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Blau schimmert nicht nur ein Saphir

von Lorena Liehmar (Autor:in)
414 Seiten
Reihe: Alterra, Band 3

Zusammenfassung

Obwohl Alea gemeinsam mit den Brüdern Tajo und Matteo sowie ihrem neuen Verbündeten Luca die Menschheit vor der Vernichtung bewahren konnte, geht ihr Wunsch nach einem ruhigen Leben noch nicht in Erfüllung. Die unerwartete Suche nach einem unbekannten Erbstück des Hauses Azuro stellt sie immer wieder vor sonderbare Rätsel. Um sämtliche Geheimnisse zu lüften, macht sie sich erneut auf einen gefahrvollen Weg. Währenddessen ändern ihre Gegner die Taktik, wodurch sie Alea gefährlich nahekommen. Nicht mehr die Jagd auf sie und ihre Verfolgung stehen im Vordergrund, sondern Täuschung und Tarnung. Beides bringt Alea in höchste Bedrängnis. Das ausgeklügelte und listenreiche Spiel ihrer Gegner treibt sie bis an den Rand des Todes und bedroht die Menschheit mit einer unberechenbaren Gefahr. Was wird passieren, wenn sich die Macht aller drei Häuser, Turkeso, Azuro und Lunara, in einer einzigen Person vereinigt? Wird Frieden herschen oder Tod und Zerstörung? Alea ist gezwungen, es hautnah mitzuerleben. ***** Band 1: Türkis ist nicht nur eine Farbe, Band 2: Silber leuchtet nicht nur der Mond, Band 3: Blau schimmert nicht nur ein Saphir

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


PROLOG

„Hilf mir Tajo, bitte!“, flehte Alea kraftlos. Aber er war nicht bei ihr. Sie war allein und in diesem tragischen Moment der einsamste Mensch auf der Welt. Verzweifelt versuchte sie, ihn mit ihrer leisen Bitte herbeizurufen. Ihre letzte Hoffnung galt dem irrationalen Wunsch, dass er spüren würde, in welcher lebensbedrohlichen Gefahr sie schwebte.
     Instinktiv wusste sie, dass ihr nur noch wenig Zeit blieb, bevor ihr Bewusstsein für immer in einer undurchdringlichen Dunkelheit versank. Noch gab sie die Hoffnung nicht auf, dass ihn ihr inständiges Flehen auf irgendeine unerklärliche Art und Weise erreichen könnte. Dringend benötigte sie seine Hilfe. Ohne seine rettenden Heilkräfte würde sie sterben und er sie für immer verlieren.
     Ihr frisches Blut tränkte den Boden unter ihr. Es besudelte das unschuldige Weiß der glänzenden Fliesen, auf denen sie in sich zusammengesunken reglos dalag. Alea spürte, wie das Leben Tropfen für Tropfen aus ihrem geschwächten Körper sickerte. Wie ein beständiger Strom quoll der rote Lebenssaft unermüdlich aus ihrem verletzten Oberkörper hervor.
     Der unerträgliche Schmerz in ihrer Brust und in ihrem Rücken vernebelte allmählich ihre Sinne. Es fühlte sich an, als ob ihr Brustkorb mit einem Fleischerhaken in tausend Stücke zerrissen würde.
     Ein gequältes Stöhnen entfloh ihren zitternden Lippen. Deutlich spürte sie die Kälte des Bodens unter ihren kraftlosen Händen. Es gelang ihr nicht, nur einen einzigen Finger zu krümmen. Sie war bereits zu schwach.
     Während das Leben unaufhörlich aus ihrem erschlaffenden Körper floss, zogen die letzten Minuten ihres Lebens in Windeseile an ihrem inneren Auge vorbei.
     Alea sah sich mit vor Staunen geöffnetem Mund das runde und anmutige Bauwerk betreten. Es ähnelte stark einem überaus eleganten Pavillon, der auf dem Wasser zu schweben schien. Wie ein kostbares Kleinod bot es sich ihren neugierigen Blicken dar. Ehrfürchtig bewunderte sie seine faszinierende Pracht.
     Seine Außenwände bestanden aus zahlreichen, zierlichen, weißen Säulen, die kunstvoll mit silbernen Ornamenten geschmückt waren. Wie anmutige Blütenranken wanden sie sich von der Decke bis zum Boden hinab. Das feine Muster setzte sich auf den weißen Fliesen fort und schlängelte sich in filigranen, silberglänzenden Linien über den gesamten Fußboden.
     Zwischen den Säulen waren bodentiefe Glasfenster eingelassen, die am oberen Ende in weichen Rundbögen die gewölbte Decke zu tragen schienen. Einem Sternenhimmel gleich funkelten unzählige silberne Lämpchen auf sie herab. Geschickt in der schneeweißen Decke des Raumes versteckt, verströmten sie ein warmes und heimeliges Licht.
     Staunend stand Alea inmitten der riesigen Eingangstür, deren Flügel weit geöffnet waren. Beim Anblick der erlesenen Möbelstücke, die auf wunderbarste Art und Weise mit dem feinen, weiß-silbernen Muster der Säulen und des Bodens harmonierte, verschlug es ihr die Sprache. Auf einen Schlag fühlte sie sich in eine traumhafte Märchenwelt versetzt.
     Mehrere zierliche Liegen, Stühle und Tischchen sowie halbhohe Kommoden erweckten den Eindruck eines kleinen Palastes. Wie das gesamte Bauwerk waren auch die eleganten Möbel gänzlich in Weiß und Silber gehalten. Lediglich das zarte Vanillegelb der Polster und der dutzenden weichen Kissen hob sich als sanfter Farbtupfer davon ab.
     Riesige, bunte Blumensträuße thronten in bauchigen Vasen auf den verschiedenen Tischen und verströmten einen betörenden Duft. Wie unsichtbarer Nebel erfüllte der zarte Geruch die Luft im ganzen Raum.
     Die kräftigen Farben der üppigen Blütenkelche hoben sich wie ein leuchtendes Feuerwerk vom milchigen Weiß der Inneneinrichtung ab. Zartgelbe Rosenblätter übersäten den schimmernden Boden und verliehen dem Betrachter das Gefühl, auf einer riesigen Wolke aus Blüten zu schweben.
     Überall funkelten verschieden große Kristalle, in denen sich das Licht in sämtlichen Regenbogenfarben brach. In einem unendlichen Meer aus blitzenden Glassteinen verwandelten sie den gesamten Innenraum in ein riesiges Kaleidoskop.
     Wie verzaubert bewunderte Alea diesen Ort der vollkommenen Harmonie und der friedlichen Stille. In diesem glücklichen Moment fühlte sie sich so leicht wie eine Feder und völlig der Realität entrückt.
     Ganz langsam hob sie den Blick und ließ ihn über den atemberaubenden Lichterhimmel schweifen. Wie winzige Sterne funkelten die unzählbaren Lichtpunkte auf sie herab und brachten den Innenraum zum Strahlen. Es kam ihr vor, als ob sie soeben ein geheimes, von der Welt abgeschiedenes, kleines Schloss betreten hätte.
     Noch immer verharrte sie bewegungslos in der Nähe des Eingangs. Sie traute sich kaum, einen Schritt in das prachtvolle Innere zu setzen. Wie ein unliebsamer Eindringling scheute sie davor zurück, diese fremde Welt zu betreten. Nur mühsam konnte sie ihren Blick von den schillernden, silbernen Blütenranken und den funkelnden Kristallen abwenden.
     Unvermittelt fiel ihr wieder der Grund ihrer Anwesenheit in diesem wundervollen und eleganten Palais ein. Wie aus einer Trance erwachend fuhr sie sich mit der Hand über ihre Augen. Schlagartig setzte ihre Erinnerung ein.
     Augenblicklich verstärkte sich ihr Griff um die runde Kugel aus azurblauem Edelstein, die sie mit ihrer rechten Hand fest umschlossen hielt. Dieses wertvolle Juwel war der Grund für ihre Anwesenheit in diesem außergewöhnlichen, palastartigen Raum.
     Sofort zog die Kugel ihre volle Aufmerksamkeit auf sich. Mit angewinkeltem Ellenbogen hob sie das runde Behältnis vor ihre Brust, um dessen seltene Schönheit ein allerletztes Mal ausgiebig zu bewundern.
     Im Schein der warmen Deckenbeleuchtung schimmerte die Kugel in einem hellen, edlen Königsblau. Der geschlossene Deckel war mit einem feinen Netz aus goldenen Linien verziert, während winzige Blüten aus Silber die untere Hälfte schmückten. Andächtig fuhr Alea mit ihren Fingerspitzen die zarten goldenen Linien nach.
     Fasziniert spürte sie, wie sich der kostbare Edelstein in ihre Handfläche zu schmiegen schien. Wie gebannt starrte sie auf die Kugel, die beschützend ihren unbezahlbaren Inhalt umschloss und ihn vor gierigen Blicken verbarg.
     Das kräftige Blau des Azurit-Gesteins erinnerte Alea an Tajos Portalstift und an seine ausgefallene Augenfarbe, die sie so sehr liebte. Dieser schimmernde Edelstein trug für die Nachkommen des Hauses Azuro eine besondere Bedeutung in sich. Mit Herzblut hingen sie an dem Vermächtnis ihrer Ahnen.
     Und nun musste sie sich von diesem überaus wertvollen Kleinod trennen. Am liebsten hätte sie diese geheimnisvolle Kugel für immer behalten. Wie ein schutzbedürftiges, kostbares Juwel schmiegte sie sich in ihre Hand.
     Es erschien ihr, als ob die Kugel ihr zurief, dass Alea sie um jeden Preis auf der Welt beschützen sollte. Allein schon wegen ihres mysteriösen Inhalts, der seinem ausgefallenen Behältnis weder an Schönheit noch an Wert in nichts nachstand.
     Bedauernd strich Alea ein letztes Mal mit ihrem Finger über die zarten goldenen Linien und das schimmernde Blau. Der Edelstein fühlte sich auf ihrer Haut sonderbar warm und magisch an.
     Es erschien ihr, als ob der blaue Stein unter ihren Fingerspitzen sie zum allerletzten Mal davor warnen wollte, die Kugel aus der Hand zu geben. In einem letzten aufkeimenden Zweifel presste sie das erlesene Behältnis fest an ihre Brust.
     Plötzlich spürte sie ein grauenhaftes Brennen in ihrem Rücken und zugleich zwischen ihren Rippen. Das leise, ploppende Geräusch, das ihrem qualvollen Schmerz unmittelbar voranging, hörte sie nicht. Es fühlte sich an, als ob soeben ein Sprengkörper in ihren Brustkorb eingedrungen und explodiert war.
     Augenblicklich sank Alea hilflos zu Boden. Im Bruchteil einer Sekunde knickten ihre Beine unter ihr ein. Den unsanften Aufprall ihres Körpers auf dem harten Boden nahm sie kaum wahr. Bewegungslos blieb sie liegen. Wie betäubt registrierte sie, dass die blaue Kugel ihrer schlaffen Hand entglitt.
     Mühsam versuchte sie mit den Augen die kullernde Kugel zu verfolgen. Vergeblich. Sie rollte unaufhaltsam davon und war bereits aus ihrem Sichtfeld verschwunden. Verzweifelt versuchte sie, ihre Hand zu bewegen. Sie gehorchte ihr nicht mehr.
     Alea schloss die Augen. Sie fühlte die kalten Fliesen an ihrer Wange und den brennenden Schmerz in ihrer Brust. Ihr rotes Blut tropfte unermüdlich aus ihrem kraftlosen Körper. Ihr verzweifelter Hilfeschrei erstarb auf ihren blassen Lippen. Ihr letzter Gedanke galt ihrem Liebsten. Dann verlor sie das Bewusstsein.

VOR DREI WOCHEN

„Was? Elias Lunara ist tot? Das kann doch nicht sein!“ Fassungslos starrte Alea den Überbringer dieser ungeheuerlichen Botschaft an. Die überraschten Laute ihrer Eltern sowie von Tajo und Matteo vermischten sich mit ihrem eigenen bestürzten Aufschrei.
     Fünf Augenpaare fixierten Luca Lunara voller Entsetzen, der gemeinsam mit ihnen im privaten Wohnzimmer von Aleas Eltern saß. Jeder von ihnen konnte die fassungslose Bestürzung in den Augen der anderen erkennen.
     Obwohl Elias ihr Feind war und ihnen Schlimmes angetan hatte, war er dennoch viel zu jung zum Sterben. Zudem hatten sie vom Tod genug. Noch immer waren sie in ihrer tiefen Trauer um ihren gemeinsamen Freund gefangen.
     Wie sechs deplatzierte, schwarze Punkte hoben sie sich von dem hellen Holz und den warmen Farben des gemütlichen Innenraums ab. Noch immer trugen sie schwarze Kleidung und trauerten gemeinsam um André, der nicht mehr unter ihnen weilte.
     Zu ihrer aller Überraschung hatten sie in Luca einen neuen Freund und starken Verbündeten gefunden, der durch die dunkle Kleidung und seinen grimmigen Gesichtsausdruck an diesem Tag einen besonders düsteren Eindruck erweckte. Seine groben Gesichtszüge zeigten eine Mischung aus Bestürzung und Erleichterung.
     Obwohl er selten deutliche Gefühlsregungen erkennen ließ, konnte Alea ihm dennoch an seiner verstörten Miene ablesen, wie sehr ihn die aktuellen Ereignisse beschäftigten. Immerhin war Elias ein Verwandter von ihm, auch wenn er den dunklen und gefährlichen Zweig der verwandtschaftlichen Beziehungen verkörperte. Um genau zu sein, war er sogar Lucas Cousin, über dessen Existenz er bis vor wenigen Tagen keinerlei Kenntnis besaß.
     Umso erschreckter zeigte sich Luca, dass Elias nun ebenfalls nicht mehr unter den Lebenden weilte – wie sein Vater. Beide starben eines nicht ganz natürlichen Todes. In diesem Zweig der Familie schien die bösartige Seite der Menschen eindeutig die Oberhand zu gewinnen und forderte gnadenlos seine Opfer ein.
     Erschüttertes Schweigen herrschte nach Lucas überraschender Verkündung im Raum. Tajo war der Erste in ihrer Runde, der sich von der unerwarteten Nachricht am schnellsten erholte.
     „Was ist geschehen, Luca? Weshalb ist Elias tot?“, fragte er bestürzt mit rauer Stimme.
     „Er ist vergiftet worden“, antwortete Luca und seine düstere Miene verfinsterte sich nochmals um eine Spur. Alea schnappte hörbar nach Luft.
     „Vergiftet?“ Schockiert zog sie das einzelne Wort in die Länge.
     „Von wem?“
     „Weshalb?“
     „Mit welchem Gift?“
     „Wo? Doch nicht in seinem Haus?“
     „Wann genau?“
     „Gibt es Hinweise auf den Täter?“
     „Kannte er den Täter sogar?“
     „Von wem wurde er gefunden?“
     „Laufen die Ermittlungen schon?“
     „Was war das Motiv?“
     Fünf erregte Personen bombardierten Luca gleichzeitig mit ihren neugierigen Fragen.
     Um Geduld mahnend hob er seine Hand. Alles, was er an spärlichen Informationen besaß, war er bereit, mit seinen wissbegierigen Zuhörern zu teilen.
     „Wir konnten bisher folgende Dinge erfahren“, setzte er zu einer ausführlichen Berichterstattung an.
     „Es handelte sich um ein sehr schnell wirkendes Gift. Vermutlich hatte er nach der Verabreichung nur noch ungefähr fünf Minuten zu leben.“
     Seine aufmerksamen Zuhörer sogen hörbar die Luft ein.
     „Ja, aber …, wie ist er denn überhaupt vergiftet worden?“, fragte Aleas Mutter, Königin Isabel, fassungslos.
     „Ihm wurde eine Injektion in den Handrücken verabreicht“, erklärte Luca bereitwillig.
     „Das bedeutet, dass der Mörder zwangsläufig ganz nah an ihn herangekommen sein musste …“, überlegte Tajo laut.
     „Ja, das stimmt und es bedeutet darüber hinaus, dass er seinen Mörder vermutlich gut kannte“, zog Luca als Schlussfolgerung daraus.
     „Von seiner Haushälterin hat die Polizei erfahren, dass er nicht oft Besucher in seinem Haus empfing“, fügte er an.
     „Sie meinte auch, dass er außer gelegentlichen nächtlichen Gespielinnen nur die Menschen, denen er vertraute, in sein Haus einließ“, ergänzte er mit einem bestätigenden Kopfnicken.
     „Außerdem handelt es sich mit Sicherheit nicht um einen Einbruch, denn es fehlen keine offensichtlichen Wertgegenstände“, führte Luca weiter aus.
     „Sogar seine überaus wertvolle Sammlung an Miniaturrennwagen wurde nicht angetastet und die sind wahrlich im Überfluss mit kostbaren Edelsteinen und Diamanten verziert.“
     „… und die hätte jeder Einbrecher und Dieb als leichte und wertvolle Beute sofort mitgehen lassen“, fügte Alea nachdenklich an.
     Diese sündhaft teure Sammlung kannte sie nur zu gut. In Gedanken sah sie die funkelnden Modelle in der großen Glasvitrine direkt vor sich stehen. Bei ihrem eigenen unerlaubten Eindringen in Elias Anwesen war sie selbst wie verzaubert vor diesen wunderschönen, mit unzähligen Juwelen geschmückten Kostbarkeiten gestanden. Nur schwer konnte sie sich damals aus deren faszinierendem Bann lösen.
     „Wenn es kein Einbruch wegen Geld oder Ähnlichem war, dann ist das Ganze schon sehr merkwürdig und mysteriös“, stellte Aleas Vater argwöhnisch fest.
     „Es sieht so aus, als ob sein Tod einen ganz anderen Grund hatte“, rätselte Matteo und rieb sich nachdenklich das Kinn.
     „Ja. Außerdem wird Gift sehr häufig eingesetzt, wenn eine emotionale Bindung zwischen dem Opfer und dem Täter bestand“, sprach Tajo seine Gedanken laut aus.
     „Es wird doch nicht eine seiner Gespielinnen gewesen sein, die sich von ihm falsch behandelt und grob abserviert gefühlt hat?“, äußerte Königin Isabel ihren schrecklichen Verdacht.
     „Ich denke, dass zum jetzigen Zeitpunkt keine Möglichkeit auszuschließen ist“, meinte Luca und verschränkte seine Finger fest ineinander. Obwohl er äußerlich relativ ruhig wirkte, schien er in seinem Inneren alles andere als gelassen zu sein.
     „Die Polizei hat ihre Ermittlungen gerade erst aufgenommen und die Ergebnisse lassen noch auf sich warten.“ Mit einer fahrigen Bewegung fuhr sich Luca durch sein Haar.
     „Wir werden uns zwangsläufig noch gedulden müssen, um Antworten auf unsere Fragen zu bekommen“, stellte Aleas Vater missmutig fest.
     „Obwohl er ein äußerst gefährlicher Gegner war, hatte er den Tod in so jungen Jahren nicht verdient“, fügte König Tarro noch an und ein Hauch von Mitgefühl schwang in seiner dunklen Stimme mit.
     „Auf der anderen Seite wissen wir auch nicht, was er alles noch mit dem Stab und den anderen Artefakten angestellt hätte“, sagte Matteo in nüchternem Tonfall.
     Sein Mitgefühl hielt sich eindeutig in sehr überschaubaren Grenzen. Zu deutlich stand ihm sein Kampf auf Leben und Tod mit seinem eigenen Bruder vor Augen, für den allein Elias verantwortlich war.
     „Übrigens, weil wir gerade von den Artefakten sprechen. Was ist denn mit denen geschehen?“, fragte er neugierig. Luca und alle anderen wussten sofort, welche Gegenstände er damit meinte.
     „Nichts davon konnte gefunden werden“, antwortete Luca rasch. Seine Bestürzung über diese unheilvolle Tatsache war ihm deutlich anzusehen.
     „Nichts? Also kein silbernes Kästchen, kein Metallstab, kein silbernes Amulett und auch nicht Aleas goldenes Kästchen mit ihrem Armreif?“ Entsetzt presste Tajo die Worte hervor.
     Erst vor Kurzem hatte er Alea sein Wort gegeben, dass sie gemeinsam nach dem Armreif suchen und ihn finden würden. Diese Nachricht erschwerte das Einlösen seines Versprechens enorm. Seine Schuld am Verschwinden des Armreifs lastete noch immer wie ein tonnenschwerer Felsbrocken auf ihm.
     „Nichts davon ist in Elias Haus auffindbar gewesen“, bestätigte Luca nochmals und schüttelte bedauernd den Kopf.
     „Aber, … wurde denn danach auch gründlich genug gesucht?“, fragte Aleas Mutter aufgebracht. „Niemand außer uns weiß um diese gefährlichen Gegenstände und er wird sie auch nicht einfach offen in seiner Wohnung ausgestellt haben.“
     Luca nickte bestätigend mit dem Kopf.
     „Alina hat in Abstimmung mit den Ermittlern zwei absolut vertrauenswürdige Personen ihres eigenen Sicherheitspersonals danach suchen lassen. Sie konnten nicht ein einziges Stück davon finden“, erklärte Luca und legte seine Stirn in sorgenvolle Falten.
     „Das bedeutet nichts Gutes …“, murmelte Alea leise und ihr schwante Böses.
     „Wer könnte die Gegenstände an sich genommen und Elias vergiftet haben?“, fragte Tajo, dessen Gesichtsfarbe eindeutig eine Spur blasser geworden war.
     „Die Ermittler haben noch keinerlei Spuren oder Hinweise auf den Täter gefunden“, beantwortete Luca die Frage. „Dazu ist es einfach noch zu früh.“ Hörbar atmete er aus.
     „Allerdings ist zeitgleich mit dem Mord an Elias auch seine Privatsekretärin verschwunden und bisher nicht wieder aufgetaucht“, ergänzte er nachdenklich.
     „Das ist aber schon sehr merkwürdig …“, sagte Matteo gedehnt. „… aus meiner Sicht kann das kein Zufall sein.“ Grübelnd zog er seine Augenbrauen zusammen.
     „Entweder ist sie ebenfalls ein Opfer oder sie ist selbst die Mörderin von Elias“, sprach er seine Gedanken laut aus.
     „Aber, wenn sie die Mörderin wäre, weshalb sollte sie dann Elias umgebracht haben? Welches Motiv hätte sie gehabt?“, fragte Tajo und hob seine offene Hand in einer ratlosen Geste.
     „Hm, das ist eine gute Frage. Tatsache ist, dass wir bisher nichts darüber wissen.“ Besorgt blickte Luca in die Runde.
     „Das Einzige, was wir über sie wissen, ist, dass sie sehr tüchtig, zuverlässig und verschwiegen war“, ergänzte er. „Diese Informationen haben wir von Elias Geschäftsführer erhalten, der alle Firmen aus dem Imperium seines Vaters in seinem Namen fortführt.“
     „Wer erbt denn nun dieses ganze Imperium und das riesige Vermögen?“, fragte Alea neugierig.
     „Auch das ist eine gute Frage, auf die wir derzeit noch keine Antwort wissen.“ Lucas Achselzucken zeugte von seiner Ratlosigkeit.
     „Allerdings wird der Geschäftsführer wie bisher die Unternehmen einfach weiterführen. Er scheint ein sehr fähiger und kompetenter Mann zu sein“, fügte Luca geistesabwesend hinzu.
     Für wenige Minuten herrschte ein beklemmendes Schweigen im Raum. Jeder beschäftigte sich mit Lucas Informationen und versuchte zu ergründen, welche Auswirkungen diese für ihre eigenen Pläne bedeuteten.
     Beunruhigt und sorgenvoll blickte Alea zu Luca hin. Taxierend musterte sie seine besorgten Gesichtszüge.
     „Das sind alles andere als gute Nachrichten, Luca“, kommentierte sie die aktuelle Lage. Sie fröstelte. Unbehaglich rutschte sie auf ihrem Sitzplatz hin und her.
     „Vor allem bedeuten sie, dass wir wie nach Alexander Lunaras Tod nicht wissen, in wessen Besitz sich die gefährlichen Gegenstände befinden.“ Voller böser Vorahnung blickte sie von einem zum anderen. Sorgenvolle Gesichter blickten ihr entgegen.
     „Zudem wissen wir nicht, ob der neue Besitzer um die gewaltige Macht der Objekte weiß“, fuhr sie fort.
     „Falls ja, hätten wir das nächste Problem ….“ Ihre Stimme klang alarmiert.
     „Außerdem haben wir keine Ahnung, wo wir mit der Suche nach meinem Armreif beginnen sollen.“ Frustriert starrte sie auf ihre Schuhspitzen hinab.
     In diesem Moment fühlte sie sich so hilflos, als ob sie sich in einem riesigen Irrgarten verlaufen hätte und den rettenden Ausgang nicht mehr finden konnte. Betrübt und zutiefst beunruhigt verschränkte sie ihre kalten Finger ineinander.
     „Was sollen wir nun bloß tun?“, fragte sie entmutigt. Niedergeschlagen ließ sie ihren Kopf hängen.
     „Im Moment können wir nur abwarten, zu welchen Ergebnissen die Ermittlungen führen werden“, meinte ihr Vater bedrückt.
     „Vielleicht liegen nach deren Abschluss entsprechende Hinweise vor, auf deren Basis wir mit der Suche nach deinem Armreif und dem Metallstab beginnen können.“ In Lucas Stimme war seine eigene Hilflosigkeit und Niedergeschlagenheit deutlich herauszuhören.
     Seine Zuhörer nickten ihm notgedrungen zustimmend zu. Keinem von ihnen fiel in diesem Moment eine bessere Idee ein. Geduldig und tatenlos die weiteren Geschehnisse abzuwarten, war derzeit garantiert nicht die Lieblingsbeschäftigung aller Anwesenden.
     Geknickt suchte Alea Tajos Blick. Mitfühlend streckte er seine Hand nach der ihrigen aus. Während seine Finger liebevoll ihre Hand umschlossen, streichelte er zärtlich die weiche Haut auf ihrem Handrücken.
     Zwischen ihnen waren sämtliche belastenden Unstimmigkeiten ausgeräumt worden, die Elias verhängnisvollem Bann geschuldet waren. Auch wenn ihr Herz noch schwer von der Trauer über Andrés Ableben war, so half ihr Tajos innige Liebe dabei, Schritt für Schritt die Dunkelheit in ihrem Inneren zu verdrängen.
     Fürsorglich und liebevoll kümmerte er sich um sie und schenkte ihr all seine Liebe und Zärtlichkeit, zu der er fähig war. Seine wohltuende Gegenwart übte wie in der Vergangenheit eine beruhigende Wirkung auf sie aus. Neben einem Geliebten für leidenschaftliche Stunden hatte sie in ihm auch einen wahren Freund gefunden. An seiner starken Schulter konnte sie sich anlehnen und vorbehaltlos stand er immer zu ihr.
     Die dunklen Schatten der Vergangenheit fingen allmählich an zu verblassen. Nur zu deutlich war ihr bewusst, welches Glück sie in Tajo gefunden hatte. Umso mehr schätzte sie seine tiefe Liebe und zärtliche Fürsorge für sie.
     Allerdings machte sie sich in diesem Augenblick keinerlei Hoffnung auf ein ruhiges und beschauliches Leben in absehbarer Zeit mit ihm. Solange sie ihren Armreif nicht wiedergefunden hatte, blieb ihr ein sorgenfreies Leben verwehrt. Zumindest hoffte Alea auf baldige bessere Zeiten, in denen die Trauer und der Schmerz über Andrés Verlust erträglicher sein würden.
     So furchtbar sein Tod auch für sie war, das Leben aller anderen ging unaufhaltsam weiter. Jeden Tag verblassten die Erinnerungen an die schrecklichen Geschehnisse immer mehr. In ihren Herzen würde er jedoch für immer weiterleben. Sie würden weder ihn noch das, was er unter Einsatz seines eigenen Lebens für sie alle getan hatte, jemals vergessen.
     Tajos lautes Räuspern riss Alea aus ihren trüben Gedanken. Noch immer streichelte er sanft die zarte Haut auf ihrem Handrücken.
     „Während wir auf die Ergebnisse aus der Ermittlungsarbeit warten, sollten wir uns allerdings noch mit etwas ganz anderem beschäftigten“, fing er entschieden an zu sprechen. Fragend und erstaunt blickte Alea ihm in die Augen.
     „Beinahe hätten wir vergessen, dass in ein paar Tagen ein besonderes Ereignis in Alterra ansteht.“ Ein kleines Lächeln umspielte seine vollen Lippen.
     Verständnislos blickte sie in seine liebevollen Augen. Irritiert beobachtete sie, dass ihre Eltern, Matteo und Luca nach einem kurzen Zögern ebenfalls ihre Mundwinkel zu einem scheuen Lächeln verzogen. Ihr dämmerte, dass sie anscheinend die Einzige war, die mit Tajos rätselhafter Bemerkung nichts anzufangen wusste. Verdutzt ließ sie ihren Blick von einem zum anderen schweifen.
     „Von was sprichst du denn, Tajo?“, fragte sie ihn als einzige Nichteingeweihte argwöhnisch.
     „Nun ja, einmal im Jahr veranstaltet das Haus Azuro einen Ball zu Ehren unserer Vorfahren und in Gedenken an alle, die nicht mehr unter uns weilen“, setzte Tajo zu einer Erklärung an.
     Noch immer starrte sie ihn verständnislos an.
     „In Alterra obliegt es seit jeher den Nachfahren von Azur, den Toten zu gedenken. Dies geschieht in Form eines großen Maskenballs“, fuhr er fort.
     „Anstatt zu trauern, erinnern wir uns an unsere Verstorbenen, indem wir gemeinsam unsere Vielfalt und das kostbare Leben feiern“, ergänzte er und legte eine kurze Pause ein.
     „Durch bunte Masken und Kostüme bringen wir unsere Lebensfreude zum Ausdruck. Mit Musik und Tanz ehren wir unsere Vorfahren und Verstorbenen“, fuhr Matteo fort. „Auf diese Art erweisen wir ihnen unseren Respekt und bringen unsere Wertschätzung ihnen gegenüber zum Ausdruck.“
     Mit großen Augen blickte Alea ihre Eltern an, die mit einem kräftigen Kopfnicken die Worte der beiden Brüder bestätigten.
     „Ja, das stimmt, Alea. Das gebieten unsere Traditionen. In diesem Jahr haben wir durch Andrés unerwarteten Tod sogar noch einen Grund mehr dazu, unsere Verstorbenen zu ehren.“ Die Stimme ihres Vaters klang heiser und rau. Auch er kämpfte mit der aufwallenden Trauer um seinen langjährigen Freund.
     Alea atmete hörbar ein und aus. Ihre Augen huschten unruhig von einem zum anderen. Sie fühlte sich zwiegespalten.
     „Eine Feier zum jetzigen Zeitpunkt? Ist das wirklich so eine gute Idee?“, fragte sie zweifelnd. Deutlich war ihr anzumerken, dass ihr derzeit die Begeisterung für einen großen Ball noch fehlte.
     „Der Ball wird auf jeden Fall stattfinden, denn auf unseren persönlichen Verlust können wir keine Rücksicht nehmen. Das schulden wir unseren Vorfahren und allen Bewohnern von Alterra“, antwortete ihr Vater bestimmt und straffte instinktiv den Rücken dabei.
     In diesem Moment war er ganz und gar der König und Staatsmann, der Verpflichtungen zu erfüllen hatte, und zwar unabhängig von seinem persönlichen Empfinden. Auch wenn ihm selbst nicht der Sinn nach einer großen Feier stand, musste er nach außen hin seine Pflichten wahrnehmen.
     Alea schluckte hörbar. In ihr tobte ein heftiger Widerstreit zwischen der Ablehnung einer Feier, die aus ihrer Sicht viel zu früh kam, und dem berechtigten Argument ihres Vaters.
     In diesem Moment wurde ihr nur zu deutlich bewusst, dass sie als Prinzessin von Turkeso ebenfalls Pflichten zu erfüllen hatte und nicht mehr nur eine unbedeutende Privatperson war. Zu ihrem neuen Leben in Alterra gehörten nicht nur die angenehmen Dinge, sondern auch manch heikle Aufgabe, der sie nun nicht mehr ausweichen konnte.
     Fünf forschende Augenpaare waren unentwegt auf sie gerichtet. Ihre Mutter versuchte sich an einem zaghaften, aufmunternden Lächeln, das sie ihrer widerstrebenden Tochter schenkte. Wie immer schien sie durch ihre mütterlichen Instinkte zu fühlen, was Alea belastete.
     „Alea, wir wissen auch, dass der Ball für uns zu früh kommt. Aber ich denke, André würde nicht wollen, dass wir wegen ihm mit unseren Traditionen brechen. Im Gegenteil, vermutlich würde er uns dazu sogar ermuntern.“ Die Königin konnte lebhaft nachvollziehen, was in ihrer Tochter vorging und mit welchen kontroversen Gefühlen sie innerlich kämpfte.
     „Außerdem denke ich, dass uns allen die Teilnahme an dem Maskenball guttun wird. André würde wollen, dass wir uns von unserer Trauer um ihn etwas ablenken.“ Mitfühlend blickte sie Alea in die Augen und unterstrich ihre Worte mit einem sanften Kopfnicken. Dankbar für ihre Unterstützung lächelte Tajo Aleas Mutter an.
     „Dieser Meinung schließe ich mich voll und ganz an“, erklärte er zustimmend und drückte zärtlich Aleas Hand.
     Seine Augen ruhten hoffnungsvoll auf ihr. Natürlich würde er sie nicht gegen ihren Willen zu ihrer Anwesenheit beim Ball zwingen. Inbrünstig hoffte er auf eine positive Antwort von ihr.
     „Ja, ich bin auch derselben Meinung…“, fügte Matteo an und warf seinem älteren Bruder einen verschwörerischen Blick zu.
     „… und ich teile ebenfalls diese Ansicht, obwohl ich André nicht so gut gekannt habe wie ihr alle“, schloss sich Luca einvernehmlich an.
     Nachdenklich brütete Alea über die verschiedenen Standpunkte und wägte nochmals stumm alle Argumente dafür und dagegen ab. Schließlich fügte sie sich schweren Herzens und gab ihre innere Abwehrhaltung auf.
     Zudem stellte sie erstaunt fest, dass ein klitzekleiner vorwitziger Funke der Neugier unvermittelt in ihr aufflammte. Schon sprudelte die erste Frage ungehemmt über ihre Lippen.
     „Wer nimmt denn an diesem Ball teil und wie viel Leute kommen zum Feiern?“, fragte sie nun sichtlich interessiert.
     „Nun ja, an dem Ball selbst, der in einem besonderen Veranstaltungsort in unserer Hauptstadt stattfinden wird, nehmen ungefähr eintausendfünfhundert geladene Gäste teil“, erklärte ihr Matteo bereitwillig.
     „Außerdem finden überall in Alterra kleinere und ähnliche Maskenbälle statt, um möglichst vielen Bewohnern die Teilnahme zu ermöglichen“, ergänzte er.
     „Allerdings nehmen die Familien der Staatsoberhäupter von Turkeso, Azuro und Lunara nur an dem großen Maskenball teil, zu dem die Gäste extra eingeladen werden“, erklärte Tajo ihr und tätschelte unentwegt ihren Handrücken.
     „Wie du siehst, Alea, können wir uns einer Teilnahme an dem Ball gar nicht entziehen, da unser Erscheinen zwingend erforderlich ist“, fügte Aleas Vater mit Nachdruck an.
     „Außerdem gehört neben unserem Erscheinen auch noch etwas anderes zur jahrelangen Tradition der drei regierenden Häuser, dem wir jedes Jahr bereitwillig nachkommen.“ Fragend blickte Alea ihren Vater an, der eine kleine Pause einlegte, um die Spannung für sie zu erhöhen.
     „Ja, das stimmt“, pflichtete Luca ihm spontan bei.
     „Die Einzigen, die an dem Maskenball zu erkennen sind, sind die Familienmitglieder der drei Regierungshäuser, denn es gehört ebenfalls zu unserer Tradition, dass wir in unseren typischen Farben erscheinen“, erläuterte ihr Luca und seine ernste Miene erhellte sich ein klein wenig.
     „Ja, so ist es. Dein Vater und ich tragen Kostüme, in denen die Farbe Türkis vorherrscht. Tajo, Matteo und ihre Eltern tragen Kleidung in leuchtendem Azurblau und Luca, Alina und der Rest ihrer Familie glänzen jedes Jahr in hellem Silber“, ergänzte Aleas Mutter die Details.
     Mit großen Augen und gespitzten Ohren verfolgte Alea die aufschlussreichen Ausführungen ihrer Familie und ihrer Freunde, zu denen inzwischen auch Luca fest dazugehörte. Ihr brannte bereits die nächste Frage auf der Zunge.
     „Ihr sprecht von Kostümen, die die Ballgäste tragen. Wie muss ich mir diese vorstellen?“, fragte sie neugierig. Allmählich erwachte in ihr das weibliche Interesse an schöner, festlicher Kleidung.
     „Da es sich um einen eleganten Ball handelt, tragen sehr viele Damen lange Kleider und die Herren vornehme Anzüge in den unterschiedlichsten Formen“, setzte Tajo zu einer Antwort an.
     „Außerdem sind alle Themen und Masken erlaubt. Es können reine Fantasiekostüme sein oder auch die Darstellung von berühmten Persönlichkeiten der Geschichte. Alles ist erlaubt. Jeder trägt das, was er an diesem Abend am liebsten sein oder darstellen möchte“, führte er weiter aus.
     „Wichtig ist nur, dass alle Ballgäste eine Maske über den Augen oder über das ganze Gesicht tragen. Diese symbolisiert, dass jeder mindestens einem lieben Menschen gedenkt, an den er sich an diesem Abend besonders gerne erinnert.“ Mit diesen Worten schloss Tajo seine Erklärung ab.
     Bei den Stichworten „Maske“ und „Kostüm“ arbeitete es in Aleas Kopf. Sofort fiel ihr ein möglicher Nebeneffekt ein.
     „Aha, und das bedeutet, dass man sich hinter einer Maske und einem Kostüm verstecken kann, sofern man nicht gewillt ist, seine wahre Identität preiszugeben, oder?“, fragte Alea zögernd.
     „Ja, so ist es. Viele der Ballgäste bleiben unerkannt und sehr viele dagegen nicht. Jeder kann das halten, wie er möchte“, bestätigte Aleas Mutter ihre treffende Vermutung.
     Fünf Augenpaare waren abwartend auf sie gerichtet, während sie sich nochmals alle Argumente durch den Kopf gehen ließ. Am Ende stand ihre Entscheidung fest.
     „Nun gut. Da ich eh keine Wahl habe, werde ich euch wohl oder übel zu dem Ball begleiten müssen“, stellte sie mit dem Anflug eines Lächelns fest.
     Innerlich blitzte ein winziger Funke der Vorfreude auf, der von ihrem aufwallenden schlechten Gewissen sofort im Keim erstickt wurde. Deutlich sah sie, wie sich Tajos Miene wegen ihrer freiwilligen Zustimmung entspannte. Ihre persönlichen Vorbereitungen für den Maskenball konnten nun beginnen.

