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Fünf Tage in Karlsbad

von George Tenner (Autor:in)
341 Seiten
Reihe: Lasse-Larsson-Usedom-Krimi, Band 10

Zusammenfassung

KHK Lasse Larsson trägt sich mit dem Gedanken, den Polizeidienst aus Gesundheitsgründen zu verlassen. Er erhält er ein Angebot vom Bundes- kriminalamt, einen in Tschechien spurlos verschwundenen Beamten des Bayrischen Landeskriminalamtes zu suchen. In einer Nachtbar in Ulm beginnt er seine Ermittlung. Zwei Tage später weiß er, dass der Kollege in eine Honigfalle geraten-, und der Frau in ihre Heimatstadt Karlovy Vary nachgereist ist. Es gelingt ihm, einen grausamen Mord in allen Einzel- heiten aufzuklären. Doch dann bittet ihn Schorn, bei der Lösung seines Falles behilflich zu sein, der aus dem Ruder gelaufen scheint. Fünf Tage, die ihn in Karlsbad bis an den Rand des Todes führen, beginnen für Larsson. Die Heimreise gestaltet sich ganz anders, als er sich das jemals hätte vorstellen können.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1. Kapitel

Mai 2009

Lasse Larsson erwachte, als seine Familie noch schlief. Das stellte die Regel im Haus Larsson dar, denn er galt als ein Morgenmensch, während man seine Frau, wie alle seine bisherigen weiblichen Verbindungen, eher als Nachteule bezeichnen konnte. Leise stieg er aus dem Bett. Nachdem er sich die Zähne geputzt hatte, stellte er die Kaffeemaschine in der Küche an und machte sich einen doppelten Espresso, dem er reichlich Zucker zufügte und ihn dann mit in sein Arbeitszimmer nahm. Er schaute kurz aus dem Fenster. Der Morgen kroch schon über die Insel, ließ einen freundlichen Tag ahnen. Er schaltete den Computer an. Während der Rechner hochfuhr, nahm er genussvoll einige Schlucke des Espressos, die ihm angenehm durch die Kehle liefen. Dieses Zeremoniell liebte er, so wie er die Stille um sich herum liebte. Nicht umsonst hatte ihm seine Frau einmal gesagt, dass er wie ein Single in einer Familie lebe. Als er sein Password eingegeben hatte, zeigte der Anbieter mehrere Eingänge in seinem Postfach an. Einer interessierte ihn besonders. Er öffnete ihn.

Hallo Herr Larsson, guten Tag. Ich bin für einige Tage auf Usedom. Würde Sie gern treffen. Ginge es heute im Laufe des Tages bei Ihnen? Gerne erwarte ich Ihre Antwort. Mit besten Grüßen, Niclas Schorn

Schorn, dachte Larsson, Niclas Schorn. Das ist der Kollege, der in der Abteilung 22 des Staatsschutzes, zuständig für Ermittlungen, Fahndung, Gefahrenabwehr beim BKA, in Berlin tätig ist. Er fiel ihm unangenehm auf, als er ihm bei einem sehr wichtigen Einsatz mit wenigen Sätzen bekannt gab, dass die gemeinsame Operation beendet sei. Ihn hatte die Art geärgert, nicht dass, sondern wie dieser Kontakt seinerzeit zu Ende ging. Was wollte Schorn von ihm? Zum Vergnügen würde er sich kaum mit ihm treffen. Er war sich im Klaren darüber, dass es etwas mit seinem Wunsch zu tun haben musste, aus dem Polizeidienst auszuscheiden, den der Polizeioberrat Mälzer in der Polizeiinspektion Anklam vorgetragen hatte. Der Chef hatte ihn aber aufgrund seines Gesundheitszustandes erst einmal unbefristet beurlaubt. Larsson lächelte. Ich bin gespannt, was dieser Schorn von mir will, dachte er. Dass er etwas will, stand für ihn fest, denn wenn er privat auf die Insel kommen würde, hätte er keine Veranlassung, ihn zu treffen. Er stellte die Nummer seines Handys vorweg und setzte einen Satz dazu: Rufen Sie einfach an, Larsson.

Monika war leise hinter ihn getreten. Er hatte sie nicht gehört, aber gespürt. Ohne sich umzudrehen fragte er: »Warum schläfst du nicht, Liebes? War ich zu laut beim Aufstehen?«

»Ich habe gemerkt, dass du nicht neben mir liegst, Lasse. Kann ich irgendetwas für dich tun?«

Er dreht sich um. »Du weißt, dass ich nicht mehr schlafen kann. Sorge dich nicht. Geh zu Elina zurück.«

»Sie schläft noch. Doch es wird nicht mehr lange dauern, da ist es mit der Ruhe vorbei.« Monika zog sich einen Stuhl heran. »Ich könnte uns ein kleines Frühstück machen. Was hältst du davon?«

»Rührei?«

»Schinken oder Lachs?«

»Beides.«

»Genießer.«

Monika Larsson stand auf. Sie lächelte ihrem Mann noch einmal zu, und ging zur Küche.

Gerade als er den Computer herunterfahren wollte, lief mit einem Ping-Ton eine neue Mail in seinen Postkasten.

Es war die Antwort von Niclas Schorn. 9:00 Uhr Hotel Zur Post Bansin. Wäre das möglich?

Larsson schaute zur Uhr. 05:12. Schorn … Der frühe Vogel fängt den Wurm, dachte er. Doch er konnte sich ein spöttisches Lächeln nicht verkneifen.

*

Kurz vor neun stellte Larsson seinen Wagen auf dem geschlossenen Parkplatz des Hans-Werner-Richter-Hauses in Bansin ab. Er ging die wenigen Meter zum Kaiser-Spa-Hotel Zur Post, das an der Ecke zur Seestraße liegt. In der Eingangshalle schaute er sich um. Von Schorn war nichts zu sehen. Als er zur Empfangsdame am Tresen schaute, nickte diese ihm freundlich zu. Er empfand das als Aufforderung, ging zu ihr.

»Herr Larsson?«

»Ja.«

»Sie werden schon erwartet. Wollen Sie für eine Minute Platz nehmen?« Sie deutete zu der mittig aufgestellten Sitzgruppe hin. »Ich rufe eben hoch. Herr Schorn kommt sofort.«

Larsson ging zur Sitzgruppe und beobachtete aus dem Augenwinkel seine Umgebung. Die Frau am Tresen schaute sie lächelnd zu ihm herüber. Dann drehte sie sich einem ankommenden Gast zu, um ihn einzu-checken.

Die Tür des Fahrstuhls ging auf. Der hagere, relativ jung aussehende Mann kam direkt auf Larsson zu. Larsson taxierte ihn auf Mitte 40. Tatsächlich hatte er die 50 bereits überschritten.

»Guten Morgen, Herr Larsson. Schön, dass Sie kommen konnten. Gehen wir frühstücken?«

»Ich kann Ihnen gern Gesellschaft leisten«, sagte Larsson. »Doch ich komme gerade vom Frühstückstisch.«

»Umso besser. Verlieren wir keine Zeit. Gehen wir auf mein Zimmer, da sind wir ungestört.«

Larsson wusste, was Schorn damit meinte. Ungestört hieß nichts anderes als unsichtbar für irgendwelche, wie auch immer geartetes Aufeinandertreffen mit Personen zu sein, die ihn kannten. Derartige Zufälle können an einem Ferienort an der Ostsee, vor allem in einem der bekannten Kaiserbäder, immer passieren.

Das Zimmer lag mit dem Ausblick auf den großzügig gestalteten Garten und die umstehenden großen Villen, die alle zum Hotelkomplex gehörten. Es war größer als die normalen Zimmer, die Larsson aus einer Übernachtung schon kannte. Es verfügte über einen ovalen Tisch, an dem sechs Stühle standen. Auf dem Tisch standen zwei Thermoskannen, davor ein Tablett mit einer Schale Obst, einem Kännchen Sahne und einer Zuckerdose. Das angrenzende Zimmer war aller Wahrscheinlichkeit nach ein Schlafzimmer.

»Bei mir hat sich einiges verändert«, begann Schorn, nachdem sie sich gesetzt hatten. »Ich bin von der Ihnen bekannten Abteilung ST 22 zur OE 43 gewechselt. Und in dieser Eigenschaft bin ich hier, um mit Ihnen abzuklären, was Sie in der nächsten Zeit zu arbeiten gedenken.«

Larsson lachte auf. »Hat sich denn nicht rumgesprochen, dass ich bei der Polizei aufhören will?«

»Hat es. Das sollen Sie auch.«

»Was interessiert es Sie dann, was ich im Anschluss an meinen Polizeidienst zu tun gedenke. Vielleicht privatisiere ich ja.«

»Dazu sind Sie nicht der Mann, Herr Larsson. Reden wir nicht um den heißen Brei. Ich bin hier, weil ich Ihnen ein Angebot unterbreiten möchte, das für Sie bestimmt von Interesse sein könnte.« Schorn deutete auf die Kannen. »Kaffee oder grünen Tee? Was darf ich Ihnen offerieren?«

»Nichts, danke. «

»Referat OE 43 Verdeckte Ermittlungen - Einsatz Verdeckter Ermittler. OE«, wiederholte Schorn langsam. »Das steht für Operativen Einsatz.«

»Dafür hat die Polizei doch SKs, und an verdeckten Ermittlern wird es Ihnen nicht fehlen.«

»Was das Inland betrifft. Doch wir stehen vor einer besonderen Aufgabe, die einen abstrakten Einsatz erfordert. «

»Abstrakt?« Larsson macht ein bedenkliches Gesicht.

»Ganz außerhalb der Norm.«

»Also ungesetzlich.«

»So würde ich das nicht sehen. Ich brauche dafür nur einen Mann Ihrer Qualität als Ermittler, einen Einzelgänger.«

»Sie wollen mir sagen, dass Sie nicht über einen solchen Mann verfügen, Herr Schorn?«

»Nein, das sage ich damit nicht.«

»Sondern?«

»Ich brauche einen Mann, der nicht polizeigebunden ist. Und wenn Sie den Dienst quittieren, sind Sie ein solcher Mann.«

Larsson stand auf. »Ich sollte besser gehen.«

»Warten Sie doch, bis ich meine Ausführungen beendet habe. Ich bin sicher, dass sich das Warten für Sie lohnen wird. Wir werden alle profitieren, Sie, das BKA und damit die ganze Republik.«

Schorn zeigte wieder auf die Kannen. »Kaffee oder Tee?«

»Kaffee«, beschied Larsson kurz und setzte sich wieder.

Schorn goss erst Kaffee in eine der Tassen, die er Larsson zuschob, dann bediente er sich selbst aus der zweiten Kanne, die den Grünen Tee beinhaltete. Er nahm die Mappe, die rechts neben ihm lag und entnahm ihr einen Personalbogen mit dem Bild eines Mannes im mittleren Alter.

»Uns ist dieser Mitarbeiter abhandengekommen.« Er reichte Larsson den Personalbogen.

»Abhandengekommen?« Larsson schaute auf das Bild. »Ein Mitarbeiter von Ihnen, nehme an.«

»Verdeckter Ermittler OK beim LKA Bayern.«

»Warum ermitteln die Kollegen nicht selbst?«

»Das Dossier ist vom LKA München, aber das BKA hat das Problem komplett übernommen.«

»Weil …?«

»… es länderübergreifend ist«, sagte Schorn.

Er sah Larssons fragendes Gesicht.

»Der Kriminaloberkommissar Ronald Bachmeier ist mit einem Mietwagen nach Tschechien gefahren. Dort ist er aus einem Karlsbader Hotel verschwunden.«

Larsson stieß hörbar die Luft aus.

»Die Frage ist doch, was hat er in Tschechien gewollt«, sagte Larsson.

»Seiner Familie gegenüber hat er vorgegeben, eine Fortbildung zu machen.«

»Seine Dienststelle, wusste man dort nicht Bescheid?«

»Er hatte sich krankgemeldet.«

»Ich nehme an, dass sich die Kollegen an seinem Einsatzort umgesehen haben.«

Schorn nickte.

»Was würden Sie denn vom mir erwarten, wenn ich mir das einmal anschaute«, sagte Larsson.

»Uns nützt das nur etwas, wenn Sie tatsächlich aus dem Polizeidienst ausscheiden.«

Larsson ging nicht darauf ein. »Spekulieren wir einmal ich würde mich tatsächlich an einer Ermittlung des jetzigen Aufenthaltsortes des verschwundenen LKA-Mitarbeiters beteiligen … «

»Nicht beteiligen, Sie müssten völlig autark operieren. Fliegen Sie auf, sind Sie allein auf sich gestellt. Wir müssten leugnen, Sie zu kennen.«

»Verstehe«, sagte Larsson. »Ich glaube, das reizt mich nicht sonderlich.«

Einen Augenblick wanderte sein Blick zum Fenster. Er würde jetzt lieber hinausgeschaut haben. Doch von seiner Sitzposition hatte er einen ungünstigen Blickwinkel.

»Ich bin überzeugt, Sie haben sich schon Gedanken über den Gesamtablauf gemacht«, sagte er.

»Natürlich. Sie würden aus Gesundheitsgründen rückwirkend zum letzten Monat in den vorgezogenen Ruhestand versetzt werden. Weil Sie aber nicht untätig sein wollen, melden Sie ein Gewerbe als Privatdetektiv an. Sozusagen im Nebenerwerb. Das brauchen Sie schon, um Ihrer Familie zu erklären, warum Sie über längere Zeit unterwegs sein müssen. Ihre Tagesgage würde sich aus drei Beträgen zusammensetzen. Tausend Euro pro Tag, Spesen nach Abrechnung und zum Schluss ein Erfolgshonorar, sofern Sie den Verbleib des Kollegen aufklären, von 30.000 Euro.«

»Und wenn ich ihn finde und er … «

»Lebendig oder tot«, unterbrach Schorn.

Larsson dachte an die Zeit, in der er sich unnütz vorkommen würde, müsste er sich ausschließlich mit Frau und Kind beschäftigen. Das wäre gerade in diesem Augenblick unvorstellbar für ihn.

»In solchen Fällen strickt man eine Legende. Haben Sie das bedacht?«

Larsson sah zum ersten Mal ein Lächeln über das Gesicht seines Gegenübers huschen.

»Ihr Deckname ist Dr. Hans-Jochen Kowalski. Sie wohnen in der Spohrstraße 34, in Frankfurt am Main. In diesem Haus befindet sich die Ergo-Praxis von Stefanie Ludwig. Über dieser Praxis liegt das Immobilienbüro Kowalski & Berger, deren Teilhaber Sie sind. Selbstverständlich bekommen Sie die nötigen gültigen Ausweispapiere, und einen auf den Namen des Büros angemeldeten Dienstwagen.«

Was für ein Aufwand für eine Ermittlung, die vielleicht drei oder vier Wochen dauert, dachte Larsson. Aber genau das machte ihn misstrauisch.

»Ist das nicht für einen so kurzen Einsatz ein wenig aufwendig«, fragte er.

»Wir wissen nicht genau, wie lange der Einsatz für Sie dauern wird. Bei genauer Betrachtung fallen hin und wieder Dinge an, die wir ungern selbst erledigen.«

»Werner Mauss«, sagte Larsson lapidar.

»Sie wissen so gut wie ich, dass Mauss verbrannt ist. Er bekommt schon seit dem Jahr 2000 keine Aufträge mehr von den Diensten.«

Larsson dachte kurz daran, was er über Mauss in den offiziellen Quellen gelesen hatte. Natürlich interessierten ihn immer erfolgreiche Ermittler. Mauss war etwas Besonderes in der Agentenszene, weil wenig über ihn bekannt wurde, und wenn, dann gab es einige Zeilen über Erfolge für die Bundesrepublik, die er ermöglicht hatte, wie im Falle des verschwundenen Seveso-Giftes Dioxin in Italien. Mauss hatte schließlich die Fässer im Mai 1983 in einem ehemaligen Schlachthof im nordfranzösischen Dorf Anguilcourt-le-Sart im Auftrag des deutschen Kanzleramtes aufgespürt.

