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Tödliche Vetternwirtschaft

Leo Schwartz ... und die Giftmorde

von Irene Dorfner (Autor:in)
207 Seiten
Reihe: Leo Schwartz, Band 12

Zusammenfassung

Der erfolgreiche, vermögende und überall beliebte Architekt Gerald Haferstock starb eines natürlichen Todes. Viele Menschen in seiner Umgebung sind nicht davon überzeugt. Susanne Bruckmayer überredet Rudolf Krohmer, Leiter der Polizeiinspektion Mühldorf am Inn, sich der Sache anzunehmen. Leo Schwartz und Hans Hiebler nehmen die Ermittlungen auf. Je tiefer sie graben, desto mehr sind die beiden davon überzeugt, dass Haferstock tatsächlich ermordet wurde. Aber noch fehlen die Beweise. Die Spurensicherung findet im Haus des Toten endlich deutliche Indizien für einen Mord. Wer hatte ein Interesse daran, Haferstock zu töten? Dann wird ein Bekannter Haferstocks auf die gleiche Weise getötet…

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Impressum

Copyright © 2015 Irene Dorfner

Copyright © 2. Auflage/2017 Irene Dorfner

Copyright 3.überarbeitete Auflage 2020 –

© Irene Dorfner, Postfach 1128, 84495 Altötting

www.irene-dorfner.comLektorat FTD-Script Altötting

EarL und Marlies Heidmann, Erkelenz

Cover-Design: Vanja Zaric, D-84503 Altötting

VORWORT

„Da flehen die Menschen die Götter um Gesundheit an, und wissen nicht, dass sie die Macht darüber selbst besitzen.”

Demokritos

Ich wünsche ganz viel Spaß beim Lesen des 12. Falles mit Leo Schwartz & Co.!!

Liebe Grüße aus Altötting

Irene Dorfner

ANMERKUNG:

Die Personen und Namen in diesem Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Der Inhalt des Buches ist reine Fantasie der Autorin. Auch hier sind Ähnlichkeiten rein zufällig. Die Örtlichkeiten wurden den Handlungen angepasst.

…und jetzt geht es auch schon los:

1.

Ein riesiges Feuer brannte in dieser Einöde und sah dabei einem Scheiterhaufen gleich. Der alte Bauernhof wurde hell erleuchtet. Einige Männer, es müssten über 20 sein, standen mit Bierflaschen in der Hand um dieses Feuer und sangen, nein, sie brüllten irgendwelche Lieder, die er nicht verstand. Aber was und wie sie sangen, klang bedrohlich und schüchterte ihn ein. Was zum Teufel war hier los?

Ungläubig verfolgte er zitternd vor Angst und Kälte, was hier abging. Mehrfach glaubte er zu träumen, das Ganze war einfach zu unwirklich. Er lag in der sternenklaren Nacht hinter einem Hügel und war von dem Geschehen etwa 100 Meter entfernt. Näher traute er sich nicht, denn um den Bauernhof gab es nichts, was ihm sicheren Schutz bieten konnte. Seinen Wagen hatte er auf einem Feldweg geparkt und nachdem er sah, was sich vor seinen Augen abspielte, betete er darum, dass weder er, noch sein Wagen entdeckt würde. Alles in ihm brüllte: Weg hier, so schnell wie möglich! Aber er hatte so viel Angst, dass er sich nicht getraute, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Er befürchtete, dass alleine sein Atem ihn verraten könnte. Er zog sich deshalb die Mütze vom Kopf und hielt sie vor Mund und Nase. Seine Glieder waren längst steif geworden, was er überhaupt nicht wahrnahm, zu sehr fesselten ihn die Geschehnisse. Wie lange war er schon hier? Er hatte längst jedes Zeitgefühl verloren, es hätten Minuten oder auch Stunden sein können.

Die Stimmung unter den Männern änderte sich. Es war still geworden, dieses fürchterliche Gebrüll hatte aufgehört und er hörte nur noch die gespenstische Stille der Nacht, was fast noch unheimlicher war. Einer der Männer kam aus dem Haus und entfaltete jetzt feierlich und unter zunehmenden Begeisterungsrufen ein Tuch, das dann an der Fahnenstange an der Seite des Bauernhofes mit zunehmendem, immer stärkerem Beifall gehisst wurde. Er konnte es nicht glauben: Hier, mitten in der Einöde Oberbayerns, vor den Toren des beschaulichen Wallfahrtsstädtchens Altötting am heutigen Ostermontag 2015 wurde im Beisein einer Gruppe brüllender, klatschender Männer eine Hakenkreuzfahne gehisst!

2.

„Ich wurde von einer Bekannten gebeten, einen Todesfall zu überprüfen,“ sagte Rudolf Krohmer, Leiter der Polizeiinspektion Mühldorf, als er mit seinen Kollegen der Mordkommission an diesem sonnigen Dienstagmorgen des 7. April im Besprechungszimmer saß. Das vergangene Osterwochenende war außergewöhnlich ruhig gewesen, obwohl man zu solchen Familienfesten immer mit dem Schlimmsten rechnen musste. Für den Großteil der Polizisten bestand zu diesen Feiertagen eine Urlaubssperre, von der die Beamten und deren Familien verständlicherweise nicht begeistert waren. Aber es war nun mal so: An Familienfeiertagen wurde die Polizei am häufigsten gerufen.

„Wir sollen einen Todesfall überprüfen? Wenn der nicht bei uns gelandet ist, gehe ich davon aus, dass es sich dabei um eine natürliche Todesursache handelt. Das ist nicht Ihr Ernst Chef,“ maulte Viktoria Untermaier, die nichts von diesen Klüngeleien hielt, mit denen sich Krohmer immer wieder abgab. Die 48-jährige, nur 1,65 m große Frau mit der sehr weiblichen Figur war die Leiterin der Mordkommission und hasste es, wenn sie sich mit solcher Arbeit herumschlagen musste.

„Ich weiß, wie sich das anhört. Bevor Sie vorschnell urteilen, hören Sie sich die Sache wenigstens an.“

„Von mir aus,“ sagte Leo Schwartz, der bisher nicht den Eindruck hatte, dass sich der Chef mit unsinnigen Geschichten auseinandersetzte, denn für ihn war Krohmer ein intelligenter und besonnener Mensch, der das Herz auf dem rechten Fleck hatte. Leo mochte Krohmer sehr. Er hatte ihm von Anfang an die Eingewöhnung in Mühldorf nach seiner Versetzung von Ulm hierher sehr einfach gemacht und ihn immer fair und gerecht behandelt. Und obwohl er dazu neigte, seine eigenen Wege zu gehen, um ans Ziel zu kommen, hatte ihm der Chef immer wieder den Rücken gestärkt und hatte ihm stets vertraut.

„Bei meiner Bekannten handelt es sich um eine Spielkameradin aus frühen Kindertagen, wir sind quasi Tür an Tür aufgewachsen. Ihr Name ist Susanne Bruckmayer, wir sind uns am Sonntag während der Ostermesse über den Weg gelaufen. Ich war sehr überrascht, sie nach so vielen Jahren wieder zu sehen und ich habe sie anfangs überhaupt nicht erkannt, schließlich haben wir uns seit fast 35 Jahren nicht mehr gesehen. Sie ist inzwischen aufgrund einer Erkrankung pensioniert, sie war viele Jahre in leitender Position beim Jugendamt in München beschäftigt. Ihre Eltern sind letztes Jahr kurz hintereinander verstorben, wodurch sie das Haus in Mühldorf geerbt hat und wieder hierher gezogen ist.“

„Das ist ja alles sehr rührselig und für manche auch bestimmt interessant. Aber um was geht es denn jetzt genau?“ Viktoria Untermaier war genervt von der Lebensgeschichte der Unbekannten, für die sie sich nicht interessierte.

„Susanne hatte einen Bekannten, der kürzlich urplötzlich verstorben ist. Aus heiterem Himmel.“

„Das soll vorkommen,“ brummte Viktoria.

„Auf dem Totenschein wurde Herzversagen als Todesursache angegeben, aber Susanne glaubt nicht daran. Sie kannte den Verstorbenen sehr gut, vor allem in den letzten Wochen hatte sie viel Zeit mit ihm verbracht. Sie hat mich inständig gebeten, der Sache nachzugehen.“

„Und auf welche Grundlagen stützt sich die Vermutung Ihrer Bekannten?“

„Nur eine Ahnung. Beweisen kann sie natürlich nichts. Aber Susanne ist keine Frau, die sich Hirngespinsten hingibt. Sie steht mit beiden Beinen auf dem Boden und ist sehr intelligent. Sie hat mich davon überzeugen können, die Sache zu überprüfen.“ Krohmer merkte selbst, dass seine Gründe sehr dünn waren. Trotzdem hatte er versprochen, sich der Sache anzunehmen, sonst hätte Susanne keine Ruhe gegeben. Außerdem hatte er die Sorgen in ihren Augen gesehen.

„Du meine Güte,“ stöhnte Viktoria, „da haben Sie sich aber ganz schön einlullen lassen. Wie lange haben Sie die Frau nicht mehr gesehen? 35 Jahre? Sie meinen wirklich, dass Sie die Frau noch so gut einschätzen können? Vergessen Sie’s Chef.“

„Ich habe ihr mein Wort gegeben und würde es sehr begrüßen, wenn sich zwei von Ihnen der Sache annehmen. Hören Sie sich bei der Familie, bei Freunden, Arbeitskollegen und Bekannten des Verstorbenen um. Machen Sie sich ein eigenes Bild und urteilen Sie selbst. Mehr verlange ich nicht.“

„Ich finde, das hört sich nicht verkehrt an. Ich würde das gerne übernehmen,“ sagte Hans Hiebler begeistert. Der 53-jährige, 1,80 m große sportliche und sehr attraktive Mann umgab heute wieder ein sehr betörender Herrenduft, der den anderen fast die Luft nahm. Da kein aktueller Mordfall anstand, lagen alte Mordfälle auf dem Schreibtisch, die die Mordkommission durchzuarbeiten hatte. Er hasste diese Arbeit, mit der sie sich in regelmäßigen Abständen herumplagen mussten. Er machte viel lieber ordentliche, alte Polizeiarbeit. Am liebsten draußen unter Menschen und nicht am Schreibtisch. Man sagt ja, Papier ist geduldig – Hans Hiebler war es in dieser Hinsicht nicht.

„Ich begleite dich,“ rief Leo schnell und kam damit dem neuen Kollegen Sebastian Kranzbichler, genannt Wastl, zuvor, der ebenfalls wie Leo und Hans diese Arbeit nicht mochte und eine Abwechslung witterte. Kranzbichler war enttäuscht; jetzt musste er mit dieser mies gelaunten Viktoria die alten Fälle allein überarbeiten, was bestimmt kein Vergnügen werden würde.

„Ich bedanke mich für Ihr Entgegenkommen, ich weiß das sehr zu schätzen,“ strahlte Krohmer über den Enthusiasmus der Kollegen. „Hier ist die Sterbeurkunde, die ich in weiser Voraussicht mitgebracht habe. Ich wusste ja, dass ich mich auf meine Leute verlassen kann.“ Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Es handelt sich bei dem Toten um einen gewissen Gerald Haferstock, der am Donnerstag den 19.03.2015 gegen 7.30 Uhr in Töging nahe des Wasserschlosses tot aufgefunden wurde. Der 55-jährige Mann war beim Joggen zusammengebrochen. Eine Obduktion wurde aufgrund der festgestellten Todesursache nicht angeordnet. Haferstock war nicht verheiratet und hatte keine Kinder. Seine betagte Mutter lebt in Altötting, hier ist die Adresse. Hören Sie sich um und verschaffen Sie sich einen persönlichen Eindruck. Sie können auch gerne mit Susanne Bruckmayer sprechen, ihre Adresse habe ich ebenfalls notiert.“

„Gerne Chef. Wir fahren sofort los und melden uns direkt bei Ihnen.“

„Viktoria ist heute sehr schlecht gelaunt. Hattet ihr Zoff?“

„Nein, ihr Gemütszustand hat nichts mit mir zu tun,“ sagte Leo Schwartz. Der 50-jährige Schwabe war seit einigen Monaten mit Viktoria liiert, sie wohnten inzwischen sogar schon zusammen. „Letzte Woche kam ein Einschreiben eines Notars aus Eggenfelden. Viktoria wurde über den Tod einer Tante ihres Exmannes informiert. Sie wurde von dieser Tante testamentarisch berücksichtigt und wurde gebeten, in drei Wochen bei diesem Notar zu erscheinen. Sie mochte die alte Dame sehr und hat sofort telefonisch zugesagt, bis ihr schließlich wenig später bewusst wurde, dass sie dort ihrem Exmann über den Weg laufen könnte. Jetzt ärgert sie sich über sich selber und hat seitdem schlechte Laune. Ich finde das alles amüsant und könnte mich totlachen.“

„Das findest du witzig?“

„Natürlich! Wie kann man nur so schnell und ohne nachzudenken reagieren? Gerade der immer besonnenen Viktoria passierte dieser Fauxpas. Sie hat mich gebeten, sie zu begleiten, aber darauf kann ich gerne verzichten. Ich möchte ihrem Exmann nicht über den Weg laufen. Du hast diesen unsympathischen Kotzbrocken doch selbst kennenlernen dürfen. Erinnerst du dich?“

„Sicher erinnere ich mich an Andreas Untermaier. Der harte Kerl von der Spezialeinheit, der beim Sinderhof-Fall in Tüßling die Hosen gestrichen voll hatte. Ich stand direkt neben ihm und Viktoria, als sie ihm mit einem gezielten Schlag die Nase gebrochen hatte.“

Die beiden mussten lautstark lachen, bis sie Tränen in den Augen hatten, denn der muskulöse und durchtrainierte Andreas Untermaier gab damals ein äußerst jämmerliches Bild ab.