„Was bedrückt dich, Alea?“, fragte Tajo sie besorgt und zog sie noch eine Spur enger in seine Arme. Nach ihrem Gespräch im Wohnzimmer ihrer Eltern hatten sie sich in Aleas Privatgemach zurückgezogen. Nun saßen sie eng umschlungen auf der hellen Couch und genossen die Nähe des anderen.
     Wohlig kuschelte sich Alea in die starken Arme ihres Liebsten und legte ihren Kopf an seine Schulter. Andächtig lauschte sie seinen regelmäßigen Atemzügen. Gelegentlich strich sie mit ihrer Hand über seine muskulöse Brust und spürte dabei die weiche Wolle seines schwarzen Pullovers unter ihren Fingerspitzen. Im Übermaß strahlte er warme Geborgenheit und gelassene Sicherheit aus.
     Im Gegensatz dazu herrschte in ihrem Inneren das reinste Gefühlschaos. Das Empfinden von Trauer, Schmerz, Vorfreude und Argwohn wechselte sich nahezu im Sekundenrhythmus ab. Gleichzeitig kämpfte sie mit den Dämonen der Vergangenheit und mit den unbekannten Schrecken der Zukunft.
     Geduldig wartete Tajo ihre Antwort ab und gab ihr Zeit, ihre durcheinander wirbelnden Gedanken zu sortieren. Da sie ihm nach mehreren Minuten des beharrlichen Schweigens noch immer keine Antwort gegeben hatte, versuchte er es erneut.
     „Alea, bitte sag mir, was dich beschäftigt.“ In seiner eindringlichen Stimme schwang unterschwellig ein flehender Ton mit.
     „Ich spüre doch, dass dich etwas belastet, was nichts mit Andrés Tod zu tun hat“, fügte er hartnäckig hinzu. „Also, was ist es, was dir so zusetzt?“, fragte er sie erneut.
     Alea schwieg noch immer.
     „Freust du dich denn gar kein bisschen auf den Ball?“, setzte er nach.
     „Du hast doch so viel Spaß am Tanzen und liebst flotte Musik“, versuchte er, sie aufzumuntern.
     „Du wirst sehen, diese Abwechslung wird uns allen guttun. Außerdem tragen wir unsere Masken an diesem Abend insbesondere als Andenken an André. Er wird also in unseren Herzen ständig bei uns sein“, versuchte er sie zu trösten.
     Sanft streichelte er hingebungsvoll ihren Rücken, als ob er mit dieser zärtlichen Berührung die ganze beschwerliche Last von ihr nehmen könnte. Immer wieder hauchte er einen zarten Kuss in ihr weiches Haar. Mit wachsender Sorge registrierte er ihr beharrliches Schweigen.
     „Alea, bitte rede mit mir“, flehte er sie mit rauer Stimme an.
     Im Zeitlupentempo hob sie ihren Kopf, um ihm in die Augen zu blicken. Die tief empfundene Liebe, die sie darin erkannte, besänftigte ein wenig ihren inneren Aufruhr.
     „Tajo, du … hast ja recht“, begann sie stockend zu sprechen. „Ein wenig Ablenkung wird uns sicherlich nicht schaden …“, fügte sie leise an.
     „Was ist dann mit dir? Warum bist du so bedrückt?“, hakte er sorgenvoll nach.
     „Hm, …“, setzte sie unschlüssig zu einer Antwort an.
     „… ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll.“
     „Dann sage es einfach so, wie es dir gerade in den Sinn kommt“, versuchte Tajo erneut sein Glück, sie zum Sprechen zu bewegen.
     Allmählich beunruhigte ihn ihr aufgewühlter Zustand. Er war es gewohnt, dass sie mit ihm über all die Dinge sprach, die sie beschäftigten und umgekehrt. Auch er vertraute ihr regelmäßig seine persönlichen Sorgen und Nöte an. Gegenseitig halfen sie sich mit hilfreichen Vorschlägen oder hörten einander einfach nur zu.
     Derart verschlossen zeigte sie sich ihm gegenüber äußerst selten und meist nur, wenn ihre Gefühlswelt gehörig in Unordnung geraten war. Nur gelegentlich igelte sie sich auch vor ihm ein und kam erst wieder zum Vorschein, wenn sie die belastende Situation still und allein verarbeitet hatte.
     Nachdenklich blickte sie ihm in die fragenden Augen. Er konnte sehen, wie sehr sie sich überwinden musste, um einen erneuten Anlauf zu nehmen.
     „Seit unserem Gespräch verfolgt mich ein mulmiges Gefühl, das sich einfach nicht mehr abschütteln lassen will“, setzte sie zu einer Antwort an.
     „Was für ein mulmiges Gefühl und in Bezug auf was?“, bohrte Tajo sofort nach.
     „Na ja, ich kann es nicht näher beschreiben. Nenne es böse Vorahnung oder einfach nur Einbildung …“, murmelte sie bedrückt.
     „… allerdings beschleicht mich das Gefühl, dass etwas sehr Schreckliches geschehen wird“, fügte sie beinahe tonlos an. Ihre Augen flackerten unruhig und Tajo spürte, wie sie am ganzen Körper zu zittern begann.
     „Dieses bedrohliche Gefühl drückt mir buchstäblich die Kehle zu …“, sprach sie leise weiter, während sie sich unbewusst mit einer Hand an den Hals fasste. Erneut drückte er ihr einen zärtlichen Kuss auf ihr seidiges Haar.
     „Alea, in den letzten Wochen haben wir bereits mehrere gefahrvolle Situationen überlebt“, versuchte Tajo sie zu beruhigen.
     „Ja, das stimmt. Dieses Mal ist es aber anders ...“ Ihre Stimme begann hörbar zu zittern.
     „… ich habe das Gefühl, dass etwas derart Furchtbares geschehen wird, das wir uns im Moment gar nicht vorzustellen vermögen“, fügte sie mit tonloser Stimme an. Verzweifelt versuchte sie, dieses bedrohliche Gefühl abzuschütteln, was ihr völlig misslang.
     „Was soll schon passieren? Solange wir uns gegenseitig beistehen und beschützen, kann uns niemand etwas anhaben“, erwiderte er voller Zuversicht.
     „Außerdem werde ich dir in nächster Zeit nicht von der Seite weichen. Ich werde dir buchstäblich auf die Pelle rücken und wie ein Schatten folgen.“, versuchte er sich mit einem leisen Lachen an einer aufmunternden Antwort. Von Alea erfolgte keinerlei Reaktion.
     „Nach allem, was wir bereits durchgestanden haben, kann uns nichts mehr trennen. Ich werde immer an deiner Seite sein“, versprach Tajo ihr nachdrücklich und streichelte sanft über ihre blasse Wange.
     „Ja, das weiß ich, Tajo, aber dennoch …“, flüsterte sie leise.
     „Irgendetwas kommt auf uns zu, das uns vernichten und auslöschen könnte …“ Sie seufzte hörbar. Endlich hatte sie den Mut gefunden und ihre schlimmste Befürchtung ausgesprochen.
     „… und an dem Maskenball fängt es an …“, flüsterte sie voller Furcht.
     Mit ihren kalten Fingern umklammerte sie seine warme Hand derart fest, sodass es ihm schon beinahe Schmerzen bereitete. Vorsichtig versuchte er, ihren verzweifelten Griff zu lockern.
     In höchstem Maße beunruhigt kämpfte Tajo um seine Selbstbeherrschung. Auf keinen Fall wollte er, dass sie seine schnell wachsende Unsicherheit erkannte, die ihre zögerlichen Worte in ihm auslösten.
     Bei jeder anderen Person würde er diese unbegründete Befürchtung nur als trügerisches Hirngespinst eines ängstlichen Geistes abtun. Seine bisherigen Erfahrungen zeigten jedoch unstrittig, dass Aleas zuverlässiger Instinkt sie immer vor einer drohenden Gefahr warnte und leider immer recht behielt.

