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Das Geheimnis der alten Lady

Jugend- und Fantasyroman

von C. Sonntag (Autor:in)
238 Seiten

Zusammenfassung

Der vierzehnjährige Patrick genießt die Sommerferien im Camp. Umgeben von dichtem Wald führt nur ein schmaler Pfad hinab in die Schlucht zu der einzig seichten Stelle im Fluss. Patrick ist an ein solches Leben in der freien Natur gewöhnt und hat von seinem Großvater viel über den Wald und seine Bewohner gelernt. Als er glaubt, alles zu kennen, trifft er auf die charismatischen Brüder Sebastian und Johannes. Gemeinsam entdecken sie ihre Umgebung neu und stoßen dabei auf unerklärliche Dinge. Auf der anderen Seite des Flusses verbirgt sich eine geheime Welt. Sollten Elviras fantasievolle Erzählungen am Lagerfeuer doch der Wahrheit entsprechen? Als die alte Lady spurlos verschwindet, wagen sie den gefährlichen Schritt und begeben sich auf die Suche nach ihr.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Eins

„Langsam aussteigen!“, warnte Hajo mit seiner markanten Stimme.

Die Halbwüchsigen zuckten zusammen und hörten tatsächlich auf zu drängeln. Patrick musste schmunzeln, nicht zum ersten Mal bemerkte er, dass Hajo diese Wirkung auf die Neuen hatte. Unsicher drückten sie sich an ihm vorbei und gingen in Richtung des Camps. Böser Fehler! Gleich würde Hajo sie erneut anraunzen.

„Vergesst nicht, euer Gepäck mitzunehmen! Wir sind hier nicht im Hotel Mama!“

Patrick kicherte verhalten, als die Letzten an ihm vorbeistoben und sich in die immer länger werdende Schlange an der Seite des Busses einreihten.

„Anfänger!“, schüttelte Patrick den Kopf. Möglicherweise waren sie das tatsächlich. Anfänger und zum ersten Mal in einem Feriencamp. Sie mochten vielleicht elf oder zwölf Jahre alt sein und zählten somit zu den Jüngeren hier. Ein paar größere Exemplare waren wohlwissend am Bus stehen geblieben und feixten die Gescholtenen hämisch an. Patrick merkte sich die Gesichter. Er mochte solche Typen nicht, die sich auf Kosten der Schwächeren aufspielten und würde ihnen aus dem Weg gehen. So tat er es mit den meisten hier im Camp, wenn auch aus anderen Gründen.

Der Busfahrer zog eine Tasche nach der anderen aus dem Bus und warf sie auf den staubigen Boden. Es interessierte ihn nicht, welcher Name auf den kleinen Schildchen stand. Die Kids konnten lesen und waren alt genug, sich zu merken, welche Tasche, die ihre war. Sie würden sie schon irgendwie untereinander aufteilen. Es dauerte eine Weile, bis die Meute begriff, dass seinerseits nicht mit mehr Entgegenkommen zu rechnen war. Ein besonders mutiges Exemplar näherte sich dem Stoffberg und zupfte an einer lila Tasche.

‚Ist das nicht eine Mädchenfarbe?‘, schoss es Patrick durch den Kopf.

Der Typ überragte ihn vermutlich um einiges, er war groß und kräftig gebaut. Ausgerechnet der! Mit seinen blauen Augen war er bestimmt der absolute Mädchenschwarm an seiner Schule! Noch so ein Traumtyp stellte sich neben ihn und zerrte – Tatta! – an noch einer lila Tasche. Wo kamen die den nur her? Gab es hier irgendwo ein Nest? War das etwa der neueste Trend?

Die beiden schulterten mühelos ihre Taschen und drehten sich zu ihm um.

„Ui!“, entfuhr es Patrick. Wenn das mal keine Brüder sind. Die waren ja kaum auseinanderzuhalten. Patrick musste blinzeln. Doch, wenn man genauer hinsah, waren sie ganz gut zu unterscheiden. Der zweite wirkte etwas jünger und hatte grüne Augen, wie er selbst. Genau diese grünen Augen blitzten ihn nun abenteuerlustig an und zum ersten Mal, seit er selbst vor einer Woche ins Camp eingezogen war, hatte er das Bedürfnis nach menschlicher Nähe.

Die beiden waren in seinem Alter. Vierzehn, der kräftigere vielleicht fünfzehn. Die beiden strahlten ein ungeheures Selbstvertrauen aus, aber was ihn noch viel mehr beeindruckte, war ihr wacher Verstand, mit dem sie blitzschnell ihre Umgebung scannten und voila – ihre Blicke trafen sich.

„Siehst du den Kleinen da drüben?“, stupste Johannes seinen Bruder an.

„Hm? Was ist mit dem?“

„Der starrt uns die ganze Zeit an.“

„Soll er machen“, antwortete Sebastian beiläufig. „Wenigstens wirkt er nicht so spießig wie der Rest hier.“

Johannes antwortete mit einem zustimmenden Schnaufen.

Der Kleine fiel tatsächlich aus der Reihe. Er hatte sich etwas abseits der anderen unter eine alte Buche gehockt und beobachtete ihre Ankunft aus sicherer Entfernung. Er war sehr schlank, geradezu schmächtig. Johannes bezweifelte, ob der einen 100-Meter-Lauf überhaupt schaffen könnte, geschweige denn, dass er ihn dabei schlagen würde. Vermutlich vergrub er sich den ganzen Tag nur hinter irgendwelchen Büchern.

Doch so ganz konnte das nicht stimmen. Er war ebenso braun gebrannt wie sie und seine dunklen Klamotten waren von einer dicken Staubschicht bedeckt. An seinen Füßen war sie so dick, dass man die Farbe seiner dünnen Stoffturnschuhe schon gar nicht mehr erkennen konnte.

Jetzt stand der Junge auf und ging zu den anderen hinüber. Sein geschmeidiger Gang bestätigte, was Johannes soeben vermutet hatte. Klein und schmächtig vielleicht, aber seine freie Zeit verbrachte er, genau wie sie, lieber draußen als drinnen. Sie stellten sich in einer Reihe auf. Der Knautzbart von vorhin baute sich vor ihnen auf und holte tief Luft.

‚Oh, bitte nicht!‘, resignierte Johannes. ‚Noch eine Ansprache!‘

„Mein Name ist Hajo“, begann der Bärtige. „Ich bin hier der Campleiter. Wenn ihr irgendwelche Fragen oder Probleme habt, dann kommt ihr damit zu mir! Ich erfahre es sowieso, als nur keine falsche Scheu.“

Er blickte prüfend in die Runde. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Niemand außer ihm sprach ein Wort. Das funktionierte also schon mal. Zufrieden fuhr er fort:

„Ich werde euch jetzt auf die Hütten aufteilen. Immer drei gehen zu einem Älteren. Die sind nicht wirklich älter als ihr. Die sind nur schon länger hier und kennen die Regeln. Die Älteren sind für ihre Hütte verantwortlich und kommen zu mir, wenn es was zu klären gibt. Verstanden?“

Eifriges Nicken unter den Neuankömmlingen, etwas betreteneres Kopfwiegen unter den Älteren. Der Schmächtige rührte sich nicht. Ernsthaft? Der sollte die Aufsicht über eine Hütte haben? Na, das konnte ja heiter werden! Die würden den Kleinen doch unangespitzt in den Boden rammen, sobald er versuchte, sie zu verpfeifen!