„Wenn ihr der Termin bei diesem Notar so unangenehm ist, warum schlägt sie das Erbe nicht einfach aus?“

„Hab ich ihr auch schon vorgeschlagen, mehrfach sogar. Aber sie mochte diese Tante, was ich ihr nicht ganz glaube, denn sie konnte sich kaum an deren Namen erinnern. Ich bin davon überzeugt, dass sie neugierig ist, was ihr vermacht wurde. Du kennst doch Viktoria.“

„Das muss es sein,“ sagte Leo, als er den Wagen vor dem Grundstück in Altötting-Süd parkte. „Hier wohnt die Mutter des Verstorbenen.“

„Donnerwetter! Das nenne ich ein Anwesen!“ rief Hans beeindruckt. Er liebte diese alten Stadthäuser, die für ihn ein gewisses Flair ausstrahlten, das Neubauten einfach nicht hatten. Schon allein deshalb würde er nie aus dem alten Bauernhaus ausziehen, das er von seinen Eltern geerbt und inzwischen modernisiert hatte. Die Felder und Wiesen waren längst verkauft, aber das Bauernhaus selbst würde er niemals hergeben.

Sie klingelten an dem schmiedeeisernen Tor und hatten die Überwachungskamera längst bemerkt, die nun mit einem Summen direkt auf sie gerichtet war. Leo und Hans hielten ihre Ausweise ins Sichtfeld der Kamera, worauf der Öffner des Tors summte. Der Weg zum Haus war wunderschön angelegt. Zwischen den alten Wegplatten lugte nicht ein einziges Unkraut hervor, die Bepflanzung war akkurat geschnitten. Die Tür wurde geöffnet und eine Frau Mitte vierzig stand vor ihnen.

„Kommen Sie herein. Schuhe bitte sauber abtreten! Frau Haferstock duldet keinen Schmutz in ihrem Haus.“

Sie folgten der Frau mit dem energischen Gang in ein riesiges Wohnzimmer, das mit teuren, schweren Möbeln und dicken Teppichen ausgestattet war.

„Die beiden Herren sind von der Polizei. Soll ich Kaffee machen?“

„Nein danke Paula, die Herren werden nicht lange bleiben. Setzen Sie sich bitte. Was kann ich für Sie tun?“

Die alte Frau saß mit einer dicken Wolldecke im Rollstuhl und war weit über 80 Jahre alt. Die stahlblauen Augen waren hellwach und sie sah die Beamten argwöhnisch an.

„Wir sind wegen Gerald Haferstock hier.“

„Wegen meinem Sohn? Warum? Stimmt etwas nicht mit Geralds Tod? Ich wurde darüber unterrichtet, dass er an Herzversagen gestorben ist, was mich wegen seinem unsteten Lebenswandel nicht überrascht hat. Warum also sind Sie hier? Nun sagen Sie schon und spannen mich nicht länger auf die Folter.“ Elisabeth Haferstock war nicht nur resolut, sondern auch sehr ungeduldig.

„Es gibt einige Ungereimtheiten, denen wir nachgehen müssen,“ antwortete Leo rasch, dem die Situation sehr unangenehm war. Hans hingegen hatte sich zurückgelehnt und sagte kein Wort. Er überließ Leo die Befragung und beobachtete jede Regung der Frau. „Dem Totenschein haben wir entnommen, dass Ihr Sohn während dem Joggen am Inn-Ufer in Töging zusammengebrochen ist. Hatte er irgendwelche Vorerkrankungen?“

„Nicht, dass ich wüsste.“

„Wann haben Sie Ihren Sohn zuletzt gesehen?“

„Ich gehe davon aus, dass Sie sich bereits mit mehreren Personen unterhalten haben, die nicht sehr gut auf mich zu sprechen sind. Die Leute reden viel, wenn der Tag lang ist. Vor allem, wenn der Neid in ihnen aufsteigt, schließlich sind wir eine privilegierte, wohlhabende Familie, die es nur mit Disziplin, Fleiß und Verzicht so weit gebracht hat. Egal, was Ihnen die anderen erzählen, mein Sohn und ich hatten trotz aller Umstände ein gutes Verhältnis. Gerald kam regelmäßig vorbei und hat nach mir gesehen. Das letzte Mal war er zu meinem Geburtstag am 3. März hier.“ Die Züge um ihren Mund wurden noch strenger.

„Was hat Ihr Sohn beruflich gemacht?“

„Er war Architekt. Ich kann nicht beurteilen, ob er seine Arbeit gut gemacht hat, ich verstehe nichts von diesem Metier und ich habe mich auch nie dafür interessiert. Seit drei Generationen gab es nur Anwälte in unserer Familie und ich kann behaupten, dass die Kanzlei Haferstock viele Jahre eine feste Institution in Altötting war. Wir trotzten Kriegen und Wirtschaftskrisen und haben uns während der ganzen Zeit nie etwas zu Schulden kommen lassen. Natürlich sollte Gerald ebenfalls die juristische Laufbahn einschlagen und dann die gutgehende Kanzlei übernehmen, so war es zumindest immer geplant. Aber mein Sohn hat sich trotz guten Zuredens geweigert, Jura zu studieren und hatte sich lieber der Architektur zugewandt. Gerald war nicht davon abzubringen und schließlich haben wir uns damit abgefunden. Naja, die Architektur war immer noch besser als irgendwelche Geisteswissenschaften.“

„Sie haben vorhin den unsteten Lebenswandel Ihres Sohnes erwähnt. Was verstehen Sie darunter?“

„Abgesehen von seinem Beruf, der ihn auf dreckige Baustellen führte, meine ich auch die vielen Vergnügungen, denen er nachgegangen ist. Feiern und Reisen zu den entlegensten Winkeln der Erde war seine Passion. Mein Mann und ich sind nie viel gereist, wir haben immer nur gearbeitet und sind unseren Pflichten nachgegangen, irgendwelche Vergnügungen waren uns fremd. Darüber hinaus meine ich auch seine abartige Zuneigung zu Männern, die er offen ausgelebt hat. Widerlich! Er hat damit dem Ruf der Familie sehr geschadet und wollte auch der Familie und der Anwaltskanzlei zuliebe nicht auf diese Neigung verzichten. Wir haben ihn angefleht, diese Neigung im Verborgenen auszuleben, aber er wollte sich nicht verstecken und bestand darauf, so zu leben, wie er es für richtig hielt. Was will man da machen? Wir haben uns schließlich widerwillig auch damit abfinden müssen. Ich kann mich in der ganzen Familiengeschichte nicht an einen einzigen Mann erinnern, der auch unter dieser Veranlagung gelitten hat.“

Für die alte Frau Haferstock war Homosexualität eine abartige Krankheit. Leo wollte etwas darauf erwidern, aber Hans hielt ihn zurück. Für ihn war es sinnlos, mit dieser Frau darüber zu diskutieren.

„Hatte Ihr Sohn Feinde?“

„Aber nein, wo denken Sie hin. Alle mochten meinen Gerald, er war überall beliebt und hatte einen sehr großen Freundeskreis. Gerald hatte schon als Kind immer ein Lächeln auf den Lippen, kannte keinen Neid und war sehr hilfsbereit. Geschäftlich war er sehr erfolgreich, obwohl man ihm nachsagt, dass er ein sehr harter Verhandlungspartner war. Zumindest das hatte er von seinem Vater geerbt.“

„Hatte er einen festen Lebenspartner?“

„Um Gottes Willen, das weiß ich nun wirklich nicht. Als er mir und seinem Vater damals seine Neigung gebeichtet hat, hat er uns versprechen müssen, uns niemals einen seiner Partner vorzustellen oder gar mitzubringen. Das wäre uns doch sehr unangenehm gewesen. Es hat uns geschockt, dass unser Sohn mit seiner Neigung überall hausieren ging, alle wussten Bescheid! Das muss man sich mal vorstellen! Wir waren das Gespött der Altöttinger und natürlich unserer Klienten. Es hat Jahre gedauert, bis wir uns damit abgefunden haben und man nicht mehr darüber sprach. Ich bin mir sicher, dass man auch heute noch hinter vorgehaltener Hand über unseren Sohn und seine Veranlagung herzieht. Aber heute ist mir das gleichgültig. Mein Mann ist vor acht Jahren verstorben, worauf ich die Kanzlei schweren Herzens verkaufen musste. Aber was sollte ich tun? Ohne einen Nachfolger blieb mir nichts anderes übrig, als das Lebenswerk der Haferstocks an einen befreundeten Anwalt zu verkaufen. Zumindest der Name Haferstock wird zu Ehren meines Mannes weiterhin in der Kanzlei genannt, obwohl ein Haferstock nichts mehr damit zu tun hat. Aber der Nachfolger Dr. Seemann hat damals bei meinem Mann gelernt, der ihn unter seine Fittiche genommen hat. Es ging mir sehr ans Herz, als ich den Namen meines Mannes im neuen Firmenschild las.“ Erst jetzt durch diese Aussage konnte man eine gewisse menschliche Regung bei Frau Haferstock spüren, die immer noch unter diesem Verkauf litt. „Mir geht es gesundheitlich immer schlechter, schon seit Jahren halte ich mich fast nur noch hier im Haus auf. Es ist nicht schön, wenn man alt und einsam ist, das können Sie mir glauben.“

„Ihr Sohn wohnte nicht in Ihrem schönen, großen Haus? Platz wäre in diesem Riesenkasten mehr als genug,“ sagte Hans und erntete durch diese Bemerkung einen scharfen Blick von Frau Haferstock.

„Nein, ich wohne hier seit dem Tod meines Mannes allein. Gerald ist schon vor vielen Jahren ausgezogen, er hat sich in Töging ein Haus gekauft. Das war uns nicht unangenehm, denn in seinem eigenen Haus weit genug weg von Altötting konnte er machen, was er wollte, das hat uns nicht interessiert. Wir sind niemals dort gewesen, um mit seinem Lebenswandel nicht konfrontiert zu werden und auch, um ihn nicht zu stören. Er hatte sein Leben und wir hatten unseres. Sie können sich in Geralds Haus gerne umsehen, ich habe einen Hausschlüssel, den ich noch nie benutzt habe.“

Leo und Hans konnten sich kaum vorstellen, was das für den Sohn bedeutet haben muss. Er wurde wegen seiner Homosexualität aus der Familie quasi ausgestoßen.

„Was passiert mit dem Haus Ihres Sohnes?“

„Das wurde noch nicht entschieden. Mein Sohn hat ein Testament verfasst, das in Kürze verkündet wird. Ich denke, das ist reine Formsache und es wird wohl alles mir als nächste und fast einzige Verwandte zufallen.“

„Sie haben keine weiteren Kinder?“

„Nein, Gerald war unser einziges Kind. Die Erbfolge wird von meiner Seite aus jetzt neu geregelt werden müssen. In der gesetzlichen Erbfolge stehen die missratenen Kinder meiner Halbschwester nun an nächster Stelle und das muss ich unbedingt verhindern. Meine Halbschwester entstammt einem Seitensprung meines Vaters mit einem Kindermädchen und ist mir sehr peinlich. Dieser Skandal konnte damals nur mit großer Mühe unter den Teppich gekehrt werden und ich bin mir sicher, dass diese Schlampe eine große Summe aus meinem Vater gepresst hat. Aber genau weiß ich das nicht, mein Vater hat sich dazu nie geäußert. Zum Glück ist diese Geschichte niemals an die Öffentlichkeit gelangt. Nicht auszudenken, was dann passiert wäre! Womöglich hätte mein Vater die Kanzlei schließen müssen. Meine sogenannte Halbschwester, die sie nun mal auf dem Papier ist, lebt heute in ärmlichen Verhältnissen und hat es zu vier unehelichen Kindern gebracht. Man munkelt sogar, dass sie von verschiedenen Vätern sind. Naja, das war ja zu erwarten. Sie verstehen, dass ich das Vermögen lieber einer wohltätigen Einrichtung zukommen lasse, als es diesen Proleten in den Hals zu werfen.“ Frau Haferstock verzog angewidert das Gesicht. Leo konnte sich lebhaft vorstellen, dass diese versnobte Frau das Geld lieber verbrannt hätte, als es dieser Frau zu geben.

„Wo finden wir Ihre Halbschwester?“

„Ich weiß zwar nicht, was Sie von ihr wollen, aber bitte. Paula gibt Ihnen die Adresse dieser Sippe und natürlich auch die Anschrift und den Hausschlüssel meines Sohnes. Wenn Sie mir jetzt bitte verraten würden, welche Ungereimtheiten bezüglich des Todes meines Sohnes aufgetaucht sind? Ich verstehe nicht, weshalb sich die Mordkommission mit dem Tod befasst.“

„Das können wir Ihnen leider noch nicht sagen, wir sind erst am Anfang unserer Ermittlungen.“ Leo wusste immer noch nicht, was er sagen sollte. Es war ihm fast peinlich, dass sie nur einer vagen Vermutung nachgingen, die jeglicher Grundlage entbehrte.

Leo und Hans verabschiedeten sich hastig bei der alten Frau, bevor sie noch mehr unangenehme Fragen stellte. Beim Hinausgehen überreichte Paula den beiden einen Zettel mit den gewünschten Adressen zusammen mit dem Hausschlüssel von Gerald Haferstock. Eins war klar: Die Frau hatte gelauscht!

„Wie standen Sie zu Gerald Haferstock?“

Paula Ritter sah Leo erschrocken an. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass auch sie befragt wurde. Sie wurde nervös und fuhr sich durch die feuerroten Haare.