Genüsslich nippte Ella an ihrem Glas Champagner, der ihr ein sanftes Kribbeln auf der Zunge bescherte. Versonnen beobachtete sie die sprudelnden Bläschen in der blassgoldenen Flüssigkeit, die unaufhörlich in ihrem Glas perlten.
     Ein glücklicher Seufzer entrang sich ihrer Brust und wohlig kuschelte sie sich in die flauschige Decke, die sie über ihren ausgestreckten Beinen ausgebreitet hatte. Endlich führte sie das Leben, von dem sie so oft seit ihrer Kindheit geträumt hatte.
     Ihre sehnsüchtigen Wunschträume drehten sich ständig um unerreichbaren Reichtum, beruhigenden Wohlstand und vollkommene Unabhängigkeit. Dabei standen sie in krassem Gegensatz zu ihrem wahren Leben. Noch größer hätte der Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit nicht sein können.
     Die letzten Worte, die sie ihrem sterbenden Zwillingsbruder ins Gesicht geschleudert hatte, drängten sich ihr ein weiteres Mal auf. Mit wenigen gezielten Worten warf sie ihm vor, unter welch elenden Umständen sie täglich ums Überleben kämpfte. Mit Schrecken erinnerte sie sich an ihr früheres Leben auf der Erde, das sie zu einem erbärmlichen Dasein in Armut und Not verdammte.
     Ihre leibliche Mutter hatte es zwar gut mit ihr gemeint, aber ihr war nicht bewusst, dass sie ihre Tochter durch ihren unerwartet frühen Tod zu einem Leben in bitterer Armut zwang.
     Im Glauben daran, dass sie ihre geliebte Tochter bei einer Person ihres Vertrauens in guter Obhut wusste, starb sie überraschend bei einem Unfall. Zwar war ihre Pflegemutter eine gute Freundin ihrer Mutter, allerdings fehlte ihr jeglicher Geschäftssinn und mütterliche Fürsorge.
     Ständig litt ihre winzige Familie an quälender Geldknappheit. Solange ihre leibliche Mutter lebte, reichten die regelmäßigen finanziellen Zuschüsse für einen einfachen Lebensstandard völlig aus. Zu Ellas Leidwesen verprasste ihre Pflegemutter einen großen Anteil der monatlichen Zuwendungen für deren eigene Bedürfnisse.
     Mit Hingabe vergeudete sie das Geld für den übermäßigen Genuss von Alkohol, gelegentlichen Drogenkonsum oder für häufige Geschenke, mit denen sie ohne Erfolg ihre ständig wechselnden Liebhaber an sich zu binden versuchte.
     Ellas Bedürfnisse standen leider immer nur an zweiter Stelle und wurden meist der finanziellen Knappheit geopfert. Als sie gerade in die Schule gekommen war und ihre anfänglichen Kämpfe in der ersten Schulklasse ausfocht, verschlimmerte sich ihre Situation drastisch. Durch den plötzlichen Unfalltod ihrer Mutter blieben die zuverlässig eingehenden Zahlungen schlagartig aus.
     Da ihre Mutter in Alterra scheinbar niemanden in ihr gut gehütetes Geheimnis eingeweiht hatte, kümmerte sich nur ihre Pflegemutter weiter um sie. Niemand kam, um sie abzuholen oder zu unterstützen. Entweder ahnten ihre Verwandten in Alterra nichts von ihrer Existenz oder sie hatten sie einfach nur vergessen.
     Notgedrungen musste sich Ella mit ihrer veränderten Situation arrangieren, auch wenn sie sich den plötzlich drastischen Geldmangel nicht erklären konnte. Von ihrer leiblichen Mutter und deren Geheimnissen ahnte sie nichts. Sie kannte nur ihre kleine Welt, in der sie keine bedeutende Rolle spielte.
     So oft haderte sie mit ihrem schweren Schicksal. Wie sollte ein kleines Mädchen auch verstehen, dass ihre Mutter sich lieber betrank und sich wahllos mit dubiosen Männern einließ, als sich mit ihrer einsamen Tochter zu beschäftigen.
     Wenn Ella ihre kleine Familie mit denjenigen ihrer Klassenkameraden verglich, kam sie zwangsläufig zu dem Schluss, dass ihre Pflegemutter sich nicht wirklich um sie kümmerte. Nein, von fürsorglicher Zuwendung und mütterlicher Liebe spürte sie nichts.
     Voller Neid nahm sie zur Kenntnis, dass andere Mütter ihren Kindern leckere Pausenbrote schmierten und sich um deren Wohlergehen sorgten. Auf all das und noch viel mehr musste sie in ihrer eigenen Kindheit und Jugend verzichten.
     Nachdem sie weder das Geheimnis um ihre uneheliche Geburt noch die Existenz von Alterra und ihre eigene Verbindung zu dieser sonderbaren Welt kannte, fristete sie wie selbstverständlich ein tristes Dasein in Armut und Vernachlässigung.
     Bereits sehr früh übte sie sich schon während ihrer Schulzeit als flinke Taschendiebin, um nicht zu verhungern und wenigsten ab und zu etwas zu essen zu bekommen. Das gnadenlose Leben hielt eine harte Lehre für sie bereit. Sehr früh lernte sie, sich nur um sich selbst zu kümmern, um zu überleben. Ihr winziger Kosmos drehte sich lediglich um die Beschaffung von Essen und Trinken, um den nächsten Tag zu erleben.
     Im Gegensatz zu anderen Kindern interessierte sie sich für zwischenmenschliche Kontakte kaum. Mit anderen Menschen verbanden sie keinerlei freundschaftliche Gefühle. Nur wenige Ausnahmen versuchten, sich einen festen Platz in ihrem ungnädigen Herzen zu erobern – meist mit mangelndem Erfolg.
     Ella blieb ein Einzelgänger, der jedem anderen Menschen in ihrer Umgebung mit abgrundtiefem Misstrauen und nagenden Neidgefühlen begegnete. Von klein auf war sie darauf trainiert worden, nur an ihren eigenen Vorteil zu denken. Ihr trauriges, karges Leben engte ihre aufblühende Persönlichkeit und ihr grenzenloses Streben nach finanzieller Unabhängigkeit ein.
     Umso mehr flüchtete sie sich in ihrer Jugend in eine Traumwelt, in der sie die umschwärmte Heldin war und die Herzen ihrer stürmischen Verehrer im Flug eroberte. Zu ihrem eigenen Erstaunen fand sie äußerst großen Gefallen am Theaterspiel.
     Wegen ihres angeborenen schauspielerischen Talents ergatterte sie regelmäßig die begehrten Rollen der Hauptdarstellerin. Mit viel Herzblut glänzte sie in den vielfältigsten Stücken, die ihre Schulklasse jedes Jahr aufführte.
     Mit Leichtigkeit schlüpfte sie in die unterschiedlichsten Charaktere, um sie meisterhaft auszufüllen und brillant darzustellen. Mit überschwänglicher Begeisterung verwandelte sie sich durch Perücken, geschickte Schminktechniken und wechselnde Kleidungsstücke in die jeweilige Person, die sie spielen wollte.
     Keine Herausforderung erschien ihr zu groß. Wie eine zweite Haut streifte sie eine Persönlichkeit nach der anderen über und entledigte sich ihrer, wenn sie deren überdrüssig wurde oder der Vorhang für diese künstlich erschaffene Figur für immer fiel.
     Mit dem Erreichen ihrer Volljährigkeit zog sie kurzerhand von zu Hause aus und baute sich mit eiserner Hartnäckigkeit ein neues Leben auf. Wissbegierig wie sie schon seit Kindertagen war, absolvierte sie erfolgreich eine Lehre zur Bürokauffrau und bildete sich immer weiter fort.
     Stetig und beharrlich lernte sie, sich in der harten Berufswelt zu behaupten. Besonders zeichnete sie sich dabei durch ihre schnelle Auffassungsgabe und ihre extrem hohe Lerngeschwindigkeit aus.
     Besonders stolz war Ella darauf, dass sie jede Aufgabe wie ein Wettkämpfer in Rekordgeschwindigkeit bewältigen konnte. Dabei musste sie nicht einmal Abstriche bei der Qualität ihrer Arbeit vornehmen.
     Ohne es zu wissen, bereitete sie sich über Jahre hinweg auf ihre wichtige Rolle als vertrauensvolle Privatsekretärin von Elias Lunara vor. Niemals hätte sie damit gerechnet, dass ausgerechnet ihr beschwerliches Leben eine derartig einschneidende Veränderung erfahren sollte.
     Der Tag, an dem sich ihr Schicksal zu ihren Gunsten wandelte, begann mit der Nachricht vom Tod ihrer unglücklichen Pflegemutter. Wie erwartet hatte sich diese durch eine tödliche Mischung aus Drogen, zu viel Alkohol und undefinierbaren Pillen selbst ins Jenseits befördert.
     Ella weinte ihr keine einzige Träne nach. Im Gegenteil, innerlich fühlte sie sich dadurch von einer schweren Last und bedrückenden Fessel befreit. Vollkommen unabhängig konnte sie nun daran arbeiten, sich ein Leben nach ihrem Geschmack aufzubauen. Sie war sich bewusst, dass es bis zu ihrem Ziel, einem unbeschwerten Leben in purem Luxus und finanziellem Reichtum, ein sehr weiter Weg war.
     Die Mittel, die sie anwenden musste, um ihrem Ziel Stück für Stück näher zu kommen, waren ihr reichlich egal. Unter Einsatz all ihrer Fähigkeiten und Vorzüge strebte sie unaufhaltsam nach mehr. Sogar ihren eigenen Körper setzte sie widerstrebend als Waffe ein, sofern ihr dieser Schritt als nützlich und unumgänglich erschien.
     Da sie seit Kindertagen nie genug zu essen bekam, entwickelte sie sich zu einer äußerst schlanken und zierlichen jungen Frau. Ihre zarte Erscheinung täuschte gewaltig über ihren eisernen und unerbittlichen Willen hinweg. Ihre ausgeprägte innere Zähheit und mitleidlose Zielstrebigkeit sah ihr niemand an.
     In vielen Männern weckte sie deren Beschützerinstinkt und ließ sich gerne von ihnen verwöhnen. Ohne ein schlechtes Gewissen nutzte sie schamlos deren ahnungslose Gutmütigkeit aus. Auf diese Art und Weise konnte sie gelegentlich ihrem armseligen Leben entfliehen, in dem sie gezwungen war, jede Münze vor einer Ausgabe erst mehrfach umzudrehen.
     Tja, und dann kam der Tag mit der nicht überraschenden Botschaft über den Tod ihrer Pflegemutter. Der Anruf erfolgte erst vor wenigen Wochen und kam von der Nachbarin, die Ella von klein auf kannte.
     Viele Habseligkeiten hatte ihre Pflegemutter nicht hinterlassen. Erstaunt war Ella darüber keineswegs. Entschlossen hatte sie alles entweder verschenkt oder im Mülleimer entsorgt. Bis auf einen Stapel ominöser Briefe. Rätselhafte und zugleich aufschlussreiche Briefe ihrer leiblichen Mutter, die direkt an sie gerichtet waren und die ihr nie überreicht worden waren.
     Dieses Päckchen mit ungeöffneten Briefen war ihr einziges Erbe, das sie voller Misstrauen und höchstem Interesse in den Tagen danach intensiv studierte. Ihr einziger Schatz bestand aus einem Stapel dicht beschriebenen Papiers. Nur zu gut erinnerte sie sich an jede Kleinigkeit ihrer Übergabe. Es kam ihr vor, als ob ihr die Briefe erst am vorherigen Tag überreicht worden waren.
     Aus ehrlichem Mitgefühl hatte die Nachbarin ein rotes Satinband um den Stapel Briefe geschlungen und eine hübsche Schleife gebunden. Zusätzlich schob sie eine frische gelbe Rose quer unter das Band. In dieser Form erweckten die Umschläge den Anschein, als ob sie ein kostbares Geschenk für Ella bereithielten.
     Zu ihrem größten Erstaunen beinhalteten sie in der Tat eine Art von Überraschungsgeschenk, das sich auf ihr gesamtes weiteres Leben auswirken sollte. Neben der Tatsache, dass sie bei einer Pflegemutter aufgewachsen war, erfuhr Ella viele Dinge über ihre leibliche Mutter und vor allem über eine geheimnisvolle Parallelwelt namens Alterra – ihrer ursprünglichen Heimat.
     Damals war sie völlig geplättet über die drastische Wendung, die ihr langweiliges und mühseliges Leben plötzlich erfuhr. Nach wenigen Tagen, die sie zwangsläufig zur Verarbeitung der offenbarten Wahrheit benötigte, schmiedete sie eifrig Pläne für eine grandiose Zukunft.
     In den Briefen waren auch die Kontaktdaten einer Vertrauensperson ihrer Mutter festgehalten, die jedoch über keinerlei Detailkenntnisse hinsichtlich ihrer eigenen Person verfügte. Ein Anruf genügte, um ihre heimliche Reise durch ein seltsames Portal nach Alterra zu bewerkstelligen.
     Dank gefälschter Dokumente gelang es ihr, die Anstellung als Privatsekretärin bei ihrem unbekannten Bruder zu ergattern. Ihr Timing war perfekt, obwohl sie sich dessen gar nicht bewusst war.
     Was war das bloß für eine Überraschung für sie gewesen, als sie in den Briefen ihrer Mutter von ihrem zweieiigen Zwillingsbruder erfuhr. Mit aufgeregt flatterndem Herzen las sie die Zeilen immer wieder. Nie im Traum wäre sie darauf gekommen, dass sie Geschwister hatte.
     Seitdem sie denken konnte, hielt sie sich für ein einsames Einzelkind ohne familiäre Bindungen. Umso interessierter las sie den Brief, der die unglaublichen Informationen über ihren unbekannten Bruder enthielt.
     Natürlich wollte sie ihn unbedingt kennenlernen, allerdings ohne ihre eigene Identität preiszugeben. Der Job bei ihm war das ideale Sprungbrett, um unerkannt in seine Welt und sein luxuriöses Leben einzutauchen.
     Von Neidgefühlen zerfressen und von tiefen Rachegelüsten getrieben, musste sie erkennen, dass er im Gegensatz zu ihr als verwöhntes Söhnchen eines stinkreichen Vaters in übertriebenem Luxus lebte. Mit vollen Händen gab er das Geld seines Vaters aus, der zugleich auch der ihrige war. Für diese offensichtliche und unfaire Ungleichheit musste er in ihren Augen bezahlen.
     Alle Informationen über Alterra, ihren Bruder und über ihren Vater, denen sie nur habhaft werden konnte, sog sie wie ein unersättlicher Schwamm in sich auf. Je mehr sie von Elias ausschweifendem und luxuriösem Lebensstil mitbekam, umso mehr gierte sie nach seinem Reichtum, der ihr in gleichem Maße zustand wie ihm.
     Ein tödliches und schnell wirkendes Gift zu beschaffen, fiel ihr nicht schwer. Ohne jegliche Skrupel hatte sie es ihrem um wenige Minuten jüngeren Bruder verabreicht, um seine zahllosen Besitztümer und dessen unvorstellbar großes Vermögen zu übernehmen.
     Endlich war sie am Ziel ihrer abenteuerlichen Träume angelangt. Genau genommen hatte sie ihr hochgestecktes persönliches Ziel um ein Vielfaches übertroffen.
     Während sie in Gedanken in ihrer jüngsten Vergangenheit schwelgte, genehmigte sich Ella einen weiteren Schluck des köstlichen und sündhaft teuren Champagners. In vollen Zügen genoss sie ihren neuen Reichtum und blinzelte zufrieden in die allmählich untergehende Sonne.
     Ein unvorstellbares Leben in Saus und Braus stand ihr nun offen. Nach Lust und Laune konnte sie nun ihr neues Leben gestalten, ohne auf irgendwelche Zwänge Rücksicht nehmen zu müssen. Zudem hatte sie bereits umsichtige Vorkehrungen für eine unbehelligte und rosige Zukunft getroffen.
     Nur unter dem Siegel der völligen Verschwiegenheit hatte sie sich Elias tüchtigem Geschäftsführer und dem alten Rechtsanwalt ihres Vaters zu erkennen gegeben. Wie ihr Bruder traf sie mit den beiden dieselbe Vereinbarung hinsichtlich der Geheimhaltung ihrer Existenz. Dabei ließ sie keinerlei Zweifel über ihre unerschütterliche Ernsthaftigkeit aufkommen.
     Bei Nichteinhaltung ihrer Spielregeln drohte sie beiden mit einem sofortigen und qualvollen Tod. Sehr schnell hatten ihre neuen Geschäftspartner verstanden, dass sie hinsichtlich ihrer Kaltblütigkeit und Kompromisslosigkeit ihrem Vater stärker ähnelte als es ihr Zwillingsbruder tat. Sichtlich eingeschüchtert stimmten sie all ihren Bedingungen kommentarlos zu.
     Nun konnte ein neues aufregendes Leben für sie beginnen. Rundum glücklich und zufrieden machte es sich Ella unter ihrer Kuscheldecke bequem. Ihr neuer Reichtum gefiel ihr ausnehmend gut. Mit großen glänzenden Augen erfasste sie dessen ungewohnte Annehmlichkeiten und ließ ihren Blick wohlwollend über ihr neues Anwesen schweifen.
     Bereits als kleines Kind hatte sie von einem eigenen Haus mit einem gepflegten Garten geträumt. In ihren lebhaften Fantasien entfloh sie bereitwillig ihrem beengten und freudlosen Zimmer. Wie in einem düsteren Gefängnis fühlte sie sich darin eingesperrt und jeglicher Lebensfreude beraubt.
     Schon seit sie denken konnte, sehnte sie sich nach einem Haus am See. Es musste nicht übermäßig groß sein, aber es sollte unbedingt an einem ruhigen Gewässer und weit weg von neugierigen Nachbarn liegen.
     Zu ihrem unfassbaren Glück erfüllte sich dieser Wunsch in Windeseile. Ihren ersten Auftrag hatte ihr neuer Geschäftsführer prompt und zu ihrer vollsten Zufriedenheit erledigt. Als überaus stolze Besitzerin blickte sie nun versonnen über den stillen See.
     In vollen Zügen genoss sie die verschiedenen Farbtöne, mit denen die Natur sie erfreute. Nur selten konnte sie bisher der erdrückenden Enge ihrer Stadt, in der sie aufgewachsenen war, entfliehen. Umso mehr wusste sie ihren persönlichen Garten Eden zu schätzen.
     Der beruhigende Anblick des glitzernden Blautons des Wassers besänftigte ihr hitziges Temperament. Zudem liebte sie das satte Grün von endlosen Wiesen, deren glänzende Grashalme sich im sanften Wind wiegten. An den fröhlichen Farben von blühenden Blumen konnte sie sich nicht sattsehen.
     Im Gegensatz zu ihrem Bruder liebte sie helle und kräftige Farben. In ihren Augen verkörperten diese Farbtöne am besten die überschäumende Lebensfreude, die sie nun zum ersten Mal tatsächlich in ihrem Leben empfand. In bunten Farben spiegelte sich ihrer Meinung nach die unbeschwerte Fröhlichkeit und Sorglosigkeit wider, nach der sie sich so viele Jahre vergebens verzehrte.
     Glücklich schloss sie für einen Moment die Augen und genoss die himmlische Ruhe, die sie in ihrem eigenen Haus umgab. In ihren Augen passte ihr neues Heim perfekt zu ihr und zu ihren vielfältigen Bedürfnissen.
     Das Haus war nicht übermäßig groß und stand zum Glück komplett möbliert zum Verkauf. Sie musste nur noch einziehen und ihre neu gekaufte Kleidung sowie ihre persönlichen Dinge einräumen. Aus diesem Grund dauerte ihr Einzug vor wenigen Tagen nicht mehr als eine Viertelstunde.
     In ihrem neuen Domizil fühlte sie sich so wohl wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Ihre bisherigen Mietwohnungen waren beengte und abgewohnte Käfige, in deren Umfeld andauernde Hektik und ohrenbetäubender Lärm vorherrschte. Von Luxus oder gehobener Ausstattung war sie so weit entfernt, wie die Erde vom Mond.
     Im Gegensatz hierzu stellte ihre neue Wohnung eine wunderschöne Insel dar, die von Helligkeit und Ruhe geprägt war. Die gesamte Inneneinrichtung bestand aus weißen Holzmöbeln und einem hellem, weißstichigen Parkettfußboden. Zudem ergänzte in jedem Raum eine andere Farbe das strahlende Weiß ihrer Möbel.
     Die große Sitzgruppe und die Teppiche in ihrem Wohnzimmer leuchteten in einem kräftigen Gelb. Dagegen erstrahlte die Bettwäsche einschließlich der Dekoration in ihrem geräumigen Schlafzimmer in einem freundlichen Fliederton. Ihr Badezimmer leuchtete in einem satten Lila und in der Küche bildeten zahlreiche hellblaue Utensilien fröhliche Farbtupfer zu den weißen Möbelstücken.
     Ihr absoluter Lieblingsplatz stellte jedoch der helle Wintergarten dar, in dem sie sich gerade genüsslich auf ihrem Liegeplatz räkelte. Auf einer halbrunden Sitzlandschaft aus dunkelbraunem Rattangeflecht lagen orange-gelbe Kissen verstreut, die perfekt zu dem kräftigen Kirschrot der Polster harmonierten.
     Ihr sehnsüchtigster Traum war wie durch ein Wunder in Erfüllung gegangen. Ihr Wunsch wurde sogar noch dadurch übertroffen, indem das Gewässer vollkommen auf ihrem Grundstück lag und von dichten Sträuchern und Hecken eingesäumt wurde. Noch immer konnte sie es nicht fassen, dass sie ihren eigenen See besaß.
     Nur eine Viertelstunde vom Palast der Königsfamilie von Turkeso entfernt erwarb sie mit dem Geld ihres unendlich reichen Vaters dieses abgeschiedene Anwesen. Es hatte buchstäblich auf sie gewartet.
     Bei weit geöffneten Türen blickte sie aus ihrem farbenfrohen Wintergarten über ihren eigenen kleinen See. Unmittelbar daran schloss sich eine ausgedehnte Rasenfläche an. Lediglich an der Hausfront entlang erstreckten sich niedrige Blumenbeete, deren leuchtende Blüten sich deutlich von der weißen Hauswand abhoben.
     Mit einem breiten Lächeln im Gesicht blickte Ella auf das sanft schwappende Wasser des kleinen Sees. Voller Besitzerstolz betrachtete sie das prachtvolle Juwel ihres neuen Reiches.
     Mitten in dem bläulich schimmernden Nass thronte ein schneeweißer Pavillon, der über riesige, viereckige und eng aneinander gereihte Steinplatten zu erreichen war. Wie kleine Flöße schwebten sie auf der glatten Wasseroberfläche und ersetzten einen herkömmlichen Steg.
     Ein glücklicher Jauchzer entrang sich ihrer Brust und ihr helles Lachen schallte ungehört durch die Luft. In diesem Augenblick fühlte sie sich wie im siebten Himmel. Ihr Verstand konnte es noch gar nicht vollständig begreifen, dass sie innerhalb weniger Minuten zu einer der reichsten Frauen geworden war.
     Amüsiert musterte sie das goldene Etikett der sündhaft teuren Champagnerflasche, die neben ihr auf einem niedrigen Glastisch bereitstand. Wer hätte das gedacht, dass einmal die kleine, schmächtige Taschendiebin, die mit allen Wassern gewaschen war, eines Tages die stolze Herrin über ein solch gewaltiges Imperium sein würde.
     Erneut lachte Ella laut auf. Mit Hochgenuss gab sie das Geld für all die Dinge aus, von denen sie ihr ganzes Leben lang nur geträumt hatte. Ihr gesamtes äußeres Erscheinungsbild hatte sie erfolgreich verändert. Seit kurzem schimmerten feine goldblonde Strähnchen in ihrem mittelbraunem Haar und brachten es zum Strahlen.
     Mit neuer Frisur und nach einem mehrstündigen Besuch bei einer äußerst versierten Kosmetikerin fühlte sie sich nun wie neu geboren. Ihre leicht veränderte Haarfarbe harmonierte perfekt zu dem warmen Braunton ihrer Kontaktlinsen, hinter denen sie ihre zweifarbigen Augen verbarg. Ihre frisch polierten Fingernägel schimmerten in einem zarten Rosaton und ein zartes Make-up hob ihre hohen Wangenknochen vorteilhaft hervor.
     Von Kopf bis Fuß hatte sie sich neu eingekleidet und ihre alte Kleidung komplett in den Müllcontainer geworfen. Viel hatte sie sowieso nicht besessen und von dem Wenigen trennte sie sich mit fröhlichem Herzen. Lediglich ihre umfangreiche Sammlung an Perücken und Schminkutensilien, die sie benötigte, wenn sie in andere Rollen schlüpfte, bewahrte sie in einem eigenen kleinen Lagerraum auf.
     Voller Besitzerstolz strich sie mit der flachen Hand über den Ärmel ihres neuen smaragdgrünen Pullovers aus kostbarem Cashmere. Das weiche Gewebe unter ihren Fingerspitzen erinnerte sie an das samtige Fell eines kleinen Kätzchens, das in ihrer Kindheit eine Zeitlang ihr einziger Spielkamerad gewesen war.
     Ellas Blick schweifte über ihre sehr schlanken Beine weiter nach unten. Die Seitennaht der nachtschwarzen Edeljeans war üppig mit winzigen, goldglänzenden Metallnieten verziert. Ihre zierlichen Füße steckten in bequemen Pumps, deren mattes Schwarz ebenfalls mit goldfarbenen Ornamenten geschmückt war. Sie wackelte genüsslich mit den Schuhspitzen. Gefühlt hatte sie die gesamte Boutique und das angrenzende Schuhgeschäft leer gekauft.
     Noch nie hatte sie sich derart großartig und attraktiv gefühlt wie in diesem Moment. An diesem frühen Abend war ihr dies jedoch besonders wichtig, da sie noch Besuch erwartete. Ihren ersten Gast in ihrem neuen Heim zu empfangen, versetzte sie in eine beinahe euphorische Stimmung.
     Schon drang das melodische Läuten ihrer Türklingel an ihr Ohr. Schwungvoll und mit bester Laune erhob sich Ella von ihrem Liegeplatz und steuerte zielstrebig die Haustüre an. Mit einem Ruck riss sie die weiße Tür auf und blickte erfreut in Kiras dunkle Augen.
     „Hallo Kira, es freut mich, dass wir uns endlich persönlich kennenlernen können.“ Fröhlich strahlte sie ihren Gast an und trat beiseite, um ihn eintreten zu lassen.
     „Guten Tag Ella, es freut mich ebenfalls, dass wir uns nun von Angesicht zu Angesicht sehen.“ Kira schenkte Ella eines ihrer seltenen freundlichen Lächeln.
     Keine der beiden Frauen ließ ihr Gegenüber erkennen, dass sie insgeheim über das Aussehen der anderen überrascht war. Wie zwei lauernde Katzen verfolgten sie jede Bewegung der anderen.
     Nachdem Ella ihren Gast zu der großen honiggelben Couch in ihrem Wohnzimmer geleitet hatte, nahmen die beiden Damen in diskretem Abstand voneinander ihre Sitzplätze ein. Mit übereinander geschlagenen Beinen musterten sie sich unauffällig gegenseitig.
     Elias Aufzeichnungen hatte Ella bereits entnommen, dass Kira für ihn arbeitete und eine überaus attraktive Erscheinung bot. Von ihrem raubtierhaften Auftreten, das wie üblich von ihrer schwarzen, hautengen Lederkleidung und von ihren wilden Haarstacheln besonders betont wurde, war sie dann doch etwas überrascht.
     Am meisten faszinierte Ella jedoch das winzige Tattoo auf Kiras Wange, das beim Sprechen plötzlich zum Leben erwachte. Noch niemals zuvor hatte sie ein Teufelsflügelchen mit einer solch filigranen Schwanzspitze gesehen und schon gar nicht im Gesicht einer schönen Frau.
     Kiras rauchige Stimme klang nahezu genauso wie in ihren Telefongesprächen, die die beiden Frauen im Vorfeld ihrer persönlichen Begegnung geführt hatten. Lebhaft konnte sie sich vorstellen, wie der aufregende Klang ihrer Stimme den Verstand von Männern reihenweise benebelte.
     Wie gebannt starrte Ella auf den friedlich schlummernden Teufelsflügel und konnte kaum ihren Blick davon abwenden. Sie wartete bereits darauf, dass er wieder zum Leben erwachte. Amüsiert verzog Kira ihre Mundwinkel zu einem leichten Grinsen, da ihr das intensive Mustern nicht verborgen blieb.
     Ruckartig riss sie sich von Kiras Anblick los und erinnerte sich wieder an den Grund ihres Zusammenkommens. Verlegen hüstelte Ella in ihre Hand, während sie sich ihres unhöflichen Starrens bewusst wurde. Dann fand sie ihre Stimme endlich wieder.
     „Also Kira, wir haben bereits am Telefon darüber gesprochen und ich freue mich sehr darüber, dass du ab sofort für mich arbeiten wirst.“ Freundlich blickte ihr Ella direkt in die dunklen Augen. Kira nickte bekräftigend, während ihre schwarzen Haarstacheln bei jeder Bewegung bedrohlich vibrierten.
     „Da du bereits für meinen Bruder gearbeitet hast, denke ich, dass wir diese Zusammenarbeit nahtlos fortführen können“, fügte Ella zuversichtlich an. Erneut nickte Kira zustimmend.
     „Aus unseren bisherigen Telefongesprächen schließe ich, dass wir uns gegenseitig helfen können, unsere persönlichen Ziele zu erreichen“, ergänzte Ella und frohlockte innerlich über die unverhoffte Unterstützung.
     „Ja, Ella, das denke ich auch und dass wir beide ein gutes Team abgeben werden“, stimmte ihr Kira zu, ohne eine Miene zu verziehen.
     „Da ich bereits damit beschäftigt bin, die Unterlagen meines Bruders zu studieren, werde ich schon sehr bald in der Lage sein, meine nächsten Schritte zu planen.“ Bei diesen Worten stahl sich ein listiges Lächeln auf Ellas Lippen.
     „Ich verfolge zwar ähnliche Ziele wie er, allerdings unterscheiden sich meine Methoden gravierend von den seinen. Anders als mein Bruder setze ich weniger auf Angriff und Verfolgung, sondern vielmehr auf List und Tücke …“, gab Ella unumwunden zu.
     „… und dabei rechne ich fest mit deiner Unterstützung, Kira“, fügte sie mit Nachdruck an.
     „Du kannst dich auf mich verlassen, vor allem auf meine Verschwiegenheit“, bestätigte Kira ernsthaft.
     „Gut, dann melde ich mich in den nächsten Tagen bei dir, sobald ich weiß, mit welcher konkreten Maßnahme ich beginnen werde“, antwortete Ella in Hochstimmung. Das lief ja alles wie geschmiert.
     „Dann freue ich mich auf eine gute Zusammenarbeit mit dir, Kira.“ Fröhlich grinste sie ihre neue Mitarbeiterin an.
     „Ja, dann auf eine gute Zusammenarbeit.“ Kiras dunkle Stimme klang ebenfalls erheitert.
     Nachdem die beiden Frauen mit Champagner auf ihre zukünftige Zusammenarbeit angestoßen hatten, tauschten sie noch für eine Viertelstunde belanglose Informationen aus. Anschließend verabschiedete sich Kira und zog sich wie eine geschmeidige Katze lautlos zurück.
     Hoch zufrieden mit dem Verlauf ihres persönlichen Treffens freute sich Ella über den gelungenen Auftakt ihrer Zusammenarbeit. Vom ersten Moment an beschloss sie, Kira in ein paar ihrer Geheimnisse einzuweihen. Normalerweise traute sie einer anderen Person keinen Millimeter über den Weg.
     Bei Kira lag der Fall jedoch anders. In ihr erkannte sie auf den ersten Blick eine Seelenverwandte, der das Erreichen ihrer individuellen Ziele ebenso wichtig war wie ihr selbst. Bei ihrem Arrangement profitierte jede von ihnen auf unterschiedlichste Art von der neuen Partnerschaft.
     Um den Erfolg versprechenden Auftakt ihres neuen Lebens in Alterra gebührend zu feiern, griff sie erneut zu ihrem Champagnerglas. In einem gierigen Schluck leerte sie das halbvolle Glas. Fröhlich pfiff sie eine Melodie vor sich hin, die sie erst vor Kurzem gehört hatte und ihr seither nicht mehr aus dem Ohr ging.
     Zum krönenden Abschluss des schönen Tages holte Ella die Briefe ihrer Mutter aus der goldenen Schatulle hervor, die sie extra zu deren Aufbewahrung erworben hatte. Wie kostbare Juwelen hütete sie die dicht beschriebenen Seiten des dünnen Briefpapiers, deren bedeutungsvoller Inhalt sie unverhofft nach Alterra geführt hatte.
     Inzwischen war es für sie zu einem vertrauten Ritual geworden, jeden Abend in den Briefseiten zu lesen. Immer wieder studierte sie die aufschlussreichen Sätze und konnte nicht davon genug bekommen.
     Allmählich bekam sie ein gutes Gespür für die sonderbaren Umstände, die sich um ihre heimliche Geburt rankten. Zugleich führte sie ihre Mutter Seite für Seite in die außergewöhnlichen Geheimnisse der drei herrschenden Familien in Alterra ein.
     Ausführlich erläuterte sie deren besondere Fähigkeiten und zeigte ihr ihre eigenen verwandtschaftlichen Beziehungen zum Hause Azuro und Lunara auf. Bei jeder Lektüre faszinierte sie diese mysteriöse neue Welt ein Stück mehr, zu der nun auch sie gehörte.
     An diesem Abend galt ihr besonderes Augenmerk einem kleinen Zettel, dessen Ränder ein eigentümliches, zackenartiges Muster aufwiesen. Sorgsam war die wichtige Botschaft mit einer silbernen Heftklammer an einer beschriebenen Briefpapierseite befestigt.
     Nur wenige Sätze enthielt das unscheinbare Stück Papier. Bedeutungsschwer hallten die Silben in ihrem Ohr. Wie hypnotisiert las sie die warnenden Worte der allerletzten Zeile immer wieder laut vor: „Geliebte Tochter, nimm dich in Acht vor dem verlockenden Geschenk der alten Götter!“

