dass sich unser Verhältnis verändert hatte.

Sina schien es nicht viel anders zu sehen, denn aus irgendeinem Grund ging sie mir aus dem Weg und ich fragte mich, ob vielleicht Mike über unseren Urlaub mit ihr geplaudert hatte. Um der Sache nachzugehen, sprach ich Mike darauf an, aber er schwor mir hoch und heilig, dass er sich seit den Ferien nicht mehr mit Sina unterhalten hatte.

"Also, das musst du mir wirklich glauben. Ich habe niemandem etwas gesagt, damit würde ich mir ja mein eigenes Grab schaufeln, weil ich dann ja Angst haben müsste, dass du auch was erzählst. Ehrlich, Niko, ich habe nichts erzählt."

"Konnte ich mir ja auch nicht vorstellen", sagte ich versöhnlich, "aber sie ist in letzter Zeit so komisch, und deshalb dachte ich..., na ja du weißt schon. Tut mir leid deswegen."

"Mach dir mal nicht so viele Gedanken", sagte er fachmännisch, und mit einer wegwerfenden Handbewegung, die für ihn typisch war, sprach er: " Weiber sind nun mal so. Das war immer so und das wird auch immer so bleiben."

Im Prinzip war dem nichts hinzuzufügen, aber trotzdem stimmte etwas nicht, und ich musste herausfinden was.

Am Freitag hatte ich einen Brief von Iris bekommen, worüber ich mich natürlich riesig gefreut hatte. Sie schrieb über Gott und die Welt, die Schule, ihren bescheuerten Freund, mit dem sie sich wieder vertragen hatte und zuletzt über die "Pflaume" und darüber, dass es ohne Mike und mich dort nur noch halb so schön war. Außerdem wurde es schon zeitig dunkel und war inzwischen abends recht kühl, weshalb nicht mehr allzu viel los war dort. Da es keinen Jugendklub oder etwas Ähnliches gab, wussten sie nicht, wo sie sich in nächster Zeit treffen konnten. Dieses Problem kannte ich nur zu gut, denn bei uns war es genauso. Es wurde eben allmählich Herbst und um sich draußen zu treffen, war es abends wirklich zu kalt. Wir hatten wenigstens unsere Eisdiele, aber dort waren wir nicht gerade die gern gesehenen Gäste. Weil mit uns kein großes Geschäft zu machen war, versuchte der Besitzer, uns zu vergraulen, und es war nur eine Frage der Zeit, wann ihm das gelingen würde.

Am Sonntagmittag erwarteten wir auf dem Sportplatz den gegenwärtigen Tabellenführer "Motor Braunfeld". Nach den ersten drei Spieltagen waren wir zur Überraschung aller 3. der Tabelle und damit weit entfernt von den Abstiegsrängen, auf denen wir im vergangenen Jahr fast immer gestanden hatten. Erst am vorletzten Spieltag hatten wir uns den Klassenerhalt gesichert.

In dieser Saison hatten wir aber zwei gute neue Leute dazu bekommen, die unsere Abwehr verstärkten, und dank ihrer Hilfe rechneten wir uns etwas mehr aus als im Vorjahr. Mit dem Abstieg wollten wir diesmal jedenfalls nichts zu tun haben.

Das Spiel gegen unseren Erzfeind und Ortsnachbarn "Motor Braunfeld" war diesmal aber ein ganz besonderes Spiel, da wir ihnen bei einem Sieg unsererseits die Tabellenführung abjagen konnten. Viel wichtiger als das war es aber zu zeigen, wer hier die Nummer 1 war. Ortsderbys hatten ja ihre eigenen Gesetze und obwohl wir seit Jahren nicht mehr gegen "Motor" gewonnen hatten, waren wir heute davon überzeugt, es mal wieder schaffen zu können.

Um Punkt 13 Uhr pfiff der Schiedsrichter an. Das Spiel war sehr ausgeglichen, und die meiste Zeit spielte sich das Geschehen dann auch im Mittelfeld ab, große Torchancen gab es nicht, weder hier noch da.

In der Pause stauchte unser Trainer uns mächtig zusammen.

"Also was zum Teufel ist mit euch los? Ihr spielt eine Scheiße zusammen, dass einem schlecht wird", brüllte er herum. "Tommy, was ist los, schläfst du noch? Diese Pfeife mit der 9 rennt jedes Mal an dir vorbei, als wärst du eine Fahnenstange. Wenn es nicht anders geht, dann hau ihn einfach mal um! Spielen wir hier Fußball oder Schach? Wenn ihr das nicht könnt oder keine Lust dazu habt, bleibt zu Hause bei Mutti. Fußball ist was für Kerle und nicht für Waschlappen."

Das hatte gesessen. Langsam guckte er uns an, jeden einzelnen und dann schrie er so laut er konnte: "Also, seid ihr Männer: ja oder nein?"

Einige von uns antworteten leise mit ja, aber das reichte ihm nicht aus.

"Ich kann euch nicht hören, Männer: ja oder nein?"

Diesmal brüllten wir alle so laut es ging zurück: "JA."

"Na, warum nicht gleich so. Dann geht jetzt raus und besiegt diese Flaschen. Es wird Zeit, dass wir ihnen zeigen, wer hier der Herr im Hause ist. Alle, die in der 1. Hälfte gespielt haben, spielen auch in der 2. Ich weiß, dass wir sie heute packen können, davon bin ich fest überzeugt. Los jetzt!"