Johannes verspürte etwas Mitleid mit ihm. Er nahm sich vor, in nächster Zeit ein Auge auf ihn zu haben.

„Euch beide behalte ich mal besser in meiner Nähe!“, murmelte Hajo ihnen zu. Er zog Johannes und Sebastian zu einem bebrillten Jungen, der seinem Handy die ganze Zeit mehr Aufmerksamkeit gewidmet hatte, als den Ereignissen hier am Bus.

„Das ist Ben“, stellte sie Hajo vor. „Ihr habt die Hütte direkt neben meiner.“

Na, fantastisch! Besser konnte es doch einfach nicht laufen. Vor ihnen lagen zwei Wochen ödes Lagercamp! Direkt neben der Hütte vom Campleiter und mit dem coolsten Jungen des ganzen Camps. Mit einem leisen Klirren war gerade seine Hoffnung auf ein paar Wochen voller Abenteuer in tausend kleine Teile zersprungen und aus seinem Leben verschwunden. Unter diesen Bedingungen würde sie ganz bestimmt nicht zurückkehren! Ein Blick zu Sebastian bestätigte ihm, dass dieser ihre Lage ähnlich dramatisch einschätzte.

Neben Ben trat ein ebenfalls mit Handy bewaffneter Datenkrieger nervös von einem Fuß auf den anderen und beachtetet sie nach kurzem Aufsehen nicht weiter.

„Johannes!“, stellte er sich mit möglichst tiefer Stimme vor. Sebastian sah ihn vorwurfsvoll an. „Und das ist mein Bruder Sebastian. Auf eine gute Zeit!“

Er streckte Ben seine Hand hin. Ben nickte nur stumm und starrte wieder auf sein Handy.

„Und wer bist du?“, versuchte Sebastian sein Glück bei dem anderen. Mit demselben niederschmetternden Erfolg. Sebastian verleierte die Augen und sah sich um.

„Das ist Thorben“, raunte jemand in seinen Rücken.

Sebastian fuhr herum. Da war niemand. Er senkte den Blick etwas und wurde fündig. Das war ja der Kleine von vorhin! So aus der Nähe wirkte er noch schmächtiger. „Ich bin Patrick“, stellte er sich ihnen vor. „Ich habe die Hütte am Ende des Camps, gleich die letzte vor dem Wald. Ihr könnt sie nicht verfehlen.“

Spitze! Der Kleine hatte die beste Hütte vom Camp, aber sie mussten ausgerechnet bei Ben landen.

Patrick also. Wenigstens konnte er reden! Damit hatte er einigen anderen hier ja schon sehr viel voraus!

„Ach, da bist du“, brummte Hajo hinter Sebastian und klopfte Patrick auf die Schulter. „Du musst Mike und Lukaz zu dir nehmen. Das Camp ist leider randvoll.“

Patrick nickte stumm und betrachte zweifelnd die beiden Neuankömmlinge. Meinte Hajo das im Ernst? Die beiden reihten sich folgsam neben ihm ein und standen da, wie ein Schluck Wasser. So bleich wie die waren, würden die sich unter normalen Umständen nicht weiter in den Wald wagen, als das W-LAN reichte. Ausgerechnet die waren nun also seine Schützlinge. Patrick warf den beiden Brüdern noch einen vielsagenden Blick zu, bevor er mit seinen Helden davontrabte.

„Zumindest, wirst du mit denen keinen Ärger bekommen“, murmelte Johannes. „Höchstens, dass sie sich mal zum Essen verspäten.“

Aber so wie Mike aussah, konnte er selbst das beruhigt ausschließen!

Die Hütten waren winzig. Sie waren gerade groß genug, um zwei Etagenbetten darin unterzustellen. An deren Fußende befand sich jeweils ein Schrank und am Kopfende eine Truhe, die wohl gleichzeitig als Tisch dienen sollte. Stühle gab es nicht. Zum Sitzen mussten die unteren Betten herhalten. Selbstverständlich waren das die Schlafplätze von Johannes und Sebastian.

Johannes warf seinem Bruder einen genervten Blick zu. Dieser ließ sich auf seiner Seite ins Bett fallen und schloss zufrieden die Augen. Eine Etage über ihm hob Ben den Kopf und sah panisch nach unten. Erst als das Bett aufhörte zu schwanken, vergrub er sich wieder in seine Decken.

„Ist es wenigstens bequem?“, fragte Johannes seinen Bruder.

„Zum Schlafen völlig ausreichend“, antwortete dieser und richtete sich halb auf. Über ihm hielt sich Ben krampfhaft am Bettrahmen fest, während Sebastian seine Füße betont langsam aus dem Bett schob und das Bett dabei gehörig ins Schwanken brachte. „Was machen wir jetzt?“

„Keine Ahnung? Wie wäre es mit einer kleinen Führung?“

Johannes sah auffordernd in Bens Richtung, doch dieser tat, als habe er nichts gehört. Fein. Dann würden sie sich eben ohne ihn umschauen. Wortlos standen sie auf und verließen die Hütte.

Sebastian nahm einen tiefen Atemzug und stiefelte aufs Geratewohl los. Egal wohin, Hauptsache raus aus dieser winzigen Zelle.

„Ziemlich eng da drinnen, oder?“, fragte Johannes neben ihm.

„Schätze, die sind nur zum Pennen gedacht. Dafür ist es ok. Der Rest wird sich in den drei großen Hütten im Zentrum abspielen. Mal sehen, was man hier draußen alles anstellen kann. Denkst du, das ist ein richtiger Wald?“

„Wäre cool“, zuckte Johannes mit den Schultern. „Bis hierher ist er jedenfalls noch ziemlich bewohnt.“

Sebastian folgte dem schmalen Kiesweg, der sie an den letzten Schlafhütten vorbeiführte. Stattdessen wuchsen nun Sträucher zwischen den Bäumen und verdeckten die Sicht ins Waldesinnere. Jemand hatte ein kleines Holzschild in den Boden gerammt, auf dem ‚Feuerlichtung´ stand. Das klang zumindest interessant genug, um diesen Weg weiter zu verfolgen. Es dauerte eine Weile, bis sie die besagte Lichtung erreichten.

Sie war nicht besonders groß. In ihrer Mitte hatte man ein tiefes Loch in die Erde gehoben, an dessen tiefsten Punkt sich tatsächlich eine Feuerstätte befand. Die Seiten verliefen stufenartig nach oben, so dass man wie in einer antiken Arena darum sitzen konnte und jedermann freien Blick auf das wärmende Feuer hatte. Nicht übel!

Sebastian sah sich um. Das Camp war von hier aus nicht mehr zu sehen. Sie schienen weiter gegangen zu sein, als es ihnen vorgekommen war. Sie waren von hohen Bäumen und dichtem Buschwerk umgeben. Das Rauschen des Waldes und der Gesang der Vögel machten die Illusion perfekt, ganz allein hier draußen zu sein. Johannes stupste seinen Bruder an und deutete mit einem Kopfnicken auf eine einsame Hütte am Rande der Lichtung. Was war denn das? Warum hatte man diese so weitab von den anderen Hütten errichtet? Sie war etwas größer als die anderen Schlafhütten, sah aber ansonsten genauso aus. Die Eingangstür war angelehnt, es musste also jemand anwesend sein. Ohne es recht zu wollen, waren sie auf die Hütte zugelaufen und standen nun vor deren Eingang.

Sebastian fasst sich ein Herz und stieß sie auf. Mit einem unüberhörbaren Quietschen schwang sie auf und prallte irgendwo ab.