In Gedanken bei ihrem ersten persönlichen Treffen mit Ella trabte Kira in gleichmäßigen Schritten ihre Lieblingsstrecke entlang. Wie üblich ermöglichte ihr das morgendliche Laufen, in Ruhe ihre Gedanken zu sortieren.
     Elias unerwarteter Tod und das plötzliche Auftauchen seiner unbekannten Zwillingsschwester beschäftigten sie mehr, als ihr lieb war. Beides hatte sie ohne Vorwarnung aufs höchste überrascht. Zutiefst schockiert vernahm sie die Nachricht vom gewaltsamen Tod ihres undurchsichtigen Auftraggebers.
     Obwohl sie für ihn keinerlei freundschaftliche Gefühle hegte, die ein normales Maß der Zusammenarbeit überschritten, hatte sie sein plötzliches Ableben sehr getroffen. Vor allem, da er nicht freiwillig aus dem Leben geschieden war, sondern irgendjemand durch Gift dabei kräftig nachgeholfen hatte.
     Die seltsamen Umstände seines mysteriösen Todes beschäftigten sie über die Maßen. Wer profitierte von seinem plötzlichen Tod? Wer kam nah genug an ihn heran, um ihm ein tödliches Gift zu verabreichen?
     Zweifellos war er ein misstrauischer Mensch gewesen, der diese Seite an ihm geschickt durch ein unbeschwertes Auftreten zu kaschieren wusste. Umso mehr alarmierte sie die Tatsache, dass er in seinem eigenen Heim vergiftet worden war.
     Kannte sie eventuell sogar den Mörder, da auch sie in seinem Haus regelmäßig ein und aus gegangen war? Vermutlich. Sollte sie dieser Umstand beruhigen? Definitiv nein.
     Verwirrt nahm sie zur Kenntnis, dass zeitgleich auch seine Privatsekretärin von einer Stunde zur anderen verschwunden war. Wie vom Erdboden verschluckt tauchte sie nicht mehr auf. War das Zufall? Eher nicht.
     Seither zermarterte sie sich ihren Kopf darüber, wer wohl der kaltblütige Mörder sein könnte und ob es seine schüchterne Sekretärin war. Ab und zu hatte Elias Haushälterin die unbeholfene und scheue Art seiner neuen Privatsekretärin erwähnt. Insgeheim schloss sie niemanden von ihrer persönlichen Liste der Verdächtigen aus.
     Zu oft stellte sie bereits fest, dass weder Unsicherheit noch Schüchternheit halfen, um vor einem Mord zurückzuschrecken. Im Gegenteil, gerade diese Eigenschaften verleiteten manche labile Menschen zu spontanen Überreaktionen, die zu unerklärlichen Handlungen mit weitreichenden Konsequenzen führten.
     Nach ihrer Erfahrung wies die Verwendung von Gift eher auf eine Frau als Täterin hin als auf einen Mann. Da sie jedoch Elias Sekretärin nie persönlich zu Gesicht bekommen hatte, konnte sie nicht mit Sicherheit einschätzen, ob diese Frau in irgendeiner suspekten Verbindung zu dieser kaltblütigen Tat stand.
     In diesem Fall half ihr auch ihr unermüdliches Grübeln nicht weiter. Sehr sonderbar fand sie zudem, dass ausgerechnet nur wenige Tage später sich Elias Schwester bei ihr meldete. Von deren Existenz wusste sie absolut gar nichts.
     Nicht einmal ihre geheimen Recherchen hatten etwas Brauchbares ans Tageslicht gefördert. Sie war buchstäblich vom Himmel gefallen und unerwartet in ihr Leben geplatzt.
     Bei genauerer Betrachtung wusste sie sowieso kaum etwas über ihren bisherigen geheimnisvollen Auftraggeber, der es überaus geschickt verstand, seine wahre Identität zu verbergen. Umso verwunderter war sie, als sie nach dessen Tod erfuhr, dass er der heimliche Sohn des reichen und mächtigen Alexander Lunaras war. Erst dadurch kannte sie nun auch seinen wahren Namen, nachdem er sich ihr gegenüber lediglich mit „Desilva“ vorgestellt hatte.
     Welch seltsame Fügung des Schicksals es doch war. Ausgerechnet ihr angemietetes Häuschen gehörte ebenfalls zu den unzähligen Besitztümern des gigantischen Firmenimperiums, dem nun Ella vorstand.
     Demnach war sie nicht nur ihre neue Auftraggeberin, sondern auch ihre Vermieterin. Vermutlich wusste sie das selbst nicht einmal und Kira nahm sich fest vor, wohlweislich Stillschweigen darüber zu bewahren.
     Während sie darüber nachgrübelte, inwieweit Ella mit dem Giftmord an ihrem Bruder zu tun haben könnte, beschleunigte Kira unbewusst ihr Lauftempo. Ohne es zu wollen, beschäftigte ihre neue Arbeitgeberin intensiv ihre derzeitige Gedankenwelt.
     Die aktuelle Konstellation stellte in der Tat eine Premiere für sie dar. Für eine Frau hatte sie bisher noch nie gearbeitet. Mit ihrer Anstellung bei Ella betrat sie völliges Neuland. In gewisser Weise hatte dies aus ihrer Sicht jedoch einen gewissen Charme.
     Zwei Frauen arbeiteten auf eine ganz andere Art und Weise zusammen als eine Frau mit einem Mann. Aus persönlicher Erfahrung wusste sie, dass sie bei Männern ständig auf der Hut sein musste, um nicht Opfer deren lüsterner Blicke zu werden und am Ende des Tages nicht als weitere Trophäe an deren Bettpfosten zu enden.
     Elias aufkeimende Gier nach ihrem aufregenden Körper war ihr nicht entgangen. Sorgfältig hatte sie darauf geachtet, ihn auf Abstand zu halten. Einen wohl platzierten Kinnhaken zur Abwehr unliebsamer Annäherungsversuche hätte er ihr bestimmt nicht verziehen. Nun ja, dieses Problem hatte sich inzwischen auf sonderbare Art und Weise von selbst gelöst.
     Ihre Gedanken drifteten wie von selbst von Elias zu dem dunklen Krieger ab, der ihr mit seiner wilden Leidenschaft einige Nächte versüßt hatte. Obwohl sie es nicht wollte, drängte er sich immer wieder in ihre Gedanken und bescherte ihr ein heftiges Flattern in der Magengegend.
     Trotz aller Verdrängungs- und Abwehrmechanismen stahl er sich immer öfter in ihre sehnsuchtsvollen Träume. Ohne dass es ihr bisher bewusst gewesen war, erfüllte er den Großteil ihrer sehr hoch angesetzten Anforderungen. Nur ein männliches Exemplar, das ihre persönliche und anspruchsvolle Messlatte erreichte, würde sie in ihrer Nähe dulden.
     Energisch zog sie ihr Lauftempo noch ein klein wenig mehr an. Allmählich spürte sie ein leichtes Brennen in ihren Oberschenkeln. Ihr keuchender Atem produzierte kleine weiße Wölkchen in der kühlen Morgenluft. Das Laufen stellte für sie meist eine sichere Methode dar, ihren störenden Erinnerungen an azurblaue Augen zu entkommen. An diesem Tag war dies jedoch nicht der Fall.
     Um sich abzulenken, widmete sie sich der aufschlussreichen Analyse ihrer neuen Arbeitgeberin. Bei ihrem ersten persönlichen Treffen war sie überrascht, wie wenig Ähnlichkeit zwischen ihr und ihrem Bruder bestand. Lediglich das Braun ihrer Haare und die sanft geschwungene Nase erinnerten Kira an Elias Lunara.
     Im Gegensatz zu ihrem Bruder fehlte seiner Schwester die unbeschwerte Leichtigkeit, mit der er wie selbstverständlich durch sein Leben gewandelt war. Bei Ella drängte sich Kira der anhaltende Verdacht auf, dass sie bereits viele beschwerliche Tage in ihrem Leben gesehen hatte.
     Allerdings war ihr nicht verborgen geblieben, dass sie über denselben Charme wie ihr Bruder verfügte, sofern sie ihn zum Einsatz brachte. Voller Verblüffung hatte sie bereits beobachtet, dass Ella sehr wohl in der Lage war, einem Lichtschalter gleich ihren Charme nach Belieben an- und auszuknipsen.
     Irgendwie hatte sie bei ihr den Eindruck gewonnen, dass sie nicht gleichermaßen verschlossen war wie Elias. Dieser versorgte sie nur widerwillig mit spärlichen Informationen. Natürlich war sie felsenfest davon überzeugt, dass auch Ella ihre wahren und endgültigen Ziele vor ihr verheimlichte. Zum jetzigen Zeitpunkt ihrer gerade erst beginnenden Zusammenarbeit machte ihr das allerdings noch nichts aus.
     Instinktiv spürte Kira, dass sie in Ellas Nähe in der Lage war, ihre persönlichen Ziele zu erreichen. Erst vor Kurzem hatte sie diese neu ausgerichtet und angepasst.
     Im Prinzip war Ella wie Elias lediglich ein Mittel zum Zweck, das sie gewinnbringend für sich einsetzen wollte. In der Tat hatten sich ihre Ziele durch die Ereignisse in der jüngsten Vergangenheit verändert, und zwar sehr sogar.
     Plötzlich wollte sie mehr als bisher. Nur die gelungene Rache und die wohltuende Vergeltung am Mörder ihrer Schwester reichten ihr nicht mehr aus. Zu schnell war das berauschende Hochgefühl ihres Erfolges verflogen.
     Ihr innerer Vulkan war nur kurzzeitig erkaltet. Inzwischen brodelte er erneut. Ihre Prioritäten hatten sich verschoben, und zwar gewaltig. Nun wollte sie mehr. Sie wollte viel mehr. Alles oder nichts. So lautete ihr neues Leitmotiv. Endlich war sie bereit, alles dafür aufs Spiel zu setzen - sogar ihr eigenes Leben.