Niclas Schorn bemerkte, dass Larsson still geworden war.

»Einen zweiten Mauss wird es nicht geben«, unterbrach er die Stille. »Die Zeiten sind einfach anders geworden. Doch die Erfolge, die der Mann hatte, sind legendär. Mehr als 1600 Festnahmen soll er durch seine Einsätze ermöglicht haben.«

»Wenn ich das übernehme, ich sage wenn, dann will ich zuvor das gesamte Material sichten, das dem BKA über diesen …«

»Kriminaloberkommissar Ronald Bachmeier.«

»Bachmeier vorliegt. Darüber hinaus möchte ich alle Ihre Vorbereitungen einsehen, die meine Absicherung betreffen würden.«

»Einverstanden. Doch solange Sie den Auftrag nicht angenommen haben, können Sie das nur in diesem Raum. Und dass die Zeit drängt, brauch ich Ihnen ja nicht zu sagen.«

Larsson rief zu Hause an. Er erklärte seiner Frau, dass sich das Treffen mit einem Kollegen hinziehen würde.

Monika Larsson erkannte in der Stimmlage, ob eine Sache für ihren Mann wichtig war oder ob er nur eine Ausrede brauchte, um wieder einmal einige Stunden fern von seinem Haus und seiner Familie zu sein.

Schorn gab Larsson die Mappe, aus der er den Personalbogen des verschollenen LKA-Mitarbeiters genommen hatte. Dann stand er auf und holte einen schwarzen Pilotenkoffer, den er an dem kleinen Schreibtisch stehen hatte, der zur Möblierung in diesem Raum gehörte.

»Ich brauche Bedenkzeit«, sagte Larsson.

»Das verstehe ich. Aber mir sitzt die Zeit im Nacken«, antwortete Schorn. »Ich werde Ihnen jetzt alle Unterlagen zur Verfügung stellen, Sie werden sie prüfen und sich dann entscheiden. Wenn Sie es nicht übernehmen, muss ich sofort Ersatz suchen.«

»Was macht Sie so sicher, dass ich das übernehmen werde?«

»Die Einschätzung Ihrer Person durch unseren Psychologen. Er glaubt, dass Sie ohne einen gewissen Nervenkitzel gar nicht existieren können. Und wissen Sie was, Larsson, ich glaube dem Mann.«

Larsson musste zugeben, dass die Einschätzung seiner Person durchaus seiner eigenen Bewertung entsprach.

Schorn entnahm dem Pilotenkoffer ein DIN A4 Kuvert, dessen Inhalt er vor sich ausbreitete.

»Da hätten wir einmal den Reisepass auf den Namen Dr. Hans-Jochen Kowalski, Spohrstraße 34, in Frankfurt. Dort sind Sie auch polizeilich gemeldet.« Er reichte Larsson den Pass, den dieser eingehend prüfte.

»Es ist nicht das Bild aus meiner Personalakte«, stellte Larsson fest. »Und eine Brille trage ich auch nicht.«

»Natürlich ist das nicht das Bild aus der Personalakte. Da wären Sie nicht nur zu jung, sondern man könnte durch einen unglücklichen Umstand sofort auf Sie schließen. Das Bild wurde gemacht, als Sie sich den Bart wachsen ließen. Und zusammen mit der Alterung verändert das Ihr Aussehen angemessen. Die Fahrzeugpapiere ihres Dienstwagens. Wir denken, dass ein A6 in dieser Ausführung angemessen ist, nicht so aufdringlich, wie es eine S-Klasse von Mercedes wäre, aber Hinweis genug auf Ihr dickes Portemonnaie, dass Sie bei dieser Operation dezent einsetzen müssen. Dazu haben wir einen Stapel Visitenkarten und selbstverständlich die Präsentation des Immobilienbüros Kowalski & Berger, die auf der ersten Innenseite das Konterfei von Ihnen und Herrn Berger zeigt.«

Larsson ließ seinen Blick über die Visitenkarte schweifen und sah sich die Broschüre über das Immobilienbüro an. Sehr professionell gemacht, dachte er anerkennend. Dann schaute er die Fahrzeugpapiere an. Der Wagen war vor acht Monaten auf die Firma Kowalski & Berger zugelassen.

»Ferner haben Sie eine private Krankenversicherung für Selbstständige bei der R + V, mit einer Zahnzusatz- und einer Pflegeversicherung.« Schorn reichte Larsson die Versicherungskarte. »Sie sollten diese Karte immer in Ihrem Portemonnaie stecken haben. Man kann ja nie wissen, unter welchen Umständen fremde Leute da hineinschauen. «

»Bleibt der Führerschein.«

»Richtig. Den haben Sie vor über 20 Jahren in Aschaffenburg gemacht, denn dort haben Sie in der Schweinheimer Straße bis Oktober 1981 gelebt. Das gehört zu Ihrer Legende. Im Erdgeschoss des Hauses gab es zu der Zeit eine Boutique namens Puck-Moden. Die gibt es inzwischen nicht mehr. Sie wohnten im zweiten Stockwerk, drei Zimmer, Küche.«

»Chapeau, Sie haben an alles gedacht.«

»In der ersten Zeit Ihrer Tätigkeit in Frankfurt am Main haben Sie in Mollys Pinte in der Spohrstraße einen gewissen RR kennengelernt. RR steht nicht für Rolls Royce, sondern für Reinhard Ritter, der Sie mal mit in die Rote Katze nahm, weil er Sie mochte. Die Rote Katze war eine Schwulenbar, die man in den 1970er Jahren wegen des sprunghaften Anstiegs von Aids geschlossen hat.« Schorn sah das fragende Gesicht Larssons.

»Das korrespondiert nicht mit dem Wohnort bis 1981 in Aschaffenburg«, sagte Larsson.

»Sie hatten die Wohnung in der ersten Zeit Ihrer Arbeit bei Berger aus Sicherheitsgründen beibehalten. Erst nachdem Ihnen der Berger Senior eine Partnerschaft angeboten hatte, weil er seinem Sohn nicht über den Weg traute, den Laden ordentlich zu führen, sind Sie ganz nach Frankfurt in die Wohnung umgezogen, die Berger Ihnen anbot.«

»Ja, das würde gehen. «

»Sie wohnten damals gegenüber von Mollys Pinte im Parterre eines Mietshauses. Mollys Pinte war damals schon ein Szenentreff. Niemand würde Ihnen abnehmen, dass Sie das Lokal nicht besucht haben, obwohl Sie nur aus Ihrer Haustür beim leisesten Durst genau in diesen Laden gefallen wären. Merken Sie sich auch den Namen Willy Röhling. Er arbeitete damals in der Einsatzzentrale beim ADAC. Röhlings prägender Satz war: Sind wir nicht alles Frauen? Sowohl er als auch Reinhard Ritter sind inzwischen verstorben. Aber in der Szene kennt man die Beiden noch.« Schorn schaute noch einmal in seine Notizen. »Ach ja, da haben wir noch eine prägnante Person aus dieser Zeit. Ein schwuler Kunstmaler mit Namen Hajo Brudloff. Er ärgerte sich immer über seinen russischen Nachnamen. Sollte man Sie also überprüfen, haben Sie wasserdichte Empfehlungen.«

»Existiert die Wohnung in Neu-Ulm noch?“«, fragte Larsson, ohne auf Schorns letzte Sätze einzugehen.

»Sie wollen in Deutschland mit Ihren Ermittlungen anfangen?«

Larsson nickte.

»Negativ. Die Wohnung ist verbrannt.«

»Kein Problem. Mich interessiert ohnehin nur die Bar in Ulm, in der Bachmeier gearbeitet hat.«

»Nachtclub Goldener Engel«, sagte Schorn. » Der Club präsentiert House, Dance und Indie Musik vom DJ und Livemusik von Rockgruppen. Er ist bekannt für ein originelles Veranstaltungsprogramm. Die Menschen mögen den Club, obwohl es Vermutungen gibt, der Laden sei nicht nur ein Musiktempel. Bachmeier war ganz dicht dran.«

»Und hat sich die Flügel versengt«, stellte Larsson fest.

Schorn sagte nichts.

Larsson schloss daraus, dass man beim BKA anderweitige Befürchtungen hegte. Dafür hielt er Larsson eine Brille hin.

»Was, wenn ich damit nicht sehen kann?«

»Es ist eine Brille für die Ferne. Sie hat ganz minimale Dioptrien, muss aber auch sein, falls man die Echtheit überprüft.«

»Halten Sie das für möglich?«

»Seien Sie nicht so naiv. Im Untergrund ist alles möglich. Die Brille ist getönt. Nun fehlt noch was?«

»Keine Ahnung.«

Schorn lachte. »Die Gewerbegenehmigung.«

Larsson bluffte. »Wenn Sie die jetzt auch hervorzaubern könnten, würde ich der Transaktion tatsächlich zustimmen«.

»Sie werden leichtsinnig, Larsson.« Schorn nahm eine durchsichtige Mappe aus dem Pilotenkoffer. Gleichzeitig öffnete er seinen Laptop. »Schauen Sie sich erst einmal ihre Internetpräsenz an.«

Während Larsson sich völlig perplex die Internetseite des Privatdetektivs Lasse Larsson anschaute, rief Schorn übers Handy einen anderen BKA-Mitarbeiter herbei.

»Jetzt bin ich gespannt, was das Wort eines Lasse Larsson gilt.«

Es klopfte. Der ältere Herr, der jetzt eintrat, musste die ganze Zeit irgendwo gewartet haben, dachte Larsson.

»Es hat alles funktioniert. Sie können die Quittung jetzt vorbereiten«, sagte Schorn.

»Die Sache mit der Internetpräsenz finde ich gar nicht witzig«, sagte Larsson. »Ist sie schon ans Netz gegangen?«

»Natürlich nicht. Das wäre auch zu dick aufgetragen. Ich wollte einfach sehen, wie sie reagieren.« Schorn klappte den Deckel des Laptops zu.

»Habe ich dann Ihrer Erwartung entsprochen?« Larsson klang amüsiert.

»Es wird keine schriftliche Vereinbarung zwischen uns geben. Einzige Ausnahme ist der Justitiar, für die Übergabe des Geldes. Ordnung muss sein.« Schorn nickte dem Mann zu, der jetzt einen DIN A5 Umschlag aus seiner Tasche zog.

»Abschlag 15.000 €. Werden Sie den Auftrag übernehmen, Herr Larsson?«

»Sie haben mich überzeugt.« Larsson öffnete den Umschlag und sah flüchtig hinein.

»Zählen Sie ruhig nach«, sagte Schorn.

»Ich denke das wird nicht nötig sein. Wann wird der Einsatz beginnen?«

»Morgen früh um acht. Werden Sie das schaffen?«

»Selbstverständlich.«

»Da ist noch etwas Anderes in dem Umschlag«.

»Ihre Anmeldung des Gewerbes als Privatdetektiv. Wir fahren morgen bis Berlin, wo Sie ihren Dienstwagen übernehmen werden. Die Unterlagen zur Anmeldung Ihrer Selbstständigkeit lassen Sie am besten in Ihrem Büro. Sie werden das nur gebrauchen, wenn irgendetwas schief geht, und eine SIM-Karte, die Sie nur nutzen, um mit mir in Verbindung zu treten«.

»Wo treffen wir uns?«

»Hier in der Halle des Hotels.«

2. Kapitel

Lasse Larsson fuhr einmal an dem Haus in der Karlstraße vorbei. Das wie ein aus zwei Rechtecken konstruiertes Haus erinnerte ihn an zwei unterschiedlich große, sandfarbig gestrichene Schuhkartons. Aus dem Parkhafen vor dem Etablissement rangierte gerade ein roter Ferrari rückwärts auf die Straße. Bei der nächsten Möglichkeit wendete Larsson den dunkelblauen A6, fuhr zurück und beeilte sich, genau diesen freien Platz zu nutzen. Als er ausstieg, sah er auf ein großes Bild, das einen mit üppigen Brüsten ausgestatteten, nahezu nackten jungen Engel zeigte. Darüber prangte in roter Schrift Nachtclub Goldener Engel. Auf der Bühne riss ein Endzwanziger gerade Witze aus seinem Programm über verschiedene Politiker etablierter Parteien, in Verbindung mit Partys im Rotlichtmilieu. Kleine Gruppen hatten sich gebildet, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Den Altersdurchschnitt schätzte Larsson auf Mitte bis Ende 20. Zwei jüngere Männer mit Migrationshintergrund, offensichtlich angeheitert, ließen sich gerade gemeinsam ablichten.

Der Conférencier schien mit seiner Darbietung fertig zu sein, denn ein Beifall honorierte seine Leistung.

Auf der Bühne hatten sich nun drei Männer und eine Frau der Instrumente bemächtigt. Kaum war der Beifall zu Ende, begannen sie, The House of the Rising Sun zu spielen. Larsson musste lächeln. Er hätte nicht erwartet, hier ein Lied zu hören, das in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts sein Lebenslicht in New Orleans erblickt, und in den sechziger Jahren von einer Reihe verschiedener Interpreten von Joan Baez und Miriam Makeba, aber auch von Dave van Ronk, Bob Dylan und Chuck Berry in verschiedenen Variationen erfolgreich dargebracht wurde. Dieser amerikanische FolkSong wurde Anfang der sechziger Jahre in der Fassung der britischen Band The Animals mit einem eigenen Text abermals zum Hit. Und genau den begann der Mann mit der rauchigen Stimme zu singen.

There is a house in New Orleans

They call the Rising Sun

And it's been the ruin of many a poor boy

And God I know I'm one

Larsson hatte sich bis an die Bar vorgekämpft. Er ließ sich einen Bourbon geben und tauchte damit ins Gewühl unter, um nach und nach den Inhalt aus dem Glas unbemerkt auf dem Boden zu gießen. Nach einiger Zeit ging er zurück zur Bar. Er deutete auf das Glas und sagte: »Lass bitte noch einmal die Luft raus.«

Der Barmann kam der Aufforderung nach. Er musterte Larsson, der altersmäßig über dem Durchschnitt lag. »Suchst du was Besonderes?«

»Nur ein wenig Spaß.«

»Hell oder dunkel?«

Als Larsson nicht sofort antwortete, legte er nach: »Blond oder Schwarz?«

»Hast du etwas mit dunkelbraunen Augen im Angebot?«

Der Mann dirigierte Larsson zum anderen Ende der Bar. Das Kopfteil war so gestaltet, dass die umstehenden Personen nicht sehen konnten, was hinter der Ecke des Tresens stand.

»Schau hier rein«, sagte er. »Was du hier siehst, kann in kurzer Zeit zur Verfügung stehen.«

Larsson schaute sich die Frauen an, die in eindeutiger Pose abgebildet waren. Amel, Theresa, Cathy, Yvonne, Laura, Judith, Helena und Ofelia.