„Wir kannten uns nur flüchtig. Natürlich haben wir uns hier im Haus getroffen, dabei unterhielten wir uns hauptsächlich über seine Mutter. Obwohl Frau Haferstock zu ihrem Sohn immer sehr kalt und ablehnend war, machte er sich über ihren Gesundheitszustand große Sorgen. Er war mir gegenüber immer sehr höflich und zuvorkommend. Nicht wie seine versnobte Mutter, die gerne raushängen lässt, dass sie etwas Besseres ist. Nein, Gerald war da ganz anders. Zu Weihnachten und zu meinem Geburtstag hat er mir immer eine kleine Aufmerksamkeit zukommen lassen. Natürlich heimlich, seine Mutter hätte das nicht geduldet. Für sie gab es eine deutliche Grenze zwischen der ehrwürdigen Familie und den Angestellten. Gerald liebte es, hinter dem Rücken seiner Mutter zu agieren und wirkte dabei wie ein kleines Kind. Er war herzlich und lustig, ich vermisse ihn sehr.“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie mochte Gerald Haferstock mehr als sie zugeben würde. „Warum sind Sie hier? Ist Gerald doch nicht eines natürlichen Todes gestorben? Ich habe ihn nie als kränklich empfunden, er strotzte geradezu vor Vitalität und hat sehr auf seinen Körper geachtet. Er mied Zucker und Fette aller Art. Und täglich lief er seine Runden an der frischen Luft, zusätzlich zu den Trainingsstunden in seinem eigenen Fitnessraum bei sich zuhause, den er sich extra hat einrichten lassen. Ein riesiger Raum mit den modernsten Geräten in allen Variationen.“

„Sie kennen das Haus des Toten? Waren Sie dort?“

„Gerald hat mich vor Jahren gebeten, mich um sein Haus zu kümmern, wenn er im Urlaub oder beruflich unterwegs war. Sie müssen wissen, dass ich in Winhöring wohne, da ist ein kurzer Abstecher nach Töging für mich kein Problem. Natürlich habe ich das gerne gemacht und er hat mich immer großzügig dafür bezahlt, was nicht nötig gewesen wäre. Aber Gerald bestand auf eine Bezahlung. Seine Mutter wusste nichts davon und ich bitte Sie, es ihr nicht zu sagen.“ Sie druckste herum und man spürte, dass ihr noch etwas auf der Seele lag. „Ich gestehe lieber gleich, dass ich mich seit Geralds Tod um das Haus kümmere, bevor Sie es selbst herausfinden. Ich lüfte die Räume, sehe nach der Post und gieße die Pflanzen. Ich kümmerte mich nach der Beerdigung darum, dass die Mülltonnen geleert wurden und stellte sie wieder an ihren Platz. Natürlich habe ich alles Verderbliche längst entsorgt.“ Verschämt wandte sie den Blick zur Seite. Jetzt, wo sie ihre eigenen Worte hörte, merkte sie erst, wie dämlich sie sich verhalten hatte. Warum hatte sie das getan? Niemand hatte sie darum gebeten und es lag auf der Hand, dass das irgendwann herauskommen würde, schließlich hatten sie die Nachbarn bestimmt beobachtet. Und jetzt wusste es auch die Polizei. Es war nur eine Frage der Zeit, wann Frau Haferstock davon erfuhr; das würde sie ihren Job kosten. Die alte Dame konnte sehr ungehalten reagieren, wenn hinter ihrem Rücken agiert wurde.

„Wo ist die Post?“

„Die habe ich auf Geralds Küchentisch gelegt. Ich habe nichts weggeworfen und niemals würde ich fremde Post öffnen. Ich wollte verhindern, dass der Briefkasten überquillt und dadurch Einbrecher angelockt werden, davon hört man immer wieder im Fernsehen. Bitte verraten Sie mich nicht. Frau Haferstock wird sehr böse, wenn sie davon erfährt. Könnte das bitte unter uns bleiben? Wäre das möglich? Ich bin auf diesen Job angewiesen!“

Diese Frau Haferstock musste ja ein richtiges Monster sein, denn sowohl Leo, als auch Hans konnten die Angst in den Augen der Frau sehen. Leo winkte beschwichtigend ab.

„Ich sehe eigentlich keinen Grund, Ihrer Chefin davon zu berichten. Ist Ihnen vor Herrn Haferstocks Tod oder danach irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen? Denken Sie in Ruhe darüber nach, jede Kleinigkeit könnte enorm wichtig sein.“

„Nein, vor Geralds Tod ist mir nichts aufgefallen, alles war wie immer.“ Plötzlich stockte sie und runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht, ob das wichtig ist, aber in Geralds Haus war tatsächlich etwas merkwürdig. Gerald war immer sehr sauber und ordentlich, man könnte ihn auch als pingelig bezeichnen. Nach seinem Tod habe ich Schmutz auf dem Küchenboden, der Arbeitsplatte und in der Spüle gefunden. Nicht viel, nur ein paar Krümel, aber trotzdem hätte Gerald das achtlos liegengelassen. Ich habe natürlich alles sauber gemacht.“

Die beiden fuhren nun zur Halbschwester von Frau Haferstock, einer gewissen Angelika Wagenführ, die in Töging wohnte. Danach wollten sie zum Haus des Verstorbenen, das sich im gleichen Ort befand.

„Das hier muss es sein,“ sagte Hans und blickte an der schmucklosen Hausfassade des 5-geschossigen Wohnblocks empor. Schon die Zufahrt zu der Wohnsiedlung war nicht sehr einladend. „Keine schöne Wohngegend. Wer hier wohnt, lebt nicht gerade auf der Sonnenseite des Lebens.“

Auch Leo war vom Haus und der Umgebung nicht angetan und erinnerte ihn an die heruntergekommene Wohngegend in Mühldorf, wo sie in ihrem vorletzten Fall zu tun hatten.

Sie suchten nach der richtigen Klingel, fanden sie rasch und mussten nur wenige Augenblicke warten, bis der Türöffner betätigt wurde. Zumindest der funktionierte noch. Das Treppenhaus war abgewohnt und schmuddelig. Die Wände waren teilweise verschmiert und vor dem dreckigen Fenster standen zwei vertrocknete Pflanzen inmitten einem Meer toter Fliegen. Dazu roch es im Treppenhaus nach verschiedenen Essensgerüchen, vermischt mit Zigarettenrauch.

„Mit einem Eimer Farbe könnte man einiges machen,“ bemerkte Hans mit einem Kopfschütteln. Er verstand nicht, wie man mit diesen verschmierten, bemalten Wänden und diesem Dreck tagaus, tagein leben konnte. Er hätte längst einen Tag investiert und hätte die Wände gestrichen und gründlich sauber gemacht.

Eine Frau Anfang 60 stand an der Wohnungstür und machte einen ordentlichen Eindruck. Die Kleidung war sauber, die Haare modern zurecht gemacht und die Fingernägel waren frisch manikürt.

„Sie wünschen?“ fragte sie mit einem freundlichen Lächeln.

„Kriminalpolizei Mühldorf. Mein Name ist Schwartz, das ist mein Kollege Hiebler. Wir hätten ein paar Fragen. Dürfen wir reinkommen?“

„Kriminalpolizei? Ist etwas passiert?“ fragte sie erschrocken.

„Aber nein, keine Sorge. Wir haben nur ein paar Fragen.“

„Gott sei Dank! Ich dachte schon, es wäre einem meiner Kinder oder Enkel etwas zugestoßen. Kommen Sie herein, hier haben die Wände Ohren. Ich bin mir sicher, dass es längst die Runde macht, dass die Polizei bei mir ist. Jetzt werden die wildesten Gerüchte gestreut.“

Sie führte die beiden in ein sauberes, helles Wohnzimmer, das zwar mit alten Möbeln bestückt, aber durchaus gemütlich war.

„Wir sind hier wegen dem Tod Ihres Verwandten Gerald Haferstock.“

„Verwandtschaft im eigentlichen Sinn ist das keine. Ich bin der Bastard der Familie Haferstock. Meine Mutter hatte ein außereheliches Verhältnis mit dem alten Karl Haferstock, das ist eine Ewigkeit her. Ich wurde von klein auf dazu erzogen, niemals Kontakt mit meinem leiblichen Vater oder dessen Familie aufzunehmen, woran ich mich auch immer stets gehalten habe. Ich habe mit der ehrwürdigen Familie Haferstock nichts zu tun und kann Ihnen zu Gerald nichts sagen. Natürlich wusste ich, wer er ist und ich habe nicht schlecht gestaunt, als ich mitbekommen habe, dass auch er hier in Töging wohnt. Die Welt ist wirklich sehr klein, glauben Sie mir. Wir sind uns hier im Ort ab und an über den Weg gelaufen. Ich weiß nicht, ob er überhaupt wusste, wer ich bin. Er hat mich immer freundlich gegrüßt und das war’s auch schon. Was ist mit seinem Tod? Starb er nicht durch Herzversagen? Zumindest erzählt man sich das.“

Leo und Hans wollten nicht auf die Fragen eingehen.

„Wie ist es mit Ihren Kindern? Hatten die Kontakt zu Gerald Haferstock?“

„Das kann ich mir nicht vorstellen. Natürlich wissen sie alle von der Beziehung zur Familie Haferstock. Wir haben unsere Kinder offen erzogen und immer alles besprochen.“

„Wir haben gehört, dass Ihre Kinder von verschiedenen Vätern seien?“

„Bestimmt hat das die alte Giftspritze Elisabeth behauptet. Das hätte ich mir ja denken können, dass sie überall gegen mich und meine Familie schießt, dabei setzt sie skrupellos die wildesten Gerüchte in die Welt. Das macht sie schon, seit ich denken kann. Ich muss Sie enttäuschen: Ich bin nicht so schlecht und asozial, wie mich meine liebe Halbschwester gerne sehen möchte. Wir sind eine durchschnittliche, bürgerliche Familie, man könnte uns fast als spießig bezeichnen. Keine Vorstrafen, keine Konflikte mit den Behörden, einfach nichts, was man uns ankreiden könnte. Meine Kinder haben ein- und denselben Vater und sind alle sehr gut geraten. Zwei meiner Kinder haben studiert, einer hat sich mit einem Malerbetrieb selbständig gemacht. Meine Jüngste, die Chantalle, ist Hausfrau und managt einen 5-Personen-Haushalt. Mein Mann war immer ehrlich und fleißig, er hat sich nie etwas zuschulden kommen lassen. Leider hat er vor drei Jahren sterben müssen, Lungenkrebs.“

„Das tut mir sehr leid Frau Wagenführ. Würden Sie bitte die Adressen Ihrer Kinder aufschreiben?“

„Gerne. Obwohl ich nicht verstehe, was das alles soll. Aber Sie machen auch nur Ihre Arbeit.“

Frau Wagenführ notierte mit Druckbuchstaben von allen vier Kindern Namen und Anschriften und übergab Hans den Zettel.

„Dann war es das fürs Erste. Vielen Dank für Ihre Hilfe.“

„Ach, das war doch nichts. Ich hätte gerne mehr geholfen, aber die Familie Haferstock ist für mich und meine Familie nicht existent.“

„Eine Frage habe ich noch: Warum wohnen Sie hier in dieser Wohnung, in diesem Haus? Verstehen Sie mich nicht falsch, aber eigentlich passen Sie hier in diese Wohngegend irgendwie nicht rein.“

„Ich verstehe, was Sie meinen. Es stimmt schon, dass diese Siedlung in den letzten Jahren einen sehr schlechten Ruf bekommen hat. Daran ist die jeweilige Hausverwaltung, die sehr häufig wechselt, nicht ganz unschuldig, schließlich wird in diesen Häusern kaum mehr etwas gemacht. Als mein Mann noch gesund war und unser Freund und Nachbar Lothar hier noch gewohnt hat, haben sich die beiden immer bemüht, alles sauber und ordentlich zu halten. Aber das ging die letzten Jahre nicht mehr, die Krankheit hat meinem großen, starken Mann den Boden unter den Füßen entzogen. Er konnte nicht mehr. Und Lothars Frau ist gestorben, worauf er zu seiner Tochter nach Hamburg gezogen ist. Seitdem verkommt alles zusehends. Wir haben hier einen stetigen Mieterwechsel, die meisten bleiben nur vorübergehend und es ist ihnen vollkommen egal, in welchem Zustand sie die Wohnung, den Keller und das Treppenhaus hinterlassen. Oft werfen sie ihren Müll einfach auf die Straße. Natürlich beschwere ich mich regelmäßig bei der Hausverwaltung, aber entweder wollen die nicht oder sie können nicht. Und was soll ich alleine da machen? Ich könnte natürlich meine Kinder bitten, mir zu helfen. Aber die haben ihr eigenes Leben und ich möchte sie nicht damit belasten. Außerdem ist das ein Fass ohne Boden. Manchmal habe ich auch die Nase voll und würde lieber heute als morgen wegziehen. Aber ich wohne schon seit fast 40 Jahren hier. Als ich mit meinem Mann damals hier eingezogen bin, waren diese Wohnungen topmodern und nagelneu. Meine Kinder sind hier aufgewachsen und wir haben hier sehr viel erlebt. Ich habe die schönste Zeit meines Lebens hier verbracht. Und es leben noch ein paar Freunde in der Nähe. Abgesehen davon, dass an dieser Wohnung und an dem Haus viele Erinnerungen hängen, kenne ich mich in der Gegend sehr gut aus. Ich habe kein Auto, noch nicht mal einen Führerschein, dafür war nie Geld übrig. Ich habe hier alles, was ich brauche und fühle mich im Grunde genommen wohl.“ Das klang nicht sehr überzeugend und man spürte, dass Frau Wagenführ sehr unter der Wohnsituation litt. „Es gehen Gerüchte um, dass diese Wohnblöcke abgerissen werden sollen und neue, moderne Mehrfamilienhäuser gebaut werden. Aber wie soll ich die Miete dafür aufbringen? Um den günstigen Preis wie hier bekomme ich bestimmt keine Wohnung. Meine Rente ist nicht hoch. Wir haben damals den Fehler gemacht und haben uns meine Rente auszahlen lassen, dafür haben wir uns das Wohnzimmer gekauft. Hoffentlich ist das alles nur ein Gerücht.“ Sie lächelte gequält und ärgerte sich darüber, mit welchem Gerede sie die Polizisten belästigte, die sich bestimmt nicht dafür interessierten und besseres zu tun hatten, als sich ihre Probleme anzuhören.