Der Maskenball

Völlig überwältigt bestaunte Alea das bunte Treiben in dem prachtvollen Ballsaal. Auf der großen Tanzfläche tummelten sich bereits viele farbenfroh gekleidete Paare. Die wunderschönen Kostüme erinnerten sie stark an die kunstvollen und aufwändig gestalteten Gewänder eines Karnevals in Venedig. Mit großen, glänzenden Augen bewunderte sie die breite Vielfalt der prächtigen und eleganten Ballroben.
     Beim Anblick der strahlenden Ballgäste, die sich begeistert im Takt zu den schwungvollen Klängen eines großen Tanzorchesters wiegten, bereute sie ihre Entscheidung für keine Sekunde. Bereitwillig ließ sie sich von der fröhlichen Atmosphäre einfangen und freute sich auf eine rauschende Ballnacht im Kreise ihrer Familie und Freunde.
     Besonders jubelte sie darüber, dass Matteo in weiblicher Begleitung an dem Ball teilnahm. Zu ihrer großen Freude erschien er mit ihrer besten Freundin Rebecca, mit der er sich soeben hingebungsvoll zum Walzertakt im Kreise drehte. Die beiden gaben wirklich ein schönes Paar ab und waren noch immer sehr verliebt ineinander.
     Immer wieder schmunzelte Alea darüber, wie schnell es ihm gelungen war, ihre wilde Freundin einzufangen. Seit ihrem Kennenlernen verschwendete Rebecca keine Blicke mehr an andere männliche Bewerber, die nach wie vor eifrig um ihre Gunst buhlten.
     Bereitwillig ließ sie sich auf das abwechslungsreiche Abenteuer mit ihm ein. Allerdings warf er auch seinen gesamten Charme in die Waagschale, um seine temperamentvolle Freundin bei Laune zu halten.
     Lächelnd beobachtete Alea das schmucke Paar, das sich ununterbrochen verliebte Blicke zuwarf. In der Tat hoben sie sich von der breiten Menge ab. Ihre elegante Kleidung leuchtete in einem strahlenden Azurblau, das um weiße Element ergänzt wurde.
     Matteos Anzug, der aus einer eleganten Hose und einem noblen, langen Gehrock bestand, schimmerte in einem glänzenden Jacquardmuster. Dazu trug er ein blütenweißes Hemd, dessen hoher Stehkragen mit einer ovalen, blauen Spange geschlossen wurde. Die Wahl seiner exquisiten Kleidung wies ihn zweifellos als enges Mitglied des Hauses Azuro aus.
     Rebeccas einfarbig blaues und knöchellanges Kleid lag wie eine zweite Haut an ihrem aufregenden und durchtrainierten Körper an. Ein hoher Schlitz erlaubte einen tiefen Einblick auf ihre endlos langen Beine. Ihr rotes Haar schimmerte im Schein der riesigen Kronleuchter wie flüssiges Kupfer.
     Beide trugen elegante, weiße Gesichtsmasken, die die Augenpartie bis zur Nase bedeckten. Schön geschwungene Federn in einem hellen Azurblau reckten sich am oberen Rand von Rebeccas Maske in die Höhe. Derselbe Federschmuck wiederholte sich an ihren schmalen Kleiderträgern.
     Ein zufriedenes Lächeln umspielte Aleas Mundwinkel beim Anblick des verliebten Paares, das sich während ihres hingebungsvollen Tanzes tief in die Augen blickte. Vergnügt drehte sie ihren Kopf zu Tajo, der an ihrer linken Seite saß und ihren Handrücken zärtlich streichelte.
     Wie Matteo trug er denselben azurblauen Anzug. Im Gegensatz zu seinem jüngeren Bruder bestach sein Hemd jedoch durch einen leuchtenden türkisfarbenen Ton. Der hochgeschlossene Kragen wurde ebenfalls mit einer ovalen, blauen Schnalle zusammengehalten. Wie ein lässiges Model aus einem Hochglanzmagazin lehnte er sich entspannt in seinem Stuhl zurück.
     Alea konnte sich an seiner beeindruckenden Erscheinung einfach nicht sattsehen. Seine dunkles Haar und der ausgefallene Gehrock verliehen ihm das Aussehen eines verwegenen und vornehmen Aristokraten, vor dem sich die Damenwelt in Acht nehmen sollte. Nur gut, dass sein Herz ganz allein ihr gehörte.
     Sie war nicht überrascht, als sie bemerkte, dass Tajo sie unablässig beobachtete, während sie sein attraktives Äußeres mit den Augen verschlang. Als sich ihre Blicke kreuzten, verzogen sich seine verführerischen Lippen zu einem glücklichen Lächeln.
     Seine leuchtenden Augen, die ihr aus den Sehschlitzen seiner blauen Maske entgegenstrahlten, verrieten ihr unmissverständlich, dass er sie in ihrem türkisfarbenen Kleid ebenfalls zum Anbeißen fand.
     Versonnen blickte er ihr in ihren ungewohnt tiefen Ausschnitt, um die vollen Rundungen ihrer Brüste ausgiebig zu bewundern. Durch das eng geschnürte Mieder wurden sie besonders betont, ebenso wie die schmale Taille des Kleides, das in einen weiten, gebauschten Rock auslief.
     Ein hauchzarter Spitzenstoff bedeckte ihre Arme und Schultern, an denen wie an ihrer türkisfarbenen Gesichtsmaske ein Meer aus kleinen, dichten Federn bei jeder ihrer Bewegungen leicht erzitterte. Ihre goldblonde Haarpracht fiel ihr in weichen Locken offen über ihren Rücken hinab. Wie eine leibhaftige Venus lockte sie ihn mit ihren weiblichen Reizen an.
     Ein weiterer Blickfang an ihr stellte an diesem Abend ihre farblich passende Halskette dar. Im Vorfeld hatte Tajo sie eindringlich dazu ermuntert, sie vor aller Augen zu tragen. Deswegen baumelte an einer edlen Goldkette ihr Anhänger mit dem Türkisstein und den gebogenen goldenen Sonnenstrahlen.
     Perfekt schmückte er ihr reizvolles Dekolleté und vervollständigte ihr elegantes Kleid. Niemals hätte sie es ohne seinen ermunternden Zuspruch gewagt, ihren Talisman als Schmuckstück offen zu tragen. Zu sehr war sie es seit ihrer Kindheit gewohnt, ihn unter ihrer Kleidung verborgen zu halten.
     Neben Tajo hatten sie auch ihre Eltern dazu ermutigt, ihn sichtbar an einer Kette zu tragen. An diesem Abend fühlten sie sich auf ihrem heimischem Terrain keinerlei drohenden Gefahren ausgesetzt.
     Trotz der großen Anzahl von Ballgästen wähnten sie sich in völliger Sicherheit. Zu ihrem Schutz hatten sich auch viele Mitarbeiter aus den Sicherheitsteams der drei herrschenden Häuser unter die bunte Menschenmenge gemischt.
     Von den wohlüberlegten Argumenten ihrer Eltern und ihres Liebsten ließ sie sich am Ende schließlich überzeugen. Stolz präsentierte sie ihren Talisman an diesem wunderbaren Abend zum ersten Mal in ihrem Leben als dekoratives Schmuckstück.
     Zugebenermaßen musste sie sich selbst eingestehen, dass er auf hervorragende Art und Weise ihr Kostüm vervollständigte. Ihre aufkeimenden Zweifel hatte sie energisch beiseitegeschoben und sich selbst als übervorsichtig bezeichnet.
     Was sollte auch schon an diesem Abend großartig passieren, an dem alle nur das gleiche im Sinn hatten. Nämlich ausgiebig feiern, tanzen und denjenigen zu gedenken, die nicht mehr unter ihnen weilten.
     In vollen Zügen genoss Alea die fröhliche Atmosphäre und die zärtlichen Berührungen ihres Liebsten, der an diesem Abend nur Augen für sie zu haben schien. Gelegentlich fing sie die zufriedenen Blicke ihrer Eltern ein, die sich den Nachbartisch mit Tajos Eltern sowie Alina und ihrem Gatten teilten. Wie sie selbst schienen auch sie den Abend ohne jegliche Reue zu genießen.
     Insgeheim gab Alea ihren Eltern recht. Die fröhliche Stimmung tat ihnen allen nach der bedrückenden Trauerphase sichtlich gut. Sie spürte förmlich, wie ihre gepeinigte Seele aufzublühen schien. Wie eine scheue Blume, die nach einem kalten Winter von den warmen Sonnenstrahlen geküsst wurde, wagte sie sich, aus dem dunklen Schatten ihrer Trauer ins Licht hinauszutreten.
     Pure Lebensfreude und ungebändigte Fröhlichkeit knisterte überall in der Luft. Die farbenfrohen Kostüme verwandelten den Saal in eine brodelnde Menge aus überschäumender Lebenslust.
     Zahlreiche festlich geschmückte Tischreihen boten ausgiebig Platz für die tanzhungrigen Ballgäste, die den prunkvollen Saal vollständig für sich eingenommen hatten. Ausgelassenes Gelächter schallte Alea aus jeder Richtung entgegen und zeugte von der überaus vergnügten Stimmung im Saal.
     Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie Matteo und Rebecca erhitzt die Tanzfläche verließen und sich zielstrebig ihrem Tisch näherten. Lachend ließ sich ihre Freundin auf ihrem Stuhl nieder, den ihr Matteo als wahrer Gentleman vornehm zurückgezogen hatte. Glücklich strahlte sie zuerst ihn und anschließend Alea an.
     „Wow, ist das ein schöner Abend und ich konnte es kaum erwarten, dass wir uns hier wiedersehen“, quietschte sie vergnügt und ihre grünen Augen blitzten dabei voller Freude.
     „Ihr habt aber auch einen prachtvollen Saal für einen solchen Ball“, stellte sie bewundernd fest und ließ ihre Augen über die benachbarten Tische schweifen. Sanft fuhr sie mit den Fingerspitzen über die blütenweiße Damastdecke ihres Tisches.
     Unzählige blaue Kerzen flackerten sanft in silbernen Haltern und wechselten sich mit üppigen Blumengestecken in den verschiedenen Blautönen ab. Passend zu den Tischgestecken schmückten riesige Blumenarrangements die Längsseiten des ausladenden Ballsaals.
     „Ja, das stimmt allerdings. Der Saal und das gesamte Gebäude machen schon etwas her. Aber ihr habt ja bisher nur den Tanzsaal gesehen“, bestätigte Matteo voller Stolz.
     „Nur den Tanzsaal? Was gibt es denn sonst noch außer dem prächtigen Saal?“ Erstaunt blickte Rebecca ihn erwartungsvoll an.
     „Auf vier Etagen können sich die Ballgäste nach Lust und Laune austoben“, erklärte er bereitwillig den beiden aufmerksam lauschenden Damen.
     „Auf der untersten Ebene befindet sich der große Ballsaal.“ Mit einer ausschweifenden Handbewegung zog er einen großen Halbkreis und ließ seinen Blick durch den halben Saal schweifen.
     „Zusätzlich ist im ersten Stock eine riesige Diskothek untergebracht. Zu wummernder Beatmusik tanzen dort meist die etwas jüngeren feiernden Gäste ab“, fügte er grinsend hinzu.
     „Im dritten Stock schließt sich das Restaurant an, das mit einem umfangreichen Buffet für Vor-, Haupt- und Nachspeisen aufwartet …“, ergänzte er und grinste noch eine Spur breiter.
     „… und ganz oben befindet sich ein exotischer Garten unter einer klaren Glaskuppel, durch die der glitzernde Sternenhimmel bewundert werden kann. Das ist das Reich für manches romantische Stelldichein …“ Mit einem frechen Augenzwinkern grinste er Alea fröhlich an.
     Wie ein übermütiger Lausbub lachte er danach seine hinreißende Angebetete an. Verliebt tätschelte er ihre Hand und schenkte Rebecca einen verheißungsvollen Blick. Aus feurigen Glutaugen signalisierte sie ihm stumm, dass sie sein verlockendes Angebot sehr wohl verstanden hatte.
     „Übrigens, weil wir gerade von Romantik sprechen …“, setzte Alea an und ihr Blick hing bereits an einem auffälligen Paar, das sich ausgelassen auf der Tanzfläche tummelte.
     „… schaut euch mal Luca und seine Tanzpartnerin an“, ergänzte sie und lächelte vergnügt, während sie unauffällig in Richtung der vollen Tanzfläche nickte.
     „Ist das Lucas Freundin oder Ehefrau?“ Mit einer diskreten Handbewegung deutete sie auf das beschwingte Tanzpaar. Tajos verwunderter Blick folgte sofort ihrer verhaltenen Geste.
     „Soweit ich weiß, hat Luca weder eine Ehefrau noch eine feste Freundin. Leider hat er bisher die Richtige noch nicht gefunden“, erklärte er und seine Neugier war nun ebenfalls erwacht. All ihre Blicke konzentrierten sich auf das hingebungsvoll tanzende Paar.
     In seinem hellen silbernen Gehrock und dem schneeweißen Hemd wirkte Luca völlig verändert. Seine Lippen zierte ein seliges Lächeln, mit dem er seine zierliche Tanzpartnerin ohne Unterlass bedachte. Seine schlichte silberfarbene Maske verbarg nur notdürftig seine groben Gesichtszüge. Noch nie zuvor hatte sie ihn derart gelöst und mit einem solch intensiven Lächeln gesehen.
     Sein prächtiger Anzug verstärkte seine verwandelte Aura und ließ ihn an diesem glanzvollen Abend weder bedrohlich noch düster erscheinen. Mit Erstaunen erkannte Alea, dass der Stehkragen seines Hemdes mit dem kleinen silbernen Amulett geschmückt war, das ihnen bereits mehrfach als Kompass diente.
     Verblüfft beobachtete sie Luca, der zweifellos im siebten Himmel schwebte. Mit einem glücklichen Lächeln wirbelte er seine anschmiegsame Tanzpartnerin hingebungsvoll über die Tanzfläche. Unbeschwert und fröhlich drehte er sich mit ihr unermüdlich im Kreis. Verwundert beobachtete Alea ihn, der wie ausgewechselt zu sein schien. Welch sonderbarer und seltener Anblick.
     „Es scheint, als ob sich sein Singledasein an diesem Abend ändern könnte. Seht nur, wie er die Dame in seinen Armen anstrahlt.“ Vergnügt kommentierte sie Lucas völlig verändertes Auftreten.
     „Da hast du allerdings recht, Alea. Wer hätte das gedacht, dass ihn eine grazile Kleopatra derart fesseln könnte.“ Tajos dunkle Stimme verriet seine Freude darüber, dass Lucas Einsamkeit eventuell ein baldiges Ende finden würde.
     Amüsiert betrachteten vier neugierige Augenpaare die zierliche Frau, mit der Luca ausgelassen über die Tanzfläche schwebte. Ihre kinnlangen, pechschwarzen Haare schmückten eine Vielzahl von goldenen Perlen, die raffiniert in die Spitzen eingeflochten worden waren.
     Ihr weißes, fließendes Kleid wurde von einem altägyptischen, kunstvoll gearbeiteten Gürtel umschlungen. Dazu passend trug sie eine breite Halskette mit bunten Steinen, ein goldenes Stirnband und lange Ohrringe baumelten von ihren zierlichen Ohrläppchen. Eine originalgetreue Kopie der schönen ägyptischen Königin Kleopatra lag hingebungsvoll in Lucas Armen.
     Schwarzer Kajal umrandete ihre glutvollen, nachtschwarzen Augen, aus denen sie Luca unentwegt anhimmelte. Trotz der weißen Maske war dies ohne Zweifel für ihre aufmerksamen Beobachter zu erkennen. Ihre blassroten Lippen zeigten ein verzücktes Lächeln, mit dem sie ihn förmlich anbetete. Die beiden gaben ein schönes Paar ab, das sich anscheinend zur gegenseitigen Freude endlich gefunden hatte.
     Forschend musterte Matteo die fremde junge Frau.
     „Wer mag wohl diese geheimnisvolle Kleopatra sein? Anscheinend hat sie es geschafft, Lucas Interesse voll und ganz zu wecken.“ Ein wohlwollendes Lächeln ließ seine freudige Miene erstrahlen. Wie sein Bruder wünschte er Luca, dass dieser endlich die Liebe seines Lebens finden würde.
     „Nun ja, ich wünsche ihm jedenfalls von ganzem Herzen, dass er auch sein Glück bei dieser Frau findet“, meinte Alea aufrichtig.
     „Auf jeden Fall scheint er, völlig vernarrt in sie zu sein“, meinte Rebecca mit einem breiten Schmunzeln im Gesicht.
     „So wie es aussieht, hat ihn Amors Pfeil gründlich getroffen und nicht nur gestreift“, ergänzte sie fröhlich.
     „Na ja, es sieht jedenfalls so aus, als ob sie beide Amors treffsicheren Schießkünsten zum Opfer gefallen sind“, lachte Matteo und griff die passende Wortwahl seiner Freundin auf.
     „Rein optisch geben sie ein schönes Paar ab“, stellte Rebecca zufrieden fest.
     „Jetzt muss sie nur noch ein netter Mensch sein, der ihn rundum glücklich macht“, ergänzte Matteo, ohne seine Augen von dem offensichtlich ineinander vernarrten Paar abzuwenden.
     „Das, was ich von ihr erkennen kann, macht auf mich auf den ersten Blick jedenfalls einen sehr sympathischen Eindruck“, stellte Alea fröhlich fest.
     „Ja, da stimme ich dir zu. Wer weiß, vielleicht stellt er sie uns ja irgendwann einmal vor“, meinte Matteo und beobachtete das glückliche Paar.
     „Das wäre schön. Allerdings sollten wir ihn nicht dazu drängen. Wenn er es will, soll er es von sich aus vorschlagen und sich nicht durch uns dazu gezwungen fühlen“, erwiderte Alea und schenkte Matteo einen bedeutsamen Blick.
     Seine wissbegierige Neugier kannte sie nur zu gut. An manchen Tagen ließ sie sich kaum in ihre Schranken verweisen. Ihre offenkundige Botschaft hatte er verstanden. Nachsichtig und zustimmend grinste er sie an.
     „Außerdem sollten wir nicht vergessen, dass sich das junge Paar gerade erst gefunden hat“, mahnte Tajo eindringlich zur Geduld.
     „Noch ist nicht klar, ob die geheimnisvolle Kleopatra tatsächlich seine neue feste Freundin sein wird“, versuchte er Matteo und Alea in ihrem wohlwollenden Eifer zu bremsen.
     „Na ja, wir meinen es ja nur gut mit ihm …“, setzte Matteo zu einer Erwiderung an. „… außerdem freuen wir uns einfach mit ihm.“
     Während seiner aufrichtigen Worte trommelte Rebecca mit ihren manikürten Fingern sacht auf der Tischdecke herum. Offensichtlich schien sie das Interesse an Luca und dessen neuer Flamme verloren zu haben.
     „Leute, ich will euch ja nicht bei eurem interessanten Beobachtungsposten stören. Aber wenn ich ehrlich bin, habe ich allmählich etwas Hunger.“ Wie zur Bestätigung ihrer Aussage knurrte ihr Magen laut und vernehmlich. Sofort richteten sich alle Blicke amüsiert auf sie.
     „Ich habe heute noch nicht viel gegessen“, fügte sie entschuldigend an und presste ihre Hand auf ihren flachen Bauch. Ein weiteres unüberhörbares Gurgeln bekräftigte sofort ihre Aussage. Lautes Gelächter folgte prompt als Antwort.
     „Na, wir wollen doch nicht, dass du uns verhungerst, meine Schöne.“ Liebevoll küsste Matteo sie auf die zarte Wange.
     „Dann gehen wir natürlich sofort ins Restaurant, um mein kleines Raubtier zu füttern, bevor es mich anfällt und zum Nachtisch verspeist.“
     Matteos breites Grinsen und unmissverständliches Augenzwinkern straften seine neckischen Worte Lügen. Anscheinend träumte er bereits davon, dass genau dieser Umstand eintrat und er als willige Nachspeise in den geschickten Händen seiner Angebeteten landete. Das ausgelassene Gelächter am Tisch verstärkte sich noch um eine Spur mehr.
     Nach einem verheißungsvollen Kuss auf seine Wange blickte Rebecca erwartungsvoll zu Alea und Tajo hinüber.
     „Geht ihr zum Essen mit oder habt ihr noch keinen Hunger?“ Fragend hob sie eine Augenbraue in die Höhe.
     „Doch, wir begleiten euch“, erwiderte Alea zustimmend, nachdem sie mit Tajo einen kurzen Blick gewechselt hatte. Seine stumme Botschaft war eindeutig. Auch er freute sich bereits auf das köstliche Buffet.
     Zielstrebig bahnten sie sich zu viert einen Weg durch die zahlreichen Tischreihen, bis sie bei dem prachtvollen Paternoster ankamen. In großen offenen Kabinen beförderte er die Ballgäste zu den verschiedenen Stockwerken. Mit glänzenden Augen bestaunten Alea und Rebecca den hochmodernen und dennoch altmodischen Aufzug.
     „Ui, mit einem Paternoster bin ich noch nie gefahren“, jubelte Rebecca begeistert.
     „Nun, dann wird es wohl Zeit dafür“, grinste Matteo breit und dirigierte seine Liebste bereits in Richtung der nächsten freien Plattform. Alea und Tajo folgten ihnen dicht auf den Fersen.
     Voller Bewunderung betrachtete Alea die geschmackvolle Ausstattung der großzügigen offenen Zellen. Die gediegenen Kabinen waren mit dunklen Holzvertäfelungen und exotischen Mosaikspiegeln ausgekleidet. Ungefähr acht Personen konnten sie gleichzeitig aufnehmen und transportieren.
     Auf der linken Seite schwebten die Gäste in gemütlichem Tempo in die Höhe und auf der rechten Seite ein Stockwerk tiefer. Direkt daneben führte eine breite Tür in das geräumige Treppenhaus. Meist wurde es von besonders eiligen Ballbesuchern genutzt oder von denjenigen, die den unvergleichlichen Flair des Paternosters bereits ausgiebig genossen hatten.
     Kaum dass Alea als Letzte den offenen Aufzug betreten hatte, schoben sich in letzter Minute zwei fremde Damen hinterher. Laut lachend drängten sie sich in gebührendem Abstand neben ihrer Viergruppe an die Wand. Verstohlen musterte die Größere der beiden unter halb geschlossenen Augenlidern Tajos gut geschnittenes Profil.
     Ihre glatte strohblonde Haarmähne fiel ihr bis auf ihre Schultern hinab. Zu einem eng geschnürten Kleid, das ihr nur bis zur Mitte ihrer Oberschenkel reichte, trug sie einen wadenlangen, offenen Mantel in einem intensiven Himmelblau.
     Die üppigen Rüschen ihres weißen Oberteils quollen über den Mantelkragen hervor. Mit ihren blassblauen Augen taxierte sie Tajos männlich elegante Erscheinung und schien dabei keinen einzigen Zentimeter seines muskulösen Körpers auszulassen.
     Ihre lebhafte Begleiterin steckte in einem bodenlangen, pastellgelben Kleid im typischen Barockstil. Ihre beinahe weiße Perücke ähnelte einem Turm, der ständig um sein Gleichgewicht kämpfte. Glänzende weiße Masken verbargen die oberen Gesichtshälften der beiden Damen und entblößten lediglich stark geschminkte Lippen.
     Ungeniert plauderten sie weiter, als ob sich keine weiteren Zuhörer neben ihnen in der Kabine befanden. Die unfreiwilligen Lauscher sahen sich gezwungen, deren laut geführte Unterhaltung mitzuverfolgen, während der Paternoster sie gemächlich zwei Stockwerke höher brachte. Ohne Zweifel unterhielten sie sich die beiden Frauen über eine weitere Ballbesucherin.
     „Hast du das Kostüm von Laura gesehen? Sie sieht heute aus wie ein weiblicher Lucifer. Es fehlen nur noch die feuerroten Hörner in ihrem Haar …“, lästerte die Barockdame hemmungslos und kicherte lauthals.
     „… und ihr unanständig enges Kleid betont ihre prallen Hinterbacken. Damit könnte sie schon fast Nüsse knacken“, meinte sie und ihre aufwallenden Neidgefühle waren aus ihrer Stimme deutlich herauszuhören.
     Unbemerkt war Aleas Gruppe ein Stück näher zusammengerückt, um den Abstand zu den beiden Damen zu vergrößern. Sie fühlten sich sichtlich unwohl.
     „Stell dir vor, sie hat mich doch tatsächlich gefragt, ob ich ihr aus dem Weg gehen würde …“, fügte die Barockdame mit gespielter Entrüstung an.
     „… dabei umkreise ich sie doch nur großräumig.“ Erneut war ihr lautes Kichern zu hören.
     „Für ihre verbalen Ausrutscher und Eskapaden braucht man schon gute Nerven“, meinte sie und rollte demonstrativ mit den Augen.
     „Mit Leichtigkeit gelingt es ihr, einen Fauxpas nach dem anderen zu begehen“, lästerte sie ungeniert weiter.
     „In meinen Augen ist sie die reinste Fettnäpfchensuchmaschine“, gab sie ihre Meinung unverhohlen kund.
     „Auch die Dates mit ihr müssen der reinste Alptraum sein. Sie starrt nur auf ihr Handy und spricht fast ausschließlich in Hashtags.“ Mit rollenden Augen schüttelte sie missbilligend ihren Kopf.
     Während der unerquicklichen Unterhaltung musterten Tajo und Alea intensiv die Decke, als ob sie dort ein besonders interessantes Muster entdeckt hätten. Ohne Unterlass ging das lästerhafte Geschnatter neben ihnen gnadenlos weiter.
     „Heute Abend ist sie anscheinend sowieso nicht bei bester Laune …“, fuhr die Barockdame mit nörgelnder Stimme fort.
     „Nun ja, jedenfalls strahlt sie nicht gerade Sonnenschein oder einen Regenbogen aus“, stellte sie entschieden fest.
     „Offenbar hat ihr letzter Lover Schluss mit ihr gemacht …“ Vielsagend wiegte sie ihre aufgebauschte Perücke vorsichtig hin und her. Aus den Augenwinkeln beobachtete Alea, wie das hohe Gebilde gefährlich zu schwanken begann.
     „Wie ich von ihr gehört habe, muss der anscheinend ausgezeichnet küssen können …“ Ein gackerndes Lachen folgte hinterher.
     „Sie meinte, falls seine Küsse töten könnten, wäre bereits eine ganze Kleinstadt entvölkert worden.“ Glucksend wedelte sie geziert mit ihrer rechten Hand.
     „Da ich gerne surfe, würde ich für mein Leben gerne einmal auf der Zunge ihres gut küssenden Ex-Lovers surfen.“ Laut lachte sie über ihren eigenen Kommentar, während ihre Gesprächspartnerin ihr nur stumm zuhörte.
     Inzwischen wandten Matteo und Rebecca den beiden Damen demonstrativ den Rücken zu. Um Ernsthaftigkeit bemüht verbissen sie sich ein schallendes Gelächter.
     „Du glaubst es nicht, aber sie hat mich doch tatsächlich gefragt, was sie tun soll, um ihn zurückzugewinnen“, plapperte die überaus mitteilsame Dame weiter
     „Ich habe ihr geantwortet, dass sie doch das tun soll, was sie am besten kann, nämlich nichts.“ Laut lachte sie über ihren wenig wertschätzenden Ratschlag.
     „Und stell dir nur vor, sie trinkt den ganzen Abend nur gewöhnlichen Sekt, so eine schnöde Tussibrause …“, zog sie über die abwesende Dame weiter her.
     Im selben Moment erreichte glücklicherweise ihre Aufzugskabine das Restaurant. Mit eiligen Schritten entschwebten die beiden hungrigen Damen in Richtung des üppigen Vorspeisenbuffets.
     Mit einem hörbaren Seufzer stieg Alea aus dem Paternoster aus. Vom ungewollten Zuhören war sie innerlich bereits vor Verlegenheit rot geworden. Am liebsten hätte sie sich während der aufdringlichen und derben Unterhaltung in ein Mauseloch verkrochen.
     Direkt neben sich hörte sie Rebecca und Matteo laut lachen.
     „Also, wenn du so eine Frau zur Freundin hast, brauchst du keine Feinde mehr“, stellte Rebecca glucksend fest.
     „In der Tat, die scharfe Zunge dieser Dame könnte mühelos jedes Blatt Papier durchschneiden“, kommentierte Matteo das unfreiwillig belauschte Gespräch.
     Unauffällig spähte Alea den geschwind enteilenden Damen hinterher, um deren Ziel zu identifizieren. Keinesfalls wollte sie dieselbe Richtung einschlagen, um die schier endlosen Reihen des Buffets in Augenschein zu nehmen.
     Inzwischen war der Abstand ausreichend groß, sodass ihr die leise Anmerkung der lästernden Dame entging. Diese warf einen verstohlenen Blick über ihre Schulter, um Alea ein letztes Mal heimlich zu mustern.
     Mit gedämpfter Stimme sagte sie zu ihrer hochgewachsenen Freundin: „Und, habe ich meine Aufgabe gut erfüllt? War die Ablenkung ausreichend?“
     Die Angesprochene nickte bekräftigend. „Ja, ich habe alles gesehen, was ich sehen wollte.“ Flink enteilten die Damen aus dem Sichtfeld.
     Voller Bewunderung musterte Alea die unzähligen Köstlichkeiten des kunstvoll arrangierten Buffets. Die nicht mehr zählbare Menge an erlesenen Vor- und Nachspeisen waren in großen pyramidenförmigen Aufbauten angeordnet. Neben exquisiten Speisen boten sie zusätzlich einen wahren Augenschmaus.
     An den wundervoll garnierten Leckereien konnte sie sich kaum sattsehen. Mit leuchtenden Farben lockten sie die hungrigen Ballgäste an und ein köstlicher Duft schwebte in der Luft.
     Am Hauptspeisenbuffet erfüllten weiß gekleidete Köche die Wünsche der hungrigen Schar, die sich dicht vor den dampfenden Schüsseln und Schalen drängte. Elegant dekorierte, runde Tische luden zum Verweilen ein, um in Ruhe die auserwählten Köstlichkeiten zu verzehren.
     An der Stirnseite des Raumes blitzte das Glas von unzähligen auf Hochglanz polierten Spiegeln auf, in denen sich ein farbiges Meer aus unterschiedlichen Flaschen spiegelte. Auf der glänzenden Bartheke stand eine ganze Armee an bereits gefüllten Gläsern bereit, um den Durst der Ballgäste zu löschen.
     Am Rand des Essbereichs luden kleine Nischen aus silberglänzenden Stehtischen und hohen Grünpflanzen zum stillen Genießen ein. Diese kleinen Ruhezonen boten die Gelegenheit, sich vor neugierigen Blicken zurückzuziehen, um die prachtvolle Darbietung der erlesenen Speisen auf sich wirken zu lassen.
     Das warme Licht der glitzernden Kronleuchter brach sich in sämtlichen Spiegeln und verchromten Teilen, sodass der gesamte Raum wie ein überdimensionales Mosaik zu funkeln schien.
     Überwältigt betrachtete Alea die riesige Vielfalt der dargebotenen Genüsse. Allein schon bei deren Anblick spürte sie, wie ihr das Wasser bereits im Mund zusammenlief.
     Wie sollte sie sich bloß bei diesem schier unerschöpflichen Angebot nur für eine kleine Auswahl an Leckerbissen entscheiden? Am liebsten hätte sie von jeder kulinarischen Schleckerei ein kleines Häppchen probiert, was jedoch vollkommen unmöglich war.
     „Wow, ist das eine riesige Auswahl. Da weiß ich gar nicht, für was ich mich entscheiden soll.“ Mit diesen wenigen Worten brachte Rebecca die Lage auf den Punkt. Ihr erging es in Anbetracht der unzähligen Köstlichkeiten ebenso wie Alea.
     „Bei diesem grandiosen Anblick könnte ich doch glatt das Tanzen vergessen und mich den ganzen Abend am Buffet vergnügen“, frohlockte Rebecca, während sich ihr hungriger Magen ein weiteres Mal mit einem unüberhörbaren Knurren in Erinnerung brachte.
     Matteo und Tajo lachten verschmitzt. Mit genau dieser Reaktion hatten sie bereits gerechnet. Allein schon für das intensive Studium und Genießen der voll beladenen Platten und Schalen könnten sie mehrere Stunden zubringen. Erfreut strahlten sie ihre beiden Damen an.
     „Vielleicht sollten wir uns zuerst in eine der grünen Nischen zurückziehen, bevor wir eine konkrete Auswahl aus der großen Vielfalt der Speisen treffen“, schlug Matteo vor.
     Dabei deutete er auf einen freien Stehtisch in ihrer unmittelbarer Nähe, der von mehreren hohen, palmenartigen Grünpflanzen eingerahmt wurde. Wie eine kleine schützende Insel lud er zum Verweilen ein.
     Beinahe gleichzeitig nickten Alea und Rebecca. „Das ist eine gute Idee“, sagte Alea laut und stimmte Matteos Vorschlag sofort zu.
     „Wir Jungs können ja schon mal die Getränke holen, während ihr den Stehtisch in Beschlag nehmt“, bot Matteo mit einem fröhlichen Grinsen an. Sein erhobener Zeigefinger wies in die Richtung der riesigen Bar.
     „Ja, das ist prima“, antwortete Rebecca und nickte erfreut.
     „Für mich bitte ein Glas Sekt. Oder sollte ich besser sagen ein Glas Tussibrause“, ergänzte sie und zwinkerte Matteo vergnügt zu.
     „Für mich bitte nur ein Glas Orangensaft. Ich kann nicht den ganzen Abend nur Alkohol trinken, denn dann schlafe ich bald ein“, erwiderte Alea mit einem entschuldigenden Lächeln.
     „Ach ja, ich weiß. Alkohol übt dieselbe Wirkung auf dich aus wie ein Schlafmittel“, stellte Rebecca grinsend fest und tätschelte ihre Freundin nachsichtig am Oberarm.
     „Ja, das stimmt leider und diesen Zustand will ich tunlichst vermeiden. Schließlich will ich den Abend genießen und nicht verschlafen“, erwiderte Alea und lachte fröhlich.
     Wie von ihrer Mutter prophezeit, tat ihr der unbeschwerte Trubel um sie herum sichtlich gut. Nur noch ab und zu drifteten ihre Gedanken zu André ab. Jedoch verursachten sie zumindest an diesem schönen Abend nicht die sonst übliche düstere Trauer.
     Mit einem breiten Grinsen zogen die beiden Brüder ab, allerdings nicht ohne vorher noch einen zarten Kuss auf die Wange ihrer Liebsten zu hauchen. Zielstrebig stürzten sie sich in das Getümmel, um die Bar zu erobern.
     Währenddessen lehnten sich Rebecca und Alea entspannt und ungezwungen an den freien Stehtisch an. Das dunkle Grün der hohen Pflanzen verdeckte sie weitestgehend vor neugierigen Blicken.
     Gedankenverloren beobachtete Alea die sanft flackernde Flamme der blauen Tischkerze, während Rebecca sie dabei aufmerksam beobachtete. Ohne einen weiteren Blick auf die hohen Berge an bunten und verführerischen Speisen zu werfen, trommelte sie lautlos mit ihren Fingern gegen den weißen Überzug des Stehtisches. Da sie nun mit ihrer Freundin allein war, konnte sie ihre brennende Neugier nicht mehr zügeln.
     „Alea, ist zwischen dir und Tajo wieder alles in Ordnung?“, erkundigte sie sich leise in mitfühlendem Ton.
     Die nervenaufreibenden Geschehnisse der letzten Wochen hatten sie aufs höchste beunruhigt. Ausführlich hatte Matteo ihr Bericht erstattet und keine Einzelheit ausgelassen.
     „Ja, es hat zwar bei mir etwas gedauert, bis ich ihm verzeihen konnte, aber jetzt ist alles wieder im Lot.“ Ein glückliches Lächeln schlich sich auf ihre Lippen und brachten das leuchtende Türkis ihrer Augen zum Strahlen.
     „Na, dann bin ich aber froh darüber. Ihr beide seid schließlich füreinander bestimmt.“ Liebevoll zog sie Alea in eine freundschaftliche Umarmung.
     „Ich hätte es zutiefst bedauert, wenn ihr nicht mehr zueinander gefunden hättet.“ Bei diesen Worten fuhr sie Alea sanft über den Oberarm, die zustimmend nickte.
     „Ohne den anderen wäre keiner von uns glücklich geworden“, gab sie unumwunden zu, nachdem sie sich aus der lockeren Umarmung gelöst hatte.
     „Tajo ist jede Mühe wert, um sich wieder mit ihm zu versöhnen, unabhängig davon, was alles passiert ist.“ Glücklich strahlte sie Rebecca an.
     „Na ja, du bist aber auch jede Mühe wert. Tajo kann sich glücklich schätzen, dass er dein Herz erobert hat“, stellte Rebecca im Brustton der Überzeugung klar. Fröhlich lachte sie Alea an, während sie übermütig an den feinen Blättern des kleinen Tischgestecks zupfte.
     „Der Abend ist so schön und was stellen wir heute noch alles an?“, fragte Rebecca mit blitzenden Augen unternehmungslustig.
     „Tja, ich werde mich nachher erst einmal intensiv den Annehmlichkeiten des köstlichen Buffets widmen“, antwortete Alea prompt und schielte bereits sehnsüchtig zu der gewaltigen Pyramide der Vorspeisen hinüber. Rebecca lachte gut gelaunt.
     „Da schließe ich mich an und ein Besuch in der Glaskuppel steht ebenfalls auf meinem Programm.“ Bedeutungsvoll wackelte sie mit den Augenbrauen.
     „Allerdings möchte ich mich vor dem Sturm auf das leckere Buffet noch kurz frisch machen“, erwiderte Rebecca und suchte bereits mit den Augen nach der Beschilderung zu den Sanitärräumen.
     „Kann ich dich für einen kurzen Moment allein lassen, Alea?“, fragte sie ihre Freundin fürsorglich.
     „Aber natürlich. Warum denn nicht? Was soll mir bei diesen vielen Menschen schon passieren?“, fragte Alea grinsend und wedelte mit ihrer Hand, als ob sie ihre Freundin damit verscheuchen wollte.
     „Gut, dann verschwinde ich schnell und beeile mich.“ Schon setzte sich Rebecca in Bewegung und steuerte die Richtung hinter ihrer grünen Nische an.
     Völlig ungeniert beäugte Alea die unzähligen süßen Verlockungen, die am Nachspeisenbuffet in mehreren Etagen übereinander den Betrachter zum Träumen brachten. Oh ja, hier würde sie sich auf jeden Fall ausgiebig bedienen.
     Während sie ihren Blick über die Unmengen an kalorienreichen Schleckereien gleiten ließ, bemerkte sie plötzlich einen himmelblauen Schatten, der sich ihr flink von der Seite her näherte.
     Überrascht starrte sie in das Gesicht mit den blassblauen Augen, das im Paternoster direkt neben ihr gestanden war. Die hochgewachsene Dame mit dem strohblonden Haar baute sich direkt ihr gegenüber auf. In einem maliziösen Lächeln entblößte sie ihre makellos weißen Zähne. Mit dem Rücken zur Raummitte versperrte die Blondine Alea die Sicht.
     Irritiert blinzelte sie die ungebetene Besucherin an. Alea spürte, wie ihr im selben Moment ein eiskalter Schauer über den Rücken lief. Am liebsten wäre sie mit gerafften Röcken und wehenden Haaren auf der Stelle davongelaufen. Es ging eine unterschwellige Bedrohung von ihrem Gegenüber aus, die sie ungewollt erzittern ließ. Was wollte die aufdringliche Dame nur von ihr?
     „Hallo, ich bin Lisa“, stellte sich die Blondine ungeniert vor und versuchte sich an einem höflichen Lächeln. Leicht verstimmt blinzelte Alea sie an.
     „Hallo“, erwiderte sie gezwungenermaßen, ohne ihren eigenen Namen zu nennen. Die blassblauen Augen taxierten den Ausschnitt ihres Kleides wie unter einem Mikroskop. In diesem Moment fühlte sich Alea nackt und schutzlos.
     „Schon im Aufzug ist mir dein wunderschönes Kleid aufgefallen …“, versuchte sich ihre Besucherin an einer belanglosen Konversation.
     „… und diese Halskette passt perfekt dazu.“
     Instinktiv griff sich Alea an den Hals. Unter ihren Fingerspitzen fühlte sie das kühle Metall ihres Anhängers. Beruhigt ließ sie ihre Hand wieder sinken.
     „Kann ich mir den mal näher ansehen?“, fragte die aufdringliche Blondine und beugte sich bereits mit dem Oberkörper über den Stehtisch.
     Unangenehm berührt von ihrer bedrängenden Art bewegte sich Alea automatisch einen Schritt zurück. Sie spürte bereits den sanften Druck der ausladenden Zweige der Grünpflanze in ihrem Rücken.
     In diesem Moment fühlte sie sich wie ein Kaninchen, das in die Enge getrieben worden war. Hektisch versuchte sie, an der Dame vorbeizuschielen, um Ausschau nach Tajo und Matteo zu halten. Insgeheim hoffte sie, dass ihre Retter jede Sekunde um die Ecke bogen und sie von der unerwünschten Besucherin erlösten. Ihr Wunsch ging jedoch nicht in Erfüllung.
     Stattdessen griff die aufdringliche Person blitzschnell in die Innentasche ihres langen himmelblauen Mantels und zog ein schmales Messer hervor. Verblüfft starrte Alea auf die dünne Spitze der dolchartigen Waffe. Im ersten Moment hielt sie die zierliche Stichwaffe für eine Attrappe und ein schmückendes Beiwerk, das zum Kostüm gehörte.
     In Windeseile wurde sie eines Besseren belehrt. Geschickt fädelte ihr Gegenüber die scharfe Spitze des Dolchs in ihre Halskette ein, sodass Aleas Anhänger am kalten Stahl der Waffe zu kleben schien. Ein kurzer kräftiger Ruck würde ausreichen, um ihn von ihrem Hals zu reißen.
     Vor Schreck setzte Alea einen weiteren Schritt nach hinten, um den Abstand zu ihrer Angreiferin zu vergrößern. Deutlich spürte sie das Kratzen der Palmenzweige in ihrem Rücken und wie sich ihre goldene Kette spannte.
     Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihr bedrohliches Gegenüber an. Fieberhaft suchte sie nach einem Ausweg. Ihr Puls raste. Ihre Gedanken überschlugen sich. Wie konnte sie nur ihren Anhänger schützen? Ein gehässiges, schadenfrohes Lachen drang an ihr Ohr.
     „Nach hinten geht es nicht mehr weiter, meine Liebe.“ Die dunkle Stimme ihrer Angreiferin triefte vor Spott.
     Durch eine kaum wahrnehmbare Veränderung ihrer Handhaltung ritzte sie an Aleas makelloser Haut. Ein winziger Blutstropfen quoll hervor und hob sich in einem leuchtenden Rot von ihrer elfenbeinfarbenen Haut ab.
     Entsetzt starrte Alea der Fremden direkt in die Augen. Ihre weiße Gesichtsmaske verschleierte ihr Antlitz weitestgehend. Die blassblauen Augen musterten sie eiskalt. Dieser eine Blick in die Augen der fremden Frau reichten ihr völlig aus, um die offen zur Schau gestellte Gier darin zu erkennen. Von einer Sekunde zur nächsten erstarrte Alea zur Salzsäule.
     „Keine falsche Bewegung, meine Süße“, zischte die Blondine bösartig. Hilflos hob sie beide Hände empor.
     „Ansonsten durchtrenne ich nicht nur die Halskette, sondern auch deinen hübschen Hals.“ Bei diesen drohenden Worten lief es Alea kalt über den Rücken. Für keine Sekunde zweifelte sie an der Ernsthaftigkeit ihrer Gegnerin.
     Verzweifelt schloss sie die Augen. Insgeheim erwartete sie bereits den Ruck, mit dem ihre Halskette abgerissen werden würde. Innerlich schalt sie sich selbst, weshalb sie nicht auf ihre Zweifel gehört und auf das offensichtliche Tragen ihres Talismans verzichtet hatte. Ausgerechnet bei diesem wundervollen Maskenball würde sie ihr kostbares Erbstück verlieren.
     Plötzlich hörte sie ein lautes Rumpeln. In derselben Sekunde spürte sie, wie die Spannung an ihrem Hals nachließ. Vorsichtig öffnete sie die Augen. Reflexartig griff sie nach ihrem Anhänger, der noch immer in ihrem Ausschnitt baumelte.
     Verdutzt verfolgte sie, wie sich die Fremde hektisch auf die Beine rappelte und in Windeseile in der Menschenmenge verschwand. Mit zu Fäusten geballten Händen stand Rebecca wie eine gnadenlose Rachegöttin vor ihr und lachte triumphierend.
     „Was ist … geschehen?“, stammelte Alea und betrachtete verwundert ihre kämpferische Freundin.
     „Oh, nicht viel. Ich habe ihr nur einen kräftigen Rempler und einen groben Hieb in die Rippen verpasst, sodass sie das Gleichgewicht verloren hat“, antwortete Rebecca grimmig. Sorgenvoll betrachtete sie Aleas Ausschnitt mitsamt dem Anhänger, der völlig unversehrt auf ihrer hellen Haut lag.
     „Bist du verletzt, Alea?“ Rebeccas forschender Blick untersuchte bereits jeden Zentimeter ihrer unbedeckten Haut.
     „Nnein, … sie wollte nur … meinen Anhänger“, stammelte Alea und griff erneut nach ihrem Talisman.
     Wie betäubt lehnte sie sich um Halt suchend an den Stehtisch. Sie konnte es noch gar nicht glauben, dass sie vor aller Augen gerade von einer dreisten Diebin überfallen worden war.
     Unvermittelt drang Tajos vertraute Stimme an ihr Ohr. Mit einem Blick erfasste er die Situation. Sofort erkannte er Aleas ängstliche Verwirrung und Rebeccas kämpferischen Gesichtsausdruck. Flink stellte er die Gläser auf dem Tisch ab, während er Alea eingehend von Kopf bis Fuß begutachtete.
     „Was ist passiert?“, fragte er alarmiert und sein Blick wechselte ständig zwischen Rebecca und Alea hin und her.
     „Oh, die Blondine aus dem Aufzug hat versucht, Aleas Anhänger zu stehlen“, antwortete Rebecca ihm prompt.
     „Was?“, rief Matteo entsetzt aus, der eingehend Aleas blasses Gesicht musterte.
     „Ja, es stimmt. Sie hat mir ein Messer an die Kehle gehalten und wollte mir damit den Anhänger vom Hals reißen“, bestätigte Alea verunsichert. Ihre Augen huschten unruhig hin und her, als ob sie jeden Moment mit einem zweiten Angriff rechnen würde.
     „Das darf doch nicht wahr sein! Nicht einmal hier sind wir in Sicherheit!“, schimpfte Matteo ungehalten und sein zorniger Blick sprach Bände.
     Besorgt zog Tajo Alea in seine Arme. Schützend hielt er sie dicht an seine breite Brust gedrückt. Nie im Leben hätte er damit gerechnet, dass sie ausgerechnet an diesem Abend in Gefahr schweben könnte. Irritiert schüttelte er den Kopf. Behutsam schob er sie ein kleines Stück von sich, um ihr direkt in die Augen sehen zu können.
     „Bist du auch wirklich unverletzt Alea?“ In seiner Stimme schwang seine ganze Besorgnis mit.
     „Ja, mir geht es gut. Dank dem beherzten Eingreifen von Rebecca ist weder mir noch meinem Talisman etwas passiert“, bestätigte sie, während sie spürte, wie ihre innere Anspannung allmählich nachließ. Dankbar tätschelte sie ihre Freundin am Unterarm.
     Tajos forschender Blick ruhte unablässig auf ihr. Sein Kiefermuskel zuckte verdächtig. Nur mit Mühe konnte er seinen Ärger und seine wütende Erregung vor ihr verbergen. In Gedanken wiederholte er nochmals die wenigen Fakten, die er soeben über die dreiste Angreiferin erfahren hatte.
     „Und ihr sagt, dass es die Blondine aus dem Aufzug gewesen ist?“, fragte er lauernd, um sich nochmals zu vergewissern. Deutlich trat seine Zornesfalte zwischen seinen zusammengezogenen Augenbrauen hervor.
     „Ja, sie war es. Allerdings war sie allein, ohne ihre mitteilsame Freundin“, beantwortete Rebecca seine Frage prompt.
     „Daran gibt es nicht den geringsten Zweifel“, ergänzte sie bestimmt.
     „Wieso fragst du?“, wollte sie wissen und starrte ihn dabei argwöhnisch an.
     Nachdenklich blickte Tajo schweigend von Alea über Rebecca zu Matteo und wieder zurück. Eine tiefe Sorgenfalte stahl sich auf seine gerunzelte Stirn.
     „Hm. Als wir mit unseren Getränken auf dem Rückweg waren, wurde ich genau von dieser strohblonden Lady unsanft angerempelt“, erklärte er und sein tiefes Misstrauen war nicht zu überhören.
     „Um ein Haar hätte ich beinahe den Inhalt der Gläser verschüttet“, brummte er missbilligend und bedachte Alea mit einem nachdenklichen Blick.
     „Bei dem Zusammenstoß habe ich mir noch nichts dabei gedacht. Das kann ja in dem dichten Getümmel schon einmal aus Unachtsamkeit passieren“, meinte er misstrauisch.
     „Aber wie ein Zufall kommt es mir nun nicht mehr vor, nachdem sie versuchte, den Anhänger zu stehlen.“ Seine Miene verfinsterte sich zusehends.
     „Außerdem fühlte es sich bei ihrem Aufprall an, als ob sie an meiner Jackentasche herumgefummelt hätte“, ergänzte er und fixierte mit seinem Blick seinen ernsten Bruder. Auch Matteo war durch den Vorfall das Lachen vergangen.
     „Gut, ich kann mir das eventuell auch nur eingebildet haben“, versuchte Tajo seinen seltsamen Eindruck zu entkräften. „Aber sonderbar ist es dennoch.“
     „Vielleicht hat sie dir ja etwas zugesteckt. Schau doch gleich mal nach“, forderte Matteo ihn mit Nachdruck auf, bevor Tajo überhaupt einen Finger bewegen konnte. Sein Blick hatte sich bereits auf Tajos Außentasche geheftet.
     Mit einer flinken Bewegung griff sich Tajo in die rechte Tasche seines eleganten Gehrocks. Kaum dass seine Finger in das Innere eintauchten, stießen sie an einen glatten leichten Gegenstand. Mit spitzen Fingern zog er ein kleines Stück weißes Papier daraus hervor. Verwundert betrachtete er den unscheinbaren Schnipsel.
     „Dieses Papier war eindeutig vorher noch nicht in meiner Tasche“, stellte er voller Argwohn fest.
     Misstrauisch drehte und wendete er den schlichten Zettel, der lediglich die Größe einer Streichholzschachtel aufwies. Die Rückseite war leer. Mit der Vorderseite nach oben legte ihn Tajo vor sich auf dem Stehtisch ab.
     Gut leserliche und kunstvoll geschwungene Buchstaben enthüllten in wenigen Worten eine mysteriöse Nachricht. Neugierig starrten sie zu viert auf die rätselhafte Botschaft: „Azurs Erbe bringt unermesslichen Segen und quälende Verdammnis.“