„Autsch!“, protestierte jemand prompt. Johannes lugte an seinem Bruder vorbei und sah ins Innere. Dort stand Lukaz und hielt sich die schmerzende Stirn. Patrick hockte auf der anderen Seite und grinste sie beide an.

„So schnell sieht man sich wieder!“, kam er freudestrahlend auf sie zu. „Eine Führung gefällig? Die beiden hier wollen sich erst einmal einrichten.“

Patrick sprach das letzte Wort besonders langsam aus und verleierte dabei die Augen. Sebastian trat zur Seite und winkte den Kleinen nach draußen. Der Bursche war nach ihrem Geschmack!

„Warum ist deine Hütte so weit abseits von den anderen?“

„Feuerwache. Eine der fünf Prüfungen, die ihr im Lager ablegen könnt. Die Feuerwache ist härteste von ihnen, die zieht kaum einer bis zum Ende durch. Aber jemand muss nun mal auf das Feuer aufpassen, wenn Nachtruhe gerufen ist und mir gefällt es hier.“

„Was soll so schwer an der Feuerwache sein? Muss man da die ganze Nacht wachbleiben, oder was?“

„Nö. Nur bis die Glut ausgegangen ist. Ab dann bist du hier draußen ganz allein und das ist für die meisten Großstädter ziemlich gruselig. Ich bin es nicht anders gewöhnt. Mein Großvater ist Jäger und wohnt wirklich mitten im Wald. Solange es noch Strom und fließendes Wasser gibt, ist ihm das zu nah an der Zivilisation.“

„Aha“, brummte Sebastian. „Und deine beiden kommen hier draußen klar?“

„Ist ihre erste Nacht in der Hütte“, grinste Patrick schelmisch. „Die wissen noch nicht, was sie erwartet. Heulender Wind, knackende Äste, ein Käuzchen. Hajo kommt gegen Mitternacht nochmal vorbei, dann können sie entweder mit ihm ins Camp zurückgehen oder den Rest der Nacht hierbleiben. Die meisten entscheiden sich für die erste Option und kommen nicht wieder.“

„Würde dir mit uns nicht passieren“, behauptete Sebastian selbstbewusst.

„Wenn ihr meint. Also. Was soll ich euch zeigen? Ich vermute mal, das eigentliche Camp kennt ihr schon. Ist aufgebaut wie die Camps, die man so kennt. In der Mitte die Gemeinschaftsräume, Speisesaal, Duschen und so weiter. Rings herum die Schlafhütten. Im Osten ist der Bolzplatz und noch weiter in der Richtung geht es runter zum Fluss und zum Strand. Meine Ecke kennt ihr jetzt auch. Hier gibt es eigentlich nur die Feuerlichtung. Abends gibt’s hier immer ein Lagerfeuer, wir grillen ein bisschen und Hajo lässt uns so lange aufbleiben, bis das Feuer runtergebrannt ist. Wenn wir Frau Reser überzeugen können mitzukommen, wird es am besten. Die kann vielleicht Geschichten erzählen!“

„Wer ist denn Frau Reser?“, unterbrach ihn Johannes neugierig.

„Sowas wie die Campmutter. Sie kümmert sich darum, dass hier alles funktioniert. Sie besorgt die Vorräte, verarztet unsere Wehwehchen, sowas eben. Wenn du irgendetwas brauchst, geh lieber zu ihr. Die kann dir immer helfen. Hajo ist mit sowas überfordert.“

„War sie mit am Eingang? Eine Frau ist mir gar nicht aufgefallen?“, fragte Sebastian.

„Nö. Sie ist nie dabei, wenn der Bus kommt. Da ist ihr zu viel los. Zu viele Leute. Zu laut. Wenn ihr sie heute Abend kennenlernt, werdet ihr verstehen, was ich meine.“

Sie gingen weiter. Ihr Weg war inzwischen einem unscheinbaren Trampelpfad gewichen. Patrick hatte sie immer tiefer in den Wald hineingeführt. Soweit Johannes das mitbekommen hatte, waren sie die meiste Zeit geradeaus gegangen. Sie mussten sich also inzwischen weit außerhalb des Lagers befinden. Sehr weit außerhalb, wie er mit Blick auf sein Handy feststellte. Er hatte keinen Empfang mehr. Irritiert sah er zu Patrick.

„Gibt es hier keinen Zaun?“

„Nicht im eigentlichen Sinn, nein. Aber du würdest merken, wenn du zu weit gelaufen bist“, antwortete Patrick geheimnisvoll. „Gleich da vorne kommt der Steilhang, da geht’s von hier aus nicht weiter. Der Slid, hat sich tief in die Ebene gegraben und bildet die natürliche Begrenzung für das Camp. Wie beim Grand Canyon in Nordamerika. Durch die starke Flussbiegung sind wir von drei Seiten eingegrenzt. Im Grund genommen, kannst du das Camp nur über den Hauptausgang verlassen und dort sind auch die Erwachsenen. Der Eingang wird jeden Abend verschlossen.“

„Und wenn jemand über den Slid verschwinden will?“

Patrick lächelte Sebastian weise an.

„Das versucht keiner. Kommt mit! Ich zeige euch, was ich meine.“

Er führte sie eine kleine Anhöhe hinauf. Der Boden wurde immer steiniger und zuletzt gingen sie auf dem blanken Felsen. Hinter ihnen lag das Ende des Waldes und vor ihnen endete der Boden zu ihren Füßen. Vor ihnen klaffte ein riesiger Spalt in der Erde. Nicht besonders breit, aber dafür umso tiefer. Das war allerdings besser als jeder Zaun!

„Sagtest du nicht etwas von einer Flussbiegung?“, wunderte sich Johannes. „Wo ist sie?“

„Wenn du genau hinsiehst, kannst du zwischen ein paar der Felsvorsprünge etwas glitzern sehen. Das ist der Slid.“

„Das ist irre tief! Wie soll man da runterkommen?“

„Genau das ist der Trick. Im Osten des Camps gibt es vom Bolzplatz aus einen Pfad, über den man den Hang hinunterkommt. Auf der Innenseite der Biegung fließt der Slid recht langsam. Deshalb merkt man auf unserer Flusshälfte die Strömung fast gar nicht. Aber auf gerader Strecke wird er wieder schneller und weiter flussabwärts dann auch tiefer. Keine gute Idee, dort ins Wasser zu steigen. Jedenfalls, wer verschwinden will, müsste auf der anderen Seite wieder hoch. Ist `ne genauso blöde Idee, weil er dort drüben irre schnell ist. Dort an Land zu gehen, hat noch keiner versucht. Zumindest habe ich von keinem gehört, der es geschafft hätte.“

Patrick deutete auf einen größeren Felsvorsprung, der ziemlich weit unten lag.

„Seht ihr die Plattform da drüben? Das ist die vierte Prüfung. Ungefähr hundert Meter steil nach oben. Wer es bis da hoch schafft, hat nur noch die Feuerwache vor sich.“

„Nicht unlösbar“, stellte Sebastian unbeeindruckt fest. „Und es hat noch keiner bis ganz nach oben versucht?“

„Bis ganz hoch? Nicht, dass ich wüsste. Das ist sehr hoch und wird schwierig mit der Sicherung von unten. Das wäre schon ziemlich leichtsinnig, oder?“

„Wenn man den Aufstieg zu zweit macht, müsste es eigentlich gehen“, grübelte Sebastian und sah Johannes herausfordernd an.