»Und?«

Larsson schüttelte langsam den Kopf. »Sicher ganz hübsch. Aber mir hat ein Freund gesagt, wenn ich schon etwas in der Kiste bewegen wolle, dann möge ich mich um Nicole kümmern. Das wäre ein einmaliges Erlebnis. Aber den Namen sehe ich hier nicht.«

Der Barkeeper nahm die Mappe wieder weg. »Da kann ich dir nicht helfen. Eine Nicole gibt‘s bei uns nicht. Wo kommst du denn her?«

»Aus Frankfurt.«

»So so, aus Frankfurt am Main?«

»Ich habe noch eine Empfehlung für Myer‘s«, sagte Larsson. »Vielleicht ist Nicole ja dort.«

Der Barmann zuckte mit den Schultern. »Hast du denn bei Myer’s reserviert?«

»Nein.«

»Da wirst du wohl Probleme haben, einen Platz zu finden.«

»Das ist wohl alles eine Frage des Preises«. Larsson lächelte doppeldeutig.

Der Barmann ging auf die andere Seite des Tresens, um einige Bestellungen abzuarbeiten und sprach dann mit einem jungen Mann, der auffällig nach Larsson schaute. Larsson beobachtete das aus dem Augenwinkel. Als er merkte, dass seine Person die Aufmerksamkeit des Mannes erregte, nahm er genüsslich einen Schluck des Bourbons. Er tauchte wieder in die Masse der begeisterten Musikjünger unter, und begann das Spiel mit dem Leeren des Glases von neuem.

Nach dem übernächsten Song ging er zum Tresen zurück.

»Noch einen?«, fragte der Mann hinter der Bar.

Larsson schüttelte den Kopf. »Ich will erst mal weiterziehen, vielleicht gibt‘s woanders mehr Spaß«, sagte er und strich mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand über seine Nase. »Ich komme morgen noch einmal vorbei. Was bekommst du von mir?“

Der Mann nannte eine Summe. Larsson nahm eine Rolle 50 Euro-Scheine aus der Tasche, die mit einem Schnipsgummi zusammengehalten wurden. Da zog er einen der Scheine heraus und reichte ihn dem Barmann. »Stimmt so.« Er stellte das Glas ab, winkte dem Mann noch einmal lässig zu, und verließ das Etablissement.

Draußen bestieg er sein Fahrzeug. Er gab Lautenberg 1, Ulm in sein Navigationssystem ein. Keine zehn Minuten später kam er vor dem Nachtklub Myer’s an. Er erwischte einen Parkplatz in der Nähe des dem Nachtklub gegenüberliegenden Polizeipräsidiums der Stadt Ulm. Dort stellte er seinen Wagen ab und ging die wenigen Meter zu Fuß. Vor dem Nachtklub wand sich eine Riesenschlange meist junger Menschen, die alle noch an den beiden Türstehern vorbei ins Innere des Clubs gelangen wollten, um dem Spaß der Nacht zu frönen.

Unmittelbar vor dem Club stand eine überlange rotfarbige, amerikanische Limousine mit weißem Lederdach; es war jener Blickfang, der in den USA selbstverständlich für die reiche, ausgeflippte Oberschicht stand, für die relativ engen Straßen Ulms aber sicher nicht ohne Probleme war, und bei der Parkplatzfindung ein schier unüberwindbares Hindernis darstellen würde. Doch die Werbung war sowohl für Myer‘s wie auch für den Limousinen-Service, dessen Werbung auf der hinteren Stoßstange mit www-Adresse und einer Handynummer stand, gewaltig. Genau das beabsichtigten die beiden Unternehmer. Die lange Schlange vor dem Club, gab ihnen absolut recht.

Larsson ging zielstrebig auf den größeren der beiden Türsteher zu. Der Mann war nicht nur ein Riese mit einer Glatze. Er brachte sicher seine zwei Zentner auf die Waage. Uma n ihm vorbeizukommen, musste man entweder anständig in der Reihe stehen und sehr geduldig warten, oder ein überzeugendes Argument haben.

»Kowalski«, sagte er. »Ich hatte reserviert.« Dabei reichte er dem Mann einen zusammengeknüpften 50-Euroschein.

Das Publikum bei Myer’s schien ihm im Durchschnitt höherwertiger zu liegen als im Nachtclub Goldener Engel. Er konstatierte, dass es sicher in Ulm noch eine andere Liga von Nachtklubs geben müsse, die seinem Naturell näherstand. Doch das konnte er sich nicht aussuchen. Sein Fokus musste auf dem Nachtclub Goldener Engel liegen.

Tags darauf hatte Larsson beschlossen, eine kleine Donaufahrt mit dem ‚Ulmer Spatz‘ vom Metzgerturm zur Friedrichsau und zurückzumachen. Als er losging, achtete er genau darauf, ob ihm irgendjemand vom B&B-Hotel folgte. Umsonst. Kurz vor 13 Uhr kam er an der Donau, an der Anlegestelle Metzgerturm an. Er genoss es, die Donau entlangzufahren.

Die frische Brise auf dem offenen Achterdeck holte ihn aus seinen Gedanken zurück. Neben ihm versuchte eine junge Mutter, die nach der Wende des Schiffes in Friedrichsau zugestiegen war, vergeblich, ihres etwa achtjährigen Sprösslings Herr zu werden. Der Junge hatte seine Mutter fest im Griff. Sein Gekreische ärgerte Larsson, doch Larsson hielt sich zurück, in das Elend vergeblicher Erziehungsmühe einzugreifen. Nach gut anderthalb Stunden legte der ‚Ulmer Spatz‘ wieder an der Abfahrtstelle an. Doch nun plagte ihn erst einmal der Hunger. Er ging durch die Stadt auf der Suche nach einem außergewöhnlichen Lokal mit regionaler Küche. Im Restaurant Gerberhaus, einem mit antiken Bauernmöbeln dekorierten Lokal im wundervoll restaurierten Fachwerkbau, genoss er die gehobene schwäbische Küche.

Larsson bestellte eine Spitzkohlsuppe mit Kresse als Vorspeise. Als Hauptgang entschied er sich für schwäbischen Kartoffelsalat an Pfifferlingen. Dazu bestellte er eine dicke Scheibe Schweinebraten. Er trank ein Hefeweizen Dunkel aus der 1852 gegründeten Ulmer Familienbrauerei Bauhöfer. Anschließend schlenderte er durch die Stadt zu seinem Hotel zurück. In der Halle nahm er einen doppelten Espresso ein. Alsdann ging er auf sein Zimmer und versuchte, über seinen kleinen Computer, den er immer mit auf Reisen nahm, weitere Details über den Club Goldener Engel zu erfahren. So sehr er sich auch mühte, es waren ausschließlich Eigenwerbungen, die vom Besitzer lanciert wurden, zu finden. Am Abend würde er wieder seiner Arbeit nachgehen. Larsson telefonierte mehr als 20 Minuten mit seiner Frau. Schließlich legte er sich noch ein wenig hin.

Kurz nach 23 Uhr betrat Larsson den Goldenen Engel. Er grüßte mit lässiger Handbewegung zu dem Barkeeper hinüber, der seinen Gruß erwiderte.

»Na, bei Myer’s Erfolg gehabt?«, fragte er. Dabei fuhr er sich mit dem Zeigefinger so über einen Nasenflügel, wie es am Vortag Larsson getan hatte.

Larsson schüttelte den Kopf. »Es hat sich nicht ergeben. Wir heißen Sie eigentlich?«

»Marcel.«

»Man kann halt nicht immer gewinnen, Marcel«, sagte Larsson. »Aber es war eine interessante Studie, die ich dort machen konnte.«

»Inwiefern?«

»Es gab einen Haufen hübscher junger Mädchen dort«, sagte Larsson und grinste den Barmann unverschämt an.

»Dann hast du sicher eins abgeschleppt.«

Larsson schüttelte den Kopf.

»Aber eines der Mädchen hat dich abgeschleppt?«

»Nein.«

»Dann warst du nur dort, um deine Nase zu putzen?« Marcel fuhr sich wieder mit dem Zeigefinger über die Nase.

»Es hat sich nicht so ergeben, sagte ich schon. Und ich bin auch bald nach Hause gegangen, weil ich heute unbedingt ein Stück auf der Donau unterwegs sein wollte.«

»Bist du ein Romantiker? Wie heißt du eigentlich?«

»Jochen.«

»Und? Bist du ein Romantiker?«, fragte Marcel.

»In gewisser Weise schon. Ich stehe nicht auf die ganz jungen Dinger. Wenn ich mit einer Frau nicht reden kann, sie mich nicht mit einer Unterhaltung außerhalb des Vaginalbereichs in Spannung halten kann, interessiert mich das Ganze nicht.«

»Und eine solche hast du gestern nicht gefunden?«

»Nein.«

»Ich könnte dir sicher die eine oder andere junge Frau zeigen, die diese Wünsche erfüllt. Was muss sie denn leisten?«

»Eine gute Ausbildung vorweisen, denn eine gute Ausbildung beinhaltet, dass sie sich für gewisse kulturelle Dinge interessiert.«

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel muss sie Literatur interessieren oder klassische Musik.«

»Klassische Musik …« Marcel fing an zu lachen. »Oper und so einen Scheiß.«

»Genau«, sagte Larsson lapidar. »Oper und so einen Scheiß. Ich stehe darauf.«

»Ich werde mich mal hier im Laden umhören.«

»Aber zuerst machst du mir bitte einen Bourbon.«

»Ohne Eis, ich habe mir das gemerkt«, stellte Marcel fest. Im Nu hatte er die Bestellung realisiert, und schob das Glas Larsson zu. Der nahm einen kleinen Schluck. Dann suchte er sich einen Platz in der Ecke an der Bühne.

Die Augen Larssons suchten nach dem jungen Mann, mit dem Marcel am Vortag gesprochen und der ihn so interessiert angeschaut hatte. Doch er konnte ihn nirgends finden. Als die Musik zu spielen anfing, stellte er sich an den Rand der Tanzfläche und im Gedränge sorgte er dann dafür, dass sein Bourbon das Glas verließ, ohne durch seinen Gaumen zu fließen.

»Hallo Jochen.«

Die Stimme holte Larsson aus seiner Betrachtung der tanzenden Paare. Er drehte sich um. Vor ihm stand der junge Mann, an den er vor Minuten noch gedacht hatte.

»Meinen Sie mich?«

»Marcel hat mir gesagt, du würdest etwas suchen.«

»Ich würde etwas suchen. Hatte er auch gesagt, was ich suchen würde?«

»Etwas zum Sniefen.«

»Ivo«, sagte der junge Mann. »Ivo Lärche.«

»Wie die Lerche, die im Hain singt?«

Ivo schüttelte den Kopf. »Wie das Lärchenholz. Komm mit mir, wenn du etwas zum Sniefen brauchst.«

»Wohin?«, fragte Larsson. »Ich weiß immer gerne, wohin die Reise geht.«

»Wir bleiben hier im Haus.«

Ivo ging vor ihm her. Nur wenige Meter neben ihnen ging eine Tür ab, die zu den Toiletten führte. Auf dem Gang knutschte ein Pärchen. Doch bevor die beiden Männer die Toilette erreichen konnten, ging abermals eine Tür von dem Flur ab. Diese öffnete Larssons Begleiter.

»Nach dir, Ivo«, sagte Larsson, als der Mann ihm den Vortritt lassen wollte. Er stellte fest, dass sie allein waren. Doch er wusste, dass das keine absolute Sicherheit bedeutete. Irgendwo könnte eine Kamera aufzeichnen, was sie hier besprechen. Dann wäre er ein Kandidat für Erpressungen jeder Art.

»Auf dem Weg von Afghanistan über die Türkei oder Russland nach Deutschland mischen die Händler unter, was gerade verfügbar ist: Milchpulver, Mehl, Ascorbinsäure, zerkleinerten Paracetamol-Tabletten, Valium oder Rohypnol. Es soll schon Rattenscheiße dabei gewesen sein. Meistens liegt der Reinheitsgrad des Heroins, das man auf der Straße kauft bei fünf Prozent«, sagte Ivo. »Bei mir ist das anders. Ich beziehe meinen Stoff direkt vom Hersteller, der an der legendären Seidenstraße beheimatet ist. Weil du von Frankfurt kommst, sage ich dir, dass in den achtziger und neunziger Jahren sich noch Hunderte, manchmal auch Tausende Junkies in Frankfurt an der Taunusanlage, im Bahnhofsviertel und an dem Dealertreff am ehemaligen Stadtbad Mitte aufhielten. 147 Junkies starben im Jahr 1991 allein in Frankfurt an den Folgen ihres Konsums. Inzwischen ist die Todesrate sehr zurückgegangen. Im Schnitt sind es etwa 20 Menschen, die ihr Leben verlieren. Das heißt nicht, dass es die Drogenszene nicht mehr gäbe. Sie kaufen nur bewusster. Wie ist es mit dir, Jochen?«

»Ich gönne mir hin und wieder einen kleinen Spaß. Doch ich achte sehr genau darauf, nicht in Abhängigkeit zu verfallen.«

»Und das soll ich dir glauben?«

Larsson zog die Schulter hoch. »Du kannst glauben, was du willst, oder auch nicht.« Dabei kniff er das rechte Auge zu.

»Ich habe zwei Sorten im Angebot. Das gestreckte Heroin für 50 Euro das Gramm oder das ganz reine für 250 Euro. Du weißt ja, die Dosierung ist stark von der individuellen Toleranz und dem Reinheitsgrad des Heroins abhängig. Wozu tendierest du?«

»Je reiner desto besser«, sagte Larsson.

»Aber du weißt schon, dass die tödliche Dosis bei ca. 60 mg liegt!«

»Keine Sorge, Ivo. Ich pass schon auf.«

Lärche machte sich an einem Regal zu schaffen, und zauberte drei kleine Päckchen hervor, jedes mit einem Gramm Heroin gefüllt.

»Ich nehme eins. Wenn ich das heute Nacht probiert habe, entscheide ich mich für ein zweites, vielleicht auch mehr.«

»Okay. Besseren Stoff wirst du in ganz Deutschland nicht finden.«

»Dein Wort in Gottes Gehörgang, Ivo. Wenn das nicht der Fall ist, war das mein erster und letzter Kauf.« Larsson nahm drei 50 Euroscheine von der Rolle und reichte sie dem Mann.

Wie beiläufig fragte Ivo: »Was machst du eigentlich in Ulm?« Als er Larssons Gesicht sah, legte er nach: »Ich meine, arbeitsmäßig.«

»Ich bin Makler. Für einen solventen Kunden suche ich eine Villa, möglichst mit Blick auf die Donau. Aber es soll schon etwas Besonderes sein. Weißt du so etwas?«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Das ist einfach nicht mein Shauri«, sagte er.

Larsson steckte seinen Kauf in die Jackentasche, während Ivo Lärche die restlichen Päckchen wieder an ihren Ursprungsplatz legte. Die beiden Männer gingen wieder hinaus. Larsson verschwand im Gewühl der tanzenden Masse, Ivo ging an die Bar zurück, wo er sich mit Marcel unterhielt.

Zwischen den Köpfen der tanzenden Menschen machte Larsson aus der Hüfte eine Reihe von HandyFotos vom Tresen der Bar. Kurz nach eins verließ Larsson die Bar und fuhr zum Hotel zurück. Er benutzte einen Bogen Papier des Hotels, schrieb darauf: Bitte auf Reinheitsgrad prüfen und ein Kuvert, tütete den Briefbogen zusammen mit der gekauften Heroinprobe ein und verschloss ordentlich. Er benutzte eine Anschrift, die nicht dem BKA zuzuordnen war, aber unmittelbar Niclas Schorn erreichen würde. Danach rief er auf seinem Smartphone die Bilder auf, die er in der Bar gemacht hatte. Nachdem er geprüft hatte, ob die Bilder gelungen waren, schaltete er das Gerät ab. Er öffnete es und nahm die SIM-Karte heraus. Stattdessen schob er eine andere, nicht registrierte ein, so dass, würde man sein Gerät überwachen, die nun folgende Operation nicht verfolgen könnte. Zuerst schickte er die Bilder zu seinem Mailbriefkasten, danach an eine Handynummer, die ebenfalls nirgendwo registriert-, aber als Zugang zu Schorn ausschließlich für Larsson angelegt war. Er schrieb dazu: Links ist Marcel X, Barkeeper im Goldenen Engel. Rechts Ivo Lärche, H-Händler, N+P überprüfen.