So wie eben hatten wir ihn noch nie erlebt, aber er hatte noch eine alte Rechnung offen mit "Motor", und jedes Spiel gegen sie war für ihn so etwas wie eine Revanche. Vor vier Jahren war er als Trainer der ersten Männermannschaft bei unserem Gegner tätig gewesen und dort nach nur einem halben Jahr abgeschoben worden, obwohl er gute Arbeit geleistet hatte und zum Zeitpunkt der Entlassung immerhin Tabellendritter war. Ausschlaggebend dafür waren aber Streitereien mit dem Vorstand gewesen und keine sportlichen Gründe. Seit er nun hier als Trainer der Jugend arbeitete, hatte es Jahr für Jahr gegen "Motor" empfindliche Niederlagen gegeben, meistens stand es schon zur Halbzeit 2 oder 3:0, aber heute war es anders. Er spürte, dass eine kleine Sensation in der Luft lag.

In der 2. Hälfte spielten wir wie ausgewechselt und erarbeiteten uns eine Chance nach der anderen, etwas Zählbares wollte aber nicht herausspringen. Ich hatte eine sogenannte "Hundertprozentige", als ich nach einem Eckball aus etwa zehn Metern Entfernung frei zum Schuss kam. Ich nahm den Ball direkt aus der Luft und ballerte ihn an den Außenpfosten. Das Tor war völlig leer und ich hatte den Siegtreffer auf dem Fuß gehabt. Wie ein totaler Versager kam ich mir vor und wäre am Liebsten im Erdboden versunken, aber noch waren 5 Minuten zu spielen, und weiter ging es.

Wir waren zwar die bessere Mannschaft, aber uns rannte nun die Zeit davon und als alle sich bereits mit dem 0:0 abgefunden hatten, passierte tatsächlich noch das Unfassbare. Es waren schon einige Minuten nachgespielt worden und wir erwarteten jeden Moment den Schlusspfiff, als wir zirka 30 Meter vor dem gegnerischen Tor einen Freistoß zugesprochen bekamen. Daraufhin gingen bis auf unseren Torhüter alle in den Strafraum, und Frank brachte den Freistoß hoch hinein. Im Strafraum tummelten sich 21 Spieler, es wurde mit Haken und Ösen geschoben, gerempelt, am Trikot gezogen und in diesem unübersichtlichen Gewühl ließ ich mich geschickt fallen. Für den Schiedsrichter gab es keinen Zweifel daran, dass ich gefoult worden war und er zeigte sofort auf den Elfmeterpunkt, was verständlicherweise zu heftigen Protesten der Gäste führte. Von den folgenden Sekunden konnte ich mich später nur noch daran erinnern, dass ich von meinem Gegenspieler bespuckt und unschön an den Haaren am Boden entlang geschleift wurde, was dazu führte, dass sich nun auf dem Platz tumultartige Szenen abspielten und es einige Zeit brauchte, um wieder für Ordnung zu sorgen.

Nachdem der Schiedsrichter meinen Gegenspieler; den linken Verteidiger; sowie unseren Libero wegen Tätlichkeit vom Platz stellte, flippte der Kapitän von "Motor" völlig aus, was zur Folge hatte, dass ihm auch die rote Karte gezeigt wurde wegen Schiedsrichterbeleidigung. Nun eskalierte die Situation vollends, indem die gegnerische Mannschaft einfach den Platz verließ und so das Spiel auf diese unsportliche Weise beendete. Richtig zu mir kam ich erst wieder in unserer Umkleidekabine. Um mich herum standen viele Leute und mein Trainer redete auf mich ein.

"Mann, so was habe ich ja noch nie erlebt, der ist ja völlig durchgedreht, wie der dich immer wieder mit dem Kopf auf den Rasen geknallt hat. Das ist vielleicht ein Arschloch. Erst foult der dich und dann regt der sich noch auf, unglaublich", redete er sich in Rage.

Ich zog es vor, im Moment lieber nichts dazu zu sagen. Außerdem tat mir das Gesicht fürchterlich weh, und erst jetzt bemerkte ich, dass mir Blut am Mundwinkel herunter lief und das ich ein geschwollenes rechtes Auge hatte. Ich kam mir vor, wie ein Boxer nach dem Kampf, der nicht mitbekommen hat, ob er gewonnen oder verloren hatte. Ganz klar war das ja hier auch nicht. So wie es aussah, würde es sicherlich eine Entscheidung bei der nächsten Spielleitersitzung geben. Eines war aber glasklar: das heutige Spiel hatte in der langen Tradition dieses Ortsderbys Geschichte geschrieben.

Nach dem Duschen wollte ich sofort nach Hause und als ich aus der Umkleidekabine kam, stand plötzlich Sina vor mir. Ich hatte sie während des Spiels nicht gesehen, aber sie meinte, sie wäre von Anfang an da gewesen und hätte das gesamte Spektakel verfolgt.

"Freust du dich denn überhaupt nicht, mich zu sehen?" wollte sie wissen.

Ich wusste nicht so recht, was ich darauf antworten sollte, schließlich wollte ich sie nicht verletzen, aber eigentlich wollte ich jetzt niemanden sehen.

"Natürlich freue ich mich", log ich sie an, "mir geht es nur leider nicht so gut, weißt du? Ich habe tierische Kopfschmerzen."

Ich hoffte, dass sie die Botschaft meiner Worte verstehen würde. Diesen Gefallen tat sie mir allerdings nicht.

"Wir müssen miteinander reden", sagte sie ernst.

"Ja natürlich, wann?" fragte ich etwas gereizt.

"Was ist mit jetzt? Wir hätten das schon seit längerem tun müssen. Ich finde, wir sollten es nicht noch weiter aufschieben. Meinst du nicht auch?"

Das hatte mir nun noch gefehlt zu meinem Glück. Ich fühlte mich elend genug und nicht annähernd in der Lage, jetzt mit ihr eine große Diskussion zu führen. Ich hatte im Moment einfach keine Lust dazu und außerdem war ich nicht vorbereitet, aber das konnte ich ja schlecht sagen. In meinem Kopf gab es viele ungeklärte Fragen: zum Beispiel, woher hatte sie erfahren, was in den Ferien passiert war? Sollte ich schnell noch alles beichten, in der Hoffnung, sie damit aus dem Konzept zu bringen und mir so einen kleinen Vorteil zu verschaffen, oder vielleicht doch lieber alles leugnen? In einer schönen Zwickmühle befand ich mich da.