„Ihr könnt klettern?“, war nun Patrick überrascht.

„Klar!“, antworteten sie gleichzeitig.

„Muss ich mir merken. Lasst uns zurückgehen. Frau Reser mag es nicht, wenn man zu spät zum Essen kommt. Nachschlag gibt es bei ihr nicht.“

Der Speisesaal war bereits gut gefüllt. Es gab eine zentrale Essenausgabe. Sebastian staunte nicht schlecht, als er bemerkte, dass sie von den Jungen aus dem Camp bedient wurde.

„Gibt es denn kein Personal für sowas?“, fragte er Patrick.

„Wozu? Immer drei Hütten kümmern sich einen Tag um Kochen, Austeilen und Aufräumen. Am Ende des Tages haben sie die erste Prüfung bestanden. Und der Rest vom Camp hat auch was davon.“

„Das funktioniert?“

„Hier muss niemand von Hand spülen, falls das dein Problem ist. Frau Resers Küche ist auf dem neuesten Stand. Wer kocht, bestimmt auch den Essensplan für den nächsten Tag“, klärte Patrick sie weiter auf. „Außerdem kann man dabei noch etwas lernen. Es ist nicht die erste Prüfung, weil sie sonst keiner machen würde, sondern, weil sie tatsächlich die einfachste ist. Hat ja irgendwie jeder schon mal gemacht.“

„Was kommt danach?“, fragte Johannes neugierig.

„Na, was denkst du? Wir sind hier an einem Fluss. Die zweite Prüfung sind hundert Meter schwimmen und zwei Meter bis auf den Grund tauchen. Ist gar nicht so einfach bei der Strömung hier. Deshalb muss die hier auch jeder machen, bevor er weiter als bis zu den Knien ins Wasser darf. Die ersten beiden Prüfungen schafft hier jeder innerhalb der ersten Woche.“

„Die dritte schon nicht mehr? Warum?“

„Orientierungslauf. Hajo lässt sich für jeden etwas Besonderes einfallen. Mal ist es nachts oder früh am Morgen, mal startet ihr außerhalb vom Camp, mal muss noch ein Schatz gefunden werden, aber immer müsst ihr in der vorgegebenen Zeit zurück sein, sonst gilt die Prüfung als nicht bestanden.“

„Ist sie schwer?“

„Wie gesagt. Hajo lässt sich für jeden etwas Besonderes einfallen. Er lässt sie euch erst machen, wenn er weiß, was das bei euch sein soll.“

„Ist ja fies“, murrte Johannes. „Können wir die dann wenigstens zusammen machen?“

„Vermutlich. Aber denke nicht, dass sie dadurch einfacher wird!“, tat Patrick geheimnisvoll.

„Kinderkram!“, murmelte Sebastian. Er hatte den Mund mit Kartoffelbrei vollgestopft und die nächste Ladung hielt er schon vor dem Eingang bereit.

„Schlingt der immer so?“, fragte Patrick besorgt.

„Gewöhnt dich daran! Eher können Elefanten fliegen, als dass der mal vernünftig isst.“

„He!“, beschwerte sich Sebastian. „Is kann eus hören!“

„Iss weiter!“, konterte ein Bruder liebevoll.

Das lärmende Stühlerücken um sie herum endete und es wurde ruhiger im Saal. Endlich hatte ein jeder seinen Platz gefunden. Ein undurchdringliches Gemurmel füllte nun den Raum und übertönte das Geklapper der Teller. Die drei saßen sich schweigend gegenüber und beobachteten die anderen Jungs und Mädchen. Die meisten waren sonnengebräunt und hatten ihre Sommerferien bisher wohl überwiegend am Strand verbracht. Bleiche Typen wie Mike und Lukaz waren eher die Ausnahme und fielen sofort ins Auge. Ganz besonders, weil sie sich freiwillig an Hajos Tisch gesetzt hatten und mit stolzgeschwellter Brust in die Runde blickten.

‚Nicht besonders helle, die beiden‘, dachte Johannes. ‚Aber jedem das seine.‘

Ben hatte Thorben etwas weiter weggelotst und warf den Brüdern immer mal wieder einen grimmigen Blick zu. Johannes fiel auf, dass die meisten sich entsprechend ihrer Aufteilung in den Hütten an den Tischen eingefunden hatten. Immer brav in der Nähe ihres Ältesten. Naja. Sie hatten sich eben einen gesprächigeren Tischpartner gesucht. Patrick war cool.

Einige der Älteren hatten sich ein paar Tische zusammengeschoben und blieben ebenfalls unter sich.

„Was sind das für komische Armbänder, die sie da alle tragen?“, fragte Johannes.

„Die gibt’s für die Prüfungen“, erklärte Patrick. „Sobald ihr die ersten drei geschafft habt, bekommt ihr das Lederband. Die silberne Perle gibt es nach der vierten Prüfung. Die Gravur darauf für die letzte Prüfung.“

„Wow!“, entfuhr es Sebastian. „Die haben alle die fünf Prüfungen geschafft? Dann kann es ja doch nicht so schwer sein!“

„Nicht übermütig werden!“, warnte Patrick.

Hajo baute sich in der Mitte des Saals auf und sah streng in die Runde. Es wurde so still, dass man eine Stecknadel fallen hören konnte. Nichts fiel zu Boden und niemand wagte auch nur zu atmen. Alle starrten auf Hajo. Zufrieden entspannte er sich und hub an zu reden:

„Also, ich schätze ihr habt alle eure Hütten gefunden und euch soweit eingerichtet. Ich bin auch sehr glücklich darüber, dass wir hier vollzählig versammelt sind. Das bedeutet, jeder kennt jetzt seinen Schlafplatz und den Speisesaal. Um das Ganze abzuschließen, in dem blauen Haus auf der anderen Seite des Innenhofes sind die Duschen und Toiletten. Gelb sind die Gemeinschaftsräume, falls da mal Bedarf bestehen sollte.“

Wie auf Kommando drehten sich alle Köpfe zu den Fenstern und starrten auf den Innenhof, als hätten sie noch nie etwas Aufregenderes gesehen. Sebastian schüttelte verständnislos den Kopf und widmete sich wieder seinem Essen. Hajo fuhr nach einer kleinen Pause mit seiner Ansprache fort:

„Wie der eine oder andere von euch vielleicht schon vernommen hat, gibt es in unserem Camp ein paar Besonderheiten. Allem voran gibt es hier keine Begrenzung in Form von einem Zaun, einer Mauer oder so etwas Ähnlichem. Wir befinden uns hier am Rande einer Schlucht, die von unserer Seite ganz gut zu bewältigen ist, auf der anderen Seite des Flusses geht es steil nach oben. Die Älteren von euch wissen, wovon ich rede. Da drüben ist nichts. Also wirklich nichts. Nur Sand und Steine. Es wäre also ziemlich dämlich von euch, euch die Mühe zu machen, den Slid zu überqueren und die Felswand hochzuklettern. Hier ist nämlich nichts weiter als dieses Camp und das kleine Tal unten an der Flussbiegung. Wer unbedingt nach Hause möchte, nimmt bitte den normalen Ausgang, also das Haupttor und meldet sich vorher bei mir ab. Ansonsten ist das Tor verschlossen. Noch Fragen bis hierher?“

Es blieb ruhig im Saal. Sebastian schnappte sich Patricks Teller und aß seelenruhig weiter. Hajo beobachtete ihn und hob dann seinen rechten Arm, an dem eines der Lederbänder hing. Er zupfte demonstrativ an der gravierten Silberperle.