Das Haus von Gerald Haferstock war zwei Kilometer entfernt am anderen Ende Tögings im Ortsteil Waldfrieden. Durch die üppige Gartenbepflanzung war das Grundstück sehr gut eingewachsen und das Haus war vor neugierigen Blicken zum größten Teil geschützt. Sie gingen von Zimmer zu Zimmer und Paula hatte wirklich sehr gute Arbeit geleistet. Der Kühlschrank war ausgeschaltet und stand offen, ebenso der Gefrierschrank im Keller. Die Obstschale war leer, ebenso der Mülleimer in der Küche und der Papierkorb im Büro. Und die Post lag ordentlich auf dem Küchentisch.

„Nichts besonders,“ sagte Hans, während er sich die Absender der geschlossenen Post ansah. „Am liebsten würde ich hier die Spurensicherung durchjagen, dann wüssten wir mehr. Aber dafür liegen keine Gründe vor, die das rechtfertigen würden.“

„Ich schlage vor, wir sprechen noch mit den Nachbarn. Dann fahren wir in das Architekturbüro des Opfers. Und danach nehmen wir uns die Kinder von Frau Wagenführ vor.“

Die Befragung der Nachbarn zog sich unendlich in die Länge, denn niemand kannte Gerald Haferstock näher und alle waren sehr neugierig. Die Polizisten bekamen keine vernünftige Aussage über etwaige Besucher, Hobbies oder besondere Vorkommnisse beim Verstorbenen. Selbst Paula Ritter wollte niemand gesehen haben oder sich deshalb nicht festlegen; keiner wollte Ärger mit der Polizei.

„Immer dasselbe,“ schimpfte Leo. „Niemand weiß was, aber alle machen sich wichtig oder wollen keinen Ärger und schweigen lieber.“

Das Architekturbüro Haferstock befand sich im Industriegebiet Neuötting in einem fast gläsernen Gebäude, in dem noch weitere Firmen untergebracht waren: Eine Anwaltskanzlei, ein Kfz-Gutachter, ein Grafiker und eine Praxis für Ergotherapie.

Sie klingelten an der mit edlen Töpfen und Pflanzen dekorierten Tür und einen Augenblick später wurde diese von einer 56-jährigen Frau geöffnet, die übel gelaunt war.

„Sie wünschen? Ich sage Ihnen lieber gleich, dass wir aufgrund eines Trauerfalls in nächster Zeit keine neuen Aufträge annehmen können.“

„Zuerst einmal: Guten Morgen, so viel Zeit und Höflichkeit muss sein,“ sagte Hans mit einem freundlichen Lächeln. „Mein Name ist Hans Hiebler, Kripo Mühldorf, das ist mein Kollege Leo Schwartz. Wer bitte sind Sie?“

Die verknöcherte Frau in ihrem cremefarbenen, engen Kostüm sah Leo von oben bis unten missbilligend an. Er war wie immer mit einer Jeans, Cowboystiefeln, einem T-Shirt mit dem Aufdruck einer Rockband und einer Lederjacke gekleidet. Er war 1,90m groß, sehr schlank und seine Haare waren mittlerweile fast nur noch grau, was ihn anfangs störte und womit er sich inzwischen abgefunden hatte.

„Winter ist mein Name, wie die Jahreszeit. Hannelore Winter.“

„Dürfen wir reinkommen? Wir haben ein paar Fragen und können die auch gerne in diesem hellhörigen Treppenhaus klären.“

„Um Gottes willen! Kommen Sie endlich rein!“

Ein Mann kam die Treppe hoch und Frau Winter grüßte überaus freundlich. Hoffentlich hatte niemand im Haus mitbekommen, dass die Kripo bei ihnen war! In Neuötting und vor allem in diesem Gebäude sprachen sich schlechte Neuigkeiten sehr schnell herum. Und schlechtes Gerede konnte sie nicht auch noch gebrauchen, sie hatte schon genug Probleme am Hals.

„Was kann ich für Sie tun?“ bot sie den beiden Plätzen an ihrem ausladenden und völlig überladenen Schreibtisch an, der gleichzeitig der Empfang zu sein schien.

„Wir sind wegen Gerald Haferstock hier.“

„Der ist leider verstorben. Ganz plötzlich. Wie hätte man auch in seinem Alter damit rechnen können? Mit 55 Jahren stirbt man doch nicht einfach so! Vor allem nicht, wenn man so fit ist und so gesund gelebt hat. Als ich erfahren habe, dass er einfach so beim Joggen tot umgefallen ist, hätte mich fast der Schlag getroffen. Von jetzt auf nachher ist er einfach nicht mehr da. Er fehlt mir sehr. Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht. Seit Gerald tot ist, bleibt alles an mir hängen!“

Frau Winter war traurig und verzweifelt zugleich. Man sah schon an ihrem Schreibtisch und an dem völlig überladenen Sideboard dahinter, dass sie an ihre Grenzen stieß. Wenn sie das alles bearbeiten musste, hatte sie ganz schön zu tun.

„Was genau ist Ihre Funktion hier?“

„Ich bin Architektin. Genauer gesagt, habe ich früher Architektur studiert. Dummerweise habe ich dann, als ich meinen damaligen Mann kennengelernt habe, meinen Beruf ihm zuliebe und der Kinder wegen an den Nagel gehängt. Und dann hat mich vor rund sechs Jahren das Schicksal ereilt, dass mich mein Mann durch ein junges, blondes Modell ersetzt hat. Von heute auf morgen musste ich mein eigenes Geld verdienen, was nicht so leicht war. Klar hatte ich ein abgeschlossenes Studium, aber keine Praxis. Und ich war über 20 Jahre aus dem Beruf raus. Sie glauben nicht, wie viele Bewerbungen ich geschrieben habe und vor wie vielen Architekten ich zu Kreuze gekrochen bin. Ich habe überall um einen Job gebettelt. Gerald war der einzige, der mir eine Chance gegeben hat und dafür bin ich ihm ewig dankbar. Von Anfang an hat er mich wie einen vollwertigen Kollegen behandelt und mich nie spüren lassen, dass ich eigentlich keine Praxis habe und mich auch mit den Computerprogrammen ganz schön blöd angestellt habe. Er war sehr geduldig mit mir und ich habe sehr viel von ihm gelernt. Vor einem Jahr hat er mich sogar zu seiner Partnerin gemacht und mir die Hälfte der Firma überschrieben, können Sie sich das vorstellen? Mein Leben war in den letzten Jahren wie im Märchen und dann kam Geralds plötzlicher Tod. Das hat mich echt umgehauen. Ich weiß nicht, wie es hier jetzt weitergehen soll. Wer erbt Geralds Teil der Firma? Wird die Firma jetzt verkauft? Muss ich nochmal von vorn anfangen? Es ist zum Heulen!“

Man konnte spüren, dass Hannelore Winter ihren Kompagnon sehr mochte und auch vermisste.

„Hatte Herr Haferstock Feinde? Oder Neider? Was wissen Sie über sein Privatleben?“

„Feinde hatte er keinesfalls, das kann ich mir nicht vorstellen. Gerald war ein richtiger Sunny-Boy, der immer gute Laune hatte. Wo er auch hinkam, hat er die Menschen für sich eingenommen. Neider hatte er bestimmt, wer hat die nicht? Sogar mir schlug Neid von vermeintlich guten Freunden und sogar Familienmitgliedern entgegen, als ich Fuß gefasst hatte und immer erfolgreicher wurde. Geralds Leben war vor allem die Firma und die Arbeit, die er immer mit viel Herzblut und Hingabe gemacht hat, auch dafür habe ich ihn sehr bewundert. So einen leidenschaftlichen, äußerst kreativen, korrekten und integren Mann hatte ich bis dato nicht kennengelernt. Gerald reiste sehr gerne. Keine Pauschalreisen in irgendwelche Luxusschuppen, sondern eigens auf seine Wünsche und Vorstellungen zusammengestellte Individualreisen. Von diesen Reisen hat er nach seiner Rückkehr immer in den tollsten Farben geschwärmt. Natürlich wusste ich von Anfang an, dass Gerald homosexuell war, er hat diesbezüglich immer mit offenen Karten gespielt. Aber das ging mich nichts an und interessierte mich auch nicht. Männliche Begleiter habe ich nie an seiner Seite gesehen. Und private Besucher gab es hier in der Firma nicht, das mochte Gerald nicht; beruflich und privat hat er immer strikt getrennt, wie ich auch, darin waren wir uns einig. Ab und zu sind wir gemeinsam abends ausgegangen; meist, um einen guten Auftrag oder den Abschluss eines Projekts zu feiern. Wir waren Essen oder gingen ins Kino. Gerald hat mir vor sechs Jahren nicht nur beruflich, sondern auch privat unter die Arme gegriffen, bis ich langsam wieder Selbstvertrauen gewonnen hatte und wieder allein zurechtkam. Gerald hat mich damals aufgefangen und mir neuen Lebensmut gegeben, ich verdanke ihm sehr, sehr viel. Er war mein Freund, Mentor und Held. Ach, ich könnte stundenlang von diesem einzigartigen Mann schwärmen. Verstehen Sie mich nicht falsch, als Mann hatte ich nie Interesse an ihm, von Männern habe ich generell die Schnauze voll.“ Hannelore Winter griff in ihre Hosentasche und zog ein Taschentuch hervor, mit dem sie die Tränen abwischte und dann kräftig schnäuzte. „Sie vermuten, dass bei Geralds Tod jemand nachgeholfen hat?“

„Wie kommen Sie darauf?“

„Warum sollte sich sonst die Kripo für seinen Tod interessieren? Wissen Sie was? Ich könnte mir sogar vorstellen, dass da jemand nachgeholfen hat. Gerald war topfit und hatte keine Vorerkrankungen, das hätte er mir gesagt. Erst wenige Wochen vor seinem Tod hatte er sich komplett durchchecken lassen, mit allem Drum und Dran; Gerald war über das Ergebnis mehr als zufrieden.“ Das Telefon klingelte ununterbrochen und Frau Winter legte nun den Telefonhörer daneben. Sie stand auf, stellte Kaffeetassen auf den Tisch und schenkte ungefragt ein. So übel ihr erster Eindruck auch war, umso umgänglich entpuppte sie sich nun. „Als ich gehört habe, dass Gerald an Herzversagen gestorben ist, habe ich das nicht geglaubt. Nicht Gerald! Er hat immer auf seinen Körper geachtet, hat nicht einmal Kaffee getrunken. Und dann dieser viele Sport, den er neben seinem stressigen Berufsalltag nie hat ausfallen lassen. Was haben Sie bisher herausgefunden? Gibt es schon einen Verdächtigen?“ Die Fragen sprudelten nur so aus der Frau heraus.

„Laufende Ermittlungen, Sie verstehen?“ Hans zwinkerte der Frau zu.

„Sie stehen also noch am Anfang?“ Die Frau war nicht dumm und deutete die Mienen der Beamten richtig. „Gut, was brauchen Sie für Ihre Ermittlungen? Sie können jederzeit an Geralds Schreibtisch, sehen Sie sich dort in Ruhe um.“

„Die Unterlagen seiner letzten Projekte wären super. Ich beichte lieber gleich, dass Sie uns überhaupt nichts geben müssen, wir haben keinerlei rechtliche Handhabe, hier irgendetwas einzusehen oder gar mitzunehmen. Aber wenn Sie uns die Unterlagen freiwillig geben? Sagen wir, vom letzten halben Jahr?“

„Selbstverständlich bekommen Sie alles, was Sie brauchen. Ich stelle Ihnen die Unterlagen zusammen. Hilft Ihnen eine Telefonliste?“

„Das wäre genial! Dürfen wir auch an den Laptop?“

„Nicht nur das, nehmen Sie ihn einfach mit. Ich habe meinen eigenen. Von den für mich relevanten Vorgängen ziehe ich Kopien, das dauert nur einige Minuten. Solange können Sie sich Geralds Schreibtisch vornehmen.“

„Sie sind eine Wucht Lady, wissen Sie das?“ Hans war begeistert von der Frau, die einen scharfen Verstand besaß.

Das Büro von Georg Haferstock war nur eine Tür weiter und hatte einen schönen Blick auf das Industriegebiet Neuötting, das in den letzten Jahren immer stärker ausgebaut wurde. Früher war das alles Ackerland, was man sich heute kaum mehr vorstellen konnte. Sie durchsuchten den schlichten Schreibtisch; hier war alles sehr sauber und ordentlich. Die Ordner und Ordnerrücken in den Metallregalen hatten alle die gleiche Farbe und waren mit sauber geschriebenen Druckbuchstaben beschriftet.

„Lassen Sie sich nicht stören,“ sagte Frau Winter, als sie mit einem großen Karton in der Hand eintrat. Sie nahm zielsicher verschiedene Ordner aus dem Regal und stellte sie fein säuberlich in den Karton. Nach einigen Minuten war sie fertig und ging mit ihrem Karton wieder nach draußen. Leo drückte auf die Wahlwiederholung des Telefons und landete in einem China-Restaurant. Bei der nächsten Nummer landete er in einer Altöttinger Bank, was ihm jetzt nicht weiterhalf, denn er landete in der Telefonzentrale. Die dritte und vierte Nummer war dieselbe Nummer mit einer Mühldorfer Vorwahl. Leo drückte die Wahlwiederholung und es meldete sich ein Herr Huber mit tiefer, dunkler Stimme.

„Wer sind Sie und warum rufen Sie unter der Nummer von Herrn Haferstock an?“ fauchte ihn der Mann sofort an. „Mein Freund ist tot.“

„Leo Schwartz, Kripo Mühldorf. Wäre es möglich, dass wir uns mit Ihnen persönlich unterhalten könnten?“

„Kripo? Verstehe ich zwar nicht, das müssen Sie mir erklären. Kommen Sie bei mir vorbei, ich bin noch eine Stunde im Büro.“ Huber nannte ihm die Adresse in Mühldorf.