Mit sich und der Welt zufrieden biss Ella herzhaft in ihr noch lauwarmes Frühstückscroissant. Genüsslich zerkaute sie die weiche Füllung, die intensiv nach reifen Nüssen schmeckte. Zu ihrem morgendlichen Ritual gehörte inzwischen eine heiße Tasse des besten Kaffees, den es für Geld zu kaufen gab, und ein Glas frisch gepressten Orangensafts.
     Neben ihrem Kuchenteller lag griffbereit ihr nagelneues Tablet, mit Hilfe dessen sie jeden Morgen mehrere Online-Ausgaben der verschiedenen Tageszeitungen gründlich studierte. Schließlich wollte sie weiterhin bestens über die Geschehnisse auf der Erde und auch in ihrer neuen Heimat Alterra informiert sein.
     Mit fester Überzeugung vertrat sie den Standpunkt „Wissen ist Macht“. Von der weitläufig verbreiteten Ergänzung „Nichts wissen, macht auch nichts“ hielt sie absolut gar nichts. Bereits in ihren frühen Schuljahren machte sie die lehrreiche Erfahrung, dass sie sich mit Wissen und wertvollen Informationen von manchem Spott und Hohn freikaufen konnte.
     Früh lernte sie, dass der geschickte Einsatz von gezielten Informationen das Leben enorm erleichtern konnte. Manchem bösartigen Widersacher, der sie wegen ihrer Armut und ihren dünnen Ärmchen hänselte, konnte sie damit erfolgreich Paroli bieten.
     Zutiefst beeindruckt und gelegentlich bis auf die Knochen blamiert, zogen sie sich zurück und verschonten sie meist für einen längeren Zeitraum mit ihrer verletzenden Häme. Bis ihre angebliche Überlegenheit wieder die Oberhand gewann. Dann begann das quälende Spiel aufs Neue – boshafte und gemeine Hänseleien gegen feine Nadelstiche auf Basis treffsicherer Informationen.
     Ihre scharfe Zunge und ihre flinken Finger waren ihre besten Waffen. Worte konnten verletzen oder dem Empfänger schmeicheln und ihn in vermeintlicher Sicherheit wiegen. In Kombination mit ihrem aufgeweckten Verstand stellten sie ein schlagkräftiges Werkzeug ihrer Gegenwehr dar.
     Ihre ausgeprägte Fingerfertigkeit bescherte ihr hingegen an vielen Tagen das notwendige Geld, das sie zum Überleben benötigte. Manch ahnungsloser Passant verlor in Windeseile seine Geldbörse an sie, ohne es zu bemerken. Ihre flinken Finger füllten indirekt ihren hungrigen Magen und ihren winzigen Kleiderschrank. Am Ende bewahrten beide Fähigkeiten sie vor einem armseligen Leben in der Gosse.
     Deshalb war es ihr auch besonders wichtig, dass sie so schnell wie möglich alles Wissenswerte über ihre neue Heimat in Erfahrung brachte. Ihr angeborener Ehrgeiz gebot es ihr, in kürzester Zeit alles Wichtige über die drei herrschenden Familien in Alterra herauszufinden.
     Zudem hatte sie zu ihrer großen Freude unerwartet Hilfe bekommen, um ihren unersättlichen Wissensdurst zu stillen. Die akribisch geführten Aufzeichnungen ihres Bruders waren mehr als hilfreich, wobei sie mit deren intensivem Studium gerade erst begonnen hatte. Die dicht beschriebenen Seiten entpuppten sich als ein unermesslicher Schatz an geheimen Informationen.
     Allerdings beschäftigten sie die detaillierten Briefe ihrer Mutter zurzeit vielmehr. Zum einen hatte sie zum ersten Mal in ihrem Leben das Gefühl, dass sie geliebt worden war, und zum anderen enthielten sie äußerst aufschlussreiche Informationen und Botschaften über ihre eigene Herkunft.
     Die geheimen Dinge in Alterra, die nirgendwo offenbart wurden, hatte ihre Mutter ihr sehr geordnet in ihren fesselnden Briefen hinterlassen. Auf ideale Art und Weise ergänzten sie sich mit den ausführlichen Aufzeichnungen ihres Bruders. Auf diesem Weg war sie bereits bestens über die besonderen Fähigkeiten der erstgeborenen Kinder von Turkeso, Azuro und Lunara informiert.
     Dank der wertvollen Hinweise ihrer Mutter war sie zum ersten Mal in ihrem Leben in der Lage, ihre eigenen rudimentären Kräfte einzuordnen. Endlich hatte sie eine Erklärung für ihre minimalen Fähigkeiten gefunden, die sie seit jeher als sonderbar einstufte und vor ihren Mitmenschen wohlweislich verborgen hielt.
     Normalerweise wurden an die Kinder von Zweitgeborenen keine besonderen Fähigkeiten vererbt. Da sie jedoch einer der seltenen Verbindungen zwischen zwei Zweitgeborenen entsprang, verfügte sie über eine minimale Ausprägung der besonderen Kräfte aus dem Hause Azuro und Lunara.
     Dank ihrer Heilkräfte war sie in der Lage, oberflächliche Schürfwunden und kleine Schnittwunden innerhalb weniger Sekunden vollständig heilen zu lassen. Als Kind erwies ihr diese Fähigkeit manchen Dienst, wenn sie bei den erlittenen Hänseleien den Kürzeren zog und mit leichten Blessuren gedemütigt nach Hause schlich.
     Die Kräfte von Lunara waren jedoch zu ihrem Leidwesen bei ihr kaum ausgeprägt. Außer dass sie das Wasser in einem Glas ohne jegliche Berührung zum Schwappen bringen konnte, reichten ihre Fähigkeiten zu keinen außergewöhnlichen Kunststücken aus.
     Umso mehr sog sie wie ein trockener Schwamm die Informationen ihrer Mutter zu den Nachkommen im Hause Azuro in sich auf. Irgendwie fühlte sie sich mit ihnen viel stärker verbunden als mit denjenigen von Lunara. Grübelnd überlegte sie, was die Ursache hierfür sein konnte.
     Lag es daran, dass sie durch die Briefe ihrer Mutter tiefer in deren fremde Welt eintauchte und nach und nach ihre Geheimnisse ergründete? Lag die Ursache in ihren immerhin vorhandenen schwachen Heilkünsten, während die Kräfte zur Beeinflussung der Elemente weitestgehend mit Abwesenheit glänzten?
     Oder lag es einfach nur daran, dass sie ihren Vater immer für tot hielt? Somit fehlte in ihrem Leben eine Vaterfigur gänzlich, die ihr unter Umständen ihre Verbindung zum Hause Lunara verdeutlicht hätte. Sie wusste es nicht.
     Mit Sicherheit wusste sie jedoch, dass sie der Inhalt der Briefe ihrer Mutter faszinierte und sie immer mehr darüber erfahren wollte. Sie lechzte förmlich nach den Geheimnissen und dem Erbe von Azur. Zu ihrem Leidwesen gelang es ihrer Mutter nicht, zu ihren Lebzeiten das Rätsel um Azurs Erbe vollständig zu entschlüsseln.
     Aus diesem Grund waren nun zu ihrem Bedauern in den Briefen nur die ersten Ergebnisse und Hinweise darauf enthalten. Die Fortsetzung der Entschlüsselung des Rätsels oblag nun ihr und ihrem scharfen Verstand. Bereitwillig würde sie das nahtlos fortsetzen, was ihre Mutter begonnen hatte.
     Sorgsam studierte sie immer wieder die Hinweise, die allerdings immer mehr Fragen aufwarfen. Zu fremd war ihr diese Welt, um ohne Hilfe dem Rätsel auf die Spur zu kommen. Obwohl sie am liebsten allein arbeitete, gestand sie sich schweren Herzens die Notwendigkeit einer hilfreichen Unterstützung von außen ein.
     Deshalb hatte sie kurzerhand entschieden, den Ball ins Rollen zu bringen und auf die tatkräftige Unterstützung von Kira als ihre neue Verbündete zu setzen. Der Gedanke an die dunkle Schönheit brachte sie unvermittelt zum Lachen. Oh, wie aufgebracht reagierte diese, als sie ihr ihren ausgeklügelten Plan offenbarte, in dem Kira die Hauptrolle spielen sollte.
     Wie ein erfahrener Theaterregisseur hatte sie bereits sämtliche Einzelheiten ihrer Aufführung bis in das kleinste Detail ausgearbeitet. Als sie ihren Plan Kira schilderte, stimmte diese zwar dem Ablauf sogleich zu, allerdings nur äußerst widerstrebend ihrer eigenen Verkleidung.
     Perfekt als Blondine mit strohblondem Haar getarnt sollte sie so nah wie möglich an die Nachkommen von Azuro herankommen. Laut ihrer eigenen Aussage gelang es Kira problemlos, den erstgeborenen Sohn des Präsidenten von Azuro auch in einer riesigen Menschenmenge zu finden. Trotz Maske und Kostüm würde sie ihn überall erkennen. Allerdings hatte sie ihr mit keinem Wort erläutert, weshalb sie sich das zutraute.
     Dieser Umstand gab ihr noch ein Rätsel auf, das sie sich vornahm, ebenfalls zu lüften. Nach ihrer Ansicht musste es eine eigenartige Verbindung zwischen ihm und Kira geben, die ihre neue Verbündete vor ihr verheimlichte. Dieser Umstand stachelte ihren Ehrgeiz an und stand sehr weit oben auf ihrer persönlichen Liste der zu ergründenden Geheimnisse.
     Am Ende ihrer Diskussion zeigte sich Kira damit einverstanden, als Blondine in einem himmelblauen Kostüm an dem jährlich stattfindenden Maskenball teilzunehmen. Murrend stimmte sie zu, ihr kleines Tattoo auf der Wange zu überschminken, das sie ansonsten augenblicklich verraten hätte.
     Äußerst überrascht reagierte Ella, als Kira ihr schilderte, dass sie versucht hatte, der Prinzessin den Anhänger zu entwenden. Beinahe hätte sie ihn in ihren Händen gehalten. Diese Aktion stand definitiv nicht in ihrem Drehbuch, das sie für diesen Abend mit besonderer Sorgfalt entwickelt hatte.
     Von Kira hatte sie nur so viel erfahren, dass ihr Bruder wie der Teufel hinter dem Anhänger her war und ihn um jeden Preis in seine Gewalt bringen wollte. Bereits vor dem Frühstück nahm sie sich vor, so schnell wie möglich sämtliche Unterlagen und Aufzeichnungen ihres Bruders gründlichst zu studieren. Sie war sich sicher, dass in den Notizen der Schlüssel hierzu enthalten war. Und vermutlich noch viel mehr.
     Trotz Kiras eigenmächtiger Eskapaden hatte sie ihr Ziel erreicht. Ihr Plan war aufgegangen. Wie vereinbart hatte Kira dem Erstgeborenen von Azuro den Zettel klammheimlich zugesteckt, auf dem Ella die erste Zeile aus dem Rätsel ihrer Mutter notiert hatte.
     Das Wenige, das sie über die Familienmitglieder aus den Briefen ihrer Mutter wusste, war, dass ihnen das Erbe ihrer Vorfahren sehr viel bedeutete. Somit setzte sie voll auf deren wissbegierige Neugier und untrüglichen Spürsinn, um sie für sich arbeiten zu lassen. Weshalb sollte sie sich selbst die Hände schmutzig machen, wenn das andere für sie erledigen konnten.
     Zudem verfügten ihrer Ansicht nach die Familienmitglieder von Azuro wahrhaftig über die besseren Mittel und Möglichkeiten, das Rätsel zu entschlüsseln. Also konnte sie sich entspannt zurücklehnen und abwarten, zu welchem Ergebnis ihr sorgfältig ausgearbeiteter Plan führen würde.
     Breit grinsend griff sie erneut zu dem Umschlag, der ganz oben auf dem Stapel Briefe lag. Sorgsam fischten ihre frisch manikürten Finger das kleine Stück Papier heraus, das ihr ihre Mutter hinterlassen und besonders ans Herz gelegt hatte.
     Mit leiser Stimme las sie die geheimnisvollen Zeilen vor:

„Azurs Erbe bringt unermesslichen Segen und quälende Verdammnis. Es ist ein himmelsgleiches Geschenk und zugleich ein höllischer Fluch. Es verspricht ein verheißungsvolles Leben oder einen gnadenlosen Tod.“