Und schließlich löschte er als letztes aus Sicherheitsgründen die Bilder von seinem Handy. Sodann nahm er die gerade benutzte Sim-Karte wieder heraus und schob die alte wieder ein.

Er fuhr seinen kleinen Computer hoch, rief bei Topkur in Karlsbad die Hotelangebote der Stadt auf und bat darum, ihm ein Angebot für vier Tage inklusive Vollpension und einer Möglichkeit zur Verlängerung vor Ort im Hotel Čajkovskij zu unterbreiten. Anreise möglichst sofort. Natürlich wäre es gar kein Problem gewesen, direkt vor das Hotel zu fahren. Denn einen Platz hätte er in jedem Fall bekommen. Dennoch zog er es vor, über den Veranstalter von Kurreisen zu buchen. So konnte er bei jeder Überprüfung als normaler Kurgast durchgehen, der seiner Gesundheit etwas Gutes zukommen lassen will.

3. Kapitel

Larsson stellte den A6 vor der Kunstgalerie Villa Becherova, dem Eingang zum Parkplatz des Hotels Smetana in Karlsbad ab. Gegenüber auf der Hauptstraße Krále Jiřího lag das Spa-Hotel Čajkovskij-Palace, in dem er über Topkur eingebucht war. Er nahm seinen Aluminiumkoffer, in dem der kleine Reisecomputer und die Papiere für den Aufenthalt in diesem Hotel untergebracht waren, und strebte dem Eingang des vier Sterne-Hotels Čajkovskij zu. Er ging durch die große Drehtür. Ein Blick nach links zeigte die Tagesbar des Hotels. Sie war unbeleuchtet und leer. Geradezu, hinter dem Tresen, saß eine sehr hübsche junge Frau, die ihren Kopf hob und ihm entgegenschaute. Larsson schätzte sie auf Ende Zwanzig, Anfang Dreißig. Die Frau war schwarz gekleidet und dezent geschminkt. Sie war ausgesprochen schön.

»Hallo«, sagte Larsson. Er stellte seinen Koffer auf den Tresen, öffnete ihn und nahm die Anmeldung heraus, die ihm Topkur zugeschickt hatte, und die er sich im Hotel in Ulm hatte ausdrucken lassen. Die junge Frau verglich die Bestätigung mit ihren Unterlagen.

»Herr Doktor Kowalski ... Herzlich willkommen im Čajkovskij-Palace. Würden Sie so freundlich sein, mir Ihren Pass zu geben?«

Larsson schob ihr seinen Personalausweis zu, den sie kopierte und zurückreichte.

Sie füllte eine Kurkarte mit seinem Namen und seiner Zimmernummer P105 aus und ließ den Drucker eine Auflistung seiner Kuren in den nächsten vier Tagen ausdrucken. Die Anwendungen setzten sich aus einer Teilmassage, einem Mineralbad, einer Paraffinanwendung für die Hände und einer Moorpackung zusammen. Sie klammerte diese Anordnung, die mit der Information endete: Bei Verspätung von 5 Minuten entfällt die Behandlung. Zur Behandlung bitte im Bademantel erscheinen. Danke! - im Inneren der Kurkarte fest.

Larsson deutete mit der Hand zum Fenster »Mein Wagen steht noch vor der Galerie Becherova, was machen wir damit?«

Sie lächelte ihn an. »Das könnte Ärger geben, denn in unmittelbarer Nähe zu den Hotels ist Kurzone. Doch dafür haben wir eine Lösung.« Sie druckte eine DIN A4 Seite aus, die das Fahrzeug berechtigte, innerhalb der Bannmeile der Kuren zu stehen; auf dieser Seite war sein Name, das Kennzeichen des Fahrzeuges und der Name des Hotels zu lesen. Sie reichte ihm das Papier und fragte: »Sie haben sicher im Auto noch einige Gegenstände, die Sie mit hoch aufs Zimmer nehmen wollen? Möchten Sie sie erst holen oder wollen Sie zuerst Ihr Zimmer sehen und den Rest etwas später nachholen.«

»Ich werde mir zuerst das Zimmer ansehen und dann in Ruhe meine Sachen holen.«

Die Frau stand auf. »Ich werde Sie jetzt nach oben begleiten.« Sie kam hinter dem Tresen vor, und sie gingen gemeinsam bis zu den Fahrstühlen. Es dauerte eine geraume Zeit, bis einer der beiden Fahrstühle auf ihrer Etage hielt.

»Unser Restaurant befindet sich im Untergeschoss auf der anderen Ebene, auf der das ursprüngliche Čajkovskij steht. Wenn Sie dorthin wollen, müssen Sie auf -6 drücken.« Die Frau zeigte auf die Tafel mit den Knöpfen, die man drücken musste, wenn man in ein bestimmtes Stockwerk wollte. »In den Stockwerken, die mit einem Minus angezeigt werden, befinden Sie sich teilweise in diesem alten Haus, zum Beispiel bei verschiedenen Anwendungen. Bei Ihnen trifft das für die Teilmassage zu«, sagte sie, zog ihre Karte zum Öffnen der Zimmer über den Abnehmer im Fahrstuhl und drückte dann auf die Taste zum ersten Stockwerk. »Sie haben es jetzt gesehen. Bevor Sie die Zahl des Stockwerkes drücken, müssen Sie Ihre Schlüsselkarte über diesen elektronischen Abnehmer ziehen. Sonst bewegt sich gar nichts.«

Sicher ist das eine Überwachung, die aufgezeichnet wird, dachte Larsson. So kann man durchaus feststellen, welcher Gast sich wohin bewegt hat. Es sei denn, er nimmt die Treppe.

Sie fuhren exakt eine Etage. Larsson dachte, sie wären schneller oben gewesen, hätten sie den Weg zu Fuß über die Treppe genommen. Sie passierten die ersten drei Zimmer auf der linken Seite des Korridors, öffneten eine Glastür. Das zweite Zimmer nach dieser Sicherheitstüre war das Zimmer 105. Larsson hielt die elektronische Karte an die Türklinke. Mit einem Klick ließ sich das Zimmer öffnen. Sie gingen hinein. Es war ein geräumiges Doppelzimmer mit Ausblick auf das gegenüberliegende Hotel Smetana und die Galerie Becherova, vor der der A6 parkte, mit dem Larsson gekommen war.

Die Frau machte einen der Schränke auf. »Hier haben Sie einen Tresor. Sie müssen Wertsachen hier einschließen, können die aber ebenso gut an der Rezeption für den Haupttresor abgeben. Doch bitte nie Geld oder Papiere rumliegen lassen, wenn Sie das Zimmer verlassen.« Sie zeigte ihm, wie sich der Tresor verschließen, und mit der zuvor eingegebenen vierstelligen Zahl wieder öffnen ließ.

»Übrigens, die Mini-Bar ist kostenpflichtig. Die Preise stehen daneben in einem kleinen Flyer. Was Sie am kommenden Tag an der Rezeption bezahlen, wird vom Personal nachgelegt«, sagte sie lächelnd. Dann verließ sie das Zimmer.

Larsson packte erst mal seinen kleinen Metallkoffer aus. Er setzte den Computer auf den kleinen Schreibtisch, der auch das TV-Gerät trug. Dann ging er ins Bad. Der Raum war relativ groß bemessen. Neben dem Toilettenbecken stand ein Bidet. Auf der Ablage vor dem Waschbecken standen verschiedene kleine Tuben mit Seifen und Haarshampoo. Auch die Sauberkeit ließ keine Wünsche offen. Es zahlt sich eben aus, in Viesternehotels zu buchen, dachte er.

Larsson ging die Treppe hinunter. Vor dem Tresen diskutierten zwei Frauen mit der Angestellten des Hotels. Die Frauen unterhielten sich sehr angeregt in russischer Sprache. So musste er warten, bis das Gespräch beendet war.

»Ich habe vorhin die Parkerklärung für die Polizei vergessen«, sagte er.

»Es war meine Schuld.« Die Frau reichte ihm den DIN A4 Bogen mit der Erklärung für sein Auto für die Polizei, damit er keine Strafe kassieren müsste.

»Sie haben Russisch gesprochen und das ganz perfekt“, sagte Larsson.

»Wir lernen das in der Schule und vervollständigen das, denn mehr als neunzig Prozent unserer Gäste kommen aus Russland, Kasachstan oder der Ukraine. Sie werden das auch in Ihrem Zimmer sehen, dass Sie bestimmt mindestens vier russischsprachige Programme in ihrem TV-Gerät empfangen können. Aber wir haben auch deutsche Sender. Die ARD mit weiteren drei Regionalsendern. Das Zweite Deutsche Fernsehen können Sie bei uns leider nicht empfangen«, erklärte die junge Frau mit ihrem umwerfenden Lächeln. Aber das war ihm in diesem Augenblick egal.

Larsson ging hinaus, überquerte die Straße und schloss sein Fahrzeug auf. Als erstes legte er den DIN A4 Bogen deutlich sichtbar auf die Ablage hinter der Scheibe. Er nahm die auf Bügeln hängende Bekleidung, warf sie sich lässig über die Schulter, schloss die vorderen Türen und machte den Kofferraum auf. Dort nahm er seinen Rollkoffer heraus, schloss das Fahrzeug ab, und strebte so beladen die wenigen Meter zum Hotel zurück.

Er ging an der Rezeption vorbei. Obwohl die Rezeptionistin dabei war, irgendeine Auskunft zu erteilen, schaute sie zu Lasse rüber und lächelte. Er stellte fest, dass sie anders lächelte als geschäftsmäßig zu den anderen Gästen. Für eine Seelenverwandtschaft scheint man nie zu alt zu sein, dachte er. Als er seine Sachen in den Schrank gehängt hatte, beschloss er, sich den Schweiß von der langen Fahrt durch eine Dusche abzuspülen. Dann würde die Zeit bis zum Abendessen, das ab 18:00 Uhr im hauseigenen Restaurant einzunehmen war, schnell vorbeigehen. Etwas später, unter der Dusche, dachte er daran, dass Schorn seine Anfrage bezüglich der beiden Männer aus Ulm noch nicht beantwortet hatte. Er beschloss, Niclas Schorn noch einmal daran zu erinnern. Als er unter der Dusche hervorkam, glänzten die Wassertropfen auf seiner Haut. Seine Gedanken verschwanden am Horizont. Seine Frau Monika lächelte ihn mit der Strophe aus dem Gedicht entgegen, dass er ihr unlängst zitiert hatte.

Will dich schmecken, lieben und fühlen

Zärtlich in deinen Lenden wühlen

Lustvolles Seufzen und Stöhnen hören

Doch will ich deinen Schlaf nicht stören.

Er wünschte sich, sie wäre jetzt bei ihm und sie könnten gemeinsam einige Tage zusammen Urlaub hier verbringen. Stattdessen würde er machen, was er immer machte, ermitteln. Es hatte sich nichts geändert, nicht einmal der Dienstherr, obwohl der, bei rechtlicher Betrachtung gar nicht mehr sein Dienstherr war, sondern sein Auftraggeber. Aber das ist das reale Leben, konstatierte Larsson. Das Leben ist kein Wunschkonzert, sondern harte Arbeit, wollte man erfolgreich sein. Dann dachte er flüchtig an Mauss. Werner Mauss genoss alle Vorzüge, die man sich als gutverdienender Bürger nur wünschen konnte. Doch seit der Mann seine Schutzherren innerhalb der Regierung verloren hatte, versuchte man, ihm das Leben so schwer wie nur möglich zu machen. Lass dir das eine Warnung sein, Larsson, dachte er. So lange du einem der Dienste nützlich sein kannst, werden sie dich hofieren. Er dachte an Schorns Feststellung: Fliegen Sie auf, Larsson, sind Sie allein auf sich gestellt. Wir müssten leugnen, Sie zu kennen. Ich werde diesen einen Auftrag ausführen und dann aufhören, dachte er. Und dann dachte er darüber nach, was denn wäre, würde er tatsächlich eine kleine Detektei betreiben. Schließlich gab es nun die Anmeldung schon. Es gab immer jemanden, der sein Auto suchte, das man gestohlen hatte, oder einfach eine Personenfeststellung benötigte. Irgendetwas geht immer. Jeder noch so kleine Tod ist der Geburtshelfer eines neuen Lebens. Am Ende seines Polizeidienstes stand das BKA mit diesem Auftrag bereit. Und so wird es sein, dass nach diesem Auftrag irgendein neues Zeitfenster aufging, das ihn ernähren würde. Misstrauisch machte ihn allein die gute Bezahlung. Was, so frage er sich jetzt ernstlich, ist diesem Kriminaloberkommissar Ronald Bachmeier zugestoßen? Er war in Ulm. Larsson konnte sich vorstellen, in welche Gefahr man kommen konnte, würde man auch nur den leisesten Verdacht aufkommen lassen, der Organisierten Kriminalität nachzuspüren. Dieser Marcel war kein einfacher Barkeeper, der so tat, als könne er nur einen Spaß vermitteln. Er war raffiniert genug, sich aus dem unmittelbaren Kontakt mit dem Heroin herauszuhalten. Und der Kokshändler Ivo Lärche machte ihm den Eindruck, notfalls über Leichen zu gehen. Er fühlte sich in dem Raum, in dem er das Briefchen mit dem Heroin von dem Mann bekommen hatte, sichtlich unwohl. Deshalb war er auch bestrebt gewesen, schnell wieder in der Masse der Clubbesucher unterzutauchen.

Doch was, so fragte sich Larsson, hatte Bachmeier falsch gemacht? An welcher Sache war der Zivilfahnder fündig geworden. Wahrscheinlich hatte er den er gleichen Weg genommen, an Drogen zu kommen, wie er. Trotzdem hatte sich der Kriminaloberkommissar irgendwo auf der Strecke leichtsinnig verhalten. Instinktiv fühlte Larsson, dass seine Abreise aus Ulm gerade zum richtigen Zeitpunkt stattgefunden hatte.

Er schaute zur Uhr. Noch hatte er gut eine Stunde Zeit, bevor er zum Abendbrot in das hoteleigene Restaurant gehen konnte. Er tauschte wieder die SIM-Karte seines Smartphones durch die, die er von Schorn erhalten hatte. Dann verließ er das Hotel. Er wandte sich nach links. Er zählte es mit seinen Schritten ab, es waren rund 100 Meter bis zur russisch-orthodoxen Kirche. Er überquerte die Straße und ging einige Meter in den kleinen Park, der sich hinter der Villa Ritter anschloss. Gegenüber, vor der russisch-orthodoxen Kirche Sankt Peter und Paul, war ein ganzer Pulk von Menschen zu sehen.

Als es sicher war, dass sich in seiner unmittelbaren Nähe keine Menschen aufhielten, stellte er die Verbindung her. Nach mehreren Klingeltönen schien er Erfolg zu haben.

»Ja.«

»Ich bin jetzt am Zielort eingetroffen.«

»Das ist gut so.«

»Ich hatte zwei Bilder geschickt und einen Brief.«

»Sie werden beide Dinge zeitnah beantwortet bekommen.«

Es klickte in der Leitung. Offensichtlich hatte Niklas Schorn das Gespräch unterbrochen.