"Gut, meinetwegen", antwortete ich nach einer kleinen Ewigkeit, " bringen wir es hinter uns."

Es war ein wunderschöner Spätsommertag. Der Himmel war in ein strahlendes Blau gehüllt und die Sonne schien und erwärmte die Luft. Obgleich es bereits früher Nachmittag war, mochten wohl noch gute 15 Grad sein und deshalb beschlossen wir, zu Sina zu gehen und uns dort in den Garten zu setzen.

Auf dem Weg dahin redeten wir sehr wenig miteinander und je näher wir kamen, desto mehr fühlte ich mich unwohl, aber nun gab es kein Zurück mehr. Mir kam der Gedanke, dass sie sich möglicherweise ja auch nur entschuldigen wollte, wegen dem in meinen Augen misslungenen Abend bei ihr, aber irgendwie glaubte ich nicht daran.

"Setz dich schon mal an den Tisch!" forderte sie mich auf. "Ich gehe uns etwas zu trinken holen."

Als sie zurückkam, hatte sie zwei große Gläser mit Vita - Cola in der Hand, stellte sie auf dem Tisch ab und setzte sich mir gegenüber auf einen runden Korbstuhl, der normalerweise immer auf der Veranda stand.

Nun saßen wir also hier und musterten uns gegenseitig. "Ich musste dir schon an unserem ersten Abend nach den Ferien etwas sagen, aber dann war es so schön mit dir, dass ich mich nicht getraut habe", begann sie zögerlich. "Ich wollte uns nicht den Abend verderben. Verstehst du das?"

"Nein, nicht so richtig", antwortete ich wahrheitsgetreu, denn ich wusste nicht im Geringsten, auf was Sina hinauswollte.

"Mensch, Niko, du bist manchmal vielleicht schwer von Kapee. Was denkst du denn, warum ich dir seit Wochen aus dem Weg gehe?"

"Keine Ahnung, ehrlich. Ich weiß es nicht", fing ich an zu stottern. "Ich meine, dass irgendetwas nicht stimmt oder eben anders war als vorher, habe ich schon gemerkt, aber..."

Sina fiel mir ins Wort. "Hast du wirklich keine Idee, was los sein könnte?" fragte sie gereizt.

Wenn ich ehrlich war, hätte ich gestehen müssen, dass ich überhaupt keine Idee hatte. Ich saß einfach nur da und fühlte mich wieder wie ein Boxer, der nach dem Kampf bei der Pressekonferenz sitzt und etwas gefragt wird. Ich kann die Frage zwar hören und verstehe auch die Bedeutung, aber als ich antworten will, versagt mir die Sprache und meine Lippen wollen die Wörter, welche in meinem Kopf sind, nicht formen, und ich sitze nur da mit groß aufgerissenen Augen und starre den Fragesteller an. Genau so musste ich jetzt wahrscheinlich auf Sina wirken.

"Ich dachte, dass du vielleicht sauer bist auf mich, wegen letztem Mal. Na ja, ich meine, ich hatte mir schon ein wenig mehr erhofft, verstehst du? Du lädst mich schön zum Essen ein bei Kerzenlicht und alles ist total romantisch und bevor es richtig losging, war es auch schon wieder vorbei. Ich war halt ein bisschen traurig deswegen, und wenn ich dich das habe spüren lassen, tut es mir leid", sagte ich und machte eine kurze Pause. Flüsternd sprach ich weiter. "Ich hatte mich eben total darauf gefreut, zum ersten Mal mit dir zu schlafen, das war alles."

"Das hatte ich mich doch auch, Niko, aber an diesem Abend konnte ich es einfach nicht."

"Warum denn nicht?" bohrte ich nach. "Wovor hattest du denn Angst, davor, dass es weh tun würde oder vor was?"

"Also davor sicherlich nicht", sagte sie leise und guckte mir genau in die Augen, während sie tief Luft holte." Ich hatte Angst dich zu verletzen, und das ist das allerletzte, was ich möchte."

"Das verstehe ich nicht", sagte ich ratlos.

"Ja, ich weiß. Woher sollst du das auch wissen." Sina machte eine lange Pause und plötzlich fing sie an zu schluchzen. Über ihre Wange lief eine Träne, und die nächste machte sich schon bereit. Trotzdem klang ihre Stimme fest, als sie weiter sprach. "Ich will dir nicht wehtun, aber ich kann nicht mehr. Ich will dich nicht länger anlügen. Du hast überhaupt nichts falsch gemacht, aber ich habe einen Fehler gemacht. In den Ferien bin ich früher wieder von diesem "Lager für Arbeit und Erholung" zurückgekommen, weil ich mich ein wenig erkältet hatte. Ich hatte mich darauf gefreut, dich wiederzusehen und erfuhr erst von deiner Mutter, dass du doch noch mit Mike weggefahren warst. Also hing ich die letzten Ferientage hier ab. Ich bin dann einen Tag mit Sonja aus meiner Klasse nach Berlin zum Einkaufen gefahren und da haben wir zwei Typen kennen gelernt, die total nett waren. Mit denen haben wir uns am nächsten Tag wieder getroffen und sind Eis essen gewesen. Sonja war von dem einen, Bernd, sofort hin und weg und ich musste ihr versprechen, Tobias, seinen Freund, auszufragen, ob sie denn eine Chance bei ihm hätte. Die beiden luden uns für das Wochenende zu einer Party in Berlin ein, und Tobias erklärte mir, dass ihm schon etwas einfallen würde, um Sonja mit Bernd zu verkuppeln, und auf dieser Party ist es dann passiert."

"Was ist auf der Party passiert?" wollte ich es nun genau wissen.