„Hier in dem Karton sind die Objekte des letzten halben Jahres, an denen Gerald gearbeitet hat. Wenn Sie darüber hinaus Fragen haben oder weitere Unterlagen benötigen, melden Sie sich. Hier ist die Telefonliste der letzten zwei Monate, Geralds Telefonate, die ein- und ausgehenden, habe ich grün markiert. Den Laptop haben Sie eingepackt?“

Statt einer Antwort grinste Hans und zeigte auf den Laptop unter seinem Arm.

„Dann bitte ich Sie, hier zu unterschrieben und den Empfang zu quittieren. Ich gehe davon aus, dass ich alles unversehrt und komplett wieder zurückbekomme?“

„Selbstverständlich. Ich habe eben mit einem Herrn Huber gesprochen. Wer ist er?“

„Christian Huber ist Geralds alter Schulfreund. Er besitzt in Mühldorf ein Hotel und hat kürzlich im österreichischen Braunau ein weiteres Hotel erworben, das Gerald umbauen sollte. Sie spielten ab und zu gemeinsam Golf und haben den letzten Urlaub zusammen verbracht. Mehr weiß ich nicht. Christian Huber hat nur das Nötigste mit mir gesprochen. Wenn er hier war, ging er immer direkt in Geralds Büro. Ein unsympathischer Typ, der mich nicht besonders mochte. Ich glaube, in seinen Vorstellungen haben Frauen in technischen Berufen nichts zu suchen, aber das ist nur meine persönliche Meinung. Fakt ist, dass wir beide uns nicht besonders grün waren und uns aus dem Weg gegangen sind, obwohl zwischen uns nie etwas vorgefallen ist.“

Sie bedankten sich bei Frau Winter und schleppten die Unterlagen bis zu ihrem Wagen, der zum Glück genau neben der Haustür parkte. Ihr nächster Weg führte sie nun zu Christian Huber nach Mühldorf.

„Wo bleibt ihr denn?“ sagte Viktoria Untermaier ungeduldig, als sie Leo anrief. „Wastl und ich müssen uns hier mit trockenen, langweiligen Unterlagen herumplagen, während ihr euch an der frischen Luft vergnügt. Was habt ihr bisher rausgefunden? Gibt es überhaupt etwas von Interesse für die Kripo?“

„Könnte sein. Zumindest haben wir jetzt schon zwei Personen angetroffen, die ebenfalls nicht an einen natürlichen Tod glauben. Zum einen die Haushälterin von Haferstocks Mutter, und zum anderen die Kollegin und Teilhaberin des Toten. Sie hat uns freundlicherweise die Unterlagen des letzten halben Jahres überlassen, an denen Haferstock gearbeitet hat. Wir haben auch eine Telefonliste der letzten zwei Monate und den Laptop des Verstorbenen überlassen bekommen, vielleicht finden wir etwas Relevantes. Wir fahren jetzt nach Mühldorf, um einen Freund des Verstorbenen aufzusuchen. Danach kommen wir ins Büro und nehmen uns die Unterlagen und den Laptop gemeinsam vor.“

„Ich höre an deiner Stimme, dass du auch an ein Verbrechen glaubst.“

„Allerdings.“

„Und wie denkt Hans darüber?“

„Keine Ahnung, frag ihn selbst.“

Sie parkten vor dem Hotel Alpenblick, das von außen einen sehr gediegenen, ländlichen Eindruck machte. Schon allein der Name des Hotels war blanker Hohn, denn von den Alpen war weit und breit nichts zu sehen. Sie gingen zur Rezeption und Leo zählte rasch 48 Zimmer anhand der Zimmernummern an der Wand; die Hälfte der Schlüssel war nicht an ihrem Platz. Die junge, nicht sehr augengefällige Frau grüßte freundlich und strahlte sie mit ihrer Zahnspange an.

„Ich begrüße Sie herzlich in unserem Hotel Alpenblick. Was kann ich für Sie tun?“ lispelte sie. Auf ihrem Namenschild, das schief an ihrem schlecht sitzenden Dirndl angebracht war, stand der Name Margit.

„Mein Name ist Schwartz, das ist mein Kollege Hiebler. Wir möchten Herrn Huber sprechen. Wir haben uns telefonisch angekündigt, er erwartet uns.“

„Ja, mein Vater hat mir schon gesagt, dass die Polizei vorbeikommt. Wenn Sie mir bitte folgen würden?“ Dieser durch die Zahnspange verursachte Sprachfehler war irgendwie gruselig. Zumindest wussten die beiden jetzt, warum diese junge Frau trotz ihres Aussehens und ihrer fürchterlichen Aussprache an der Rezeption eingesetzt wurde: Sie war die Tochter des Chefs. Die Begrüßung von Christian Huber war kühl und oberflächlich, er machte deutlich, dass er sehr beschäftigt war und keine große Lust hatte, sich länger als nötig mit den Polizisten zu unterhalten.

„Ich kenne Gerald schon aus Kindertagen. Wir sind zusammen zur Schule gegangen, waren damals aber nicht befreundet. Geralds Eltern wollten das nicht. Ich, besser gesagt mein Elternhaus, war ihnen zu gewöhnlich. Vor einigen Jahren stand ich auf dem Golfplatz plötzlich Gerald gegenüber und es war fast so, als hätte es die letzten Jahre nicht gegeben. Wir haben uns sofort blendend verstanden und seitdem trafen wir uns regelmäßig. Wir waren richtig gute Freunde geworden. Es ist sehr bedauerlich, dass er so früh sterben musste. Er hinterlässt eine große Lücke in meinem Leben.“

Das war zwar warmherzig gemeint, kam aber relativ kühl und sachlich rüber. Während er sprach, sah er fortwährend auf die Uhr, er schien sehr in Eile zu sein. Oder lag es nur daran, dass er nichts mit der Polizei zu tun haben wollte?

„Sie haben auch beruflich mit Herrn Haferstock verkehrt?“

„Selbstverständlich. Gerald war ein Ass auf seinem Gebiet. Jeder, der mit ihm zusammengearbeitet hat, singt nur Lobeshymnen auf ihn. Er war immer korrekt und zuverlässig, und darüber hinaus wahnsinnig kreativ. Aber wenn ihm etwas gegen den Strich ging, Termine von Handwerksfirmen nicht eingehalten wurden oder er angelogen wurde, dann konnte er auch ganz anders werden, dann verstand er keinen Spaß mehr. Aber im Großen und Ganzen war er eine Seele von Mensch. Ich habe vor einigen Monaten ein altes Hotel in Braunau gekauft und ihn mit der Modernisierung betraut, die Arbeiten hätten diese Woche beginnen sollen.“

„Kurz vor seinem Tod hat er zwei Mal mit Ihnen telefoniert. Wobei ging es in den Gesprächen?“

„Tatsächlich? Ich kann mich nicht daran erinnern. Wann soll das gewesen sein?“

„Am Abend vor seinem Tod. Genau gesagt am 18. März.“

„Er hat mich angerufen? Das kann nicht sein! Ich war zu der Zeit überhaupt nicht im Haus, geschweige denn in Mühldorf.“ Er blätterte in seinem Terminkalender. „Richtig. Ich war in Wien bei einem Kongress und Gerald wusste doch davon. Ich hab es ihm ganz sicher gesagt. Sie müssen sich irren, ich habe vor Geralds Tod nicht mit ihm gesprochen. Nach meiner Rückkehr aus Wien hat mich sein Tod vollkommen überrannt, die Beerdigung fand noch am selben Nachmittag statt und ich musste mich beeilen, sonst hätte ich die noch verpasst. Ich bin mir ganz sicher: In der Woche, als Gerald starb, war ich in Wien und habe nicht mit ihm telefoniert.“

„Denken Sie nochmals in Ruhe darüber nach und melden Sie sich bei uns, wenn Ihnen dazu etwas einfällt. Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben.“

„Hast du gemerkt, dass Huber diese Information vollkommen aus der Bahn geworfen hat? Er hat nicht mehr auf die Uhr gesehen. Er hat uns nicht einmal gefragt, warum wir wegen Haferstocks Tod mit ihm sprechen wollten. Das war nicht gespielt, Huber weiß nichts von den Telefongesprächen!“

„Genau das denke ich auch. Vor allem würde mich interessieren, warum Haferstock zwei Mal bei Huber anruft, wenn er doch weiß, dass der in Wien ist. Mit wem hat er gesprochen? Da stimmt etwas nicht. Wir sollten uns umgehend den Laptop, die Unterlagen und die Telefonliste vornehmen. Ich gehe stark davon aus, dass mit dem Tod von Gerald Haferstock tatsächlich etwas nicht stimmt.“

„Vorhin noch dachte ich, dass das verschissene Zeit ist, aber jetzt denke ich anders.“ Hans konnte spüren, dass hier etwas nicht ganz koscher war und seine Neugier war geweckt. Puzzleteile zusammenzusetzen, bis dann eine komplette Geschichte daraus wird, liebte er sehr. Und die ersten Puzzleteile lagen auf dem Tisch. Er war neugierig, was noch alles an die Oberfläche geschwemmt werden würde.

3.

Leo und Hans hatten nach ihrer Rückkehr den Kollegen ausführlich berichtet und überzeugend dargelegt, dass sie dringend in diesem Fall ermitteln sollten, obwohl Viktoria immer noch dagegen war. Aber sie hielt sich mit Gegenwind zurück, denn diese Ermittlungen waren weit angenehmer als die Prüfung der uralten Fälle, die sie endlos langweilten und die sie den letzten Nerv kosteten.

Wastl übernahm Haferstocks Laptop, was sehr ulkig aussah. Der riesige, korpulente Mann mit den dicken Wurstfingern hackte gekonnt auf der Tastatur des Laptops, wobei er mit dem Gesicht fast direkt vor dem Bildschirm saß. Wie immer hatte Wastl einen altmodischen Anzug an, der nicht richtig saß. Dazu trug er ein weißes Hemd und eine Krawatte, deren Knoten krumm und schief war. Und um das Bild abzurunden, trug er grobstollige, bequeme Schuhe, die fast aussahen wie Wanderschuhe. Wastl, also Sebastian Kranzbichler war nur zur Vertretung von Werner Grössert in Mühldorf und arbeitete sonst in Traunstein. Der 30-jährige Polizist hatte ein sonniges Gemüt und immer Hunger. Alle mochten ihn und während seines Aufenthalts bei der Mühldorfer Polizei wohnte er bei Hans Hiebler, der dessen Gesellschaft sehr genoss. Es dauerte noch, bis Werner Grössert wieder zum Dienst erscheinen konnte, denn dessen Frau ging es nach der Geburt ihres ersten Kindes zwar wieder etwas besser, aber Werner wich nicht von ihrer Seite und kümmerte sich um das Baby. Also musste, oder durfte, Wastl Kranzbichler noch bleiben, bis Werner Grössert wieder zum Dienst erschien.

Leo und Hans arbeiteten sich durch die vielen Akten des Architekturbüros, während Viktoria die Telefonliste und die Überprüfung des Aufenthalts von Christian Huber in Wien übernahm.

„Darf ich kurz stören?“ frage Krohmer, als er ins Büro der Mordkommission trat. „Haben Sie etwas Interessantes herausgefunden? Gibt es Anhaltspunkte für ein

Gewaltverbrechen?“

„Wir sind noch nicht so weit Chef. Leo und Hans vermuten, dass mit dem Tod dieses Haferstocks tatsächlich etwas nicht stimmen könnte. Ich bin noch nicht ganz überzeugt. Wir arbeiten uns gerade durch jede Menge Informationen, heute Nachmittag wissen wir mehr.“

Krohmer strahlte, dann war sein Anliegen doch nicht ganz umsonst. Zumindest zwei seiner Beamten waren auf seiner Seite.

„Was halten Sie von einer Besprechung um 17.00 Uhr?“

„Bis dahin dürften wir durch sein.“

„Dann störe ich nicht weiter. Wenn Sie erlauben, lasse ich Ihnen etwas zum Mittagessen zusammenstellen und in Ihr Büro bringen. Nicht, dass Sie meinetwegen noch hungern müssen.“

„Gerne Herr Krohmer,“ rief Wastl. „Sparen Sie nicht mit der Menge, ich habe einen Riesenhunger.“

Krohmer lachte und ging wieder.

„Der hat aber ein ganz schön schlechtes Gewissen,“ murmelte Viktoria, die nachvollziehen konnte, dass sich der Chef mit seinem Anliegen weit aus dem Fenster gelehnt hatte. Was, wenn an der Sache nichts dran war und der Staatsanwalt Wind von den Ermittlungen bekommen sollte? So, wie die beiden momentan zueinander standen, wäre es durchaus denkbar, dass der Staatsanwalt das Innenministerium einschalten würde. Krohmer brauchte entweder rasch einen Beweis für ein Gewaltverbrechen, oder ein Ende der Ermittlungen.

Hans und Leo sagten kein Wort, sie hatten nur am Rande mitbekommen, dass Krohmer im Büro war. Sie hatten auf Leos Schreibtisch die verschiedenen Projekte ausgebreitet und auf einer Flipchart ein Diagramm erstellt, sonst hätten sie den Überblick längst verloren. Auch das Essen, das nach einer halben Stunde geliefert wurde, rührten sie kaum an, dafür hatten sie keine Zeit. Wastl und Viktoria machten gerne eine Pause. Viktoria war mit ihrer Arbeit fast fertig und auch Wastl kam sehr gut voran.

„Und? Was denkst du?“

„Das sage ich dir später bei der Besprechung, lass dich überraschen.“ Viktoria war tatsächlich fündig geworden. Anfangs hatte sie vermutet, dass die Recherche reine Zeitverschwendung war, aber nun dachte sie anders. Wastl verstand die Geheimnistuerei nicht, denn er hatte nicht den kleinsten Hinweis finden können, der untermauerte, dass Gerald Haferstock keines natürlichen Todes gestorben war. Aber was soll‘s? Er konnte gerne warten. Und nachdem Leo und Hans an dem Essen immer noch kein Interesse zeigten, griff er ohne Hemmungen zu.