Larsson schaltete das Smartphone aus, und ging zum Hotel zurück. Als er in der Halle den Tresen passieren wollte, rief ihn die Rezeptionistin: »Herr Doktor Kowalski, kommen Sie bitte einen Augenblick.« Sie reichte ihm einen Umschlag. »Das ist vor wenigen Minuten für Sie abgegeben worden.«

»Wer hat es abgegeben?«

»Ein Mann.«

»Ein Gast aus dem Čajkovskij?«, fragte Larsson

»Nein. Er gab es ab, und ging wieder.«

»Wie alt war etwa?«

»Jünger als Sie. Vielleicht um die Vierzig.«

»Danke«, sagte Larsson.

Er wollte gerade gehen, als die Frau nachlegte: »Ich konnte sehen, wohin er ging.«

Wie elektrisiert, blieb Larsson stehen. Er schaute die Frau erwartungsvoll an.

»Er ging über die Straße, ging wenige Meter am Hofeingang vom Hotel Smetana und an Ihrem Auto vorbei.«

»Aha.«

»Nur wenige Augenblicke später kam er zurück, ging er über den Parkplatz des Hotels und verschwand schließlich im Smetana-Vyšehrad.«

Larsson bedankte sich und fuhr hoch zu seinem Zimmer. Im Bad wechselte er die SIM-Karte wieder aus. Dann öffnete er den Umschlag. Er enthielt zwei Mitteilungen. Die erste Nachricht betraf die Bilder von den beiden Männern, mit denen sich Larsson im Nachtclub Goldener Engel in Ulm befasst hatte.

Er las:

Marcel Stegner 28, *01. August 1981, mehrere Jugendstrafen wg. Körperverletzung. Im Jahr 2000 3 Jahre Haftstrafe wg. Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz. Danach unauffällig.

Ivo Lärche, *05. Januar 1977, laufende Ermittlung wg. Beteiligung an Geldwäsche, Handel mit Substanzen, die gegen das Betäubungsmittlegesetz verstoßen. Verbindungen zu OK erwiesen.

Achtung: Lebensgefahr. Äußerste Vorsicht!

Die zweite Nachricht betraf das Briefchen mit dem Heroin.

Die H-Probe ist von erstklassiger Qualität.

Aha, so sieht der Auftrag also aus, dachte Larsson. Ihr tappt noch im Dunklen, habt einen Ermittler verloren und wollt kein Risiko eingehen, einen weiteren Mann aus euren Reihen zu verlieren. Im Stillen verfluchte er sich, den Auftrag angenommen zu haben. Auf der anderen Seite sitzt ihr wahrscheinlich im Hotel gegenüber und beobachtet alles, was sich im Čajkovskij bewegt. Und wahrscheinlich könnt ihr jede meiner Bewegungen verfolgen. Er stand auf und ging zu den Fenstern. Sorgfältig zog er die Gardine so vor die beiden Fenster, dass er sich einigermaßen abgeschirmt glaubte.

Sein Smartphone klingelte. Es lag unmittelbar neben seinem kleinen Computer, den er aufgebaut hatte, um zu jeder Zeit ins Netz gehen zu können und um seine Mails aufzurufen. Er ging vom Fenster zurück zu dem Schreibtisch und nahm das Gespräch an. »Ja bitte.« Er wusste, dass seine Stimme wegen des Mannes, der bestimmt jetzt im Hotel gegenüber mithören konnte, sehr hart klang.

»Hallo Lasse. Wie geht es dir, Liebling?« Es war Monika, und ihre Stimme klang etwas zwischen besorgter Liebe und leichten Vorwurf.

»Gut, Monika. Wie sieht‘s bei dir aus?«

»Ich wünschte, du wärst hier. Hatte ich doch gehofft, dass du mit dem Wechsel der Arbeit mehr bei dem Kind und mir sein kannst.«

»Es wird nicht lange dauern, dann bin ich mehr zu Hause als dir lieb sein wird«, sagte Larsson. Sein Ton klang schon versöhnlicher.

»Wer‘s glaubt, der wird selig. Ich denke an deine Worte, niemand ist es anderen Eigentum. Ich weiß jetzt, was du damit meinst.«

»Du hättest von deinem Vater gewarnt sein sollen. Er war auch kaum zu Hause. Das bringt der Beruf eben so mit sich.«

»Da hast du wohl recht. Sei nicht böse, ich will dich nicht kontrollieren. Es ist nur so, dass ich ab und zu deine Stimme hören möchte. Denn wenn ich sie höre, weiß ich, dass es dich überhaupt noch gibt. Wo bist du eigentlich, in Ulm?«

»Ich umarme dich, mein Liebes« sagte Larsson versöhnlich, ging aber nicht auf ihre Frage ein.

»Ich umarme dich auch, Lasse. Bis hoffentlich ganz bald.«

»Ja, bis ganz, ganz bald, mein Liebes.«

Wann immer er sie sehen würde, er könnte ihr sicher nicht erzählen, in was für einen Strudel der Gefahren er sich begeben hatte. Einen Augenblick dachte er daran, was sein würde, bräche er den Auftrag ab. Doch diese Gedanken verscheuchte er augenblicklich.

Aus seinem Aluminiumkoffer nahm er seine Raptor-641.pro, die bei Geräuschen über 65 Dezibel automatisch startete; die Kamera, die nur halb so groß war wie ein schmales Taschenfeuerzeug, dokumentierte während seiner Abwesenheit das Geschehen in seinem Zimmer. Sobald es zwei Minuten still ist, stoppte die Kamera automatisch. Darüber hinaus war sie völlig geräuschlos. Er ging zum Fenster, zog den Stuhl vor das Mauerwerk, das die beiden Fenster unterbrach, so dass man ihn vom Hotel Smetana nicht beobachten konnte, stieg auf den Stuhl und befestigte die Kamera so an der Kante der in Horizontalfalten aufgebauten Übergardine, dass sie, wusste man nicht von ihr, überhaupt nicht zu erfassen war. Sodann machte er sich auf, um in dem hauseigenen Restaurant sein Abendbrot einzunehmen.

Der Eingang zum Restaurant war wie eine schmale Schleuse vor einem großen Raum. Schon beim Eintreten hatte man links einige Tische aufgebaut, auf denen ein Automat für verschiedene Säfte stand, eine große Kaffeemaschine, die in der Lage war, fünf verschiedene Sorten, vom schwarzen Kaffee über den Milchkaffee, bis zum Latte macchiato herzustellen. Dann folgte ein großer Kessel mit kochendem Wasser, für die Möglichkeit, verschiedene Tees zuzubereiten, zwei verschiedene Brotkörbe für diverse, sehr unterschiedliche Brotsorten und diverse Brötchen, ein großes Tablett mit verschiedenen Kuchen, Hörnchen ohne Füllung oder mit Marmelade gefüllt. Und Krapfen. Vor diesen Tischen, von denen sich die Gäste alle bedienen mussten, standen die ersten Vierertische, die durch kunstvolle, hölzerne Sichtblenden vom Rest des Raumes abgetrennt waren. Rechtsseitig ging der Eingang zur Küche ab. Darüber hinaus waren in L-Form die Hauptgerichte angeordnet. Vorn waren 6-8 verschiedene rohe Gemüsesorten zubereitet, die sich wunderbar als Vorspeise, aber auch als Gemüse zu den Hauptspeisen eigneten. Am Kopf des Tisches stand immer ein Warmhaltekübel mit zwei verschiedenen Suppen. An der kurzen Seite der L-Tischanordnung waren die warmen Speisen aufgereiht. Diese bestanden mittags und abends jeweils aus zwei verschiedenen Fischgerichten, verschiedenen Beilagen wie Kartoffeln, Reis, Nudeln und Couscous. Den Abschluss bildeten jeweils zwei verschiedene Fleischgerichte, entweder Schweinefleisch und Rindfleisch oder Rindfleisch und Huhn. Larsson hasste Huhn in jeder Form, war aber beeindruckt von der Vielfalt des Angebotes, wenngleich der Geschmack der Speisen dem der russischen Gäste näher kam als seinem eigenen. Hungern würde er hier nicht müssen.

Larsson begann, sich mit einem kleineren Teller an den Vorspeisen zu schaffen zu machen. Ein wenig von dem in kleinere Stücke gerissenen Blatt- und Endiviensalat, einen Löffel geraspelter Rote Bete, ein Löffel geraspelter Möhren, grüne Oliven und schwarze, Gurke und Tomate. Nun schickte er sich an, einen Platz zu suchen, denn inzwischen waren die anderen Hausgäste ebenfalls eingetroffen. Im Nu waren die Tische mit den angebotenen Speisen umschwärmt. Er ging zurück zu der ersten Tischreihe. Der erste Tisch trug ein Schild mit dem Aufdruck RESERVIERT. Der zweite Tisch war noch frei. Bevor irgendjemand diesen Tisch blockieren würde, stellte er seinen Teller demonstrativ ab. Sodann begab er sich zur Essensdarbietung zurück. Er nahm sich einen vorgewärmten Teller, legte sich zwei Stücke von dem Lachs vor und eine kleinere Scheibe Heilbutt, nahm etwas von der weißen Sauce mit Kapern und gab einen halben Löffel Reis und eine ebenso kleine Portion Couscous dazu.

Er hatte sich kaum an den Tisch gesetzt, als sein Blick auf eine seltsame Gestalt fiel, die jetzt dem Tisch mit dem Reserviert-Schild zustrebte. Es war ein kleiner Mann mittleren Alters, ebenso breit wie lang, unzweifelhaft asiatisch-mongolischer Herkunft, dessen linkes Ohr ein riesiger goldener Ring schmückte. Er trug eine sehr bunte, sehr auffällige, an einen Schlafanzug erinnernde Hose aus Seide, unter einem Hemd, das über diese Hose fiel. Als Ausgleich steckten seine nackten Füße in braunen, nach hinten offenen Lederlatschen. Larsson musste an sich halten, nicht zu oft zu dem Mann, der nur einen Tisch weiter Platz genommen hatte, hinzuschauen. Zu faszinierend war dieser Anblick. In Fallschirmseide gekleidet beim Frühstück, sehen diese Typen eher aus wie Herr und Frau Altkader aus Tomsk auf Belohnungsurlaub. Doch jetzt war Abendessenszeit und der Mann hatte wahrscheinlich noch immer seine Kledasche vom Morgen an. Auch der Goldring im Ohr wäre zu Zeiten der Sowjetunion nicht denkbar gewesen. Kurz hinter ihm war eine ältere Frau gekommen, die dem Sonderling nun gegenübersaß und Larsson den Rücken zudrehte. Wie, so fragte er sich, ist man bereit, einen Mann in einem solchen Aufzug in einem Viersternehotel zu dulden? Und was hat die ältere Frau mit ihm zu tun? Er nahm sich vor, die Empfangsdame nach der Herkunft des Mannes zu fragen.

4. Kapitel

Wie am Vortag, stand Larsson auf dem Weg nahe dem kleinen Wäldchen, der als Abkürzung zum Hotel & Restaurant Mále Versailles führte, gegenüber der russisch-orthodoxen Kirche gelegen, und beobachtete die Vorgänge an der Kirche. Einzelne Menschen kamen, verschwanden in der Kirche und gingen nach einiger Zeit wieder. Manchmal kamen auch ganze Familien.

Um nicht aufzufallen, ging er bis zum Hotel Mále Versailles. Er trank im Restaurant des Hotels einen doppelten Espresso. Dann schlug er einen Bogen und lief über die Křižíkova und Krále Jiřího zurück zur russisch-orthodoxen Kirche. Er kam nun aus der entgegengesetzten Richtung. Vor der Kirche angekommen, betrachtete er eingehend die Bilder des heiligen Peter und des heiligen Paul, die beidseitig am Eingang der Kathedrale angebracht waren. Die Kirchenwände zierten reiche ornamentale bildhauerische und figurale Ausschmückung. Ohne Zweifel war die Kirche ein Kleinod, das in fünfjähriger Bauzeit zwischen 1893 und 1898 nach den Plänen des Franzensbader Architekten Gustav Widemann im damals erblühenden mondänen Viertel Westend erbaut wurde. Als Vorbild für diese Kirche gilt ein byzantinisch-altrussischer Kirchenbau in Ostankino unweit von Moskau, so hatte er am Abend im Internet nachlesen können. Die üppig verzierte byzantinisierte russisch-orthodoxe Kirche basierte auf dem Grundriss eines griechischen Kreuzes. Sie krönen fünf vergoldete Kuppeln. Larsson, der das Gotteshaus schon aus dem Fahrstuhl des Hotels Čajkovskij bewundert hatte, war sichtlich beeindruckt von der Schönheit des Baues. Er hatte sich auch gut auf diesen Besuch vorbereitet. Mit ihrer goldenen Präsenz war die Kirche wohl der sogenannte Punkt aufs „i“ in einem Lot von außergewöhnlichen Bauwerken der Gründerzeit Anfang des 19. Jahrhunderts im vornehmen Karlsbader Stadtteil Westend.

Larsson schloss sich einer Familie an, die in die Kirche strebte. Obwohl er am Abend die Eintragungen im Netz über die Kirche mit Interesse gelesen hatte, überraschte ihn die Inneneinrichtung der reich verzierten hölzernen Majolika-Ikonostase mit in Öl gemalten Heiligenikonen vom Maler Tjurin, die ursprünglich in Kusnezowo für die Pariser Weltausstellung von 1900 hergestellt wurde, über die Maßen. Die vielen, teils unter Glas gezeigten Heiligenbilder faszinierten ihn ebenfalls.

Um nicht aufzufallen, kaufte Larsson einige Kerzen, die er, gleich anderen Besuchern, in der Nähe des hölzernen Altar-Reliefs auf einem eigens dafür aufgestellten hölzernen Block mit kleinem Heiligenbild anzündete. Dann setzte er sich linksseitig hinter den Mauervorsprung, der beidseitig des Raumes nur je einen Sitzplatz anbot, der den Altarraum zum Hauptraum abschirmte. So konnte er eventuell unbeachtet vom Rest der Besucher die Gläubigen beobachten, die sich an den Heiligenbildern besonders benahmen. Er kannte die Zeremonien der Heiligenverehrung innerhalb der katholischen Kirche. Doch was er hier sah, stellte alles, was er bisher kennengelernt hatte, weit in den Schatten. Selbst die allerhärtesten Männer waren zu beobachten, wie sie vor den Bildern die Rahmen küssten und voller Inbrunst mehrere Kreuze schlugen, bevor sie zum nächsten Bild zogen, um Gleiches zu wiederholen.

Als die Gruppe wieder ging, kam ein einzelner junger Mann herein. Zielstrebig ging er jetzt zum Block mit den Kerzen. Er entzündete drei Kerzen und schaute demonstrativ zu seiner Uhr. Aus der Mitte des Altars kam einer der Popen heraus, ging auf den Mann zu, sagte leise etwas zu ihm, das Larsson nicht hören konnte. Er machte eine Handbewegung und verschwand auf dem gleichen Weg, den er gekommen war. Irgendetwas warnte Larsson. Instinktiv beugte er sich tief über die gekaufte Broschüre, die den Werdegang der Kirche wiedergab, so dass sein Gesicht für den Außenstehenden nicht zu erkennen war. Der Mann hastete dicht an ihm vorbei, um die Kirche zu verlassen. Larsson wartete einen Augenblick, dann stand er auf und verließ ebenfalls das Gotteshaus. Er schaute links die Krále Jiřího hinunter. Doch bis zur Kurve war niemand zu sehen. Auch rechts den Berg hoch war der Mann nicht gegangen. Das Čajkovskij lag 100 Meter zur Rechten. Aus dieser Richtung kam ihm nur ein älteres Ehepaar entgegen. Vorsichtig ging er aus dem Eingang an der Kirche vorbei. Da sah er sie im Garten, der zwischen Kirche und dem Wohnhaus der Popen angelegt war. Der Pope und der Unbekannte strebten dem hinteren Zugang der Sadová entgegen, der Straße, die auch am alten Bau des Čajkovskij vorbei, und bis zu den 1880 erbauten gusseisernen Sadová-Parkkolonaden führte. Er fragte sich, wo die beiden jetzt hingingen.