"Es war eine tolle Party, die Leute waren alle supernett und es gab allerlei Alkoholisches zu trinken. Davon habe ich leider zuviel Gebrauch gemacht und als mir schlecht wurde, hat sich Tobias um mich gekümmert."

"Ja, das kann ich mir gut vorstellen", unterbrach ich sie.

Ohne darauf einzugehen, redete sie weiter. "Auf jeden Fall bin ich mit ihm abgeschoben. Ich kann nicht einmal genau sagen, ob es nicht auch passiert wäre, wenn ich nüchtern gewesen wäre. Ich weiß es nicht. Im Moment weiß ich überhaupt nichts mehr, außer dass ich dich ganz doll lieb habe und dich nicht verlieren will."

Ich saß auf meinem Gartenstuhl wie angenagelt und brachte kein Wort heraus. Mit vielem hatte ich ja gerechnet, aber damit? Mit dem Strohhalm rührte ich die Reste der Eiswürfel im Glas herum und mein Blick, der ins Leere ging, war genauso kalt wie diese vor einigen Minuten.

"Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, es dir sofort zu erzählen, nachdem du wieder aus dem Harz zurück warst, aber dann habe ich es mich nicht getraut. An diesem Abend hatte ich dich schließlich zu mir eingeladen, um dir endlich die Wahrheit zu sagen. Letzten Endes war es so, dass ich es nicht übers Herz gebracht habe, und weil ich dir gegenüber so ein schlechtes Gewissen hatte, konnte ich beim besten Willen nicht mit dir schlafen. Ich hatte Angst, dass du dich von mir ausgenutzt fühlen würdest."

Sie begann zu weinen, und die Tränen liefen an ihr immer schneller herunter. Mit einem Taschentuch wischte Sina sie sich aus dem Gesicht so gut es ging, aber das war ein aussichtsloses Unterfangen, denn es kamen unaufhörlich welche nach.

Leise sprach sie weiter. "Seitdem konnte ich dir nicht mehr in die Augen gucken. Nicht nur wegen der Sache mit Tobias, sondern auch wegen dem anderen. Ich meine, ich habe doch gemerkt, wie enttäuscht du an dem Abend gewesen bist."

Obwohl ich schon seit einigen Minuten vollkommen bewegungslos dasaß und auf den Tisch starrte, konnte ich im Augenwinkel spüren, dass sie zu mir herübersah. Die Stelle, wo mein Glas stand, kannte ich inzwischen in- und auswendig. Rechts daneben war ein kleiner Brandfleck auf der Tischplatte und ich versuchte mir vorzustellen, wie der dort wohl hingekommen sein konnte, wo doch Sina und ihre Mutter beide nicht rauchten. Schließlich verwarf ich diesen Gedanken wieder, denn im Moment erschien es mir dann doch unpassend, darüber nachzudenken, und im nächsten Augenblick unterbrach Sina die Stille.

"Niko, ich weiß sehr gut, dass ich dir wehgetan habe. Ich habe einen großen Fehler gemacht und dafür muss ich die Verantwortung übernehmen, aber was noch viel schlimmer gewesen ist, ich hätte dir sofort die Wahrheit sagen müssen, und das habe ich leider versäumt. Ich kann nichts anderes tun, als dich darum zu bitten, mir dieses eine Mal zu verzeihen und mir eine zweite Chance zu geben." Nachdem sie sich erneut die Tränen aus dem Gesicht gewischt hatte, fügte sie hinzu: "Ich liebe dich mehr als alles andere, das kannst du mir glauben und auch wenn du mir nicht vergeben kannst, wird sich daran nichts ändern. Du bist etwas ganz Besonderes, und jemanden wie dich trifft man nicht alle Tage. Ich hoffe du kannst mir verzeihen."

Sina wollte noch weiter sprechen, aber die Stimme versagte ihr, während die Tränen an ihrer Wange herab liefen. Ich wusste überhaupt nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Die ganze Situation überforderte mich. So wie sie jetzt in sich zusammengesunken dasaß, wie ein Häufchen Elend, tat sie mir irgendwie leid. Ich stand auf und ging zu ihr, während sie sich ebenfalls erhob und langsam auf mich zukam. Wir fielen uns in die Arme, und ich drückte sie fest an mich. Sie zitterte am ganzen Körper, und ich streichelte besänftigend ihre Wange und strich ihr ab und zu durch ihre Haare. Eigentlich war das jetzt ein guter Moment, um Sina zu beichten, dass ich ebenfalls fremdgegangen war, aber aus welchem Grund auch immer, ich tat es nicht.

Später fragte ich mich oft, warum ich es ihr nicht erzählt hatte. Bis heute habe ich darauf keine Antwort.

Was wirklich in der besagten Nacht in Berlin passiert war, habe ich nie erfahren, denn Sina erzählte es nicht von sich aus, und ich habe sie nicht danach gefragt. Ich glaube, ich wollte es auch gar nicht wissen. In meiner Phantasie spielte ich einige Möglichkeiten durch und keine davon gefiel mir besonders. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass er möglicherweise das bekommen hatte, was Sina mir verwehrte, und aus diesem Grund konnte ich ihr nicht verzeihen.

Wir trennten uns im Guten und nahmen uns vor, weiterhin Freunde zu bleiben.

In der Realität sah das leider anders aus, denn es tat schon sehr weh, wenn man die ehemalige Freundin bei der Disco oder auf einer Party mit einem anderen Jungen zusammen sah. Ich tröstete mich einerseits damit, dass es Tag für Tag tausenden Menschen auf der Welt genauso ging, obwohl das kein wirklicher Trost für mich war und andererseits natürlich mit anderen Mädchen.

In den Wochen danach lernte ich einige kennen, von denen mich allerdings keine richtig interessierte. Meistens war es dann auch nur eine Angelegenheit von wenigen Tagen oder eines Abends bei der Disco, wo man rumknutschte, aber eine zweite Sina war nicht in Sicht.