„Das hier bedeutet, dass ich alle Camp-Prüfungen absolviert habe. Eure Hütten-Ältesten werden euch erklären, was es damit auf sich hat und bei wem ihr euch anmelden könnt. Ich muss jetzt erstmal nur eins von euch wissen. Wer von euch kann nicht schwimmen?“

Hajo machte eine Pause und blickte in die Runde. Fast alle Augen waren auf ihn gerichtet. Niemand meldete sich. Die Pause wurde zu einem Schweigen. Sebastian schob seinen Teller zur Seite und sah nach vorne zu Hajo.

„Das hatte ich vermutet, dann müssen wir zumindest nicht ganz von vorne anfangen. Vermutlich kann sich also jeder von euch in einem Schwimmbecken fünfzig Meter über Wasser halten. Das ist doch schon mal was. Nur damit wir uns richtig verstehen, niemand setzt einen Fuß in den Slid, bevor ich nicht sicher weiß, dass ihr auch wirklich schwimmen könnt. Ich starte heute Nachmittag mit den Schwimmprüfungen. Wer ins Wasser will, findet sich pünktlich unten am Strand ein.“

Hajo fixierte Sebastian mit seinem Blick.

„Um zwei geht es los und mit dir fange ich an!“

„Er mag dich!“, kicherte Patrick und senkte den Blick.

„Urkomisch! Ist das ´ne ganz normale Schwimmprüfung oder blamiere ich mich da gleich bis auf die Knochen?“

„Nein, nein“, beruhigte ihn Patrick. „Alles gut. Achte auf die Strömung. Ab der Flussmitte nimmt sie etwas zu. Wenn du einfach nur gerade auf die Boje zuhältst, wirst du abtreiben und sie verfehlen. Peil einfach irgendein Ziel weiter oben an und lass dich dann bis zur Boje treiben. Spar dir deine Kraft bis zur Strömung. Es geht nicht um Tempo, du musst nur die Strecke schaffen. Beim Tauchen solltest du wissen, dass die Strömung kurz unter der Oberfläche am stärksten ist. Also gerate nicht in Panik, wenn du beim Auftauchen plötzlich etwas langsamer wirst und auf einen Widerstand stößt. Je nachdem, wo er euch runterjagt, musst du richtig dagegen anschwimmen. Ok?“

„Alles klar. Gibt es einen Probelauf?“

„Für dich scheinbar nicht. Aber dafür kann ich dir ja ein paar Tipps geben.“

Patrick drehte sein rechtes Handgelenk nach oben und gewährte den beiden einen Blick auf die gravierte Perle, bevor er sie wieder unter den anderen Bändern verbarg.

„Wow. Du hast auch eins?“

Patrick grinste.

„Ich habe euch doch von meinem Großvater erzählt. Ich sehe vielleicht aus wie diese Großstadtkids, aber ich bin keins und ihr auch nicht, wenn ich mich nicht ganz täusche.“

„Damit könntest du recht haben“, schmunzelte Johannes.

Hajo blieb fair. Er versammelte die Jungen und Mädchen etwas oberhalb von der Flussbiegung. Hier war der Flusslauf am breitesten. Der Slid floss sanft dahin und strafte seinen Namen Lügen. Seine spiegelglatte Oberfläche gewährte den Blick auf einen feinen Sandboden, wie er sich nur bei sehr langsamer Geschwindigkeit absetzen konnte.

Ein ganzes Stück weiter flussabwärts zwängte sich der Slid laut tosend durch eng stehende Felswände. Wer hier hineingeriet, befand sich mit Sicherheit in echter Gefahr. Hajo tat gut daran, eine gesonderte Schwimmprüfung abzunehmen, bevor er den Teenagern das Baden im Fluss gestattete.

Patrick ließ sich an der Felswand in den Sand sinken und lehnte sich gegen den warmen Stein. Johannes und Sebastian setzen sich links und rechts neben ihn. Sie beobachteten in stillem Einvernehmen, wie Hajo die Schwimmleinen über den Fluss zog und weiter unterhalb der geplanten Strecke noch zwei weitere Sicherheitsleinen legte.

Dann legte er die Pontons ins Wasser und sicherte sie. Sie bildeten nun einen leuchtend blauen Steg. Etwas wackelig, aber Hajos Messlatte zufolge war der Fluss an dieser Stelle tief genug für den zweiten Teil der Prüfung.

Patrick nickte zufrieden: „Das sollte zu schaffen sein. Hast wohl doch noch den Frischlingsbonus bei ihm. Es geht los.“

Sebastian stand träge auf und zog T-Shirt und Sandalen aus. Er schlenderte langsam zum Flussufer, während Hajo bereits den Ablauf der Prüfung erklärte.

„Also Leute. Da ihr alle schon schwimmen könnt, ist das heute für euch nichts Neues. Trotzdem möchte ich euch ein paar Tipps mit auf den Weg geben. Wie ihr unschwer erkennen könnt, befinden wir uns hier an einem Fluss. An dieser Stelle ist er zum Baden freigegeben. Also keine Panik, solange ihr ein paar Grundregeln einhaltet, ist das Baden nicht anders wie an einem See. Der Slid ist hier eher flach und seine Strömung ist auf unserer Seite sehr gering. Trotzdem solltet ihr niemals unterschätzen, wie gefährlich er sein kann. Weiter unten wird er tiefer und vor allem schneller. Die Strömung ist dort so stark, dass ihr keine Chance mehr habt, ans Ufer zu gelangen. Wenn ihr einmal unter Wasser seid, wird es sogar schwierig, wieder an die Oberfläche zu kommen. Von den vielen Felsblöcken im Flussbett möchte ich gar nicht erst anfangen. Ihr habt genug Fantasie, um euch auszumalen, was mit euch passiert, wenn ihr dazwischengeratet. Hier am Fluss gibt es nur zwei Regeln für euch. Erstens. Niemand geht in den Fluss, ohne dass ein Erwachsener in der Nähe ist. Zweitens. Niemand geht außerhalb der gelben Schwimmleinen in den Fluss. Die beiden roten Sicherheitsleinen weiter unten sind eure letzte Chance, um euch an Land zu ziehen. Danach kann euch keiner mehr helfen. Alles klar?“

Betretenes Schweigen.

„Gut. Kommen wir zur heutigen Prüfung. Erster Teil sind hundert Meter Schwimmen. Ihr seht alle die rote Boje? Das ist euer Ziel. Ganz einfach. Ihr schlagt an und kommt zurück. Sobald ihr zurück seid, habt ihr die volle Strecke und damit den ersten Teil geschafft. Zweiter Teil findet hier drüben auf den Pontons statt oder besser gesagt: davor und darunter. Ich lasse einen Gummiring ins Wasser fallen. Wer ihn vom Boden zurückholt, hat die Prüfung bestanden. Alles ganz einfach, sofern ihr es in einem normalen Schwimmbecken oder an einem See macht. Aber! Unterschätzt den Fluss und seine Strömung nicht. Teilt eure Kräfte ein. Wer clever ist, wird nicht direkt auf die Boje zuschwimmen, sondern einen etwas spitzeren Winkel wählen, sonst müsst ihr das letzte Stück direkt gegen die Strömung schwimmen. Das ist zu schaffen, aber nicht zu empfehlen. Auch beim Tauchen werdet ihr überrascht sein, wie stark euch die Strömung nach unten drückt. Geratet nicht in Panik, sondern schwimmt kräftig dagegen an. Denkt immer daran, dass wir bei euch sind. Falls es wirklich eng wird, können wir euch jederzeit helfen und ihr versucht es einfach morgen noch einmal. Wenn keine Fragen sind, dann fangen wir mit Sebastian an.“

Sebastian stand inzwischen direkt neben Hajo. Er war nervös, was außer seinem Bruder keiner der Anwesenden erkennen konnte. Hajo zog ihn zu sich heran und raunte ihm noch etwas zu. Sebastian nickte eifrig und strahlte Hajo an.