Larsson schaute zur Uhr. Mittagszeit. Zielstrebig ging er zum Hotel Čajkovskij Palace zurück. Sein Magen sendete ihm zeitgemäß das obligate Hungergefühl. Um sein Gewicht zu halten, aß er morgens stets nur ein Brötchen mit Konfitüre, trank dazu zwei große Tassen Kaffee. Und wenn Eier zum Frühstück angeboten wurden, war er schnell überredet, sein Mahl um ein solches zu erweitern. Er machte sich eine kleine Notiz zu dem Vorfall in und an der Kirche, dann ging er zum Fahrstuhl. Als die Türe des Lifts aufging, sah er zwei Frauen und zwei Männer, die seiner Meinung nach die Fünfzig bereits überschritten hatten. Einer davon machte ihm Platz.

»Danke«, sagte Larsson.

»Oh, Sie sind Deutscher?« fragte einer der beiden Männer.

»Ja.«

»Es gibt kaum Deutsche in diesem Hotel. Umso mehr freue ich mich, einen zu sehen.«

Larsson lächelte dem Mann zu.

»Mein Bruder Leonid und seine Frau«, der Mann zeigte auf den hinter ihm Stehenden, »meine Frau und ich, wir sind auch Deutsche. Russlanddeutsche. Wir kommen ursprünglich aus Bischkek in Kirgisien. Mein Bruder ist mit seiner Frau nach New York ausgewandert, meine Frau und ich, wir kommen aus der Nähe von Karlsruhe. Wir treffen uns in diesem Hotel, um gemeinsam Urlaub zu machen.« Er reichte Larsson ein Kärtchen, das ihn als Zahar Kudryashov, Ingenieur für Physik auswies. »Wenn Sie mal in der Nähe sind, rufen Sie an, dann sind Sie herzlich eingeladen, einen Tee aus dem Samowar bei uns zu trinken.«

Larsson setzte umständlich die Brille auf, die er von Schorn bekommen hatte, bedankte sich und steckte das Kärtchen ein.

»Das werde ich gerne tun.«

Der Fahrstuhl hielt nun beim vorgewählten Stockwerk -6 auf der untersten Ebene der beiden Hotels. Sich gegenseitig einen schönen Urlaub wünschend, verließen sie den Fahrstuhl und gingen in das nur wenige Meter entfernte Hotelrestaurant. Die beiden Kudryashovs strebten mit ihren Frauen einem hinteren Platz im Restaurant zu. Dort wurden sie anscheinend schon erwartet.

Larsson, der beim Eintritt schon sah, dass sein Wunschplatz anderweitig besetzt wurde, fing wieder mit dem Fisch an. Er legte sich nur zwei Stücken vom Dorsch auf den großen, vorgewärmten Teller und nahm etwas von den Rohkosttellern. Nun belegte er allein einen Platz an einem Vierertisch hinter der ersten hölzernen Sichtblende, die ihn vom Platz nahe dem Mann mit den bunten seidenen Hosen und dem goldenen Ohrring trennte. Während er aß, begann er, wie er es immer machte, die Menschen seiner Umgebung zu analysieren. Gott sei Dank war ihm im Fahrstuhl eingefallen, die Brille aufzusetzen, die ihm Schorn mitgegeben hatte. Nun konnte niemand verfolgen, wo seine Augen hinschauten.

Am Morgen war sie ihm schon aufgefallen, die offenbar alleinreisende groß gewachsene Frau Mitte 40, die nicht ganz schlank, doch sehr selbstbewusst, beim Frühstück im grauen Zweiteiler, ähnlich einem Jogginganzug, auftrat. An diesen Mittag war sie in einem eleganten roten Jersey-Zweiteiler - Hose und Oberteil - mit einer kleinen Umhängetasche erschienen. Sie hatte wieder den gleichen Platz eingenommen wie am Morgen, und unterhielt sich laut schnatternder Weise in russischer Sprache mit den fünf älteren Frauen, die diese zusammengestellten Tische okkupiert hatten. Was ihm sofort auffiel, die Frau schaute ihre Tischnachbarn kaum an. Stattdessen schien sie sich mehr für ihre weiter entfernte Umgebung zu interessieren. Dann stellt sie plötzlich das kleine Täschlein auf den Tisch, öffnete es, um sich ein Taschentuch herauszunehmen. Dabei zeigte die Längsseite der Tasche exakt in Larssons Richtung. Es besteht die Möglichkeit, dass sie mich jetzt fotografiert, dachte er. Aber das würde er nicht ohne weiteres feststellen können. Er nahm sich vor, auch ein Bild von ihr zu machen. Vielleicht würde ihm Schorn sagen können, für wen diese Frau an diesem Ort arbeitete. Dass sie für einen der Dienste tätig war, hielt er für absolut möglich. Der Durchschnitt der Männer, stellte Larsson fest, war in mehr oder weniger ordentlichen Jeans und Hemd oder Pullover ohne besonders feststellbaren Status gekleidet; die untere Mittelschicht, in der Regel leicht bis sehr übergewichtig. Alleinreisende Frauen gab es kaum; zwei entdeckte er, die nahezu normal bis nur leicht übergewichtig waren. Die Gruppe im Alter zwischen 40 und 50 Jahren lag kleidungsmäßig knapp über dem Durchschnitt und war dem entsprechend ordentlich angezogen.

Als er vom zweiten Mal Essenfassen auf seinen Platz zurückkam, sah er einen Mann am übernächsten Tisch, der völlig allein dasaß. Der Mann puhlte mit großer Gelassenheit und überaus pedantisch eine Apfelsine ab. Er hätte sehr gut in einen TV-Thriller über die Beamten im Innendienst der CIA gepasst. Er war sicher weit über die Fünfzig, sah nicht besonders sportlich, dafür aber sehr intellektuell aus. Mit der Bedienung sprach er einige Worte in russischer Sprache. Davon ließ Larsson sich aber nicht täuschen. Die Agenten des amerikanischen Geheimdienstes CIA, die man für eine solche Observationsaufgabe aussuchte, waren sicher mindestens einer der Sprachen mächtig, die in dem betreffenden Land gesprochen wurde. Larsson bedauerte, dass er seine Raptor-641.pro nicht mit hatte. Er beschloss, die Kamera jetzt zu jedem Essen ins hoteleigene Restaurant mitzunehmen.

Als er mit dem Essen fertig war, fuhr er mit dem Lift bis zur 0-Ebene, die mit der oberen Straße, der Krále Jiřího, den Empfang der beiden Hotelhälften Čajkovskij und Čajkovskij Palace beherbergte. Larsson strahlte die Rezeptionistin an.

»Kann ich helfen?«, fragte die Rezeptionistin und lächelte.

Was für eine bezaubernde Frau, dachte Larsson.

»Sie tragen kein Namensschild. Ich würde Sie natürlich gern mit Ihrem Namen ansprechen.«

»Mirjeta Frlić«.

»Die tschechischen Namen sind etwas schwierig für mich«, sagte Larsson.

»Ich bin keine Tschechin, ich bin Slowakin, das ist ein großer Unterschied«, sagte die Frau. »Sie können mich Mirjeta nennen.«

»Und da arbeiten Sie hier in Karlsbad?«

»Seit mehr als drei Jahren.«

»Danke, Mirjeta, dass ich Sie so nennen darf. Ich habe eine Frage. Im Restaurant sitzt ein kleiner dicker Mann, der mit einer seidenen, sehr bunten Schlafanzugshose zum Essen kommt. Kennen Sie ihn?«

Sie lächelte ihn weiter an, sagte aber nichts, deshalb fasste er nach.

»Er hat einen goldenen Ring im linken Ohr. Und seine Füße stecken nackt in Lederpantoffeln.«

Jetzt lachte die Frau übers ganze Gesicht. »Ich weiß nicht viel, aber natürlich hat sich unter uns herumgesprochen, dass er aus Kasachstan kommt. Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann. Mehr weiß ich auch nicht.«

»Aber seinen Namen kennen Sie doch«, Larsson bot seinen ganzen Charme auf.

Die Frau schaute ihn durchdringend an, biss sich auf die Unterlippe. Dann gab sie etwas in den Computer ein. Als sie fand, was sie gesucht hatte, sagte sie: »Avdei Zhdanov«. Sie sah seinen ungläubigen Blick und verstand, dass er mit der Aussprache seine Probleme hatte. Mirjeta Frlić schrieb den Namen auf einen Zettel und schon ihn Larsson zu. »Sie wissen schon, dass mich das den Job kosten kann.«

»Es wird niemand erfahren. Versprochen. Eine Frage noch. Sie haben einige Länder aufgezählt, aus denen die Besucher des Hotels stammen.«

Sie schaute ihn verständnislos an.

»Gibt‘s auch Besucher aus Tschetschenien?«

»Nicht bei uns«, flüsterte die Frau.

Larsson beugte sich zu ihr etwas über den Tresen und sagte leise: »Aber Sie wissen wo?«

Die Frau wechselte die Farbe »Hotel Aberg.« Ihre Stimme schien zu ersticken, so leise sprach sie.

Larsson bedankte sich. Er ging über die Treppe in den ersten Stock. Auf dem Flur kurz vor seinem Zimmer traf er auf ein älteres Ehepaar, das er schon im Restaurant gesehen hatte. Beide waren groß gewachsen. Larsson schätzte das Alter der Frau auf Ende 50, das des Mannes irgendwo zwischen 60 und 70 Jahre. Sie schienen im Begriff zu sein, auszugehen, denn sie waren vornehm angezogen. Sie trug ein elegantes Kostüm, er einen dunkelblauen Anzug. Sie waren die beiden bestangezogenen Menschen des ganzen Hotels, dachte Larsson. Es würde ihn interessieren, wohin die beiden jetzt gingen. Wobei er am Morgen den Mann für einen Künstler hielt, denn er trug um seinen Hals eine relativ dünne Schnur mit einem rechteckigen Anhänger, wie man ihn in älteren amerikanischen Cowboyfilmen zu sehen bekommt. Mysteriös waren sie allemal. Sie unterhielten sich in russischer Sprache. Larsson nahm sich vor, auch von ihnen Fotos zu machen.

In seinem Zimmer angekommen, nahm er als erstes die Raptor-641.pro von der Gardine. Außer den Frauen, die sein Zimmer sauber gemacht haben, war niemand in seinem Zimmer aufgetaucht. Und die Frauen haben, wie er feststellen konnte, ausschließlich ihre Arbeit gemacht und nirgendwo in seinen Sachen rumgestöbert. Das gefiel ihm. Ansonsten war er tatsächlich nur selbst auf dem Film, als er das Zimmer verließ und jetzt, als er wieder das Zimmer betreten hat. Er löschte alles, stellte die Kamera ab. Dann fuhr er seinen Computer hoch. Aus dem Bad holte er aus einer Falte seines Necessaires die Sim-Karte heraus, auf der die Bilder, die er im Nachtklub Goldener Engel in Ulm gemacht hatte, gespeichert waren. Sorgfältig suchte er sie durch. Und nun stellte er fest, dass der junge Mann aus der orthodoxen Kirche einer der Männer war, die an der Bar des Ulmer Nachtklubs herumgelungert hatten. Er speicherte das Bild im Computer und bearbeitete es dahingehend, dass er nur diesen einen Mann herausschnitt und ihn so weit wie möglich vergrößerte. Sodann stellte er das vergrößerte Bild wieder auf die Sim-Karte und fuhr den Computer herunter. Er nahm die Sim-Karte aus dem Slot, tauschte sie gegen die Sim-Karte in seinem Smartphone und schickte das Bild mit drei Fragezeichen und dem Text Dringend ob Identität bekannt? Schorn zu. Dann tauschte er die Sim-Karten wieder aus. Die Sim-Karte mit den Bildern brachte er wieder ins Bad zurück, um sie bei Bedarf abermals zu holen. Er fuhr den Computer noch einmal hoch, um das Bild im Computer vorsorglich zu löschen. Um ein Haar hätte er das vergessen.

Larsson beschloss, einen kleinen Spaziergang zu unternehmen. Er wollte etwas Luft schnappen und gleichzeitig einmal nachsehen, wohin der Pope mit dem jungen Mann aus Ulm gegangen sein könnte. Da der Hinterausgang der russisch-orthodoxen Kirche auf die Sadová führte, wie der gleichseitige Eingang zum Čajkovskij der unteren Ebene, fuhr er wieder mit dem Lift auf die Plattform -6, ging am Restaurant und an der Frau, die den hinteren Eingang hütete, vorbei. Hin und wieder ließ sie den Blick über die wenigen hoteleigenen Parkplätze schweifen, um Diebstahl an den abgestellten Autos zu verhindern. Die Frau schaute nur kurz hoch, nickte ihm zu, als sie ihn erkannte. Auf der Straße schaute er nach rechts. Die goldenen Zwiebeltürme der Kirche zogen ihn in ihren Bann. Er überquerte die Straße und ging weiter in der Innenseite der linken Kurve und stand zwei Minuten später gegenüber dem Hintereingang, den der Pope und der junge Mann herausgekommen waren. Mit Google-Maps hatte er bereits festgestellt, dass der Seiteneingang des russischen Generalkonsulats von hier aus in nur knapp fünfzig Metern zu erreichen war. Larsson machte mit der Handykamera sowohl von der Kirche, vom Seiteneingang des Konsulats in der Sadová und vom Vordereingang des Hauses in der Petra Velikého Fotos. Nun glaubte er zu wissen, wo die beiden hingegangen waren. Offensichtlich gab es eine Verbindung zwischen dem russischen Generalkonsulat und der russisch-orthodoxen Kirche in Karlsbad. Er ging zurück ins Hotel, um seine bisherigen Ermittlungsergebnisse zu dokumentieren. Als er seine Taschen nach tschechischem Restgeld vom Kerzenkauf in der Kirche durchsuchte, förderte er das Kärtchen zu Tage, das ihm der freundliche Deutsch-Russe im Fahrstuhl gab. Dr. Zahar Kudryashov, Ingenieur. Larssons Blick las die Zeile unter der Namensvorstellung und erstarrte.

Institut für Technologie

Nukleare Sicherheitsforschung Karlsruhe

Er fragte sich, ob es ein Zufall war, dass die beiden Kudryashovs aus der Sowjetunion emigrierten, dann einer von ihnen in der Karlsruher nuklearen Technologieschmiede landete und sich mit seinem Bruder traf, der aus New York abgereist war. Die Antwort gab ihm seine Erfahrung.

Larsson dachte an den Fall Reiner Paul Fülle, der im gleichen Forschungszentrum gearbeitet hat. Da die Zeit zu lange her war, um sich an alle Einzelheiten zu erinnern, suchte er im Netz und stieß bei Wikipedia und mehreren Zeitungen auf diverse Artikel.