Die Tage bis zu den Bewerbungen waren gezählt und obwohl ich, wenn auch nur mit Ach und Krach, die Karte fürs Abi in der Tasche hatte, musste ich mir seit dieser gottverdammten Elternversammlung ständig anhören, dass es damit noch längst nicht getan wäre und noch ein schweres letztes Schuljahr vor mir liegen würde. Mutti argumentierte damit, dass später niemanden das Zeugnis der 9. interessieren würde, sondern das Abschlusszeugnis der 10. Klasse und deshalb verlangte sie von mir, mich weiterhin etwas mehr anzustrengen. Daher gab es öfter dicke Luft zu Hause, und um meine Ruhe zu haben, tat ich ihr den Gefallen.

Für andere Dinge hatte ich kaum Zeit, außer zum Fußball, auf den ich nicht verzichten wollte, gerade jetzt, wo es so gut lief. Wir waren immer noch Tabellenführer, da man uns wie erwartet die Punkte gegen "Motor" zugesprochen hatte. Auch um weiterhin zum Fußball gehen zu dürfen, hatte ich meiner Mutter versprechen müssen, für die Schule zu büffeln, vor allem in Mathematik und Physik, den beiden Fächern, die mich am meisten ankotzten und wo ich folgerichtig auch nicht besonders gut war.

Gerade Mathe war für mich ein rotes Tuch, denn unser Lehrer Herr Thiem hatte meiner Meinung nach eine Vollklatsche, was von Mal zu Mal extremer wurde. Die Aufgaben, welche er uns gab, waren völliger Blödsinn, und ich zweifelte allmählich ernsthaft seinen Geisteszustand an. Sein Sohn war bei der Armee und wurde dort zum Flieger ausgebildet. Nicht nur, dass wir uns in jeder Stunde anhören mussten, wie stolz er auf seinen Sohn war, weil er unser Land verteidigt gegen die bösen Imperialisten, nein, es war noch viel schlimmer. Das gesamte Schuljahr mussten wir Sachen berechnen, die damit zu tun hatten.

"Also, ihr wisst ja, dass mein Sohn Christoph bei der Nationalen Volksarmee ist. Wie wichtig das ist, muss ich euch ja nicht erzählen..."

Er redete ohne Pause, und ich gähnte ein ums andere Mal. Auf der Ablage unter der Tischplatte hatte ich das neueste "Mosaik" zu liegen. Ich begann, darin zu lesen und amüsierte mich prächtig.

Die Abrafaxe hatten das Schiff sofort nach der Ankunft im Hafen über eine kleine Hängeleiter verlassen und entkamen in die Dunkelheit, noch ehe die Piraten selber an Land gingen. Abrax, der Größte von ihnen, lief wie immer mit riesigen Schritten vorneweg, so dass Califax und Brabax Mühe hatten, ihm zu folgen. Als sie endlich die Lichter des Hafens hinter sich gelassen hatten und außer Gefahr waren, wartete Abrax unter einer Laterne auf seine beiden Gefährten, die schließlich laut keuchend und völlig atemlos aus der Finsternis auftauchten. Brabax' Gesicht hatte die Farbe seiner roten Haare angenommen, und er leuchtete im Mondschein wie eine Fackel kurz bevor sie verglüht und Califax brachte erst mal keinen Laut hervor und schnappte nach Luft, als würde er zum ersten Mal seit langer Zeit wieder Sauerstoff atmen können. Nachdem beide etwas verschnauft hatten, kamen die Lebensgeister zu ihnen zurück.

"Wie oft sollen wir dir denn noch sagen, dass du nicht so rennen sollst, du langer Lulatsch"? ereiferte sich Califax. "Du weißt ganz genau, dass meine Beine für so was zu kurz geraten sind."

"Wenn es nur das wäre, dann würdest du schon hinterherkommen, Califax, aber das ist es ja nicht alleine. Habe ich nicht Recht"? stichelte Abrax. "Vielleicht solltest du beim Essen nicht jedes Mal einen Nachschlag holen."

Das war nun aber wirklich zu viel. Califax sprang mit einem Satz auf und wollte Abrax gerade an die Gurgel gehen, als Brabax laut zu schreien begann.

"Jetzt war alles umsonst. Die Tasche mit dem Zauberkelch ist nicht mehr da. Ich muss sie wohl unterwegs verloren haben", jammerte er.

"Was ist los?" riefen sie entsetzt.

Es war um einiges spannender als die Ausführungen vorne an der Tafel, bis mich Ralf in die Seite stupste. Ich guckte von meinem Comic hoch.

"Was ist los?" wollte ich wissen, aber er deutete nur vorsichtig mit einer Kopfbewegung in Richtung unseres Lehrers.

"Niko, du scheinst das ja sicher beantworten zu können. Das ist sehr erfreulich. Dann kannst du ja bitte mal nach vorne kommen und es deinen Mitschülern auch erklären, nicht wahr?" In seiner Stimme konnte man die Genugtuung regelrecht heraushören.

In der falschen Annahme, dass ich eine Aufgabe berechnen sollte, antwortete ich frech: "Ich glaube, ich kann die Aufgabe leider doch noch nicht lösen. Eben dachte ich schon, dass ich die Lösung habe, aber jetzt nicht mehr. Tut mir wirklich leid."

Einige konnten sich das Lachen nicht mehr verkneifen, und ich fühlte mich schon wie der moralische Sieger.

"Komisch ist das schon, dass du die Aufgabe erst gelöst hast und nun wieder nicht. Noch komischer ist es allerdings, dass ich die Aufgabe überhaupt noch nicht gestellt habe, ich wollte eigentlich nur von dir wissen, wo ich stehen geblieben war", sagte er mit seiner überheblichen Arroganz.