Sebastian sah zu Johannes zurück und winkte ihm noch einmal zu. Dann drehte er sich auf der Stelle und sprintete ins Wasser. Als er etwa knietief im Fluss war, sprang er ab und landete ein gewaltiges Stück weiter vorne im Fluss. Nach wenigen Zügen hatte er die gute Hälfte der Strecke geschafft. Johannes war stolz auf seinen Bruder. Doch von jetzt an ließ es Sebastian ruhiger angehen. So wie es Patrick ihm geraten hatte, schwamm er kraftvoll und achtete dabei vor allem auf seine Technik. Er reizte seine sonstige Schnelligkeit nur zur Hälfte aus. Zug um Zug näherte er sich der Boje. Und nach jedem Zug trieb ihn die Strömung ein Stück weiter flussabwärts. Johannes hielt den Atem an. War Sebastian schnell genug? Oder musste er am Ende doch direkt gegen die Strömung anschwimmen? Hatte er dafür noch genügend Kraftreserven? Die Spannung in der Luft war beinahe greifbar. Niemand saß mehr auf seinem Platz. Sie alle standen aufgereiht am Flussufer und verfolgten Sebastians Weg.

Plötzlich drehte der sich zu ihnen um und winkte ihnen zu. Johannes stockte der Atem. Er wollte aufschreien, ihn davor warnen, dass die Strömung ihn abtreiben würde. Doch es war bereits zu spät. Sebastian wurde von ihr erfasst und nahm schnell an Fahrt auf. Verdammt! Er hätte es schaffen können!

Wie ein Delphin presste Sebastian sich aus dem Wasser und warf seinen Oberkörper der Boje entgegen. Ein lautes Klong donnerte über den Fluss zu ihnen und der Jubel setzte ein. Sebastian nutzte den Abprall und drückte sich so gut es ging zurück in das seichtere Gewässer. Er kämpfte, aktivierte all seine Reserven und ließ sich dann sanft zurück ans Ufer gleiten. Sobald er Boden unter den Füßen hatte, stellte er das Schwimmen ein und ging zu Fuß. Erschöpft sank er in den Sand, rollte sich auf den Rücken und blieb liegen.

Johannes sank keuchend neben ihn auf die Knie. Das mit anzusehen, war beinahe anstrengender gewesen, als die Strecke selbst zu absolvieren.

„Sehr gut“, lobte Hajo. „So wird das gemacht. Weiter unten lässt die Strömung nochmal etwas nach und es wird einfacher für euch, wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Leider verlängert sich die Strecke dann auf etwa zweihundert Meter. Und wenn gar nichts geht, habt ihr die roten Schwimmleinen. Haltet euch daran fest und zieht euch einfach an Land. In dem Fall gilt die Prüfung dann allerdings als nicht bestanden. Ok, Freiwillige vor. Wer ist der Nächste?“

Zahlreiche Arme schnellten nach oben. Das war ganz nach dem Geschmack der Jungen. Dem der meisten zumindest. Johannes stellte fest, dass Mike und Lukaz sich dezent in die Reihen der Mädchen geschoben hatten. Er stand auf und gesellte sich zu den Jungs rings um Hajo.

Mit einem zaghaften Pling meldete sich die Messleiste seiner Abenteuerlust wieder zurück in den Dienst.

„Heute Abend gibt es Lagerfeuer“, begrüßte sie Patrick, als sie mit vollen Tellern an seinen Tisch kamen. „Haut euch nicht zu viel drauf. Es gibt Stockbrot.“

„Ich glaube nicht, dass ich heute allzu lange durchhalten werde“, murmelte Sebastian. „Ich bin ziemlich groggy.“

„Wundert mich nicht“, stimmte Johannes zu. „Hajo hat dich jedes Mal ganz schön bluten lassen. Glaub mir, es wäre viel einfacher gewesen, wenn man sich auf dem Rückweg einfach treiben lässt und nur ganz langsam aus der Strömung rausgeht. Aber du musstest ja unbedingt mit dem Kopf durch die Wand gehen.“

„Im wahrsten Sinn des Wortes!“, schmunzelte Patrick und klopfte ihm auf die Schulter. „Niemand hat behauptet, dass du beim Tauchen nicht den Boden berühren und dich abstoßen darfst. Mach dir nichts draus. Du hast die Prüfung bestanden und das ist alles, was zählt. Außerdem hast du heute bei den Mädels mächtig Eindruck geschunden!“

Sebastian rollte die Augen nach oben. Offensichtlich war ihm seine Wirkung auf Mädchen zwar bewusst, aber nicht weiter von Interesse für ihn.

„Ich bin trotzdem müde und will eigentlich nur pennen gehen!“

„Ach, komm schon!“, quengelte Johannes. „Nur ganz kurz. Ich will ja nur mal gucken, ob es wirklich so toll ist, wie alle tun. Wenn es öde ist, komme ich auch gleich wieder mit dir zurück. Versprochen!“

„Klar. Für wen hältst du mich? Als ob du deinen Arsch gleich wieder hochbekommen würdest, wenn du einmal gemütlich irgendwo hockst.“

„Jetzt sei nicht so!“

„Ist ja schon gut. Ich komme mit. Was ist das hier eigentlich?“

Sebastian hatte ein großes Stück eines sehr hellen und weichen Fleisches aufgespießt und hielt es so weit in die Luft, dass es alle am Tisch gut sehen konnten. Es roch intensiv würzig und war geschmacklich soweit akzeptabel, dass Sebastian schon einige Stücke verschlungen hatte, ohne zu wissen, was er sich da eigentlich einverleibte.

„Fisch“, klärte ihn Patrick auf. „Geräucherter Aal, um genau zu sein.“

„Bäh!“, entfuhr es beiden Brüdern synchron. „Ist ja widerlich!“

„Etwas fettig“, murmelte Patrick, während er aß. „Aber durchaus lecker, wenn man genug Brot dazu nimmt.“

„Wie kann man sowas nur essen?“

„Man gewöhnt sich daran. Ist mal was anderes, als immer nur diese blöde Teewurst.“

Johannes rümpfte die Nase und legte seinen mit süßlich duftender Wurst bestrichenen Brotkanten wieder auf den Teller.

„Iieeh! Lieber hungere ich.“

„Tja, solltest dich vielleicht doch zum Küchendienst anmelden. Je weniger sich anmelden, desto spezieller wird der Essensplan. Am Feuer wäre nachher übrigens ´ne gute Gelegenheit dafür.“

„Jaja“, grummelte Sebastian und entschied sich für den Aal und gegen die Teewurst.