Reiner Paul Fülle wurde im Zusammenhang mit den Aussagen des MfS-Überläufers Werner Stiller verhaftet. Bei Überstellung von Karlsruhe zur Vernehmung nach Bonn konnte Fülle am darauffolgenden Tag entkommen, unter anderem, weil der ihn begleitende BKA-Beamte bei Glatteis ausrutschte. Fülle war zudem entgegen den Dienstvorschriften nur von einem Beamten begleitet und nicht gefesselt gewesen. Nachdem er sich einen Tag lang in der Kunsthalle Karlsruhe versteckt gehalten hatte, entkam er nach Baden-Baden und wurde von Helfern der Sowjetischen Militärmission in der Zeppelinstraße 19 in einer Holzkiste über den Grenzübergang Herleshausen in die DDR gebracht. Diese Flucht trug ihm in den bundesdeutschen Medien den Spottnamen Glatteisspion ein. Weil er in der Folge lange Zeit Material über den DDR-Sicherheitsapparat nach Köln lieferte, organisierte das Bundesamt für Verfassungsschutz die „Operation Veronika“ und ermöglichte ihm die Rückkehr in die Bundesrepublik Deutschland. Mit falschen Papieren auf den Namen Hermann Sander ausgestattet und einem Flugticket Budapest–Athen–Frankfurt/Main, kehrte Fülle am 5. September 1981 zurück. Das Oberlandesgericht Stuttgart verurteilte ihn später wegen Landesverrats zu sechs Jahren Freiheitsentzug.

Lagebericht:

1. In der Sache RB Kontakt bisher negativ. Warte auf Antwort bezüglich des Bildes. Es ließ sich eine Verbindung des Mannes zu einem Popen der Russisch-Orthodoxen-Kirche feststellen, beide verschwanden durch den Hintereingang des Kirchengeländes, bogen nach rechts ab. Da eine unmittelbare Observation unmöglich, Prüfung des hinteren Zugangs der Kirche über die Sadová, nur 50 Meter entfernt den Seiteneingang zum russischen Generalkonsulat gefunden. Es liegt nahe, dass dieser Ort das Ziel der beiden Männer war.

Anhang: Lokale Fotos.

2. Habe mir einen Gesamteindruck des Hotels gemacht, dabei bin ich auf verschiedene Komponenten gestoßen, die geprüft werden sollten. Im Fahrstuhl traf ich auf zwei deutsch-russische Brüder, namens Zahar und Leonid Kudryashov. Zahar Kudryashov, Dr. Ing., ist in der Nuklearen Sicherheitsforschung am Karlsruher Institut für Technologie tätig. Interessant scheint, dass das KIT ein einzigartiger Zusammenschluss eines Forschungszentrums mit einer Universität ist.

Daher ist es möglich, dass für Dienste anderer Länder, die auf hohem Niveau durchgeführte nukleare Sicherheitsforschung durchaus von Interesse ist. Gleiches gilt für das Institut für Nanotechnologie. Kontrovers diskutiert wurde vor allem in der Zeit kurz vor Gründung des KIT das Thema Militärforschung beziehungsweise militärnahe Forschung. Am Campus Nord, dem ehemaligen Karlsruher Institut FZK - Forschungszentrum Karlsruhe, gab es seit jeher eine Zivilklausel, die jegliche Zusammenarbeit mit militärischen Institutionen verbot. Am Campus Süd, der ehemaligen Universität Karlsruhe, ist diese Klausel nicht wirksam, was eine Zusammenarbeit mit dem Militär oder der Militärforschung möglich macht. Die Frage ist, für wen ist Leonid Kudryashov in New York tätig? Es gibt eine, zugegeben dünne, Parallele zu Reiner Paul Fülle, dem Doppelspion, der für die DDR und für den BND gearbeitet hat.

Anhang: Lokale Fotos.

Er unterbrach seine Arbeit am Bericht über die vorgefundendenen Merkwürdigkeiten im Hotel Čajkovskij und fuhr seinen Computer wieder herunter. Dann widmete er sich der Mini-Kamera Raptor-641.pro, überprüfte sie händisch einzuschalten und wieder zu unterbrechen. Alles funktionierte. Zwischen Unterhemd und einem offenen Hemdknopf brachte er das Gerät so an, dass er Einzelbilder seiner Umgebung aufnehmen konnte. Nur mit einem kleinen Trick konnte er die Kamera auch so manipulieren, dass sie bewegte Bilder aufnahm. Dann begab er sich hinunter ins Restaurant. Der Platz am Nebentisch des Mannes mit dem Goldring war noch frei, so dass er ihn unverzüglich einnehmen konnte. Er legte seinen dünnen Pullover, den er eigentlich lässig über den Schultern trug, auf einen der Plätze, so dass jeder sehen konnte, dass zumindest dieser Platz reserviert war. Die erste Aufnahme, die er machen konnte, war der Rücken des Mannes mit dem Ohrring. Es war die Aufnahme von hinten, die seine bunte Kledage einschließlich der Beschuhung zeigte. Plötzlich passierte, womit Larsson nicht gerechnet hatte. Der junge Mann aus Ulm steuerte zielsicher den Tisch von Avdei Zhdanov an, begrüßte diesen mit Handschlag. Als er sich hinsetzte, kreuzten sich ihre Blicke. Larsson merkte, dass sein Gegenüber ihn erkannt hatte. Das ärgerte ihn, doch er ließ sich nichts anmerken. Nichts ist schlimmer, als wenn ein Mann, der Undercover arbeitete, erkannt wurde.

Im Rahmen des Abendessens konnte er noch eine Reihe von Aufnahmen machen. Vom Abendbrot in seinem Hotelzimmer zurück, fuhr Larsson seinen Computer wieder hoch. Er rief den Bericht auf, den er angefangen hatte, führte das Schreiben fort, indem er Avdei Zhdanov, den kleinen Mann mit goldenem Ring im linken Ohr, beschrieb. Und er stellte auch das unangenehme Zusammentreffen mit dem Mann aus Ulm dar.

Zum Abschluss zog er noch die Bilder aus seiner Minikamera auf den Computer, separierte sie und spielte sie auf die Sim-Karte auf, die er zuvor aus dem Bad geholt hatte. Zum Schluss setzte er eine Nachricht an Schorn ab. Da er wusste, dass die Kollegen im Hotel Smetana vor Ort waren, bat er um ein Treffen. Schorn würde das schon organisieren.

5. Kapitel

4 Wochen zuvor.

Die Häuserschluchten New Yorks haben etwas Beängstigendes. Wäre ich der einzige Mensch, der hier liefe, würde ich mich fürchten, dachte Leonid Kudryashov. Doch der wuselnde Verkehr, der aus Dutzenden Autos bestand, die pausenlos in beiden Richtungen an ihm vorüberrauschten, und die Menschen, die gleich ihm zu irgendeiner Verabredung, zu einem Job oder aus dem Job kommend in die Freizeit gingen, gaben ihm das Gefühl, ein Rädchen in einem großen Getriebe zu sein. New York war ein brodelnder Hexenkessel, der einem wenig Zeit ließ, darüber nachzudenken, ob man in dem Moment hier sein mochte, oder lieber tausend Meilen davon entfernt in einer ruhigen, enchleunigten Umgebung seine Lebenszeit verbringen würde.

Jetzt musste er noch die Straße überqueren, um den Block zu erreichen, in dem er erwartet wurde. Vorsichtig nutzte er die Zwischenräume, die zwischen den Autos blieben, wartete er kurz auf der Mittelspur, bis auch dort eine Möglichkeit gegeben war, rasch zu seinem Ziel zu kommen. Das Haus war in den unteren Etagen ein roter Klinkerbau mit einer mit hellgrauen Granitplatten eingefassten Treppe, die zum Hochparterre führte. Rechts neben dem Eingang war ein großes Messingschild mit dem Namen der Firma angebracht, zu der er jetzt bestellt war. Michael L. McNamara - Import & Export, Limited Liability Company stand in schwarzen Lettern auf dem Schild. Direkt vor dem Haus stand ein cremefarbener 2008-ter Buick Enclave geparkt. Der Fahrer saß in dem Wagen. Er schien auf etwas zu warten. Leonid Kudryashov registrierte das, so wie er alles registrierte, was in seiner unmittelbaren Umgebung interessant oder bedrohend schien. Die achtzehn Jahre, die er jetzt in Amerika lebte, hatten ihn seine Vorsicht nicht vergessen lassen, die ihm in der Sowjetunion antrainiert worden war. Er benutze den Lift bis zum 8. Stockwerk. Linker Hand befand sich eine weißbeschichtete Glastür, hinter der die Büros der Im- und Export Gesellschaft lagen. Gegenüber dem Eingang, also rechts ab Fahrstuhl, hatte sich eine American Fruit Compagnie angesiedelt, wie das Schild auswies. Diese Tür stand offen. Kudryashov ging auf die geschlossene, weißbeschichtete Tür zu und betätigte die Klingel. In der Gegensprechanlage wurde nach seinem Namen gefragt. Kurze Zeit später öffnete sich die Glastür.

»Kommen Sie bitte herein, Sie werden schon erwartet.«

Kudryashov ging hinter der Frau her bis zu einem Querflur, an dessen Ende sie an eine Bürotür klopfte.

»Ja.«

Sie öffnete die Tür. »Mr. Kudryashov, Sir.«

Während Kudryashov das Zimmer betrat, kam der Mann hinter seinem Schreibtisch hervor.

»Willkommen in der Firma, Mr. Kudryashov«, sagte er, schloss eines der Augenlider und wies mit der Hand auf den Stuhl, der vor seinem Schreibtisch stand.

»Emily.«

»Ja, bitte.«

»Bringen Sie uns bitte Kaffee.«

Die Frau machte die Tür von draußen zu.

»Mein Name ist Sean J. Cook. Ich bin der stellvertretende Leiter des Directorate of Science & Technology, kurz DS&T«, sagte er, »und für Operationen zuständig, die in Ost-Europa geplant sind. Das DS&T ist einer der fünf Hauptbestandteile des Nachrichtendienstes CIA. Aber was sage ich Ihnen. Nur ein Wort noch. Im Gegensatz zur National Security Agency liegt unser Beschaffungsschwerpunkt weniger auf technischer Informationsgewinnung, sondern primär auf der Nutzung menschlicher Quellen. Human Intelligence ist gefragt.«

»Verstehe«, sagte Leonid Kudryashov knapp. Die Lage war prekär. Ihm war die kurzfristige Einbestellung zu dieser Adresse nicht nur suspekt, sie hat ihm klargemacht, dass jene, die ihm geholfen hatten, die Sowjetunion zu verlassen, jetzt bei irgendeiner Operation seine Dienste in Anspruch nehmen wollten. Er und sein Bruder Zahar hatten Kirgisistan zusammen mit ihren Frauen mit der Hilfe der CIA im Februar 1991 verlassen. Sie hatten nicht absehen können, dass ihr Land am 31. August selbigen Jahres die Unabhängigkeit von der Sowjetunion bekam. Vielleicht, so dachte er in diesem Augenblick, wären wir ja geblieben. Heimat ist Heimat. Doch nun hatte er es zu etwas gebracht, bewohnte mit seiner Frau ein kleines Haus in der Nähe von Harriman, knapp 40 Meilen von Hyde Park im State New York entfernt. Die beiden Kinder waren weitgehend aus dem Haus. Kudryashov fuhr jeden Morgen mit seinem Chevrolet Silverado Pickup in gut einer Stunde zu seiner Arbeit, und abends die gleiche Strecke zurück. Im Nachhinein gesehen war das amerikanische Leben zwar hektischer als seine Zeit in Kirgistan. Der Unterschied bestand jedoch darin, dass er hier seinen Kindern eine anständige Ausbildung, seiner Frau und sich ein mittelständisches Wohlstandsleben ermöglichen konnte, während er in der alten Heimat immer am Rande der Armut gelebt hatte.

»Wir möchten, dass Sie zwei Dinge für uns erledigen«, fuhr Cook fort. Er machte eine Pause, um die Neugier, die sein Gegenüber zweifellos haben würde, zu steigern. »Sie arbeiten seit vielen Jahren als Buchhalter beim CULINARY INSTITUTE OF AMERICA, in dem wir Sie untergebracht haben. Und dieses kulinarische Institut von Amerika hat nicht von ungefähr die Abkürzung CIA. Wir haben immer die Hand über Sie gehalten.« Cook grinste übers ganze Gesicht. »Soviel ich weiß, hat Ihr Büro einen wunderbaren Ausblick auf den Hudson River. Ihr Job war all die Jahre sicher und ist es auch weiterhin. Der Urlaub für Sie in diesem Jahr ist geplant und bereits genehmigt.«

»Oh«, entfuhr es Leonid Kudryashov. »Oh.«

Cook zeigte ein verständnisvolles Lächeln. »Haben Sie Nachricht von Ihrem Bruder?«

»Wir haben letzte Woche miteinander telefoniert. Das machen wir etwa viermal im Jahr, immer zu Geburtstagen.«

»Ich bin ja nicht neugierig«, sagte der stellvertretende Leiter des Directorate of Science & Technology. »Aber es würde mich interessieren, ob Sie über den Jahresurlaub gesprochen haben.«

»Ja.«

»Darf man fragen, wohin Ihr Bruder fährt.«

»Nach Karlovy Vary.«

»Nach Karlovy Vary. Und Sie? Wohin werden Sie zum Urlaub fahren?“

»Ich bleibe im Lande und nähre mich redlich«, sagte Leonid Kudryashov und grinste breit. »Wir machen Tagestouren nach Staten Island und in unsere landschaftlich schöne Umgebung. Außerdem schauen wir zu, wie unsere neue Garage wächst.«

»Das kann man natürlich machen. Doch Urlaub in einem Hotel im Ausland mit einer Rundumversorgung, verbunden mit der Möglichkeit, die eigene Familie zu treffen, die man lange nicht gesehen hat, hat sicher auch einen ganz bestimmten Reiz. Man weiß nie, wie lange ein Leben dauert. Manchmal passieren Dinge, die man sich nicht einmal an trüben Lebenstagen ausgemalt hat.«

Emily brachte den Kaffee. Cook schwieg, bis sie den Raum wieder verlassen hatte.

»Wie viele Geschwister haben Sie eigentlich?«

»Vier.«

»Vier? Die kann man nicht alle gleichermaßen stark lieben, oder?«

Leonid Kudryashov machte ein verunsichertes Gesicht und hob die Schultern.

»An welcher Stelle der Geschwisterliebe steht bei Ihnen Ihr jüngerer Bruder Zahar?«.

»Wir sind beide unter abenteuerlichen Bedingungen aus der Sowjetunion geflohen. Aber das wissen Sie ja, die CIA hatte dabei geholfen.«

»Gut, dass Sie das nicht vergessen haben. Doch das beantwortet meine Frage nicht.«

»Zahar und mich verbindet unsere Seelenverwandtschaft. Ich war zwar nur etwa 7 Minuten älter als er, aber er hat immer anerkannt, dass ich der Ältere von uns beiden bin. Als ich ihm sagte, er solle aufgrund seiner Schulnoten Physik studieren, hatte er diesen Ratschlag befolgt. Als ich ihm sagte, wir sollten unser Land verlassen, hat er nicht gekniffen. Zahar und ich haben eine sehr enge Bindung.«

»Könnte man sagen, er wäre Ihr Lieblingsbruder?«

Leonid Kudryashov nickte.

»Wir haben uns das gedacht. Deshalb denken wir, ein Familientreffen in Karlsbad wäre eine wundervolle Sache. Also wäre es doch angebracht, dass Sie nach Karlsbad reisen würden, Mr. Kudryashov.«

Kudryashov lachte auf. »Wir haben zwei fast erwachsene Kinder, die beide studieren. Darüber hinaus bauen wir jetzt eine neue Garage. Ich denke, wenn ich keine Schulden machen will, werde ich wohl nirgendwo hinreisen.«

»Am Geld wird es wohl nicht liegen«, sagte Cook. »Wir werden Ihre Reise einschließlich der Begleitung Ihrer Frau finanzieren, ebenso die Vollpension im Hotel. Es ist also gar kein Opfer, wenn Sie nach Karlsbad fahren, sondern eine Belohnung seitens der Firma.«

Kudryashov hatte sich schon gedacht, dass etwas Unangenehmes auf ihn zurollen würde. Als er seinerzeit das erste Mal die USA betreten hatte, war er damit konfrontiert worden, eines Tages an seine Schuld gegenüber der CIA erinnert zu werden. In all den Jahren war das langsam in Vergessenheit geraten. Ein leichtes Kribbeln bemächtigte sich seiner. Das Leben hatte ihn gelehrt, auf seinen Instinkt zu hören. Jetzt schien der Zeitpunkt gekommen, sich daran zu erinnern, dass er vielleicht auch diesem Staat etwas schulde.