Jetzt prusteten natürlich alle los und ich stand da wie ein Idiot. Ich musste mir schnell eine passende Antwort einfallen lassen.

"Weißt du nun, worüber ich gesprochen habe oder nicht?"

"Natürlich weiß ich das", sagte ich schnippisch und versuchte, genauso überheblich zu klingen wie er. "Sie haben davon geplaudert, was für ein guter Mensch ihr Sohn ist, dem wir alle danken, dass er uns vor dem bösen Klassenfeind beschützt."

Das hatte gesessen. Im Raum war es mit einem Schlag still und alle warteten gespannt auf die Reaktion von Herrn Thiem, die nicht lange auf sich warten ließ.

"Ja, das will ich meinen, dass es mein Sohn zu etwas gebracht hat", sprach er mit voller Überzeugung, und mit großer Abscheu sagte er zu mir gewandt: "Wenn ich mir dagegen dich so angucke, dann kann ich mir nicht vorstellen, dass du es mal zu etwas bringen wirst, aber wer weiß, vielleicht überraschst du uns ja alle noch mal. Du kannst damit gleich mal anfangen und an die Tafel gehen."

Widerwillig ging ich nach vorne, wo er mir die Kreide in die Hand drückte.

"Ich werde euch jetzt einige Eckdaten angeben, die Niko anschreiben wird, und diese übernehmt ihr bitte in eure Hefte, denn das macht ihr zur kommenden Stunde als Hausaufgabe."

Während er nachdachte, fuhr er sich mit der rechten Hand durch seinen Bart und zupfte ihn etwas zu recht." Also stellt euch vor, dass mein Sohn mit seiner MIG 21 mit einem kontinuierlichen Anstellwinkel von 35 Grad startet, der Winkel bleibt dabei wie gesagt gleich!"

Mit einer Kopfbewegung bedeutete er mir, dass ich die 35 Grad hinschreiben sollte, was ich auch tat.

"Mmh, wie jetzt weiter", murmelte er in sich hinein, " so, ja genau, also 35 Grad ist der Winkel. Nach exakt 8800 Metern erreicht mein Junge also die Höchstgeschwindigkeit seiner MIG, nämlich genau 748 kmh."

Ich malte dazu halbwegs erkennbar ein Dreieck an die Tafel und schrieb die Zahlen daran. Als ich damit fertig war, guckte ich kurz zu Ralf herüber, der kopfschüttelnd auf seinem Stuhl saß.

"Eure Aufgabe besteht nun darin, auszurechnen, wie hoch das Flugzeug an dieser Schnittstelle ist und welchen Weg es auf dem Boden zurückgelegt hätte. Ist eigentlich ganz simpel", und mit einem Blick auf mich fügte er hinzu, " sogar der Dümmste dürfte das schaffen auszurechnen."

Das sahen meine Mitschüler und ich aber ganz anders. Alle saßen stirnrunzelnd und fragend da, und keiner hatte auch nur annähernd eine Ahnung, wie man diese Aufgabe ausrechnen könnte.

Alle außer Nina, unserer Streberin. Sie war nicht so schnell zu beeindrucken, geschweige denn von solch einer für sie einfachen Aufgabe zu erschrecken. Zu meinem Glück konnte sie mich anscheinend ganz gut leiden, denn sie hatte mir schon mehrmals aus der Patsche geholfen, indem sie mir Hausaufgaben erklärt oder sogar direkt für mich gemacht hatte. Als ich von der Tafel wieder zu meinem Platz ging, um meine Sachen einzupacken, kam ich bei ihr vorbei und sie deutete auf ihr Buch.

"Steht alles da drin", sagte sie leise und hielt mir ihr "Mathematik in Übersichten" unter die Nase, "auf Seite 118 und 119. Ist ganz einfach, ehrlich."

Während ich mich noch bedankte, ertönte die Pausenklingel. Das ist die Erlösung, dachte ich bei mir, doch in genau diesem Moment hörte ich jemand meinen Namen rufen.

"Niko, du kommst, bevor du raus gehst, noch mal zu mir!" forderte mich Herr Thiem auf. "Die anderen können dann gehen. Ich wünsche noch einen schönen Tag."

Nachdem alle den Raum verlassen hatten, ging ich langsam zu ihm, mit einem mulmigen Gefühl im Magen. Ich war mir zwar nicht sicher, was er jetzt wieder von mir wollte, aber ich konnte es mir schon vorstellen.

"Ich will dir nur kurz mitteilen, dass ich mir deine Frechheiten nicht länger bieten lasse", begann er ruhig und musterte mich dabei. "Du bekommst für dein ungehöriges Betragen heute eine 5 in Mathematik. Außerdem werde ich mit dem Direktor über dich sprechen, und dann wollen wir doch mal sehen, ob du dann immer noch diese ungeheure Frechheit besitzt, meinen Sohn zu verunglimpfen. Es sollte dir eigentlich bewusst sein, dass du damit nicht nur ihn, sondern unsere gesamte Nationale Volksarmee in ein schlechtes Licht stellst, und das sage ich dir, mein Freundchen, das werden wir an dieser Schule nicht dulden. Das kannst du mir glauben."

Er redete sich ziemlich in Rage, hielt mir unter anderem vor, dass ich die sozialistische Moral, was auch immer das war, untergraben würde, und natürlich wäre ihm jetzt auch klar, warum ich letztes Jahr nicht an der Jugendweihe teilgenommen hatte und so weiter.