Zwei

Patrick entließ die beiden nach dem Essen aus seiner Obhut und schlenderte allein zu seiner Hütte zurück. Johannes und Sebastian hatten es nicht weit bis zu der ihren und sanken erschöpft auf ihre Betten. Hier drinnen war es warm und extrem stickig. Heiße Luft hüllte sie wie eine Membran ein und machte sie nur noch schläfriger. Johannes stand auf und öffnete das Fenster. Draußen war es immer noch hell und der Lärm des Camps drang nun umso lauter zu ihnen. Eigentlich war es noch viel zu früh zum Schlafen. Sebastian wühlte sich tiefer in sein Kissen und war nach wenigen Atemzügen weg.

Johannes lächelte seinen Bruder liebevoll an und legte sich dann ebenfalls auf sein Bett.

Wenig später kam Ben herein. Er sah kurz auf Sebastians Seite und nickte dann Johannes zu. Leise näherte er sich Johannes‘ Bett und setzte sich auf die Kante.

„Ihr wart heute den ganzen Tag mit Patrick unterwegs, stimmts?“

Johannes nickte.

„Das ist ok. Wenn du mich fragst, ist Patrick ´ne ziemlich gute Wahl als Ältester. Manche behaupten, dass der hier jeden Stein kennt. Zumindest kann er euch mehr über das Camp und die Gegend erzählen als ich. Meldet euch beim nächsten Mal aber bitte ab, damit ich weiß, wo ihr steckt.“

Johannes nickte erneut. Er war erleichtert. Nach Bens finsterem Blick beim Essen hatte er eher eine Standpauke erwartet. Ben sah noch einmal zu dem schlafenden Sebastian hinüber und richtete sich dann wieder an Johannes.

„Soll ich nachher nochmal nach euch sehen, bevor es auf der Feuerlichtung losgeht? Oder wollt ihr lieber pennen?“

„Schlafen können wir zu Hause. Wäre cool, wenn du kurz reinschaust. Ich glaube zwar nicht, dass es mich genauso umhaut, wie den da. Aber man weiß ja nie.“

„Alles klar. Wir sehen uns.“

Ben schlich aus der Hütte und schloss behutsam die Tür. Wahrscheinlich war er doch ganz ok, wenn man ihn erstmal kennengelernt hatte.

Johannes schrak hoch, als ihn jemand an der Schulter berührte. Das helle Sonnenlicht war verschwunden. Die Dämmerung hatte eingesetzt und von draußen wehte ein kühler Luftzug in die Hütte. Johannes blinzelte. Jemand hatte die Tür geöffnet. Vor ihm saß Sebastian und blickte auf ihn herab.

„Endlich wach? Ben war gerade hier. Die anderen sind schon auf der Feuerlichtung.“

Erst jetzt fiel Johannes auf, um wie viel ruhiger es im Camp geworden war. Hastig schwang er sich aus dem Bett. Er wühlte kurz in seiner Tasche und griff sich den erstbesten Pulli, den er finden konnte. Dann sprintete er seinem Bruder hinterher.

Zum Glück kannten sie den Weg zur Feuerlichtung schon. Wie sich herausstellte, waren außer ihnen noch einige dahin unterwegs und sie würden längst nicht die Letzten am Lagerfeuer sein. Als sie die kleine Arena erreichten, brannte in ihrer Mitte bereits ein großes Feuer. Die untersten Reihen waren dicht belegt. Johannes schätzte seine Chance auf ein warmes Plätzchen und etwas Stockbrot als sehr gering ein, bis er Patrick entdeckte, der ihnen eifrig zuwinkte.

Natürlich hatte der die besten Plätze am Feuer ergattert und für sie freigehalten. Sie drängelten sich zu ihm durch und nahmen ihn in ihre Mitte. Hier unten war es warm, eigentlich kaum auszuhalten, doch wenn das Feuer erst ein wenig heruntergebrannt wäre und es Zeit für die Stockbrote wurde, waren das die perfekten Plätze.

Gegenüber von ihnen saß eine Frau mit schneeweißen, langen Haaren. Ihre Haut war noch immer faltenfrei, doch aus ihren Augen sprachen die Weisheit und die Erfahrung eines jahrzehntelangen Lebens. Ihre Augen waren so hell, dass man meinen konnte, sie hätten gar keine Farbe. Nur ein dunkler Ring grenzte die Iris vom Rest des Auges ab. Sie beobachtete, wie Johannes und Sebastian ihre Stöcke holten und lächelte ihnen freundlich zu, als sie zurück an ihrem Platz waren.

Johannes verstand jetzt, warum er nach Patricks Meinung mit einem Problem lieber zu ihr gehen sollte. Frau Reser wirkte so überaus freundlich und friedliebend, als könnte sie auf niemanden böse sein. Ganz anders als der bärtige Knautzbart neben ihr.

Sie trug helle Turnschuhe, ein dunkles geblümtes Kleid und darüber eine gelbe Strickjacke. Irgendwie schien nichts davon richtig zusammenzupassen. Johannes konnte nicht sagen, was ihn genau an ihr störte. Doch es wirkte unpassend. Unpassend für diesen Ort, für diese Tageszeit und für eine Person ihres Alters. Sie war eben eine kuriose alte Lady. Kurios und sehr sympathisch.

Als das Feuer etwas heruntergebrannt war, formten die jungen Leute den Teig um ihre Stöcke und begannen ihre Brote zu grillen. Es wurde ruhig am Feuer und Frau Reser ergriff das Wort.

„So viele neue Gesichter. Das bedeutet, es muss wieder Samstag sein. Ich heiße euch willkommen, meine Freunde. Ihr dürft mich Elvira nennen, doch eure Älteren bevorzugen meinen alten Namen und rufen mich Frau Reser. Ich glaube, sie wissen gar nicht, warum sie das tun. Soll ich es euch erzählen?“

Die Älteren sahen begeistert zu ihr auf und die Frischlinge nickten aufgeregt. Also begann sie zu erzählen.

„Mein Name bedeutet so viel wie die Reisende. Er wurde mir gegeben, weil es mich in jungen Jahren nie lange an einem Ort gehalten hat. Ich war so alt wie ihr es seid, als ich von zu Hause fortgegangen bin. Ich bin so weit gelaufen, wie mich meine Beine getragen haben. Ich wollte alles, wovon ich bis dahin nur in Büchern gelesen hatte, mit meinen eigenen Augen sehen. Die hohen Berge, das weite Meer, dichte Wälder und die prunkvollsten Städte unserer Gesellschaft. Mutter Natur meinte es stets gut mit mir. Der Tisch war immer reich gedeckt. Die Winter waren damals nicht so kalt und schneereich wie heute und wenn meine Vorräte doch einmal zur Neige gingen, so lenkte sie meinen Weg zu einer kleinen Sippe oder einer ganzen Ortschaft. Doch meist war ich auf mich allein gestellt. Nachts schlief ich unter dem freien Sternenhimmel. Die Seen und Flüsse waren mein Badezimmer. Die Pflanzen und Tiere waren meine Freunde.

Ich kann mich kaum entsinnen, dass je die Sehnsucht heimzukehren über mich gekommen wäre. So glücklich war ich.“

Sie seufzte und machte eine kleine Pause, in der sie ihr Stockbrot vom Feuer nahm und genüsslich davon abbiss.