AZURS ERBE

Zu viert versammelten sie sich um den niedrigen, runden Tisch, der zur dunkelblauen Sitzgarnitur von Marco Azuros modernem Büro gehörte. Tajos und Matteos Vater saß seinen Söhnen mit einem zufriedenen Lächeln gegenüber und genoss sichtlich deren Anwesenheit.
     Erneut fiel Alea die große Ähnlichkeit zwischen dem stattlichen Vater und seinen attraktiven Söhnen auf. Alle drei wiesen dieselben markanten, maskulinen Gesichtszüge auf. Matteo hatte das blonde Haar seines Vaters geerbt, während Tajos Mutter ihre schwarzen Haare an ihren ältesten Sohn weitergegeben hatte.
     Neben Alea und den beiden Brüdern, die noch immer im Gedenken an André schwarze Kleidung trugen, hob sich Marco durch seine dunkelblaue Stoffhose und sein hellblaues Hemd deutlich von ihnen ab. Vollkommen entspannt und hocherfreut über seine unerwarteten Besucher betrachtete er lächelnd seine Gäste.
     Gleich am nächsten Tag nach dem Maskenball hatte Tajo einen Termin mit seinem Vater vereinbart und ihr baldiges Erscheinen angekündigt. Die rätselhafte Botschaft auf dem kleinen weißen Zettel, der ihm beim Ball zugesteckt worden war, ließ ihm keine Ruhe mehr.
     Wie bei einem versierten Detektiv schaltete sich automatisch sein scharfer Spürsinn ein, der hartnäckig nach einer Lösung suchte. Da er selbst nichts mit den wenigen Worten anzufangen wusste, bat er seinen Vater um Hilfe.
     Sofort hatte dieser eingewilligt und versprochen, seinen Söhnen bei der Suche nach der Lösung des Rätsels behilflich zu sein. Wie erwartet waren auch bei ihm die Neugier und sein Interesse schlagartig geweckt worden.
     Während Alea intensiv die drei Männer musterte, wanderte ihr Blick immer wieder zu Marco zurück. Wie bei ihrem ersten Zusammentreffen verspürte sie sofort die tiefe Sympathie, die er in ihr hervorrief. Sie mochte ihn sehr.
     Vom ersten Augenblick an hatte sie Tajos Vater in ihr Herz geschlossen. Seine Herzlichkeit und Wärme nahmen sie von der ersten Sekunde an für sich ein. Wie ein gütiger Vater verhielt er sich ihr gegenüber äußerst zuvorkommend und fürsorglich.
     Ihr blieb auch nicht verborgen, dass Marco ihre ausgeprägte Sympathie im gleichen Maße erwiderte und sie als die Tochter betrachtete, die er nie hatte. Der unerwarteten Verbindung zwischen seinem ältesten Sohn und ihr war er sehr zugetan. Wie ein Schneekönig freute er sich über ihr junges Glück.
     Außerdem würde es Alea ihm niemals vergessen, dass er gemeinsam mit seinen Söhnen ihren Bruder Tolin aus der tiefen Bewusstlosigkeit zurückholte, in die sich sein malträtierter Geist nach der Entführung geflüchtet hatte. Allein schon durch diese glorreiche Tat hatte er sich auf ewig einen festen Platz in ihrem Herzen erobert.
     Gebannt hing sie nun an seinen Lippen und wartete gespannt darauf, dass Marco den Inhalt ihrer Botschaft kommentierte. In seiner Hand hielt er das Stück Papier, das ihm Tajo zuvor überreicht hatte. Nachdenklich las er den kurzen Satz laut vor.
     „Azurs Erbe bringt unermesslichen Segen und quälende Verdammnis.“
     Seine dunkle Stimme ähnelte sehr der seines ältesten Sohnes. Alea konnte sich lebhaft vorstellen, dass die beiden am Telefon schon häufig miteinander verwechselt worden waren. Sie mochte das warme Timbre, das in seiner Stimme mitschwang.
     Ratlos starrte Marco auf die wenigen Worte hinab. Geistesabwesend begann er mit dem Zettel hin und her zu wedeln. Deutlich konnte Alea ihm an seiner Miene ablesen, dass er angestrengt nachdachte. Endlich hob er den Blick.
     „Hm, wenn ich ehrlich bin, kann ich damit nicht wirklich viel anfangen“, gab er ehrlich zu und blickte seinen Söhnen einen kurzen Moment in die Augen. Die darin aufflackernde Enttäuschung blieb ihm nicht verborgen.
     „Ich weiß nicht, was konkret unter Azurs Erbe zu verstehen ist, zumindest außer unseren Heilkräften“, fuhr er bedauernd fort.
     „Allerdings ranken sich zahlreiche Legenden um Azurs unglaubliches Erbe. In Form von verschiedenen Märchen werden diese oft kleinen Kindern erzählt“, ergänzte er nachdenklich.
     „Märchen? Ist das dein Ernst Vater? Glaubst du wirklich, dass uns Märchen hier weiterhelfen können?“, fragte Matteo verblüfft und schüttelte zweifelnd den Kopf.
     „Nun ja, oft ist in einem Märchen ein wahrer Kern vorborgen. Warum sollte es bei unseren eigenen Legenden anders sein?“, sinnierte Marco vor sich hin.
     „Um was geht es denn in diesen Märchen?“, erlaubte sich Alea neugierig zu fragen.
     Da sie noch nicht lange in Alterra weilte, kannte sie natürlich keine dieser Märchen und Legenden. Umso mehr hoffte sie auf einen hilfreichen Hinweis, denn auch ihr war die erste Enttäuschung deutlich ins Gesicht geschrieben.
     „In erster Linie geht es dabei um unsere besonderen Heilkräfte und die wundersame Heilung von irgendwelchen Krankheiten und Gebrechen“, gab Tajos Vater bereitwillig Auskunft und lächelte sie freundlich an.
     „Der Kern der Märchen ist natürlich wahr, aber die Geschichten werden sehr kreativ ausgeschmückt.“ Sein amüsiertes Lachen klang warm und nachsichtig.
     „Allerdings weiß ich nicht, wie uns diese Geschichten weiterhelfen sollten“, meinte er und zuckte bedauernd mit den Schultern.
     „Hast du denn gar keine Ahnung, um was es sich handeln könnte, Vater?“, fragte Tajo und betrachtete nochmals das kleine Stück Papier.
     „Nein. Ich weiß nur, dass bereits mein eigener Vater nach dem Erbe von Azur suchte“, erwiderte Marco grübelnd ganz nebenbei.
     „Was? Dein Vater? Also unser Großvater suchte bereits nach einer Antwort?“, fragte Matteo verblüfft und starrte Marco ungläubig an.
     „Ja, er suchte bereits vor vielen vielen Jahren danach“, erwiderte er mit ernster Miene.
     „Er vertrat immer die Meinung, dass es noch etwas anderes als unsere Heilkräfte geben müsste, was als Azurs Erbe bezeichnet wurde“, fuhr er fort.
     „Allerdings habe ich keine Ahnung, weshalb er so unerschütterlich daran glaubte.“ Ratlos starrte er auf den weißen Zettel.
     „Sein starkes Interesse für Azurs Erbe grenzte bereits an eine Art von Besessenheit“, meinte er verschämt und sah seine Söhne entschuldigend an.
     „Leider können wir ihn nicht mehr nach den Ergebnissen seiner Suche fragen, da er bereits verstorben ist“, führte er weiter aus.
     Alea wusste, dass sein letzter Satz nur für sie allein bestimmt war, da sie von Tajos Familie noch nicht viele Einzelheiten kannte.
     Wie auf Kommando atmeten Tajo und Matteo laut und hörbar aus. Dieser hilflose Laut der Enttäuschung verriet ihre angespannte innere Gefühlslage. Ihre ganze Hoffnung setzten sie in dieses Gespräch mit ihrem Vater. Voller Zuversicht hatten sie sich von ihm die ersten hilfreichen Informationen versprochen. Umso größer war nun ihre Enttäuschung. Geknickt starrte Tajo seinen Vater an.
     „Das bedeutet also, dass er dazu auch keinerlei hilfreiche Informationen oder Aufzeichnungen hinterlassen hat, oder?“, fragte Tajo frustriert. Sehnsüchtig hatte er darauf gehofft, dass sein Vater mit dieser mysteriösen Botschaft etwas anzufangen wusste.
     „Nein, es gibt hierzu keine Aufzeichnungen oder etwas Ähnliches …“, meinte Marco und zuckte entschuldigend mit den Schultern. „… denn dann hätte ich es in seinem Nachlass gefunden.“ Die offensichtliche Enttäuschung in den Augen seiner Söhne schmerzte ihn.
     Plötzlich veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Ein hoffnungsvolles Lächeln umspielte seine Lippen. Soeben war ihm noch etwas eingefallen, was er schon längst verdrängt hatte.
     „Aber mir ist bekannt, wo er überall danach gesucht hat.“ Schlagartig ruckten die Köpfe seiner niedergeschlagenen Söhne in die Höhe.
     „Er war sehr viel auf Reisen, denn er hat viel Zeit investiert, um etwas in Erfahrung zu bringen“, meinte Marco versonnen, als ob ihm nach und nach manche Dinge wieder einfielen.
     „Genauso wie seine Schwester. Sie waren oft gemeinsam unterwegs“, ergänzte er und schien in Gedanken weit entfernt zu sein.
     „Seine Schwester?“, fragte Tajo verwundert mit großen Augen.
     „Ja, seine Schwester war viele Jahrzehnte jünger als er. Ihr könnt euch vermutlich nicht mehr an sie erinnern, da sie bereits in eurer Kindheit durch einen tragischen Unfall gestorben ist“, erläuterte er seinen Söhnen bereitwillig.
     „Durch einen Unfall?“, fragte Tajo ungläubig mit halb offenem Mund.
     Sein wacher Verstand setzte bereits die einzelnen Puzzlestückchen zusammen. Bei der Erwähnung des Unfalls waren ihm schlagartig Elias Worte zu dessen mysteriöser Herkunft wieder eingefallen.
     „Ja, sie war eine lebenslustige und fröhliche Frau. Allerdings hat sie sich von einem auf den anderen Tag zurückgezogen und jeglichen Kontakt zum Rest der Familie abgebrochen“, setzte er zu einer Erklärung an.
     „Das war vor über zwanzig Jahren. Der Grund, weshalb sie sich aus heiterem Himmel in die Abgeschiedenheit zurückzog, gibt uns bis heute Rätsel auf.“ Nachdenklich zupfte er an der Manschette seines Hemdärmels.
     „Fünf Jahre später verstarb sie bei einem unglückseligen Autounfall. Keiner aus unserer Familie konnte ihr mehr trotz unserer Heilkräfte helfen.“ Seine Stimme hatte einen bedauernden Tonfall angenommen.
     „Wir kamen alle zu spät. Sie war bereits tot.“
     Tajos Verstand arbeitete auf Hochtouren. Ein weiteres Mal rief er sich sämtliche Informationen in Erinnerung, die er von Elias über dessen Eltern erfahren hatte. Allmählich klärten sich für ihn die merkwürdigen Zusammenhänge.
     „War Großvaters Schwester eventuell mit Alexander Lunara liiert? Weiß du etwas darüber?“, fragte er seinen Vater neugierig.
     „Mit Alexander? Nein, darüber weiß ich nichts. Weshalb sollte sie ausgerechnet mit ihm liiert gewesen sein?“, fragte Marco überrascht und zog eine Augenbraue nach oben.
     „Na ja, Elias hat mir gegenüber eingestanden, dass er der Sohn zweier Zweitgeborener war, wobei seine Mutter aus Azuro stammte“, antwortete er sofort und kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf.
     „Außerdem erwähnte er auch, dass seine Mutter bei einem tragischen Unfall starb, als er noch ein kleines Kind war“, ergänzte er grübelnd.
     „Das würde alles zusammenpassen. Insbesondere, da du selbst keine Schwester hast, Vater“, sagte er zu Marco, dessen Interesse nun ebenfalls vollends geweckt worden war.
     „Du hast recht. Das passt alles irgendwie zusammen.“ Nachdenklich blickte er seinen ältesten Sohn an.
     „Nur falls es so war, haben die beiden ihre Verbindung und ihren gemeinsamen Sohn sehr erfolgreich geheim gehalten“, schlussfolgerte er und seine Verblüffung war deutlich an seinen Gesichtszügen ablesbar.
     Nachdenklich tippte sich Matteo mehrfach mit dem Zeigefinger an seine Nasenspitze.
     „Was mich noch viel mehr als Elias familiäre Beziehungen interessiert, ist die Tatsache, dass unser Großvater mit seiner Schwester häufig auf Reisen war.“ Er legte eine kurze Pause ein, während er sich am Kinn kratzte.
     „Falls es wahr wäre, würde dies ja bedeuten, dass er gemeinsam mit Elias Mutter nach Hinweisen zu Azurs Erbe suchte“, rätselte er und blickte abwechselnd von seinem Vater zu seinem Bruder.
     „Ja, das wäre dann tatsächlich der Fall gewesen“, bestätigte Marco grübelnd.
     Plötzlich schnippte Tajo mit den Fingern. Ihm war soeben noch etwas klar geworden.
     „Demnach könnte es sein, dass dieser Hinweis entweder von unserem Großvater oder dessen Schwester gefunden wurde.“ Mit der Hand deutete Tajo auf den kleinen weißen Zettel.
     „Falls das so wäre, müssten die beiden bei ihren Recherchen doch noch mehr gefunden haben.“ Mit diesen Worten sprach Tajo seine hoffnungsvolle Vermutung laut aus. Drei aufgeregte Häupter nickten ihm bestätigend zu.
     „Es bedeutet aber auch noch etwas ganz anderes“, meldete sich Alea unvermittelt zu Wort.
     „Wenn die beiden Hinweise auf Azurs Erbe gefunden haben und euer Großvater nichts darüber weitergegeben hat, dann muss seine Schwester irgendetwas schriftlich festgehalten haben“, sprach sie ihre Überlegungen laut aus.
     „Außerdem bedeutet es auch, dass irgendjemand diese Informationen besitzt und es ist definitiv nicht Elias Lunara, da er bereits tot ist“, kam Alea zu dem Schluss. Abwartend blickte sie von einem zum anderen.
     „Ja, du hast recht“, stimmte ihr Tajo mit ernster Miene zu.
     „Und es ist jemand, der mir beim Maskenball meinen Anhänger stehlen wollte und dir den ominösen Zettel zugesteckt hat“, ergänzte sie und erschauderte bei der Erinnerung an den spitzen Dolch, der ihre Haut bereits angeritzt hatte.
     „Aber weshalb wurde mir der Zettel überhaupt zugesteckt?“, stellte Tajo die Frage in den Raum.
     „Wenn der Absender dieser Botschaft etwas über Azurs Erbe wüsste, hätte er mir nicht das Papier verstohlen zustecken müssen“, spann Tajo den Faden weiter.
     „Entweder will derjenige, dass wir dieses sonderbare Rätsel für ihn lösen …“, dachte er laut nach.
     „… oder es ist in der Tat ein äußerst wichtiges Erbstück, das ausschließlich nur in unsere Hände gelangen soll“, überlegte Marco laut und spann den Faden weiter. Unschlüssig strich er sich mit der Hand über sein markantes Kinn.
     Aufmerksam verfolgte Alea die nachdenklich geäußerten Überlegungen. Die ganze Entwicklung gefiel ihr ganz und gar nicht. Zu gut erinnerte sie sich an die böse Vorahnung, die sie befiel, als Tajo sie dazu bewegte, an dem Maskenball teilzunehmen.
     Noch immer verspürte sie das bohrende Gefühl eines drohenden Unheils. Meistens schob sie es einfach beiseite und ignorierte es. So wie sich allerdings die Lage im Moment entwickelte, waren ihre Befürchtungen nicht umsonst gewesen. Schlagartig fröstelte sie.
     Zudem war ihr die plötzliche Veränderung in den Mienen der Brüder nicht verborgen geblieben. Nur zu gut kannte sie deren unnachgiebige Entschlossenheit, die sich inzwischen in ihren Gesichtern offenkundig widerspiegelte.
     Zu ihrem Leidwesen war durch diese merkwürdige Botschaft soeben der stumme Startschuss zu einer weiteren und aus ihrer Sicht unheilvollen Suche gefallen. Sie spürte, wie sich ihre Nackenhärchen sträubten und ihr Instinkt versuchte, sie vor der nahen Zukunft zu warnen.
     An manchen Tagen wünschte sie sich, dass ihr Bauchgefühl nicht immer recht behalten würde. Darüber zu lamentieren wäre jedoch zu müßig. Obwohl sie wusste, dass ihr Instinkt sie niemals trog, lag es ihr überhaupt nicht, den Kopf wie ein Vogel Strauß in den Sand zu stecken oder sich eingeschüchtert zu verkriechen.
     Natürlich würde sie all ihren Mut zusammennehmen und sich der drohenden Gefahr stellen, wenn es so weit war. Das mulmige Gefühl in ihrer Magengegend verstärkte sich noch mehr. Nachdenklich spielte sie mit dem Saum ihres Ärmels. Angestrengt dachte sie nach.
     „Was werden wir nun als Nächstes tun?“, fragte sie unschlüssig und ihr Blick heftete sich abwartend auf Marcos Gesicht.
     „Unabhängig davon, welche unserer Annahmen nun stimmt, bin ich der Ansicht, dass wir danach suchen sollten“, gab sein Vater offen seine Meinung kund. Auch er hatte bereits eine Entscheidung für sich getroffen.
     „Es handelt sich schließlich um Azurs Erbe und wir sind seine direkten Nachfahren. Also, wenn jemand das Erbe finden soll, dann doch auf jeden Fall wir“, ergänzte er mit Nachdruck und wartete auf eine Reaktion seiner Söhne.
     „Du hast recht. Ich bin ebenfalls der Meinung, dass wir uns auf die Suche danach begeben sollten“, stimmte ihm Tajo entschlossen zu. „Allein schon, um zu vermeiden, dass es in die falschen Hände gerät.“
     „Gut, ich bin dabei, egal was wir tun“, stimmte auch Matteo sofort zu. Seine unternehmungslustigen Augen blitzten bereits verdächtig.
     Innerlich rollte Alea hilflos mit den Augen. Es war nicht das erste Mal, dass ihr auffiel, mit welcher Freude sich die beiden Brüder bereitwillig in neue Abenteuer stürzten. Sie schienen trotz aller Widrigkeiten immensen Gefallen daran zu finden.
     Mit großem Schaudern erinnerte sie sich an die Vorfälle der jüngsten Vergangenheit, die beinahe Luca und Matteo das Leben kosteten. An Andrés Tod wollte sie dabei in diesem Moment gar nicht denken, denn dieser hatte ihre unerschütterliche Abenteuerlust tatsächlich mit dem Leben bezahlt.
     Sie spürte bereits, wie ihre Handflächen vor Beklemmung feucht wurden. Ein weiteres unbekanntes Wagnis lag vor ihnen. Deutlich wurde ihr bewusst, dass ihr beschauliches und ruhiges Leben in ihrer neuen Heimat noch einige Zeit auf sich warten ließ. Schicksalsergeben seufzte sie leise. Schon hörte sie, wie Tajo die nächste Frage an seinen Vater richtete.
     „Kannst du uns denn konkret sagen, wo überall unser Großvater und seine Schwester gesucht haben?“ Erwartungsvoll schaute er seinen Vater an.
     „Nun ja, zumindest kenne ich die Orte, an denen die beiden gesucht haben“, bejahte Marco und nickte bestätigend mit dem Kopf.
     „Mein Vater hat viel Zeit in unserem geheimen Archiv zugebracht, zu dem der Zugang nur den Familienmitgliedern der Erstgeborenen erlaubt ist …“, begann er mit seiner Antwort.
     „… und der zweite Ort ist unsere Ahnengruft“, fügte er hinzu.
     Kaum dass Marco ausgesprochen hatte, reagierte Alea auf seine Worte.
     „Ahnengruft?“ Misstrauisch zog sie das Wort in die Länge.
     Bei einer Gruft hatte sie automatisch das Bild eines düsteren, gruseligen und unterirdischen Ortes vor ihren Augen. In ihrer Fantasie gesellten sich viele staubige Spinnweben, in denen sich ihre Haare verfingen, wie von selbst dazu.
     Sie meinte bereits, eines dieser unliebsamen Tierchen auf ihrer Haut zu spüren. Mit größter Beklemmung bemerkte sie, wie sich die Härchen an ihren Armen senkrecht aufstellten.
     In Gedanken sah sie sich bereits in einem stickigen und staubigen Kellergewölbe verzweifelt um Luft ringen. Allein der Gedanke an eine Gruft ließ sie schon frösteln. Energisch rieb sie sich mit beiden Händen an den Armen.
     Ihren drei aufmerksamen Beobachtern blieb ihre offenkundige Reaktion nicht verborgen. Matteo grinste sie breit an. Anscheinend schien er wieder einmal, ihre Gedanken zu erraten. Außerdem erinnerte er sich anscheinend noch an seine List, wie er sie unter Einsatz einer harmlosen Gummispinne zum Aktivieren ihres Schutzschildes gebracht hatte. Schon setzte er zu einer aufmunternden Antwort an.
     „Alea, unsere Ahnengruft liegt hoch oben in den Bergen und nicht in einem unterirdischen Loch“, erklärte er und zwinkerte ihr vergnügt zu.
     „Außerdem handelt es sich dabei nicht um ein staubiges Verließ mit vielen Spinnweben.“ Sein abenteuerlustiges Grinsen wurde noch um eine Spur breiter. Definitiv konnte er ihre Gedanken erahnen.
     Alea rätselte, wie es ihm immer wieder gelang, ihre verborgenen Gedankengänge zu erraten. Dabei bedachte sie nicht, dass ihre Miene manch intensive Gefühlsregung bereitwillig preisgab und entsprechende Rückschlüsse darauf zuließ.
     Mit beruhigender Stimme bestätigte Marco die Aussage seines Sohnes.
     „Ja, das stimmt. Du wirst sehen, der Ort wird dir gefallen, denn er hat nicht viel mit den schaurigen Familiengrüften gemein, die in unzähligen Filmen den Zuschauern das Gruseln lehren.“
     Behutsam griff Tajo nach ihren Fingern und streichelte zärtlich ihren Handrücken. Ein breites Lächeln erhellte seine männlichen Gesichtszüge.
     „Unsere Ahnengruft ist kein Gruselkabinett, sondern ein ganz besonderer Ort, eher eine Stätte der Ruhe“, versuchte er, sie zu beruhigen.
     Unschlüssig wanderte ihr unsteter Blick zwischen den drei Männern hin und her. Deutlich erkannte sie, dass diese sich ein breites Grinsen kaum mehr verkneifen konnten. Ihre Skepsis behielt dennoch die Oberhand.
     „Okay, dann lasse ich mich mal überraschen“, sagte sie gedehnt. An ihrer Miene war erkennbar, dass sie noch nicht ganz davon überzeugt war. Matteo lachte vergnügt auf.
     „Dann stellt sich nur noch die Frage, mit welchem Ort wir anfangen“, sprach er seine Gedanken laut aus und rieb sich bereits voller Vorfreude die Hände.
     „Nachdem wir überhaupt nicht wissen, wonach wir suchen, bin ich der Meinung, dass wir mit der Ahnengruft anfangen sollten“, schlug Tajo vor. „Vielleicht entdecken wir dort einen konkreten Hinweis, der uns weiterhilft.“
     Viel lieber hätte Alea mit dem Archiv begonnen, denn sie liebte Bücher über alles. Bereits ihr erstes aufschlussreiches Gespräch mit ihrem eigenen Vater in der Bibliothek des Palastes hatte ihr größtes Vergnügen bereitet. Allein schon der Geruch von Büchern und Papier bereitete ihr große Freude.
     Widerstrebend gab sie sich geschlagen. Im Prinzip war es schließlich egal, in welcher Reihenfolge sie vorgingen. Hauptsache war, dass sie überhaupt ein klares Ziel hatten. Die Erkundung des Archivs würde sie jedenfalls in vollen Zügen genießen. Da konnte ein vorheriger Abstecher zur Ahnengruft auch nicht schaden.
     Folglich nickte sie zustimmend mit dem Kopf. Drei abwartende Augenpaare waren auf sie gerichtet und nahmen ihre stumme Zustimmung erleichtert zur Kenntnis.
     „Gut, dann brechen wir also zuerst zu unserer Gruft der Ahnen auf“, stellte Tajo sichtlich zufrieden fest. Seine Augen sprühten bereits voller Unternehmungslust.
     „Am besten starten wir bald und verlieren nicht viel Zeit.“ Mit diesen Worten signalisierte er seine Bereitschaft zum Aufbruch, sofern kein unerwarteter Widerspruch ihn aufhielt.
     Mit gemischten Gefühlen versuchte Alea, sich mental auf ihre baldige Erkundungstour vorzubereiten. Noch immer ließ sich das flaue Gefühl in ihrer Magengegend trotz aller energischer Bemühungen nicht vertreiben.