Meine Rettung kam erst in Form des neuerlichen Ertönens der Pausenklingel und so konnte ich mich endlich von dem vollkommen wirren Geschwafel meines Mathelehrers befreien. Für mich stand nun endgültig fest, dass dieser Mann verrückt war. Leider war mir allerdings auch klar, dass er mein Lehrer war, mit dem ich noch ein dreiviertel Jahr irgendwie auskommen musste. Gerade in der jetzigen Situation, wo die Zensuren im Hinblick auf das Schulabschlusszeugnis äußerst wichtig waren, konnte ich es mir überhaupt nicht leisten, mich mit einem Lehrer anzulegen, der ein Fach unterrichtete, welches ohnehin zu meinen Hassfächern gehörte. Dazu war es nun aber zu spät. Ich konnte nur noch versuchen, das Beste daraus zu machen und ich nahm mir vor, die Hausaufgaben so gut zu erledigen wie irgendwie möglich, um eventuell darauf eine Zensur zu bekommen. Ich überlegte sogar, ob ich mich wegen vorhin entschuldigen sollte, aber zum Glück war ich stolz genug, es nicht zu tun. Was hätte das schon geändert? Nichts.

Draußen musste ich Ralf und Bernd, die extra auf mich gewartet hatten, erzählen, was er noch von mir gewollt hatte, und nachdem ich mit meinem Bericht fertig war, guckten mich beide mitleidig an.

"Da hast du dir eine schöne Scheiße eingebrockt", begann Ralf, "gerade jetzt, wo dieses Arschloch seine Macht ausspielen kann."

"Nun mach mal halblang!" unterbrach ihn Bernd. "So schlimm ist es nun auch wieder nicht, obwohl es besser gewesen wäre, wenn du dich bei ihm entschuldigt hättest. Na ja, das ist nun nicht mehr zu ändern." Er runzelte seine Stirn, und das war ein untrügliches Zeichen dafür, dass ihm bestimmt gleich etwas einfallen würde. "Also, ich bin mir ziemlich sicher, dass du bei der nächsten Stunde bloß etwas mehr mitarbeiten musst, und schon ist der glücklich, weil er denkt, dass seine Standpauke bei dir gewirkt hat", sagte Bernd mit voller Überzeugung, "aber was noch viel wichtiger ist, du musst dich unbedingt zur Abwechslung mal zu Hause hinsetzen und die Hausaufgaben machen."

Damit hatte er natürlich Recht, und das wusste ich nur allzu gut. Heute war Donnerstag und unsere nächste Mathestunde war glücklicherweise erst am kommenden Dienstag. Ich hatte also genau fünf Tage Zeit, mich mit dem Problem auseinanderzusetzen und ich nahm mir vor, gleich am heutigen Nachmittag damit zu beginnen. Zuerst ging ich aber zum Fußballtraining, und danach hatte ich es auch schon wieder vergessen.

Die Tage vergingen, und von meinem guten Vorsatz war nicht viel übrig geblieben. Ich hatte keinen Gedanken mehr daran verschwendet, bis mich Bernd am Montag, auf dem Heimweg von der Schule, schmerzlich an den morgigen Tag erinnerte.

"Und für morgen alles klar?" fragte er mich beiläufig.

"Ja, ja alles klar. Was soll schon sein?" antwortete ich nebenbei, ohne zu ahnen, worauf er hinaus wollte.

"Ich meine doch wegen Mathe, wegen den Hausaufgaben."

Jetzt verstand ich endlich. Mit einem Mal wurde mir unheimlich schlecht, und mein Herz begann zu pochen.

"Verdammte Scheiße", brüllte ich los, "so eine verdammte Scheiße. Das habe ich total vergessen." Ich war völlig außer mir und begann zu zittern. "An diesen Mist habe ich echt nicht mehr gedacht. Bloß gut, dass du mich dran erinnert hast. Mann, das wäre morgen was geworden. Ich darf gar nicht daran denken", schüttelte ich mich.

Es blieb mir nicht mehr genug Zeit, um die Hausaufgaben selber vernünftig zu machen, soviel war mir klar, und während ich überlegte, ob ich Bernd fragen sollte, mir zu helfen oder noch besser, ihn bitten sollte, von ihm abschreiben zu dürfen, schien er meine Gedanken zu erahnen.

"Ich würde dir ja gerne helfen, Niko", sagte er und ich merkte, dass es ihm wirklich Leid tat, "aber ich bin morgen Vormittag nicht in der Schule. Ich muss wegen meinem Heuschnupfen zum Arzt, meine jährlichen Spritzen abholen. Deshalb bin ich vom Unterricht freigestellt und muss nur zu Hause einige Aufgaben machen. Weißt du, es ist so, dass man von den vier Spritzen immer tierische Kopfschmerzen bekommt", erklärte er mir und fügte weiter hinzu, "Ich wusste das ja bei der letzten Stunde schon und darum habe ich mich auch nicht mit dieser blöden Aufgabe beschäftigt."

Das war nur verständlich. Mir wäre das auch lieber gewesen, damit nichts zu tun zu haben, aber leider hing für mich eine Menge davon ab. Ich verabschiedete mich schnell von Bernd und rannte nach Hause.

Dort nahm ich mir ein Glas Cola und schloss mich in meinem Zimmer ein. Es war Montag, kurz nach 16 Uhr. Ich erinnerte mich daran, was Nina zu mir gesagt hatte und es war mir, als könnte ich ihre Stimme hören.

"Steht alles da drin, Niko, auf Seite 118 und 119."

Schnell kramte ich aus meinem Schrank das bewusste Buch, "Mathematik in Übersichten", hervor und schlug die Seite 118 auf. Es musste wohl ziemlich lange her sein, dass ich dieses Buch in den Händen gehabt hatte.

"C 11 Trigonometrische Berechnungen" stand dort als Überschrift und ich überlegte, ob ich davon jemals etwas gehört hatte, konnte mich aber nicht erinnern. Ich las weiter: "Die Frage, ob ein Dreieck durch gegebene Stücke eindeutig bestimmt ist, kann mit Hilfe der Kongruenzsätze entschieden werden."