Krohmer saß den ganzen Nachmittag wie auf Kohlen und konnte es kaum erwarten, bis er endlich erfahren würde, was die Kollegen herausbekommen hatten. Seine Bekannte Susanne Bruckmayer hatte heute bereits mehrfach angerufen, aber er konnte ihr noch nichts sagen, er wusste ja selbst noch nichts. Susanne nervte immer mehr und er hatte es längst bereut, dass er sich von ihr hat überreden lassen, der Sache nachzugehen. Was, wenn überhaupt nichts dran war? Wenn sie hier nur unnötig Zeit vertrödelten und dabei auch noch jede Menge Steuergelder verschwendeten? Wie soll er das dem Innenministerium und vor allem diesem aufgeblasenen Staatsanwalt gegenüber rechtfertigen? Der Staatsanwalt hatte ihn seit dem letzten Zusammentreffen auf dem Kieker. Die Unterhaltung, die sie zusammen mit dem Mühldorfer Bürgermeister geführt hatten, artete in ein handfestes Streitgespräch aus, aus dem Krohmer als Sieger hervorging. Er hatte einfach die besseren Argumente und blieb sachlich, ganz im Gegensatz zum Staatsanwalt, der auch aufgrund des gestiegenen Alkoholkonsums vollkommen ausgerastet war und sich ordentlich blamiert hatte. Krohmer wusste nicht einmal mehr, um was es eigentlich genau ging, aber der Staatsanwalt nahm ihm übel, dass er ihn so gereizt und aus der Reserve gelockt hatte. Hatte Krohmer das wirklich getan? Nein, der Staatsanwalt war es nur gewöhnt, dass man ihm immer Recht gab und ihm in den Hintern kroch. Aber nun war er durch die Ermittlungen, die seine Leute führten, in der Zwickmühle und er hoffte darauf, dass es wirklich einen Mordfall gab. Susanne hatte so überzeugend geklungen. Er hatte die nervige Susanne auf den späten Abend vertröstet, was nicht leicht war, denn Geduld war nicht gerade ihre Stärke.

Endlich war es so weit und er war als erster im Besprechungszimmer. Er hatte den Leiter der Spurensicherung Friedrich Fuchs dazu gebeten, obwohl es dafür noch keinen Grund gab. Fuchs war wie immer mürrisch und einsilbig, als beide auf die anderen warteten. Die Tür ging auf und Frau Gutbrod, Krohmers Sekretärin, brachte Kaffee und Kekse. Was war hier los? Warum wurde diese Besprechung zu der ungewöhnlichen Zeit einberufen? Sie wusste ganz sicher, dass kein neuer Mordfall vorlag. Eigentlich wollte sie mit ihrer Nichte Karin zum Shoppen, aber das hatte sie natürlich sofort abgesagt. Sie wollte hierbleiben und herausfinden, was es Dringendes gab. Das spitzenbesetzte graue Kleid glitzerte in der Abendsonne und die vielen Armringe klimperten laut gegeneinander, als sie sich setzte. Frau Gutbrod war 62 Jahre alt und war eigentlich nur noch wenige Wochen von ihrem Renteneintritt entfernt, was sie sich nicht eingestehen wollte und wogegen sie mit Gewalt arbeitete. Sie kleidete sich nicht nur wie eine 20-jährige und achtete mit viel Disziplin auf ihre schlanke Figur, sondern färbte fast wöchentlich die grauen Haaransätze nach, ließ sich regelmäßig die Falten unterspritzen und trug seit Jahren falsche Fingernägel in den verrücktesten Variationen. Das Make-up wurde von Jahr zu Jahr dicker und auffälliger, die Röcke und Kleider immer kürzer, und die Schuhe dafür umso höher. Hilde Gutbrod wollte nicht alt werden und dachte nicht im Traum daran, jetzt schon in Rente zu gehen. Sie rechnete mit der unwahrscheinlichen Möglichkeit, dass diese Tatsache niemandem auffällt und sie noch weitere Jahre hier arbeiten durfte. Was sollte sie sonst machen? Sie hatte nie geheiratet und auch nie Kinder bekommen. Lange Zeit schob sie dieses Vorhaben vor sich her, hatte Männern gegenüber immer höhere Ansprüche; eigentlich fand sie immer etwas, was ihr nicht passte. Und irgendwann war es zu spät für eine Familie. Gleichaltrige Freundinnen waren ihr viel zu alt. Außerdem hatte sie keine Freundinnen, mit anderen Frauen außer ihrer Nichte kam sie nicht klar. Sie verbrachte ihre wenige Freizeit mit ihrer Nichte Karin. Aber die musste arbeiten. Sollte sie sich ein Hobby suchen, nur um nicht allein zu sein und irgendwie die Zeit totzuschlagen? Nein, das kam überhaupt nicht in Frage. Ihr Lebensinhalt war ihre Arbeit.

Der 38-jährige Friedrich Fuchs stöhnte hörbar mehrfach auf und saß mit verschränkten Armen auf seinem Stuhl. Krohmer versuchte, ein Gespräch mit ihm zu führen, was aber nicht möglich war. Fuchs bockte und war sauer, dass er hier seine Zeit vertrödelte und nicht wusste, was er hier eigentlich sollte. Es war schon viertel nach fünf, als die anderen endlich auftauchten. Krohmer atmete erleichtert auf.

„Schön, dass Sie hier sind, wir haben Sie schon sehnsüchtig erwartet. Setzen Sie sich und berichten Sie, was Sie herausgefunden haben.“

„Ich habe mir den Laptop des Verstorbenen vorgenommen,“ begann Wastl Kranzbichler. „Leider habe ich nichts gefunden, was für einen eventuellen Fall relevant wäre. Sorry.“

Das Lächeln war aus Krohmers Gesicht verschwunden und er sah Viktoria voller Erwartung an.

„Ich habe einige Informationen, die sehr interessant sein könnten. Die Mitarbeiterin des Verstorbenen hat uns freundlicherweise die Telefonliste überlassen und die letzten beiden Gespräche wurden mit einem Christian Huber in Mühldorf geführt. Ich habe das Alibi des Mühldorfer Hoteliers überprüft und seine Aussage stimmt, er war im fraglichen Zeitraum, also zum Zeitpunkt des Todes von Haferstock, in Wien und kann somit nicht mit ihm telefoniert haben.“

„Christian Huber vom Hotel Alpenblick?“ Krohmer war irritiert. Was hatte der Mann mit diesem Haferstock zu tun? Er kannte Huber persönlich.

„Richtig Chef. Huber und Haferstock waren befreundet. Nach dessen Aussage haben er und Haferstock zusammen an einem Projekt gearbeitet. Dabei soll es um einen Umbau eines alten Hotels in Braunau gehen, das Huber kürzlich erworben hat. Am Abend vor Haferstocks Tod wurden zwei Telefonate mit dem Anschluss Hubers geführt.“

„Dafür gibt es ganz bestimmt eine einfache Erklärung. Vermutlich nur eine Zimmerreservierung.“

„Das glaube ich kaum. Das erste Telefonat wurde 32 Minuten geführt, und das zweite 21 Minuten. Mit wem hat Haferstock gesprochen, wenn nicht mit Christian Huber?“

„Huber hat eine Tochter, die am Empfang arbeitet,“ sagte Hans, der wie die anderen auch über die Länge der Telefongespräche überrascht war. „Ihr Name ist Margit und sie ist 19 Jahre alt. Sie ist im dritten Ausbildungsjahr zur Hotelfachfrau und soll einmal in die Fußstapfen ihres Vaters treten, zumal sie sein einziges Kind ist.“

„Das stimmt so nicht ganz Chef. Huber hat auch einen Sohn, der ebenfalls im Hotel Alpenblick arbeitet. Was er genau macht, weiß ich nicht, aber ein Anruf im Hotel genügte und ich hatte meine Information. Der Name des Sohnes, der aus Hubers erster Ehe stammt, ist Karsten Huber. Er ist 26 Jahre alt und ist so etwas wie die rechte Hand seines Vaters. Das hatte ich so zumindest verstanden. Ob das der Wahrheit entspricht, ist fraglich. Wir sollten dringend mit ihm sprechen.“

Krohmer wurde nervös, denn er hatte mehrfach mit Christian Huber bei den verschiedensten Anlässen gesprochen und ihm war nicht bekannt, dass Huber einen Sohn hatte. Warum? Von seiner Tochter Margit erzählte Huber immer wieder, er war sehr stolz auf sie, obwohl sie auf ihn nicht gerade den intelligentesten Eindruck machte. Aber sie war immer freundlich und höflich zu ihm gewesen. Warum hatte Huber ihm den Sohn verschwiegen?

„Wir sind die Unterlagen des Architekturbüros der letzten 6 Monate durchgegangen, was nicht ganz einfach war, denn von diesem Metier verstehen wir überhaupt nichts,“ sagte Leo. „Wir haben das Objekt gefunden, von dem Huber gesprochen hat und das Viktoria vorhin erwähnte. Dabei geht es tatsächlich um den Umbau eines Hotels in Braunau, das Huber sehr günstig ersteigert hat. Daneben hat sich Haferstock mit einigen Neubauten und Umgestaltungen verschiedener Großprojekte beschäftigt, die sich bis nach München erstrecken. Haferstock war sehr fleißig und offenbar auch sehr gut in seinem Job, die Auftraggeber und Geschäftspartner sprechen nur gut von ihm.“ Krohmer nickte. Das war ihm alles bekannt, denn das wusste er alles schon von seiner Bekannten Susanne. „Allerdings haben wir ein Projekt entdeckt, das etwas aus dem Rahmen fällt. Haferstock hat einen Plan eines riesigen Freizeitparks am Rande Altöttings entworfen. So wie wir das verstanden haben, sind noch nicht alle erforderlichen Grundstücke gekauft worden und das Projekt ist noch in der Schwebe.“

„Das soll vorkommen,“ murmelte Krohmer enttäuscht, denn er hatte sich mehr Informationen und Hinweise auf eine Gewalttat versprochen. „Ich glaube nicht, dass dieses Vorhaben für eine Morduntersuchung relevant ist.“

„Auch nicht, wenn einer der Investoren dieses riesigen Projekts ein Christian Huber aus Mühldorf ist? Uns gegenüber hat er mit keinem Wort dieses Projekt erwähnt, obwohl den Unterlagen zufolge neben dem Plan bereits ein Großteil der benötigten Grundstücke erworben wurde. Die Sache läuft also bereits. Wir haben mit dem Grundbuchamt gesprochen und es ist tatsächlich so, dass die Grundstücke in den Besitz einer Investorengruppe übergegangen sind. Neben Christian Huber und dem Verstorbenen Gerald Haferstock sind Helmut Burgmeister und Dr. Theo Unger als Teile dieser Investorengruppe eingetragen. Um wen es sich bei den beiden Personen genau handelt, wissen wir noch nicht. Aber einen der Investoren kennen wir genau, bitte erschrecken Sie nicht: Die katholische Kirche.“

„Das ist nicht Ihr Ernst!“ rief Krohmer, der Burgmeister und auch Unger kannte. „Burgmeister ist Geschäftsführer der Großmetzgerei Müh-Gro-Fleisch in Mühldorf und Dr. Unger ist Arzt in Altötting. Und die katholische Kirche beteiligt sich an diesem Freizeitpark? Sind Sie sicher?“

„Natürlich bin ich mir sicher. Ich habe mich informiert: Die katholische Kirche, übrigens wie alle anderen Kirchen auch, investiert gerne Geld in lukrative Großprojekte. Dies ist gängige Praxis und nicht ungewöhnlich. Warum auch nicht? Wir kennen alle das momentane Zinsniveau, wodurch es sich kaum mehr lohnt, Gelder konventionell bei der Bank anzulegen. Und wie alle, die zu viel Geld haben, legt auch die Kirche gerne Geld gewinnbringend an. Manchmal risikoreich, was vielleicht den besonderen Nervenkitzel ausmacht. Die Kirchen investieren in Immobilien-Großprojekte wie etwa Gewerbegebiete, Mietshäuser, Theater- und Musicalgebäude und so weiter und so fort. Und eben auch in Vergnügungs-und Freizeitparks.“ Leo hatte bis vor wenigen Minuten noch mit der zuständigen Dame im Grundbuchamt telefoniert, deshalb waren sie zu spät gekommen. Die Dame war äußerst freundlich und hilfreich gewesen; und sie hatte unbürokratisch geholfen, denn auch die Polizei durfte nicht einfach so ohne entsprechenden Beschluss Einblick ins Grundbuch nehmen. Leo hatte ihr versprechen müssen, den erforderlichen Beschluss nachzureichen, was spätestens nach Nennung des Namens Christian Huber eine reine Formsache sein dürfte.

„Das mag ja alles richtig sein. Aber im Wallfahrtsort Altötting? Hier bei uns auf dem Land?“

„Warum nicht? Hier sind die Grundstückspreise noch erschwinglich. Was glauben Sie, warum große Vergnügungs- und Freizeitparks außerhalb gebaut werden? Bestimmt nicht, weil es in der Natur so schön ist, sondern weil die Grundstücke weit ab vom Sog der Großstädte noch bezahlbar sind. Und warum soll bei uns auf dem Land solch ein Park nicht funktionieren? Auch die Menschen hier wünschen sich Ablenkung und Vergnügen. Was spricht dagegen? Weil Altötting ein Wallfahrtsort ist? Unterschätzten Sie die Mengen von Touristen nicht, die neben der Wallfahrt dazugewonnen werden. Was glauben Sie, wie das dem Hotelgewerbe, der Gastronomie und vielen anderen Wirtschaftszweigen guttun würde.“ Hans fand diese Idee genial. Er würde es gern sehen, wenn hier in der Gegend mehr los wäre.