Die Ahnengruft

Die strahlende Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel auf sie hinab, als sie am Fuße des riesigen Berges auf einer Art begradigter Plattform standen. Mit vor Staunen offenem Mund drehte sich Alea einmal um die eigene Achse.
     In ihrem Rücken hörte sie das nachsichtige Lachen von Tajo und Matteo, denen die Wirkung auf Menschen, die zum ersten Mal diesen phantastischen Ort besuchten, sehr vertraut war.
     Eine atemberaubende Berglandschaft erhob sich vor ihren Augen, durch die sich eine tiefe Schlucht in vielen Windungen hindurchschlängelte. Ein Stück unberührter Natur offenbarte ihre ursprüngliche Schönheit und lud zum Träumen ein.
     Mit großen glänzenden Augen ließ Alea das großartige Panorama auf sich wirken und fühlte sich dabei wie ein winziges Staubkorn in Anbetracht der gewaltig hohen Berggipfel. Stundenlang hätte sie dort verbleiben können, um die beruhigende Wirkung dieser unglaublich schönen Natur genießen zu können.
     Gerade als sie hingebungsvoll die Augen schloss und die herrlich frische Bergluft tief in ihre Lungen einsog, spürte sie eine sanfte Berührung an ihrem Arm. Vorsichtig zupfte Matteo sie am Ärmel ihrer dunklen Jacke und lachte leise. Als sie die Augen wieder öffnete, strahlte er sie vergnügt an.
     „Ich habe dir doch gesagt, dass dir dieser Ort gefallen wird“, meinte er fröhlich und zwinkerte ihr lausbubenhaft zu.
     „Außerdem wird die Aussicht noch besser. Warte es nur einfach ab“, meinte er und der Schalk blitzte aus seinen Augen.
     „Was, noch besser? Geht das überhaupt noch?“, fragte Alea ungläubig und deutete mit der Hand auf die malerische Schlucht.
     „Oh ja, der schönste Ausblick kommt erst noch“, bestätigte nun auch Tajo mit einem breiten Schmunzeln im Gesicht.
     „Kommt, lasst uns nach oben fahren“, schlug er vor und zog sie sanft mit sich.
     „Fahren? Wie soll das denn gehen?“, fragte Alea verblüfft.
     Lachend gingen die Brüder voraus und blieben ihr eine Antwort schuldig. Schnurstracks liefen sie zielstrebig auf die steile Felswand zu. In ihrer dunklen Kleidung hoben sie sich kaum von dem dunklen Grau des steil aufragenden Bergmassivs ab.
     Nur widerwillig riss sich Alea von dem überwältigenden Panorama los. Zu gern hätte sie noch eine Zeitlang diesen grandiosen Ausblick genossen. Keck hielt sie ihre Nasenspitze in das laue Lüftchen, das sanft mit ihren Haaren spielte.
     Der schwache Wind blies ihr gelegentlich eine feine Haarsträhne ins Gesicht. Im hellen Sonnenschein glänzte ihr offenes Haar wie frisch poliertes Gold und hob sich deutlich von ihrer dunklen Kleidung ab. Nachdem sie sich eine verirrte Haarsträhne aus der Stirn gestrichen hatte, folgte sie mit einem letzten bedauernden Blick den Brüdern hinterher.
     Nach wenigen Metern blieben Tajo und Matteo vor einer hoch aufragenden Konstruktion aus matten Stahlrohren stehen. Geschickt war sie in eine natürliche Felsnische eingelassen, die sich vom Boden bis zum Gipfel erstreckte.
     Am unteren Ende befand sich zu ihrer Überraschung eine kleine Kabine, in der vier Personen ausreichend Platz fanden. Verblüfft starrte Alea auf die in der Sonne blitzenden Glasscheiben der geräumigen Aufzugskabine.
     „Ich glaube es ja nicht! Ihr habt hier einen Aufzug? Hier mitten in der Wildnis?“, fragte sie erstaunt.
     „Ja, es ist ein Aufzug. Willst du lieber zu Fuß bis ganz nach oben gehen?“, fragte Tajo und zeigte mit seinem Finger zum Berggipfel hoch. Ihr Blick folgte seiner Fingerspitze.
     „Was? Wir müssen bis ganz nach oben?“, fragte sie und ihre Augen weiteten sich vor Erstaunen immer mehr.
     „Ja, unsere Ahnengruft befindet sich dort oben, direkt unter der Bergspitze“, bestätigte Matteo und grinste breit.
     „Ich habe dir doch gesagt, dass unsere Ahnen nicht in einem dunklen Loch verbuddelt sind“, ergänzte er und lachte übermütig auf.
     Vor ihr hielt Tajo bereits die Tür zur Aufzugskabine auf, um sie eintreten zu lassen. Sorgfältig schloss er die Tür hinter ihnen und legte den Sicherheitsbügel vor. Nachdem er auf einen runden Knopf neben dem Türrahmen gedrückt hatte, erhob sich die Kabine nahezu geräuschlos in die Höhe. Gebannt betrachtete Alea die wunderschöne Landschaft, während sie der Aufzug immer weiter zum Gipfel hochbrachte.
     Oben angekommen traten sie in eine riesige Halle ein. Alea traute ihren Augen nicht. Vor ihr erstreckte sich eine fünfzig Meter hohe Halle, an deren Außenseite sich eine überdimensionale Fensterfront vom Boden bis zur Decke erstreckte. Wie von einem Magneten angezogen näherte sie sich der monumentalen Glaswand an. Direkt davor blieb sie wie angewurzelt stehen.
     Weit unter ihr erstreckte sich die malerische Schlucht in ihrer vollen Schönheit. Alea kam sich vor, als ob sie zwischen den hoch aufragenden Berggipfeln fliegen würde. Wie aus der Vogelperspektive betrachtete sie die traumhafte Landschaft von oben. Fasziniert bestaunte sie die wilde Romantik dieser atemberaubenden Berglandschaft.
     Völlig überwältigt gelang es ihr nicht, sich von dem fesselnden Ausblick zu lösen. Ganz dicht stand sie vor der riesigen Fensterfront. Beinahe hätte sie ihre Nase an der blanken Glasscheibe platt gedrückt. Völlige Stille umfing sie. Dieser sonderbare Ort strahlte eine derart friedliche Ruhe aus, sodass sie sogar ihre Trauer um André vergaß.
     Sie fühlte sich, als ob ein schützender Kokon ihren Körper und ihren Geist umfing. Wie in weiche Watte gepackt vermittelte dieser seltsame Ort ein überwältigendes Gefühl der grenzenlosen Sicherheit und friedvollen Ruhe. Stundenlang hätte sie vor diesem Panoramafenster stehen und diese märchenhafte Berglandschaft bestaunen können.
     Nach einigen Minuten des stummen Genießens weckte jedoch die sonderbare Halle ihre Neugier. Nicht nur die umgebende malerische Landschaft waren sehenswert, sondern auch der Innenraum der gewaltigen Ahnengruft.
     Ganz langsam wanderten ihre großen staunenden Augen zur Hallendecke empor. Fünfzig Meter über ihren Köpfen durchzog ein kunstvolles Muster die helle Decke. Unzählige goldene und silberne Ornamente schlängelten sich endlos ineinander.
     In Anbetracht der riesigen Ausmaße dieser gewaltigen Halle kam sich Alea wie eine winzige Ameise in einem riesigen Dom vor. Tajo und Matteo folgten ihren verwunderten Blicken. Ein stolzes Lächeln umspielte ihre Lippen.
     „Na, glaubst du es jetzt? Der Ausblick ist von hier oben noch schöner als unten“, stellte Matteo zufrieden fest und blickte vergnügt in die Ferne.
     „Du hast recht. Wenn man es nicht mit eigenen Augen sieht, glaubt man es nicht“, gab Alea beeindruckt zu und bewunderte ein weiteres Mal die umwerfende Landschaft von ihrem hohen Aussichtspunkt aus.
     Abrupt löste sie sich von der Fensterfront und drehte sich auf dem Absatz um. Eingehend und neugierig musterte sie die riesige Halle. Vor ihren Augen erstreckte sich ein großes blau-weißes Karomuster über den gesamten Fußboden, der aus matten Natursteinen bestand.
     Genau ihr gegenüber reihte sich eine riesige Statue nach der anderen aneinander. Ungefähr fünf Meter hoch ragte jede von ihnen in die Höhe. Ihr helles Gestein und ihre Form erinnerte Alea an alte griechische Götter.
     An den breiten, ausladenden Sockeln waren glänzende Gedenktafeln angebracht, die sofort ihr Interesse weckten. Dahinter konnte sie an der Wand eine Vielzahl von kunstvoll verzierten Grabplatten erkennen, auf denen die unterschiedlichsten Motive eingemeißelt waren.
     Wie eine Armee aus gutmütigen Giganten schienen die Statuen die Grabstätten zu beschützen. Mit den Augen folgte Alea den ästhetischen Körpern bis zu den ausdruckslosen Gesichtszügen empor.
     Zutiefst beeindruckt deutete sie mit ihrem Zeigefinger auf die riesigen Statuen, die wie stumme Wächter vor der jeweiligen Grabplatte ihre Position bezogen.
     „Und das hier ist eure Ahnengruft?“, fragte sie verwundert.
     „Das sieht ja eher aus wie eine gigantische Ahnengalerie oder ein überdimensionaler Ahnentempel“, meinte sie ehrfürchtig. Sie traute sich kaum, laut zu sprechen.
     Tajo lachte laut auf. Ihr ergriffenes Staunen erfreute ihn.
     „Ja, so könnte man es allerdings auch nennen.“ Gut gelaunt griff er nach ihrer Hand und führte sie zu der Statue, die von ihnen aus ganz links in die Höhe ragte.
     „Wer ist hier bestattet worden?“, fragte Alea und zeigte auf den Koloss vor ihr. Den Kopf in den Nacken gelegt starrte sie an der Statue empor.
     „Das sind alle unsere erstgeborenen Vorfahren aus vielen tausend Jahren“, erklärte er ihr bereitwillig.
     „Auf den Gedenktafeln an den Sockeln sind die jeweiligen Daten der Verstorbenen enthalten“, ergänzte Matteo eifrig, der inzwischen zu ihnen aufgeschlossen war.
     Ein weiteres Mal ließ Alea ihren Blick über die schier endlose Reihe an Statuen schweifen. Ratlos wuschelte sie sich die Haare an ihrem Hinterkopf.
     „Das sind ja so viele …“, murmelte sie leise.
     „Ja, allerdings. In vielen Tausenden von Jahren kommen schon einige Vorfahren zusammen.“ Tajo hatte ihre kaum hörbaren Worte sehr wohl verstanden.
     „Hm, und nach was sollen wir hier nun konkret suchen?“, fragte Alea unschlüssig und betrachtete die Vielzahl der riesigen Kolosse. „Auf den ersten Blick schauen sich die Statuen alle sehr ähnlich.“
     „Tja, das ist eine gute Frage. Vermutlich nach irgendwelchen Auffälligkeiten oder so etwas in der Art“, meinte Tajo und blickte an der Statue vor ihm empor.
     „Auffälligkeiten …, hm, das kann aber vieles sein und auch nichts“, murmelte Alea nachdenklich und studierte bereits aufmerksam die Inschrift der ersten Statue.
     „Am besten wird es sein, wenn wir der Reihe nach erst einmal die Inschriften auf den Sockeln lesen“, schlug sie pragmatisch vor. Da die beiden Brüder mit dieser Vorgehensweise einverstanden waren, stimmten sie ihr sofort zu.
     Konzentriert las Alea die Daten der verschiedenen Gedenktafeln, während sie gemächlich von einer Statue zur nächsten wanderte. Nach der Zehnten stutzte sie plötzlich. Nachdenklich stützte sie das Kinn auf ihre Hand. Nach kurzem Überlegen begann sie zu sprechen.
     „Schaut mal her!“, rief sie ihren Begleitern zu. Eilig liefen Tajo und Matteo zu ihr hin.
     „Hast du etwas gefunden, Alea?“, fragte Tajo erwartungsvoll.
     „Das weiß ich noch nicht, aber mir ist etwas Merkwürdiges aufgefallen.“ Ihr Zeigefinger deutete demonstrativ auf die Jahreszahlen der Inschrift.
     „Mir fällt auf, dass einzelne eurer Vorfahren ungefähr neunhundert Jahre alt geworden sind. Einer davon sogar beinahe eintausend Jahre.“ Voller Verblüffung starrte sie die Brüder an.
     „Das ist doch nicht normal, oder? Mein Vater hat mir erzählt, dass wir eine Lebenserwartung von ungefähr zweihundert Jahren haben …“, grübelte sie laut.
     „… weshalb haben dann ein paar von euren Vorfahren fast fünfmal so lange gelebt?“, fragte sie verwirrt und schaute die Brüder erwartungsvoll an. Irritiert wechselten die beiden erstaunte Blicke miteinander.
     „Hm, du hast recht. Das ist tatsächlich sehr ungewöhnlich“, stimmte ihr Tajo zu, während er die Jahreszahl auf der Gedenktafel vor ihnen intensiv betrachtete.
     „Lesen wir doch am besten mal alle Inschriften. Vielleicht erkennen wir dann ein Muster, zum Beispiel wie häufig das vorkommt oder irgendetwas Ähnliches in der Art“, schlug Alea voller Eifer vor. Endlich hatten sie einen ersten Anhaltspunkt für ihre Suche gefunden. Begeistert hüpfte sie bereits zur nächsten Statue weiter.
     „Ha, schon wieder ein Rätsel, das es zu lösen gilt“, jubelte sie voller Enthusiasmus. Mit leicht gebeugtem Oberkörper entzifferte sie die nächsten Jahreszahlen.
     Sie war bereits voll in ihrem Element. Ihre Augen blitzten voller Spannung und ihre Wangen waren vor Aufregung zart gerötet. Das Lösen von Rätseln bereitete ihr größtes Vergnügen. Unabhängig davon, wie alt diese auch waren. Mit Hingabe versuchte sie, die verschiedenen Hinweise miteinander zu verknüpfen, um eine Lösung zu finden.
     Matteo und Tajo grinsten sich vielsagend an und gingen Alea vorsorglich aus dem Weg. Seit ihrer Suche im Tempel der Mondgöttin kannten sie ihre Vorliebe in Bezug auf geheimnisvolle Denkspiele.
     Ihrer Beharrlichkeit und ihrem Ideenreichtum vertrauten sie voll und ganz. Wenn jemand in der Lage war, das Rätsel zu entschlüsseln, dann war es garantiert sie. Davon waren sie felsenfest überzeugt.
     Vor jedem Sockel hielt sie kurz an. Konzentriert arbeitete sie sich vor, bis sie bei der letzten Statue angelangt war. Irritiert schüttelte sie den Kopf. Unvermittelt drehte sie sich um und lief wieder auf die erste Statue zu. Nochmals begann sie von vorn.
     Nach der Hälfte der Gedenktafeln brach sie ihre Untersuchungen plötzlich ab. Triumphierend drehte sie sich auf dem Absatz um. Eilig lief sie zu den Brüdern hin, die sie in einigem Abstand verfolgten und in Ruhe gewähren ließen.
     „Mir ist etwas Interessantes aufgefallen“, berichtete sie voller Stolz und ihre Wangen glühten vor Aufregung.
     „Nur ein paar eurer ältesten Vorfahren sind zwischen neunhundert und tausend Jahre alt geworden“, stellte sie verwundert fest.
     „Erst ab diesem Vorfahren dort drüben wurden eure Ahnen ungefähr zweihundert Jahre alt und nicht mehr älter.“ Mit dem Finger deutete sie auf eine Statue, die weiter entfernt von ihnen stand.
     „Was kann die Ursache hierfür nur sein?“, fragte sie und blickte sich ratlos um.
     „Na ja, die gesunde Ernährung und viel Sport werden es wohl nicht gewesen sein“, witzelte Matteo, was ihm einen derben Knuff seines älteren Bruders zwischen seine Rippen bescherte.
     „Autsch, das tat weh“, japste er mit gespielter Empörung.
     „Jungs, jetzt im Ernst. Was könnte der Grund dafür sein?“, fragte Alea erneut und blickte zwischen den zwei blauen Augenpaaren hin und her. Lediglich ein doppeltes ratloses Achselzucken folgte als Antwort.
     Ein weiteres Mal wandte sie sich der ersten Statue zu. Gründlichst studierte sie diese vom Scheitel bis zur Sohle. Anschließend wanderte sie von einer zur nächsten weiter. Nach der fünften Statue stellte sie verwundert fest:
     „Das fällt mir erst jetzt auf! Obwohl sich die Statuen sehr ähneln, sieht doch jede von ihnen anders aus. Keine gleicht einer anderen.“
     Zur Sicherheit setzte sie ein paar Schritte zurück, um die Gesichtszüge der Giganten miteinander zu vergleichen. Aus größerer Entfernung fiel ihr der Überblick über die unterschiedlichen Ausprägungen in den versteinerten Mienen leichter.
     „Tatsächlich. Jede verfügt über ein anderes Antlitz“, fasste sie das Ergebnis ihrer Analyse zusammen. „Keines kommt ein zweites Mal vor.“
     Neugierig betrachteten Tajo und Matteo die verschiedenen Gesichter ihrer Ahnen. Mit weit in den Nacken gelegten Köpfen starrten sie zu den gewaltigen Häuptern empor.
     „Höchstwahrscheinlich wurden sie jedem Ahnen nachempfunden und weisen deswegen vermutlich eine Ähnlichkeit mit dem Verstorbenen auf“, mutmaßte Tajo und ließ seinen Blick nochmals aufmerksam über die riesenhaften Steinfiguren schweifen.
     „Das könnte allerdings so sein. Das bedeutet aber, dass sich diese Statuen doch nicht so sehr ähneln, wie es auf den ersten Blick erscheint“, grübelte sie laut vor sich hin.
     „Hm, vielleicht sollten wir auch noch die Körper der Statuen gründlich miteinander vergleichen, obwohl diese doch eine große Ähnlichkeit aufweisen“, schlug Alea voller Eifer vor.
     „Eventuell fallen uns noch weitere Dinge auf, worin sie sich entweder unterscheiden oder ähneln“, meinte sie und fing bereits mit der Musterung der ersten Statue wieder an. Ihre Beharrlichkeit war in der Tat schier grenzenlos.
     Beeindruckt von ihren Vorschlägen und von ihrer systematischen Vorgehensweise folgten ihr Tajo und Matteo gemächlich hinterher. Die Minuten vergingen in stillem Schweigen und mit dem intensiven Studium der Steinkolosse.
     Plötzlich schnippte Alea mit den Fingern und schnalzte laut mit der Zunge. Abrupt fuhren die Brüder zu ihr herum.
     „Hast du etwas gefunden?“, fragte Tajo sie voller Erwartung.
     „Ich glaube schon“, sagte sie und strahlte über das ganze Gesicht.
     „Schaut nur!“ Ihr ausgestreckter Finger zeigte bei der Statue, neben der sie stand, auf die rechte Hand.
     „Fällt euch da etwas auf?“, fragte sie die Brüder, die daraufhin nur verständnislos die Köpfe schüttelten.
     „Nein, was soll uns denn auffallen?“, fragte Tajo und begutachtete die Statue gründlich.
     „Seht ihr denn nicht den Ring am Mittelfinger?“ Aufgeregt deutete sie auf die Stelle und wedelte mit dem Finger hin und her.
     „Doch, den sehe ich und was ist daran so besonders?“, fragte Matteo ohne jegliche Ahnung. Deutlich konnte Alea an seiner Miene ablesen, dass er sich keinen Reim darauf machen konnte.
     „Na ja, mir ist aufgefallen, dass er nur an den Statuen vorhanden ist, bei denen eure Vorfahren fast tausend Jahre alt geworden sind.“ Erwartungsvoll blickte sie Tajo an.
     „Bei allen anderen ist er nicht vorhanden“, fügte sie entschieden an.
     „Und was bedeutet das nun?“, fragte Matteo hilflos, der noch immer nichts mit dieser neuen Erkenntnis anzufangen wusste.
     „Das weiß ich noch nicht, aber wir kommen schon noch hinter das Geheimnis“, erwiderte Alea zuversichtlich.
     Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen, um darüber in Ruhe nachzudenken. Plötzlich riss sie die Augen auf und ein leiser Aufschrei entfloh ihren Lippen. Erschrocken fuhren die Brüder zusammen.
     „Was ist los, Alea?“, verlangte Tajo sofort zu erfahren. Besorgt musterte er seine Liebste. „Ist alles in Ordnung mit dir?“
     „Ja, ja. Mir ist nur gerade etwas eingefallen, was ich schon vergessen hatte“, antwortete sie atemlos und ein ungläubiges Staunen breitete sich immer mehr auf ihren feinen Gesichtszügen aus.
     „Es muss der Ring sein. Da bin ich mir inzwischen ganz sicher.“ Ihre Stimme klang vor Aufregung eine Spur höher.
     „Weshalb bist du dir so sicher?“, wollte Tajo wissen und runzelte ratlos die Stirn.
     „Ich habe ihn schon einmal gesehen.“ Aleas Augen leuchteten geheimnisvoll.
     „Was? Du hast den Ring schon einmal gesehen? Wo?“, verlangte Matteo zu erfahren und wippte ungeduldig auf einem Fuß.
     „Wenn ich euch das erzähle, dann haltet ihr mich bestimmt für verrückt“, brummte Alea leise vor sich hin.
     „Na, sag schon, spanne uns nicht weiter auf die Folter. Wo hast du den Ring schon mal gesehen?“, fragte nun auch Tajo erwartungsvoll.
     Verlegen verknotete Alea ihre Finger ineinander und senkte verschämt den Blick. Nur ungern sprach sie darüber. Ihr war bewusst, wie ihre Erklärung auf andere wirken musste.
     „Und ihr versprecht mir, dass ihr mich nicht für verrückt haltet?“, fragte sie misstrauisch mit zusammengezogen Augenbrauen.
     „Ja, ja. Wir werden nicht an deinem Geisteszustand zweifeln, der aus unserer Sicht völlig in Ordnung ist“, versicherte ihr Matteo prompt.
     Mit einer unwirschen Handbewegung forderte er sie zum Sprechen auf. Er konnte seine Ungeduld nicht mehr bezähmen. Das Lösen von Rätseln war nicht wirklich sein Ding. Außerdem setzte ihm allmählich die Untätigkeit zu und er hoffte, dass seine Langeweile nun ein baldiges Ende fand. Unentwegt starrte er Alea an.
     „Nachdem wir dir jetzt hoch und heilig versprechen, dich nicht in eine Klapsmühle einzuliefern, kannst du es uns nun unbesorgt verraten.“ Angespannt wippte er unruhig von einem Bein zum anderen.
     „Also, … ich habe den Ring … in einem Traum gesehen“, setzte Alea zögerlich zu einer Erklärung an.
     „In einem Traum?“, platzte Matteo heraus. Sein zweifelnder Blick sprach Bände.
     „Muss ich dich an dein Versprechen erinnern, Matteo?“ Ihr Zeigefinger erhob sich drohend.
     „Nein, nein, erzähle weiter“, erwiderte er hastig.
     „Es ist derselbe Ring, den ich in einem Traum gesehen habe. Kurz bevor Alina und Luca uns gebeten haben, ihnen bei der Suche nach den drei Metallteilen zu helfen, sah ich ihn“, fuhr sie fort und strich sich verlegen mit der Hand eine Haarsträhne aus der Stirn.
     Zwei Augenpaare ruhten forschend auf ihr. Mit ernsten Mienen hörten die Brüder ihr aufmerksam zu.
     „In der Nacht vor ihrem Besuch habe ich von Turkes, Azur und Luna geträumt“, sagte sie und vor ihrem inneren Auge zogen nochmals die Bilder aus der Vergangenheit herauf.
     „Die drei standen auf einer erhobenen Plattform und vor ihnen tobte eine wütende Menschenmenge“, fuhr sie fort.
     „An Turkes Arm konnte ich den Armreif mit meinem Anhänger erkennen, in Lunas Hand das silberne Amulett und an Azurs Hand blitzte ein Ring in der gleißenden Sonne auf.“ Nach und nach fielen ihr immer mehr Details ein.
     „Ich konnte deutlich sehen, dass der goldene Ring aus einem achteckigen, tiefblauen Stein bestand, der von mehreren hellen Steinchen eingefasst wurde.“ Unsicher blickte sie ihre beiden Zuhörer an, die keinen Laut von sich gaben und gebannt ihren Worten lauschten.
     „Dieser Ring an Azurs Hand weist eine verblüffende Ähnlichkeit mit der groben Abbildung des Schmuckstücks an den Statuen auf.“ Ihre ausgestreckte Hand deutete auf das Achteck, das an dem Mittelfinger des stummen Wächters vor ihnen eindeutig zu erkennen war.
     Perplex starrten die Brüder zu dem steinernen Ring an der Statue hinauf.
     „Wow, ich kann das kaum glauben“, presste Matteo überrascht hervor und betrachtete Alea bewundernd von oben bis unten. Seine anfänglichen Zweifel hatten sich vollends zerstreut.
     „Du verblüffst mich immer mehr“, meinte er zutiefst beeindruckt.
     „Was du nicht alles in deinen Träumen siehst.“ Staunend blickte er sie an.
     „Bedeutet das, dass du auch das Amulett bereits gesehen hast, bevor uns Alina ihre Ausgabe zeigte?“, fragte er sie verblüfft. Deutlich war ihm seine Verwunderung anzusehen.
     „Ja, das stimmt“, bestätigte Alea mit einem energischen Kopfnicken.
     „Das ist unglaublich“, sagte nun Tajo laut. Auch er war zutiefst beeindruckt.
     „Aber ich glaube dir jedes Wort. Ich denke, dass zwischen dir und Turkes irgendeine sonderbare Beziehung besteht, die dafür verantwortlich ist, dass du solche Bilder siehst“, erklärte er ihr seinen Gedankengang.
     „Die exakte Ursache dafür kenne ich nicht, aber ich vermute das Gleiche wie du“, pflichtete sie ihm bei.
     „Meiner Meinung nach kann das kein Zufall sein, dass sich der Ring aus meinem Traum und die Abbildung an den Statuen gleichen“, meinte sie entschieden.
     „Nach meiner Ansicht steht somit fest, dass Azurs Erbe irgendetwas mit diesem Ring zu tun hat.“ Mit großen Augen betrachtete sie ihre beiden fassungslosen Zuhörer.
     „Das kann definitiv kein Zufall sein“, wiederholte sie ihre Annahme, von der sie sichtlich überzeugt war.
     „Ja, ich denke, dass du recht hast, Alea“, stimmte ihr Tajo sofort zu.
     „Jetzt müssen wir aber noch herausfinden, was es mit dem Ring auf sich hat und wo er sich befindet.“ Nachdenklich wanderte sein Blick von Alea zur Statue und anschließend zur kunstvoll verzierten Grabplatte weiter.
     Alea folgte seinem entschlossenen Blick. Nur zu gut kannte sie den unbeirrbaren Ausdruck in seiner Miene. Er stand eindeutig dafür, dass nichts und niemand ihn von seinem geplanten Vorhaben abhalten konnte. Sie spürte, wie ihr bereits ein kalter Schauer über den Rücken lief. Ihr schwante Böses.
     „Das ist jetzt aber nicht dein Ernst. Du willst doch hoffentlich nicht in alle Gräber schauen, um nach dem Ring zu suchen?“, fragte sie ihn sichtlich entsetzt.
     Tajo wechselte einen ernsten Blick mit seinem Bruder. Matteo verstand seine stumme Botschaft sofort.
     „Uns bleibt wohl oder übel gar nichts anderes übrig, als nachzuschauen, ob er sich in irgendeinem der Gräber befindet“, meinte Matteo mit gepresster Stimme. Auch ihm schien der Gedanke nicht sonderlich gut zu gefallen.
     „Aus meiner Sicht müssen wir nicht in allen Gräbern nachschauen. Ich denke, dass es ausreicht, wenn wir nur bei der letzten Statue nachsehen, bei der der Ring an der rechten Hand abgebildet ist“, erwiderte Tajo unbeirrt.
     „Da er danach nicht mehr auftaucht, muss er zu diesem Zeitpunkt verschwunden sein. Davor wurde er anscheinend mehr oder weniger regelmäßig an die Nachfahren weitergegeben“, ergänzte er in überzeugendem Tonfall.
     „Hm, deine Argumentation scheint logisch zu sein. Mich würde nur interessieren, weshalb sich die Spur des Ringes verliert und warum wir als direkte Nachfahren von Azur nichts von ihm wussten“, meinte Matteo argwöhnisch.
     „Was ist an dem Ring schon so Besonderes dran?“, fragte er mehr sich selbst und rechnete nicht mit einer konkreten Antwort.
     „Vermutlich werden wir das erst herausfinden, wenn wir ihn gefunden haben“, erwiderte sein älterer Bruder.
     Stumm verfolgte Alea den Wortwechsel zwischen den beiden Brüdern. Ihr war alles andere als wohl in ihrer Haut, wenn sie daran dachte, dass sie entschlossen waren, einen Blick hinter die Grabplatte des letzten Ringträgers zu werfen.
     Zweifelnd runzelte sie die Stirn. Während sie leicht den Kopf schüttelte, versteckte sie ihr Gesicht hinter ihrer flachen Hand. Hörbar atmete sie tief ein und aus.
     „Und ihr beide seid wirklich der Meinung, dass das eine gute Idee ist, einfach mal ein Grab zu öffnen?“, wagte sie zu fragen. „Ich halte das nämlich für gar keine gute Idee.“ Ihr strafender Blick fixierte die beiden ernsten Brüder.
     In Gedanken sah sie bereits die brüchigen Gebeine eines längst verwesten menschlichen Körpers vor sich. Mit Grausen stellte sie sich die bleichen Knochen eines klapprigen Skeletts vor. Nein, sie wollte definitiv nicht die blanken Überreste eines Verstorbenen sehen oder sogar berühren. Angeekelt verzog sie ihre Mundwinkel nach unten.
     Zudem wollte sie die letzte Ruhestätte eines Vorfahren nicht durch ihre ungebührliche Neugier entehren. Ihrer Meinung nach sollten die Verstorbenen in ihrer immerwährenden Ruhe nicht gestört werden. Genau genommen war sie sogar über Tajos Ansinnen mehr als entsetzt. Mit Schrecken erkannte sie die unerbittliche Entschlossenheit in seiner todernsten Miene.
     „Wenn wir Gewissheit darüber erlangen wollen, müssen wir wohl oder übel einen Blick hinter die Grabplatte werfen.“ Sein entschiedener Tonfall ließ keine Zweifel an seinem ernsthaften Ansinnen aufkommen.
     „Mir gefällt das zwar auch ganz und gar nicht, aber ich denke, dass du recht hast. Mir müssen uns unbedingt Gewissheit verschaffen“, meinte Matteo und schloss sich notgedrungen der Meinung seines Bruders an.
     Nach einem letzten intensiven Blick in Aleas tadelnde Miene drehten sie sich auf dem Absatz um und marschierten zielstrebig zu der Statue, hinter der sich ihr Ziel befand.
     Zögernd folgte sie ihnen in gebührlichem Abstand hinterher. Keinesfalls wollte sie zu nah am Geschehen sein. Noch immer konnte sie es nicht glauben, was sie in den nächsten Minuten zu tun gedachten.
     An der Ruhestätte angekommen untersuchte Tajo mit tastenden Fingern behutsam die Ränder der kunstvoll verzierten Grabplatte. Offensichtlich suchte er nach einem verborgenen Öffnungsmechanismus.
     Aus der Sicherheit von fünf Metern Entfernung beobachtete Alea mit Argusaugen jede seiner Bewegungen. Aus Abscheu über ihre geplante Tat presste sie beide Hände flach vor Mund und Nase. Noch immer schüttelte sie leicht ihren Kopf, um ihrem Unmut und ihrer Missbilligung Ausdruck zu verleihen. Hilflos musste sie akzeptieren, dass ihre stille Gegenwehr niemanden interessierte.
     Während Tajo mit großer Sorgfalt die Abdeckplatte erforschte, stellte sich Alea bereits mit heftigem Schaudern das bleiche Skelett vor, das sie in dem Sarg vorfinden würden. Ihre lebhafte Fantasie lief dabei zur Hochform auf.
     Vor ihren Augen sah sie, wie der blanke Schädel vor Missbilligung über ihr respektloses Handeln mit den Zähnen klapperte. Die dürren Handknochen schwangen dabei abwehrend hin und her. Die langen Gebeine setzten zu energischen Fußtritten an, um die dreisten Eindringlinge zu vertreiben. Vor Grauen schüttelte sie sich, bis sie durch Tajos Stimme aus ihren albtraumhaften Vorstellungen gerissen wurde.
     „Matteo, kannst du bitte hier mal mit anfassen.“ Seine Fingerspitzen verharrten am linken und rechten oberen Rand der Grabplatte. Mit einem auffordernden Seitenblick zu seinem Bruder bat er ihn um Hilfe.
     „Die Platte ist hier oben eingehängt. Am besten ist es, wenn wir sie beide vorsichtig anheben und danach abnehmen. Ich vermute, dass sie nicht gerade ein Leichtgewicht sein wird“, meinte Tajo und blickte Matteo bereits Hilfe suchend an.
     Nur eine Sekunde später packte Matteo an der linken und Tajo an der rechten oberen und unteren Ecke an. Nach einem kurzen Kopfnicken hoben sie die schwere Platte gleichzeitig an. Unter angestrengtem Ächzen lösten sie diese vorsichtig aus ihrer Verankerung und stellten sie sorgsam auf dem Boden ab. In leichter Schräglage lehnte sie nun gegen die Wand.
     Im selben Moment rieselte eine ordentliche Ladung Staub zu Boden. Alea spürte schlagartig, wie sich ihr Puls beschleunigte. Mit angehaltenem Atem starrte sie in die dunkle Öffnung. Jeden Augenblick erwartete sie, dass ein wütendes Skelett mit einem riesigen Satz auf sie zusprang, um sie entschlossen zu verscheuchen.
     Entgegen ihrer schaurigen Befürchtung blieb jedoch alles ruhig. Angestrengt fixierte sie die dunkle Öffnung. Noch konnte sie nichts erkennen. Die beiden Brüder versperrten ihr mit ihren breiten Rücken weitestgehend die Sicht. Neugierig starrten sie in die freigelegte Wandnische. Dann hörte Alea Tajos überraschten Aufschrei.
     „Das Grab ist vollkommen leer!“, rief er voller Verblüffung aus.
     Mit Entsetzen sah sie, wie sein rechter Arm vollständig in der dunklen Öffnung verschwand. Ihr aufgeregter Verstand hatte die Bedeutung seiner kurzen Botschaft noch gar nicht erfasst. Jeden Moment erwartete sie, dass etwas Gefährliches nach seinem Arm griff und ihn brutal in das Innere der Öffnung zerrte. Sie war bereits versucht, zu ihm zu hechten, um ihn vor einem schrecklichen Schicksal zu bewahren.
     Stattdessen drehte er sich sichtlich enttäuscht zu ihr um. Er blickte ihr direkt in die vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen.
     „Da ist nichts drin. Keine Gebeine, keine Stoffreste, kein Ring, gar nichts.“ Auffordernd winkte er sie zu sich heran.
     „Das Grab ist definitiv leer“, wiederholte er zerknirscht.
     „Schau selbst, Alea“, forderte er sie zum Nähertreten auf.
     Nach einem skeptischen Blick setzte sie sich zögerlich in Bewegung. Währenddessen trat Tajo einen großen Schritt beiseite, um ihr den Blick in das leere Innere des Grabs zu gewähren.
     Erst in diesem Moment realisierte ihr aufgebrachter Verstand, dass die gruseligen Bilder in ihrem Kopf nur ihrer lebhaften Fantasie entsprangen. Erleichtert und zugleich erstaunt stieß sie mit einem leisen Laut ihren Atem aus. Vor Anspannung hatte sie nicht gemerkt, dass sie die Luft angehalten hatte. Scheu warf sie einen Blick in die dunkle Öffnung.
     „Tatsächlich. Das Grab ist vollkommen leer. Wo sind denn der Sarg und die sterblichen Überreste abgeblieben?“, fragte sie verwundert.
     „Das würde mich auch sehr interessieren“, meinte Matteo verdutzt und blickte ebenfalls irritiert in die dunkle Wandöffnung hinein.
     „Hm, es ist schon sehr merkwürdig, dass ausgerechnet dieses Grab leer ist“, meinte Tajo, während er mit den Fingerspitzen nachdenklich gegen seine Wange trommelte.
     „Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass in den anderen Gräbern ebenfalls die Särge oder die menschlichen Überreste fehlen.“
     Angestrengt dachte er nach. Es dauerte nur einen kurzen Moment, bis er eine stille Entscheidung getroffen hatte. Alea schwante Schreckliches, insbesondere beim Anblick seiner entschlossenen Miene.
     „Du hast doch nicht das vor, was ich gerade denke …?“ Argwöhnisch starrte sie ihn voller Abscheu an.
     Wenn ihre Blicke hätten töten können, würde er bereits leblos zu ihren Füßen liegen. Mit einem energischen Ruck und ihren Einwand ignorierend wandte sich Tajo seinem Bruder zu.
     „Ob auch andere Ruhestätten leer sind, finden wir nur heraus, indem wir ein weiteres Grab öffnen“, widersprach er ihr mit unerbittlicher Stimme.
     Mit einer auffordernden Geste bat er bereits Matteo, ihm beim Abnehmen einer zweiten Grabplatte zu helfen. Fassungslos erstarrte Alea zur Salzsäule. Sie wagte es nicht, sich auch nur einen einzigen Millimeter zu bewegen.
     Dann ging alles ganz schnell. Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete sie, wie die beiden eine weitere Abdeckplatte unter lautem Ächzen auf dem Boden abstellten. Nach einem kurzen Blick in das Innere signalisierte Tajo ihr mit einer abwehrenden Handbewegung, dass sie nicht näher kommen sollte. Anscheinend hatte dieses Grab einen Bewohner.
     „Komm nicht näher, wenn du keine bleichen Knochen sehen willst. Dieses Grab ist eindeutig nicht leer“, meinte er in ihre Richtung und bedeutete Matteo bereits, ihm beim Verschließen der Öffnung zu helfen.
     Alea spürte, wie ihr Herzschlag für einen kurzen Moment aussetzte. In ihrer Fantasie richtete sich das rachsüchtige Skelett bereits zu seiner vollen Größe auf. Um die unerwünschten Störenfriede zu vertreiben, setzte es zu einem beherzten Sprung an.
     Vor Grauen erzitterte sie am ganzen Körper und schloss vorsorglich die Augen. Entgegen ihrem inneren Horrorszenario passierte nichts dergleichen. Sie hörte nur das Ächzen der Brüder, während sie die zwei Abdeckungen wieder an ihre Plätze hängten.
     Nachdem beide Grabplatten wieder ordnungsgemäß an ihrem Ursprungsort verankert worden waren, drehten sich die Brüder mit ernster Miene zu ihr um. Da sich ihr innerer Wirbelsturm mittlerweile abzuschwächen begann, blieb ihr deren offensichtliche Ratlosigkeit nicht verborgen. Nachdenklich wanderte Tajos Blick zwischen ihr und seinem Bruder hin und her. Unvermittelt setzte er zum Sprechen an.
     „Also, es scheint so, als ob nicht alle Gräber leer sind, sondern vermutlich nur das eine“, zog er ein kurzes Resümee.
     „Dann stellt sich die Frage, wo sind der Sarg oder die sterblichen Überreste des letzten Ringträgers abgeblieben und welche weiteren konkreten Ergebnisse haben unsere Untersuchungen bisher nun ergeben?“, fragte er mehr sich selbst, während er seine Gedanken ordnete.
     „Wir wissen nun, dass Azur einen Ring besaß, der bis zu einem gewissen Zeitpunkt an seine Nachfahren weitergeben worden ist“, begann er mit der Zusammenfassung seiner Erkenntnisse.
     „Zudem wissen wir, dass die Gebeine des letzten Ringträgers nicht in seinem Grab liegen, wie es eigentlich sein sollte …“, fuhr er fort.
     „… und wir wissen nun, dass einige unserer Vorfahren beinahe tausend Jahre alt geworden sind“, ergänzte er und musterte seinen jüngeren Bruder, der bei jeder seiner Aussagen zustimmend mit dem Kopf nickte.
     „Das bedeutet, wir haben ein kleines Stückchen unseres Rätsels gelöst und weitere entdeckt“, schloss er seine kurze Zusammenfassung ab.
     „Ich denke, dass wir nun als Nächstes das wahre Grab des letzten Ringträgers finden müssen.“ Nachdenklich kratzte sich Tajo am Kinn.
     „Und wie soll uns das gelingen?“, fragte Matteo ratlos.
     „Dazu sollten wir nochmals mit unserem Vater sprechen und darüber, was in seinem Familienarchiv alles aufbewahrt wird“, schlug Tajo vor.
     „Um mit der nächsten Suche beginnen zu können, brauchen wir handfeste Hinweise, wo das Grab des letzten Ringträgers sein könnte“, ergänzte er bestimmt. Alea und Matteo widersprachen ihm nicht.
     „Gut, dann sollten wir uns nun wieder auf schnellstem Wege auf den Heimweg begeben, denn ich glaube nicht, dass wir hier noch weitere Anhaltspunkte finden werden.“
     Mit einer ausholenden Handbewegung bat er Alea stumm, mithilfe ihres Stifts ein Portal zu öffnen. Wenige Sekunden später verschwanden sie aus der Halle der Ahnen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752137064
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Portalreisen Artefakt Besondere Fähigkeiten Geheimnis Parallelwelt Trilogie Liebesroman Liebe

Autor

  • Lorena Liehmar (Autor:in)

Die Autorin lebt heute mit ihrem Mann nahe einer Kleinstadt in Bayern. Bevor sie mit dem Schreiben begann, arbeitete sie jahrelang als Managerin bei einem deutschen Großkonzern. Ihr Berufsleben war geprägt von Zahlen, Daten und Fakten. Im Gegensatz hierzu lebt sie beim Schreiben ihre Kreativität aus und entführt den Leser in eine geheimnisvolle Parallelwelt.
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Titel: Blau schimmert nicht nur ein Saphir