In der Hoffnung, vielleicht wenigstens etwas von dem zu verstehen, was da stand, überflog ich noch die nächsten Zeilen, aber so sehr ich mich auch bemühte, es hatte einfach keinen Sinn. Ich verstand nur Bahnhof und wusste mit diesem Kauderwelsch nichts anzufangen. Tatsache war nun mal, und es war an der Zeit, mir das einzugestehen, dass ich alleine nicht in der Lage war, die Aufgabe zu lösen.

Da es inzwischen bereits 17 Uhr 30 war, musste ich schleunigst was unternehmen. Es gab eigentlich nur zwei Möglichkeiten, aus diesem Dilemma herauszukommen. Zum einen hätte ich morgen einfach ohne die Hausaufgaben zur Schule gehen können, was allerdings eine ganz blöde Idee gewesen wäre, und zum anderen war es ja noch nicht zu spät, um bei jemandem vorbeizufahren und die Lösung abzuschreiben. Im Prinzip gab es noch eine weitere Möglichkeit, nämlich die, morgen nicht zur Schule zu gehen, aber dann hätte ich das Problem nur aufgeschoben und daher verwarf ich diese Variante sofort wieder, genauso wie die erste. Blieb also nur die zweite übrig.

Ich überlegte, zu wem ich am besten fahren könnte und ging in Gedanken die potenziellen Namen meiner Mitschüler durch. Zu blöd, dass Mike, der ja gleich schräg gegenüber wohnte, bei solchen Dingen keinerlei Hilfe war. In schulischen Angelegenheiten war bei ihm nichts zu holen und wenn überhaupt, dann war ich derjenige, von dem er die Hausaufgaben abschrieb. Meine anderen besten Freunde aus der Klasse waren in Mathematik auch nicht viel besser als ich, was die Sache ein wenig eingrenzte, und am Ende blieben nur zwei Namen übrig: Ralf und Peter.

Meine Mutter war noch nicht zu Hause, und wo sich meine Schwester herumtrieb, wusste ich nicht, war mir auch vollkommen egal. Bei meinem Problem hätte sie mir ohnehin nicht helfen können, denn in Mathe war sie keinen Deut besser als ich.

Ich holte mein Fahrrad aus dem Keller und beschloss, zu Peter zu fahren. Er wohnte etwa einen Kilometer entfernt und es erschien mir günstiger, zuerst bei ihm zu klingeln. Ich hoffte, dass er mir helfen würde, denn dann könnte ich mir den Weg zu Ralf sparen, der am allerletzten Ende wohnte, mindestens drei Kilometer weiter weg und die meiste Strecke davon Sandweg mit großen Löchern. In der Dämmerung musste man dort immer aufpassen, dass man sich nicht das Fahrrad kaputtmachte oder schlimmer noch, dass man hinfiel, weil es keine Straßenbeleuchtung gab, seit im vergangenen Winter die alte Buche während eines Sturmes umgekippt war und dabei die Stromleitung heruntergerissen hatte.

Ich radelte also zu Peter. Dort angekommen klingelte ich dreimal kurz, unser Klingelzeichen, damit er gleich wusste, wer es war. Leider tat sich auch nach wiederholtem Läuten nichts, und so machte ich mich auf den Weg zu Ralf, wo ich ziemlich durchgeschwitzt ankam, weil ich wie verrückt in die Pedale getreten hatte. Auch bei ihm drückte ich mehrmals auf die Klingel, ohne dass sich jemand rührte, obwohl ich von draußen sehen konnte, dass im Inneren Licht brannte. Sollte vielleicht die Klingel kaputt sein? Mir fiel ein, dass Ralf immer, wenn ich bei ihm war, seine Zimmertür ein wenig geöffnet ließ, um die Klingel besser hören zu können. Ich drückte ein letztes Mal lange auf den Knopf, aber nichts passierte, worauf ich beschloss, es mit der Faust zu probieren. Ich bummerte wie wild gegen die Haustür und plötzlich konnte ich hören, wie drinnen eine Tür geöffnet wurde. Irgendjemand kam langsam schlürfend näher, blieb hinter der geschlossenen Haustür stehen und guckte anscheinend durch den Spion.

"Was zum Teufel ist jetzt schon wieder los? Hat man hier denn nie seine Ruhe?" brüllte mich eine männliche Stimme an, die ich nicht kannte.

Das konnte nur der Opa von Ralf sein, dachte ich mir. Er hatte zwar erzählt, dass demnächst sein Opa einziehen würde, weil er nach dem Schlaganfall vor zwei Monaten ein Pflegefall war. Dass er schon hier wohnte, wusste ich allerdings nicht.

"Ich wollte bloß fragen, ob Ralf da ist", antwortete ich und wartete auf eine Antwort seinerseits.

"Welcher Ralf?" fragte er allen Ernstes zurück. "Ich kenne niemand, der so heißt."

Etwas verwirrt sagte ich: "Ich meine ihren Enkel Ralf. Wir gehen in dieselbe Klasse."

Es vergingen einige Sekunden ohne eine Antwort, und daher stellte ich ihm die Frage erneut.

"Ich wollte Ralf eigentlich nur kurz etwas fragen. Ist er zu Hause?"

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739429861
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Oktober)
Schlagworte
DDR Erwachsenwerden Freundschaft Fussball Politik Liebe Pubertät 80er

Autor

  • Ross Abel (Autor:in)

Ross Abel ist das Pseudonym eines deutschen Autors, Jahrgang 1968. Aufgewachsen in der ehemaligen DDR, im jetzigen Bundesland Brandenburg, lebt er seit 1990 in Berlin - Treptow. Seit seiner Kindheit ist er begeisterter Leser von Romanen der unterschiedlichsten Couleur. Mit dem Schreiben eigener Geschichten hat er aber erst vor einigen Jahren begonnen, als Ausgleich zu seiner Tätigkeit als Verkäufer für Bild- und Tonträger. Das Buch "Am anderen Ende des Tunnels" ist seine erste Veröffentlichung.
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Titel: Am anderen Ende des Tunnels