„Das sehe ich alles ein und grundsätzlich ist die Idee ja nicht schlecht. Aber wie soll ein Wallfahrtsort wie Altötting und ein Freizeitpark zusammenpassen? Für mich beißt sich das, und zwar gewaltig.“ Krohmer bekam Zustimmung von Viktoria und sogar von Frau Gutbrod, die beide für solche Vergnügen nichts übrig hatten.

„Entschuldigen Sie bitte, aber mir ist die ganze Diskussion um diesen Freizeitpark herzlich egal,“ unterbrach Fuchs die Diskussion. „Warum genau bin ich eigentlich hier?“

„Sie haben den ganzen Sachverhalt mitbekommen. Wo würden Sie ansetzen?“

„Ich? Wieso ich?“ Fuchs schrie beinahe, denn er war es gewohnt, Anweisungen entgegenzunehmen. Bisher wurde nicht von ihm verlangt, selbst Vorschläge zu unterbreiten.

„Weil Sie auf Ihrem Gebiet genial sind. Wie würden Sie vorgehen?“

„Gut, wie Sie wollen. Ich war bei den genauen Befragungen der Kollegen nicht dabei. Aber so, wie ich das sehe, dürften die bisherigen Ermittlungen für eine Durchsuchung des Architekturbüros und auch des Büros dieses Hoteliers auf keinen Fall ausreichen. Das Haus des Verstorbenen steht leer?“

Hans nickte.

„Sie sind sehr schlau Herr Fuchs. Wenn wir die Genehmigung von der Familie des Toten bekommen, könnten wir uns dort in aller Ruhe umsehen. Sie meinen, man könnte dort etwas fallrelevantes finden?“

„Das kann ich natürlich nicht versprechen, aber es wäre zumindest eine Möglichkeit.“ Fuchs war nun erstaunlicherweise etwas freundlicher als sonst. Sollten sie den Mann öfter in Entscheidungen einbinden?

„Das kläre ich sofort ab,“ sagte Hans und wählte die Nummer von Frau Haferstock und hatte Paula Ritter am Apparat. Da er wusste, wie sie für den Verstorbenen fühlte und dass sie auch an der natürlichen Todesursache zweifelte, entschied er spontan, sie auf seine Seite zu ziehen. Er erklärte ihr, worum es ging.

„Ich spreche mit Frau Haferstock und rufe Sie zurück. Ich weiß, wie man die alte Dame nehmen muss. Heute hatte sie einen sehr guten Tag und ist nicht ganz so biestig wie sonst.“

Es dauerte tatsächlich nicht lange und Paula Ritter rief zurück; sie hatten die Genehmigung von Frau Haferstock bekommen, das Haus ihres Sohnes durchsuchen zu lassen, woraufhin Fuchs spontan aufsprang.

„Sachte Herr Fuchs, das muss doch nicht sofort sein, morgen ist auch noch ein Tag. Es ist schon nach 18.00 Uhr und für heute ist es genug. Morgen früh gehen wir alle frisch ans Werk.“

Leo fuhr mit Viktoria nach Hause. Beide wohnten zusammen auf dem Bauernhof von Hans Hieblers Tante Gerda, der vor den Toren Altötting inmitten von Wiesen und Feldern lag. Sie hatte das obere Stockwerk ausgebaut und an Leo vermietet, als dieser von Ulm nach Mühldorf versetzt wurde und eine Bleibe suchte. Viktoria war vor einigen Monaten zu Leo gezogen. Inzwischen waren die drei eine Familie geworden und verbrachten gerne Zeit zusammen. Wie so oft hatte Tante Gerda für die beiden mitgekocht und das Essen auf den Herd gestellt. Leo und Viktoria waren begeistert, denn keiner hatte Lust, heute noch großartig zu kochen. Die Post lag auf dem Wohnzimmertisch, daneben stand ein frischer Strauß Tulpen.

„Tante Gerda ist ein Schatz,“ rief Viktoria entzückt und roch an den Blumen, die herrlich nach Frühling dufteten.

Sie ließen es sich schmecken und zappten durch die Programme, bis sie endlich an einer Gameshow hängenblieben, deren Teilnehmer sehr lustig waren. Das war die Ablenkung, die sie jetzt brauchten, denn beide wussten genau, dass sie sich doch nur über den heutigen Tag unterhalten würden, wenn das Programm langweilig war.

4.

Friedrich Fuchs war mit seinen Leuten bereits um 7.00 Uhr im Ortsteil Waldfrieden in Töging. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er gestern Abend noch angefangen, das Haus zu durchsuchen. Aber der Chef war anderer Meinung und natürlich fügte er sich den Anweisungen Krohmers, vor dem er sehr großen Respekt hatte. Dieses ganze Gequatsche während der gestrigen Besprechung war ihm zuwider, er arbeitete lieber. Er wies seine Leute an und alle waren mit Eifer dabei, denn die letzten Wochen gab es nicht allzu viel Interessantes zu tun. Fuchs hatte verstanden, dass es keinen Anhaltspunkt für ein Gewaltverbrechen gab und daher spürte er die ganze Last auf seinen Schultern. Er und seine Leute durften nicht den kleinsten Hinweis übersehen, der auf ein Verbrechen hindeuten könnte. Er hasste es, wenn oberflächlich oder gar schlampig gearbeitet wurde. Und wenn sich dieser Todesfall tatsächlich als Mord herausstellen sollte, dann hatte der betreffende Arzt schlampig gearbeitet, was für Fuchs absolut nicht akzeptabel war. Das würde seine ständigen Eingaben untermauern, mit denen er seit Jahren dafür plädierte, dass nicht jeder Arzt einen Tod feststellen und den Totenschein ausstellen durfte, sondern dies durch besonders geschultes Personal geschehen sollte. Er hatte sich darüber schon oft mit Krohmer unterhalten, der seine Argumente grundsätzlich unterstützte, aber ihm die Hoffnung nahm, dass seine Forderung in den nächsten Jahren berücksichtigt werden würde. Dafür fehlten einfach die finanziellen Mittel! Pah! Immer wieder diese dämliche Geldfrage, als ob die immer an erster Stelle stehen sollte! Fuchs war es egal, was sein Vorschlag kostete, er dachte nur an die Opfer und vor allem an die Hinterbliebenen, die in seinen Augen ein Recht darauf haben, von einem Fachmann zu erfahren, woran der Tote starb. Mit diesen Gedanken arbeitete er auf Hochtouren und verlangte dies selbstverständlich auch von seinen Mitarbeitern, die ihn auch dafür hassten. Aber trotz allem waren die Jobs bei Fuchs heiß begehrt, denn es eilte ihm der Ruf voraus, dass es kaum jemanden gab, der seine Arbeit mit einer solchen Hingabe und Akribie erfüllte und bei dem man so unendlich viel lernen konnte. Außerdem behandelte Fuchs jeden gleich, so etwas wie Sympathie gab es bei ihm nicht. Und er verlangte von seinen Leuten nichts, was er selbst auch nicht tat.

Leo und Hans fuhren zu Helmut Burgmeister, Viktoria und Wastl wollten mit Dr. Theo Unger sprechen.

Die Großmetzgerei Müh-Gro-Fleisch im Industriepark II in Mühldorf war größer als erwartet. Hans war die letzten Jahre nicht mehr hier gewesen und war erstaunt, was hier zwischenzeitlich angebaut wurde; Leo war in dieser Ecke Mühldorfs noch nie gewesen. Die riesige Anlieferzone für Lkws sah aus wie bei einem Möbelgeschäft und an der Anzahl der parkenden Mitarbeiter-Fahrzeuge konnte man in etwa abschätzen, wie viele Menschen hier arbeiteten und wie groß dieses Unternehmen war. Das Verwaltungsgebäude bildete das Zentrum des Komplexes und erinnerte mit seinen üppigen Pflanzen am Eingang, der Drehtür und dem gläsernen Aufzug an der Außenseite ebenfalls an ein Möbelhaus. Sie zeigten ihre Ausweise am Empfang und wurden umgehend zu Burgmeister in dessen Büro vorgelassen.

„Kriminalpolizei? Wer hat uns denn jetzt wieder angeschwärzt? Wieder diese militanten Tierschützer? Erst vorgestern hat der Werksschutz wieder zwei von diesen Idioten vom Firmengelände geworfen. Am Ostermontag! Das muss man sich mal vorstellen!“ Helmut Burgmeister war ein 60-jähriger, cholerischer, kleiner und sehr dicker Mann mit einer furchteinflößenden Stimme. Vor allem die Lautstärke ließ einen erschrecken. Er thronte hinter seinem riesigen, überladenen, uralten Schreibtisch, vor dem zwei unbequeme Stühle standen. Burgmeister hielt offenbar nichts von einem gemütlichen, ordentlichen Büro, denn auch an den Wänden und vor allem in den Ecken herrschte Chaos und Unordnung in und über uralten, bunt zusammengewürfelten Möbelstücken. Hans konnte nicht ein persönliches Stück finden, woran man erkennen konnte, wessen Büro das war. Burgmeister bot den beiden keinen Platz an und die Polizisten zogen es vor, stehen zu bleiben, denn sie befürchteten, dass die klapprigen Stühle unter ihrer Last zusammenbrechen würden.

„Es geht um Gerald Haferstock,“ sagte Leo sehr leise, um damit auch Burgmeisters Stimme etwas zu senken, denn er vertrug dieses Geschrei überhaupt nicht und bekam davon Kopfschmerzen.

„Gerald? Warum? Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr. Er ist doch an einem Herzinfarkt hEhHHHH gestorben. Er wurde auch schon beerdigt, ich war selbst dabei.“

„Sie waren mit Herrn Haferstock befreundet?“ half ihm Hans auf die Sprünge.

„Das würde ich nicht behaupten. Gut, unsere Wege haben sich ab und zu gekreuzt, vor allem, als der Anbau und die neue Werkshalle geplant und dann gebaut wurden. Gerald bekam den Auftrag von der Firmenzentrale zugesprochen, dabei haben wir uns kennengelernt. Aber mehr hatten wir nicht miteinander zu tun.“

„Vergessen Sie nicht den geplanten Freizeitpark in Altötting,“ fügte Hans ruhig an.

„Sie wissen davon?“ Burgmeister war aufgesprungen, beugte sich über den Schreibtisch und fuchtelte vor Hans‘ Gesicht mit seinem Zeigefinger herum. „Woher zum Teufel wissen Sie das? Das ist alles noch nicht spruchreif und es wurde diesbezüglich noch nicht das letzte Wort gesprochen. Das Projekt hängt noch in der Schwebe. Eins sage ich Ihnen gleich: Wenn Sie diese Information vorschnell an die Medien weiterleiten, kann ich sehr ungehalten werden. Wenn irgendwelche Verleumdungen in Umlauf kommen, schalte ich sofort meinen Anwalt ein und mache Sie für die Konsequenzen haftbar.“ Burgmeisters Kopf war knallrot geworden und drohte gleich zu platzen. Natürlich schrie er wieder.

„Jetzt beruhigen Sie sich. Wir sehen keinen Grund, dieses Großprojekt an die große Glocke zu hängen.“ Noch blieb Hans ruhig, aber wenn sich dieser Typ nicht unter Kontrolle bekommen würde und ihm nochmals auf die Pelle rücken sollte, dann würde er ganz andere Saiten aufziehen. Offenbar bemerkte Burgmeister, dass er übertrieben reagiert hatte, setzte sich wieder und sprach nun wieder mit normaler Lautstärke.

„Ich verlasse mich auf Ihre Verschwiegenheit. Ein Freund kam eines Tages mit dieser Idee eines Freizeitparks an und ich habe mich aus verschiedenen Gründen, vor allem auch aus Steuergründen dazu entschlossen, mich daran zu beteiligen. Wie gesagt, alles legal. Und warum soll dieses Konzept nicht funktionieren? Bevor ich auch nur einen Cent in dieses Unternehmen investiert habe, beauftragte ich eine Münchner Firma damit, eine Marktanalyse anzufertigen. Als die positiv ausfiel und Gerald Haferstock über Beziehungen um tausend Ecken auch noch die katholische Kirche für das Projekt gewinnen konnte, habe ich schließlich investiert. Fragen Sie nicht, wie Gerald das gemacht hat, aber er hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, zu dem Projekt nicht nur einen finanzkräftigen, sondern auch einen sehr gewichtigen Investor zu finden, was ihm durch die katholische Kirche auch gelungen ist. Wir hatten schnell ein geeignetes Areal gefunden. Mein Freund wollte sich darum kümmern, die Grundstücke in unseren Besitz zu bringen. Und er kümmert sich auch um die entsprechenden Genehmigungen, die mit dem Projekt verbunden sind. Das Bauamt und die Stadt Altötting haben vorab signalisiert, dass auch sie Interesse an diesem Freizeitpark haben, natürlich noch nicht offiziell und es liegt auch noch nichts Schriftliches vor. Mein guter Freund boxt das schon durch, daran habe ich keine Zweifel. Ich weiß jetzt, was Sie denken: Es werden Schmiergelder fließen, und so weiter, und so weiter. Ich kenne die ganzen Vorurteile,“ sagte Burgmeister nun wieder lauter und regte sich gleich wieder auf.