»Was erwarten Sie denn als Gegenleistung?«

»Das ist eine gute Frage«, antwortete Cook, »eine sehr gute Frage. Ihr Bruder wird mit seiner Frau nach Karlsbad reisen. Also wäre es angemessen, wenn sie Ihre Gattin ebenfalls mitnehmen würden. So wäre das Familientreffen für jedermann gut sichtbar. Zumal Sie ja dann praktisch den Geburtstag Ihrer Schwägerin nachfeiern könnten.«

»Ja, das leuchtet ein. Aber was, in Gottes Namen, soll ich dort tatsächlich ausrichten?«

»Wir haben eine Erkenntnis darüber, dass die Russen versuchen werden, mit Ihrem Bruder in Verbindung zu treten.«

»Weshalb sollten die Russen das tun?«

»Das Karlsruher Institut für Technologie befindet sich in einem großen Umbruch. Der Campus Nord, das ehemalige Kernforschungszentrum, befindet sich zwölf Kilometer nördlich von Karlsruhe im Hardtwald auf dem Gebiet der Gemeinden Eggenstein-Leopoldshafen und Linkenheim-Hochstetten. Es nimmt eine Fläche von zwei Quadratkilometern ein. Derzeit sind dort etwa 3600 Personen beschäftigt. In der auf dem Campus Nord gelegenen Wiederaufarbeitungsanlage Karlsruhe werden radioaktive Abfälle aus dem Rückbau gelagert. Zur Umwandlung dieses hochradioaktiven, selbsterhitzenden flüssigen Plutonium-Abfalls aus dem Betrieb der Wiederaufarbeitungsanlage in eine leichter zu handhabende feste Form wird eine Verglasungseinrichtung gebaut. Die Inbetriebnahme der „heißen Phase“ der Verglasung wird Mitte dieses Jahres erfolgen. Unabhängig davon werden auf dem Gelände des ehemaligen Forschungs-Zentrum-Karlsruhe etwa 60.000 Tonnen schwach- und mittelradioaktive Abfälle gelagert, die maximalen Lagerfähigkeiten betragen 80.000 Tonnen. Weiterhin befindet sich das Institut für Transurane ITU der Europäischen Kommission auf dem Campus Nord. Kontrovers diskutiert wurde vor allem in der Zeit kurz vor Gründung des KIT das Thema Militärforschung beziehungsweise militärnahe Forschung. Am Campus Nord, dem ehemaligen FZK, gab es seit jeher eine Zivilklausel, die jegliche Zusammenarbeit mit militärischen Institutionen verbot. Am Campus Süd, der ehemaligen Universität Karlsruhe, ist diese Klausel nicht wirksam, was eine Zusammenarbeit mit Militär oder Militärforschung grundsätzlich möglich macht. Der Campus Süd, die vormalige Universität, befindet sich am nördlichen Rand der Karlsruher Innenstadt, östlich des Karlsruher Schlosses. Weithin sichtbar ist das Hochhaus der Fakultät für Physik, das mit 14 Stockwerken das höchste Gebäude auf dem Campus ist. Ihr Bruder ist von seiner Arbeitsstelle Campus Nord zum Campus Süd gewechselt und leitet dort ein höchst geheimes Objekt militärischer Bedeutung. Das interessiert die Russen.«

Die beiden Männer schwiegen eine Weile.

»Und das CIA interessiert das auch?« unterbrach Kudryashov die Stille.

»Tja«.

»Man müsste meinen, die CIA wäre längst vor Ort in dieses Objekt in irgendeiner Weise involviert«, stellte Kudryashov fest.

»Das sind wir auch. Aber wir sind noch nicht zu den tatsächlichen Ergebnissen vorgedrungen, die ihr Bruder Zahar hütet wie einen Augapfel. Wir brauchen aber unbedingt den direkten Zugang zu diesen Ergebnissen.«

»Und nun glauben Sie, dass ich meinen Bruder dazu bewegen könnte, diesen Zugang dauerhaft zu gewähren?«

Cook nickte. Er ließ sein Gegenüber nicht aus den Augen.

»Ich bin nicht sicher, dass ich Zahar dazu bewegen kann.«

»Das zu wissen, rangiert im Sinne der Nationalen Sicherheit unseres Landes an vorderster Stelle«, sagte Cook kalt.

Kudryashov dachte einen Augenblick nach. Ein Wunder war es schon. Er hatte in all diesen 18 Jahren den Arbeitsplatz im CULINARY INSTITUTE OF AMERICA im Staat New York, am Ostufer des Hudson River, dem spektakulären Ziel für Studenten, Restaurantbesucher und Touristen gleichermaßen, behalten. Der Campus befindet sich im historischen Hyde Park im Staate New York, ist nur 1½ Stunden von New York City und Albany entfernt, und leicht über die US-Route 9 zu erreichen. Vom einfachen Buchalter hatte er sich hochgearbeitet zum Chefbuchhalter mit einer sicheren guten Bezahlung. Bei genauer Betrachtung war es in der Tat jetzt auch sein Land, zumal sein Ältester vorhatte, zur Army zu gehen, und dort Karriere zu machen.

»Okay«, sagte Kudryashov. »Ich werde es versuchen.«

»Sie werden es versuchen, und mit einem erfolgreichen Ergebnis zurückkommen«, sagte Cook. Der Ton, wie er es sagte, ließ kein Widerspruch zu.

»Sie sprachen von zwei Dingen, die ich erledigen soll. Wir haben erst eines benannt.«

»Wir werden dafür sorgen, dass Ihre Zimmer im Hotel nebeneinanderliegen. Sie werden vermeiden, dass ein Kontakt zu den Russen stattfinden wird.«

»Sie wissen, dass das kaum möglich sein wird. Ich müsste meinen Bruder praktisch auf jeden Toilettengang begleiten.«

»Wenn das nötig erscheint, werden Sie das tun. Sie bekommen von uns die kompletten Reiseunterlagen gebracht. Es ist auch selbstverständlich, dass wir Ihnen ein Tagesspesengeld zur Verfügung stellen.«

6. Kapitel

Larsson schlenderte die Tomáš-Garrigue-Masaryk-Straße entlang, blieb an dem einen oder anderen Geschäft stehen, schaute in die Auslagen und tat so, als würde er eventuell etwas kaufen wollen. In Wirklichkeit versuchte er zu ergründen, ob ihm jemand folgte. Doch das war bei der regen Betriebsamkeit in dieser Einkaufsstraße unmöglich. Von weitem sah er schon die Werbung des Geschäfts, das sich in einem einige Meter zurückgesetzten Haus befand, und das er nun ansteuerte. Sein Blick suchte die Hausnummer, fand sie, 859/18. Er schaute sich noch einmal um, dann betrat er die hiesige Filiale der deutschen Drogeriekette Rossmann. Er nahm sich einen der Einkaufskörbe, legte eine 500 ml Dose Körpercreme für trockene und empfindliche Haut von Laura Bellucci hinein und beugte sich gerade über die Einmalrasierer, als er angesprochen wurde.

»Wenn Sie gezahlt haben, gehen Sie aus dem Geschäft und langsam die Masaryka hinunter in Richtung Teplá.«

Larsson schaute hoch. Es war Niclas Schorn, der hinter ihm stand. Er legte ein Päckchen Einwegrasierer in den Korb und ging zur Kasse. Schorn stand zwei Personen hinter ihm ebenfalls an der Kasse. Er hielt irgendetwas Kleines in der Hand. Larsson ging hinaus und langsam die Straße hinunter, die er gekommen war. Am Ende der Straße würden sie auf den Fluss Teplá treffen, der hier in Karlsbad in die Eger mündete, dachte Larsson. Hin und wieder blieb er stehen, schaute, ob ihm jemand folgte, und sah Schorn, der nur noch wenige Meter von ihm entfernt, auf ihn zukam.

»Folgen Sie mir in zehn Metern Abstand«, sagte Schorn, ohne sein Tempo zu verringern, als er an Larsson vorbeiging. Zwischen dem Starcasino und dem OutletCenter verschwand Schorn in den etwas zurückgesetzten Eingang eines sehr schmalen Hauses, das zwischen den beiden Geschäftshäusern regelrecht eingekeilt war. Larsson zählte sechs Balkons, die übereinander gestapelt, offensichtlich andere Höhenmaße der einzelnen Wohnungen wiedergaben als die beiden Nachbarhäuser. Die Haustür war nur angelehnt. Er ging hinein, schob die Tür zu, blieb einen Augenblick stehen, um seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen.

»Hallo Herr Larsson.« Schorn kam aus dem Mauervorsprung des unteren Treppenlaufs hervor, hinter dem die Tür zum Keller lag. »Lassen Sie uns in den ersten Stock gehen.« Schweigsam gingen sie die Treppe hinauf. Schorn öffnete die Tür einer konspirativen Wohnung.

»Sie sind erst zwei Tage hier und haben mir eine Menge Material geschickt«, sagte Schorn, als er die Tür hinter sich geschlossen hatte.

»Es gibt eben Dinge, über die man fällt. Entweder man hebt sie auf, oder man erkennt gar nicht, was im unmittelbaren Umfeld passiert.«

Schorn lächelte. »So ist das wohl.«

»In Karlsbad darf man sich nicht von der Schönheit der Häuser aus der Jahrhundertwende täuschen lassen. Ich glaube, dass für Menschen, die geschult sind, deutlich wird, was hinter den Fassaden tatsächlich los ist«, sagte Larsson. »In meinem Hotel, dem Čajkovskij-Palace, gibt es alles an Menschen, die in der ehemaligen Sowjetunion zu einem großen Land gehörten. Nun, wo sie auf gegenseitigen Positionen stehen, so wie beispielsweise Russland und die Ukraine, machen sie hier nebeneinander Urlaub, als wäre nichts geschehen.«

»Das ist ein Glück für die Stadt, die vom Tourismus lebt.«

»Dabei gibt es Kontakte, die genauso intensiv sind, wie vor dem Zerfall der Sowjetunion. Nur dass hier ganz andere Dinge verhandelt werden. Karlsbad ist ein Nest der Russen-Mafia in Böhmen. Schaltstelle für Waffenhandel, Drogen, vielleicht sogar für Schutzgelderpressung. Das ist in anderen Ländern in der Intensität kaum denkbar.«

»Und da sind wir gleich bei den ersten beiden Fotos, die Sie mir geschickt haben, angelangt. Da haben wir den Mann mit dem Ohrring namens Avdei Zhdanov; er ist einer der bedeutendsten Drogenhändler, die zwischen Afghanistan und Europa im Geschäft sind. Er benutzt Teilstrecken der alten Seidenstraße, die heute auch als Heroin-Highway bezeichnet wird. Sie dient dem Schmuggel von Drogen, hauptsächlich Opium und Heroin, von Afghanistan nach Europa, China und Russland sowie dem Transport des zur Herstellung von Heroin notwendigen Essigsäureanhydrids von Europa zurück nach Afghanistan. Durch Tadschikistan beispielsweise schmuggelt man jährlich etwa 700 Tonnen Heroin, doch lediglich 43 Tonnen unterschiedlicher Rauschgifte werden beschlagnahmt.«

»Und da kann man wirklich nur etwa sechs Prozent abfangen?« fragte Larsson. »Das riecht nach Alibifunktion.«

»Leute wie Zhdanov verfügen über unglaubliche Beziehungen und schmieren die meist recht armen Beamten mit Geld. Und wer sollte die auf der Straße befindlichen Container-LKW der Schmuggler und die der Nato-Schutztruppen Afghanistans, die für den Nachschub aus Zentralasien zuständig sind, schon unterscheiden können? Wo doch die Nato-LKW zum Schutz der sich unter Umständen in ihnen befindlichen militärischen Güter unauffällig getarnt sind und denen der Schmuggler im Aussehen gleichen wie ein Ei dem anderen. In jedem Fall schlägt dieser Zhdanov einen Teil seiner heißen Ware auch über Tschechien um.«

»Deshalb der junge Mann aus Ulm«, warf Larsson ein.

»Zu dem wollte ich gerade kommen. Johannes Richter, so ist sein Name, ist ein Bekannter von uns, den wir längst festgenommen hätten, würden wir nicht, zusammen mit den tschechischen Beamten, die Hintermänner dingfest machen wollen.«

»Ist Bachmeier deshalb hier verschwunden?«, fragte Larsson.

»Wir befürchten es.«

»Dann führt der Weg zu Zhdanov über diesen Richter.«

Schorn nickte, sagte aber nichts.

»Die beiden Zwillinge Kudryashov?«

»Auch deshalb sind Kollegen vom BND vor Ort. Die Freunde von Übersee hatten darum gebeten, Zahar Kudryashov in Deutschland zu durchleuchten. Damit haben Sie aber nichts zu tun, Herr Larsson. Sie sind ausschließlich dafür da, den Verbleib unseres Kollegen Bachmann aufzuklären.«

»Ich weiß und werde das auch machen, sobald ich dazu in der Lage sein werde. Dennoch habe ich Ihnen eine Reihe anderer Aufnahmen geschickt.«

Schorn holte sein Handy aus der Tasche, zeigte Larsson ein Bild und sagte: »Die Frau mit der Tasche ist für den SFB der Russen als Reisende getarnt da.« Er schob das nächste Bild ein. »Der Mann mit der Apfelsine ist ein alter Bekannter vom britischen MI6. Weshalb der im Čajkovskij ist, weiß ich nicht. Das gutaussehende, ältere Ehepaar haben wir noch nicht identifiziert. Wir arbeiten daran.«

»Ich habe Ihnen etwas mitgebracht.« Larsson hielt Schorn einen Stick hin. »Ich habe zu jeder dieser Personen eine Einschätzung meiner Beobachtung geschrieben. Wenn dieser Richter wieder auftaucht, werde ich sehen, was ich machen kann.«

»Seien Sie vorsichtig. Wir denken, dass er mindestens einen Konkurrenten der Ulmer Drogenszene auf dem Gewissen hat.«

»Und da läuft der Kerl hier frei herum?« fragte Larsson mit Falten in der Stirn.

»Die Beweislage war relativ dünn und …« Schorn hob die Schultern. »Er ist der einzige Berührungspunkt zu Kriminaloberkommissar Ronald Bachmeier. Die beiden hatten einen Anfangskontakt, bevor unser Mann von der Bildfläche verschwand.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752142327
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
Spionage Usedom Thriller Karlsbad Lasse-Larsson

Autor

  • George Tenner (Autor:in)

George Tenner *1939 Der Sohn des Kunstmalers Helmut Schmidt-Kirstein wuchs in einem Künstlerhaushalt in Dresden, Bischofswerda, Berlin und Ahrenshoop auf. Tenner war mit Johannes Tralow befreundet. Auch der jüdische Schriftsteller Bruno Frei aus Wien gehörte zum Bekanntenkreis. Er arbeitete als freier Journalist & Redakteur für Zeitungsverlage in Deutschland und Schweiz. Tenner ist seit 30 Jahren Mitglied im Deutschen Journalistenverband. Seit 2002 freischaffender Schriftsteller.
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Titel: Fünf Tage in Karlsbad