„Wir denken überhaupt nichts. Um wen handelt es sich bei diesem sogenannten Freund?“

„Ein Hotelier aus Mühldorf, der Name dürfte für Sie nicht relevant sein.“

„Christian Huber?“

„Ja verdammt, es ist Christian. Woher sind Sie eigentlich so gut informiert? Ich dachte bisher, dass es mit unserer Polizei nicht weit her ist, Sie überraschen mich wirklich. Christian und ich sind schon seit vielen Jahren im selben Golfclub. Er aktiv, ich nur noch passiv. Trotzdem kennen wir uns schon seit Jahren, beruflich und privat.“

„Sind Sie bereits im Besitz aller erforderlichen Grundstücke für diesen Freizeitpark?“

„Nein. Einzelne Besitzer sträuben sich noch, aber das dürfte nur eine Frage des Preises sein. Jeder hat seinen Preis, glauben Sie mir. Sobald das erledigt ist, folgt die Eingabe an die Behörde und dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis der erste Spatenstich erfolgen kann. Das wird groß in allen Medien aufgezogen. Ich sehe die Schlagzeilen schon vor mir: Neuer Freizeitpark in Altötting! Das wird die Sensation!“ Jetzt rieb sich Burgmeister begeistert die Hände und lachte wie ein Schuljunge. „Deshalb wäre es fatal, wenn vorher Informationen durchsickern, die nicht nur das Projekt gefährden und den Gegnern genug Zeit geben, sich zu organisieren, sondern auch die Grundstückspreise in astronomische Höhen treiben. Das darf einfach nicht passieren, deshalb bitte ich Sie nochmals, Stillschweigen zu bewahren, um das Projekt nicht zu gefährden. Denken Sie doch nur mal daran, wie viele Arbeitsplätze so ein Freizeitpark mit sich bringt? Abgesehen von der Attraktivität unserer schönen Gegend, die außer von Gläubigen kaum von Touristen aufgesucht wird. Ein moderner, attraktiver Freizeitpark ist da schon ein ordentlicher Anziehungspunkt vor allem für Familien. Ich weiß, wovon ich spreche, ich habe selbst drei Enkelkinder. Was meinen Sie, was man mit diesem Projekt alles machen kann? Konzerte, Filmvorführungen, und so weiter, und so weiter. Die Münchner Firma, von der ich vorhin gesprochen habe, hat eine schöne Liste mit Möglichkeiten zusammengestellt.“ Burgmeisters Augen strahlten, das Projekt war ihm sehr wichtig.

„Waren Sie bezüglich des Todes von Gerald Haferstock nicht bestürzt?“

„Natürlich hat mich die Nachricht geschockt, ich bin ja kein Unmensch. Aber ich kannte den Mann nicht näher und Herzversagen passieren nun mal, niemand ist davor gefeit. Das kann jeden von uns jederzeit treffen, auch Sie und mich. Christian hat mir erzählt, dass Gerald immer gesund gelebt hat und immer Ausdauer-Sport getrieben hat. Was hat ihm das gebracht? Sehen Sie mich an! Ich habe schon immer nur gegessen, was mir schmeckt und auch nicht immer gesund ist. Und Ausdauer- und Fitness-Sport ist für mich reine Zeitverschwendung, ist mir viel zu anstrengend und kostet zu viel Zeit. Außerdem schwitze ich nicht gerne. Und was soll ich Ihnen sagen? Trotz meines ungesunden Lebenswandels und der Tatsache, dass ich fünf Jahre älter bin als Gerald, lebe ich immer noch. Wenn man einen Job macht, der einem Spaß macht und dazu noch ein funktionierendes Privatleben hat, ist ein langes Leben vorprogrammiert, davon bin ich absolut überzeugt. Wenn man einem Job nachgeht, auf den man schon nach dem Aufstehen keine Lust hat, und dann noch Probleme im Privatleben hat, wird man krank. Das mit dem Gesundheitswahn ist doch nur Humbug. Ich könnte nicht den ganzen Tag nur verzichten, Kalorien zählen und auf leerem Gemüse und harten Körnern herumknabbern. Nein, die Vorstellung allein bereitet mir eine Gänsehaut.“ Jetzt lachte Burgmeister. Der Tod seines Geschäftspartners ging ihm wirklich nicht nahe, aber er machte auch keinen Hehl daraus.

„Wir haben vorerst keine weiteren Fragen.“

„Bevor Sie gehen, stellt Ihnen meine Sekretärin einen Wurstkorb zusammen, eine Spende an die Polizei.“

„Das dürfen wir nicht annehmen, das kann uns als Beamtenbestechung ausgelegt werden.“

„Du meine Güte! Diesen Spruch kenne ich nur aus dem Fernsehen. Gibt es das tatsächlich? Ich wollte nur freundlich sein. Dann eben nicht.“

„Wollen Sie eigentlich nicht wissen, warum die Kripo wegen des Todes von Gerald Haferstock ermittelt?“

„Nein. Warum auch? Sie machen Ihren Job und ich meinen.“

Die Praxis für Augenheilkunde des Dr. Theo Unger war gut besucht. Das Wartezimmer war proppenvoll und es herrschte auf dem Gang und in allen Zimmern ein geschäftiges Treiben. Wastl und Viktoria saßen auf dem Gang, denn im Wartezimmer zwischen all den Augenkranken mit ihren Verbänden und dem muffigen Gestank würde es Viktoria schlecht werden. Wastl war da abgehärtet. Solange es ihn nicht persönlich betraf, waren ihm sämtliche Krankheiten egal. Sie blätterten in verschiedenen Klatschzeitungen und langweilten sich. Endlich kam eine Sprechstundenhilfe auf sie zu.

„Folgen Sie mir bitte, Dr. Unger hat jetzt Zeit für Sie.“

Der grauhaarige, kleine, drahtige Mann Ende 50 saß hinter seinem ordentlichen Schreibtisch, auf dem ein riesiges Modell eines Auges stand, dass sie anzustarren schien.

„Entschuldigen Sie, dass Sie warten mussten. Aber Sie sehen ja selbst, was hier los ist. Ich habe zu meinen eigenen Patienten auch noch die Vertretung eines Kollegen dazu bekommen. Was kann ich für Sie tun?“

„Gerald Haferstock,“ sagte Viktoria knapp. Sie war durch die Warterei sehr müde geworden.

„Eine tragische Geschichte. Gerald war eigentlich fit und achtete auf sich. Nie im Traum hätte ich daran gedacht, dass es ihn so früh trifft. Aber niemand von uns ist davor gefeit, so spielt das Leben nun mal.“ Dr. Unger stand auf, öffnete ein Fenster und zündete sich eine Zigarette an. „Ein Laster muss man haben. Auch wir Ärzte sind nicht perfekt. Warum ermittelt die Kripo bezüglich Geralds Tod?“

„Laufende Ermittlungen. In welchem Verhältnis standen Sie zu dem Verstorbenen?“

„Wir waren Freunde. Ab und zu haben wir uns zum Joggen und auf dem Tennisplatz verabredet. Und auch geschäftlich hatten wir zu tun. Gerald hatte als Architekt einen sehr guten Ruf und auch deshalb habe ich ihn mit dem Bau meines Eigenheims betraut. Und ich war und bin sehr zufrieden mit seiner Arbeit.“

„Stichwort Freizeitpark.“ Die frische Luft vermischt mit Zigarettenqualm drang nun bis zu Viktoria durch und sie wurde langsam frischer. Sie sog dieses Gemisch tief bis in ihre Lungen ein, denn vor einigen Tagen hatte sie das Rauchen aufgegeben und war diesbezüglich noch sehr labil.

„Sie wissen davon? Erstaunlich, eigentlich wollten wir das so lange wie möglich unter Verschluss halten. Erstens wegen der Konkurrenz, und zweitens wegen der Grundstückspreise. Und natürlich auch wegen den zu erwartenden Gegnern dieses Projekts, die es immer gibt; je später die davon erfahren, desto besser. Meines Wissenstands nach fehlen nur noch wenige Grundstücke, bis es endlich losgehen kann. Was glauben Sie, wie die Preise in die Höhe gehen, wenn bekannt wird, dass ein Freizeitpark geplant ist? Oder was militante Gegner auf die Beine stellen, um das Projekt zu verhindern?“ Da die Polizisten nichts darauf erwiderten, fuhr Dr. Unger fort. „Ich habe mich an dem Projekt beteiligt, um meinen Lebensabend damit zu finanzieren. Darüber hinaus habe ich drei Kinder, die sehr große Ansprüche haben, meine Frau und ich haben sie leider sehr verwöhnt. Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass solch ein Park hier in unserer Gegend funktioniert. Wir müssen jetzt natürlich überlegen, wer das Projekt realisieren soll, da Gerald nicht mehr bei uns ist. Wenn es nach mir ginge, könnte Geralds Partnerin Frau Winter die Arbeit gerne übernehmen, Gerald hielt große Stücke auf sie. Aber noch ist nicht klar, wer die Firmenanteile erbt und was aus dem Architekturbüro wird. Bis dahin hängen wir diesbezüglich völlig in der Luft. Die Testamentseröffnung ist hoffentlich demnächst, damit wir endlich weitermachen können. Können Sie mir sagen, wann die stattfindet?“

„Nein, das liegt nicht in unserem Zuständigkeitsbereich. Fragen Sie doch die Familie des Verstorbenen, die können Ihnen bestimmt Auskunft geben.“

„Das glaube ich kaum. Die alte Frau Haferstock kann mich nicht leiden, sie kann keinen von Geralds Freunden leiden. Seit sie weiß, dass ihr einziger Sohn schwul ist, vermutet sie in jedem Mann einen potentiellen Liebespartner ihres Sohnes und tritt deshalb jedem feindselig und aggressiv gegenüber. Nein danke, mit der Frau spreche ich nicht freiwillig.“

„Kennen Sie einen von Gerald Haferstocks Liebhabern?“

„Sorry, damit kann ich nicht dienen. Über sein Liebesleben haben wir nie gesprochen. Selbst wenn er hetero gewesen wäre, hätte mich das auch nicht interessiert. Privat kenne ich Gerald kaum. Uns verbanden der Sport, die Arbeit und der Freizeitpark, sonst nichts. Und bevor Sie weiterfragen: Ich weiß nichts über irgendwelche Feinde, die Gerald auf dem Gewissen haben könnten. Deshalb sind Sie doch eigentlich hier, oder? Sie vermuten, dass Gerald getötet wurde.“

Die Polizisten hatten keine Lust, darauf zu antworten. Was sollten sie auch sagen? Weitere Fragen erübrigten sich für den Moment, außerdem war das Wartezimmer proppenvoll. Viktoria konnte auch sehen, dass unentwegt ein rotes Licht an der Telefonanlage blinkte, was sie ganz nervös machte. Wastl war das egal, er ließ sich von Haus aus nicht drängeln und machte seine Arbeit so, wie er es für richtig hielt. Sie verabschiedeten sich und waren sich einig: Dr. Unger war ein aalglatter Mensch, der sich nur für seine eigenen Vorteile interessierte. Er war zwar nicht unfreundlich, hatte aber auch keine Ecken und Kanten, die irgendwie interessant gewesen wären.

Viktoria rief Fuchs an.

„Haben Sie in Haferstocks Haus irgendetwas gefunden?“

„Wir sind eben fertig geworden. Einige Auswertungen stehen noch aus. Meinen Bericht bekommen Sie später zur nächsten Besprechung.“

Fuchs hatte aufgelegt. Typisch! Hätte er nichts gefunden, hätte er das auch gesagt. So ahnte Viktoria, dass er doch fündig geworden war und wurde neugierig.

„Ihr kommt spät,“ begrüßte Leo Viktoria und Wastl.

„Das weiß ich auch, bedanke dich bei Wastl. Er hatte mal wieder einen seiner Unterzucker-Anfälle und brauchte einen Snack, was uns viel Zeit gekostet hat.“

„Was soll ich machen?“ verteidigte sich Wastl. „Soll ich wegen dem Arbeitsstress verhungern?“

Sie tranken Kaffee und tauschten sich über die Befragungen aus.

„Dann haben wir nur noch die vier Kinder von der Halbschwester.“

„Und diejenigen, die ihre Grundstücke noch nicht verkauft haben. Damit wir uns ein Bild von dem Ausmaß des Freizeitparks machen können, habe ich eine Karte besorgt. Die markierten Stellen sind die Grundstücke, die bereits von den Investoren des Freizeitparks erworben wurden. Diese drei Grundstücke stehen noch aus. Das sind zum einen der Hintermeier-Hof, der Pfandl-Hof und das kleine Grundstück einer gewissen Frau Kobel. Hintermeiers Grund liegt mittendrin und zieht sich von hier,“ dabei deutete Leo auf die Landkarte, die vor ihnen auf dem Tisch lag, „bis hier. Außer dem Wohngebäude und zwei Stallungen handelt es sich bei dem riesigen Besitz um Äcker und Wiesen mit einem kleinen Baumbestand, den ich nicht als Wald bezeichnen würde. Das kleine Stück hier gehört Frau Kobel. Das dort hinten ist der Pfandl-Hof, der nicht ganz so groß ist wie der Hintermeier-Hof und dessen Grundstücke von hier bis hier gehen. Wenn keine Einwände sind, möchte ich gerne mit den Besitzern sprechen.“

„Ich begleite dich,“ sagte Hans und nahm auch schon seine Jacke.

„Wastl und ich fangen mit den Wagenführ-Kindern an. Wenn ihr fertig seid, meldet ihr euch. Die Besprechung ist für heute Abend 18.00 Uhr angesetzt, dann ist Fuchs auch mit seinem Bericht fertig. Und eins ist sicher: wenn sich dann keine stichhaltigeren Beweise ergeben, dass Gerald Haferstock ermordet wurde, unternehmen wir in der Sache nichts mehr. Ich habe mit Krohmer bereits gesprochen. Nur noch heute und dann ist Schluss.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739304144
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Mai)
Schlagworte
Mord Macht Gift Thriller Bayern Krimi Spannung Kriminalpolizei Gier Regionalkrimi

Autor

  • Irene Dorfner (Autor:in)

Irene Dorfner - Die Autorin wurde 1964 in Reutlingen/Baden-Württemberg geboren und ist auch dort aufgewachsen. Die gelernte Großhandelskauffrau lebt seit 1990 mit ihrer Familie in Altötting/Bayern. Bücher waren schon immer ihre Leidenschaft, vor allem Krimis. 2013 erschien ihr erster Krimi, danach folgte der zweite. Inzwischen gibt es 27 Fälle der Leo-Schwartz-Reihe - und ein Ende ist nicht in Sicht...
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Titel: Tödliche Vetternwirtschaft