„Einmal“, begann sie mit vollem Mund zu sprechen, „hatte ich einen schlimmen Traum. Ich sah meine Mutter weinend vor unserem Haus stehen. Um sie herum tobte ein Sturm und zerzauste ihr wunderschönes, kupferfarbenes Haar. Dann war es plötzlich still und sie stand auf dem Hügel über unserem Dorf. Ich erkannte die uralte Linde, die schon meiner Großmutter Schatten gespendet hatte, als sie noch ein Kind gewesen war. Es war ein sonniger Tag, die Wiese blühte in allen Farben und ein sanfter Wind glitt darüber hinweg. Ich folgte meiner Mutter und sah an ihr vorbei ins Tal. Hinunter zu unserem Dorf, das es nicht mehr gab. Es war einfach nicht mehr da. Niemand war mehr da. Angst und Kummer engten mein Herz ein. Ich wachte auf. Mit einem Mal fühlte ich mich sehr allein. Zum ersten Mal auf meiner weiten Reise hatte ich Sehnsucht nach meiner Heimat.

Ihr müsst wissen, dass ich zu diesem Zeitpunkt sehr weit weg von zu Hause war. Wenn ich jetzt zurückginge, dann würde ich mehrere Wochen unterwegs sein und erst im Winter heimkehren. Aber ich musste im jeden Preis erfahren, was dieser Traum zu bedeuten hatte. Ich musste mit eigenen Augen sehen, dass mein Dorf noch stand und es allen, die darin lebten, gutging.“

Der Ruf eines Käuzchens unterbrach ihre Rede. Es saß gut verborgen auf einem Ast am anderen Ende der Lichtung. Doch Frau Reser blickte auf und schien es anzusehen. Schweigend sah sie in die Richtung, aus der der Ruf erklungen war. Dann nickte sie kurz und lächelte.

Sie sah die Jungen und Mädchen an, die um das Lagerfeuer versammelt waren. Ihre Gesichter wurden vom warmen Schein der Flammen angestrahlt und waren auf sie gerichtet. Niemand hatte begonnen zu sprechen. Also erzählte sie weiter.

„Ich wollte auf dem schnellsten Weg zurück in mein Heimatdorf. Das bedeutete jedoch, dass mich mein Weg diesmal auch durch größere Städte führen würde. Die größte und berühmteste von ihnen war Luhmia – die leuchtende Stadt. Sie machte ihrem Namen alle Ehre. Man erzählte sich allerlei wundersame Dinge über sie. Vieles so fantastisch, dass ich es gar nicht glauben wollte. Man berichtete sich zum Beispiel, dass es in Luhmia niemals Nacht wurde. In ihren Häusern, auf den Straßen, ja selbst auf ihren Plätzen sei es stets so hell, dass man sein Gegenüber schon von weitem erkennen und bequem ein Buch lesen konnte. Die Stadt selbst sei das Schönste, was man je erblickt hat. Die Menschen in ihr seien wohlgenährt und edel gekleidet. Alle wären fröhlich und gut gelaunt, denn niemand musste mehr schwere Arbeit verrichten. Alle Krankheiten, ja selbst das Alter, habe man besiegt. Ich war sehr neugierig, was davon alles der Wahrheit entsprach. Auch wenn mir wenig Zeit bleiben würde, um all ihre Geheimnisse zu ergründen.

Ich sollte meine Neugierde bald befriedigen können. Nur wenige Tage später erblickte ich die leuchtende Stadt in der Ferne. Dieser Punkt entsprach also schon einmal der Wahrheit. Sie leuchtete bei Tag und bei Nacht. So hell, dass man wirklich den Eindruck gewinnen konnte, es würde in ihr nie Nacht werden. Tags strahlte und funkelte sie in einer solchen Pracht, dass ich ganz geblendet von ihr war. Und nachts leuchtete sie aus sich selbst heraus und erhellte wie eine kleine Sonne das ganze Tal. Für mich war das wie Magie!

Luhmia lag in einem fruchtbaren Tal, umgeben von saftigen Weiden und üppigen Feldern. Ich lief noch einen halben Tag, bis ich sie endlich erreichte. Als ich die Stadt betrat, bemerkte ich, dass man entlang der Straßen und auf ihren Plätzen hohe Lampen errichtet hatte. Sie waren so hoch wie ein Haus und würden in der Nacht wohl weit leuchten. Was für eine Verschwendung! Warum sollte man so viele Lampen anzünden, wenn doch alle während der Nacht schliefen?

Ihr fragt euch jetzt bestimmt, warum mich das so in Erstaunen versetzt hat. Aus eurer Sicht war Luhmia eine ganz normale Stadt. Im Vergleich zu euren Großstädten vielleicht sogar ein wenig altertümlich. Doch wir kannten keine leuchtenden Straßen mit selbst fahrenden Autos und riesigen Fabrikhallen. Für uns in Goduun war eine solche Stadt einzigartig. Das Leben in ihr, kam dem Leben in eurer Welt wohl noch am nächsten.

Goduun unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von eurer Welt. Die Natur offenbart uns ihre Geheimnisse auf ihre eigene Art. Sie flüsterte sie uns in unseren Träumen zu. Immer nur dann, wenn wir sie brauchten. Sie spricht zu jedem Lebewesen. Jeder, der sie hören möchte, kann ihr Wispern vernehmen. Wenn ihr ganz leise seid und genau zuhört, dann könntet auch ihr sie hören.

Luhmia war eine Stadt der Wissenschaft und des Fortschritts. Viele Wissenschaftler tüftelten in Laboren und stellen die Gesetze der Natur auf den Kopf. Nicht alles geschah im Einklang mit der Natur und nicht alles geschah zu unserem Besten. In Luhmia wartete man nicht mehr darauf, welche Geheimnisse die Natur auf ihre Art preisgab. Man entriss sie ihr gewaltsam und hatte dabei auch einiges zu Tage gefördert, was besser im Verborgenen geblieben wäre.

Zunächst war Luhmia sehr erfolgreich und hatte viel Wissen angehäuft. Der Wohlstand dieser Stadt war weithin sichtbar und zog noch mehr Menschen an. Doch der Preis, den sie dafür zahlten, war hoch. Die Menschen hasteten von einem Ort zum anderen, nahmen voneinander kaum Notiz und wenn sie es doch taten, dann schrien sie sich gegenseitig an. Überhaupt empfand ich diese Stadt als sehr laut. Ich war es ja auch gar nicht gewöhnt, so viele Menschen um mich herum zu haben.

Also kämpfte ich mich durch Luhmias Straßen und erreichte bald einen Platz, auf dem dieses laute Treiben seinen Höhepunkt erreichte. Der Lärm war so ohrenbetäubend, dass man sein eigenes Wort nicht verstand. Selbst wenn man, so laut wie man konnte, schrie.

Es mag ein Fest oder ein ganz normaler Markttag gewesen sein, ich weiß es nicht. Auf jedem freien Fleck hatte man einen kleinen Stand platziert und bot seine Ware feil. Dazwischen drängten und schubsten sich die Bewohner, um frisches Obst oder ein duftendes Brot zu erwerben. Es gab Körbe, Töpfe, Kleidung und Schmuck, einfach alles, was das Herz begehren konnte. Manch einer bot wilde Tiere zum Kauf und seltene Gewürze aus weit entfernten Regionen. Es gab nichts, was es hier nicht zu kaufen gab und doch berührte keiner dieser Kostbarkeiten mein Herz oder weckte mein Begehren. Ich wollte nur fort von hier.

Zwischen all dem Geschrei konnte ich ganz leise eine lustige Melodie vernehmen. Sie gefiel mir und ich wollte sehen, was es wohl damit auf sich hatte. Also zwängte ich mich in ihre Richtung und kam zu einer Bühne. Es waren nur ein paar einfache Bretter, die man auf ein paar Kisten aufgelegt hatte. Darauf stand ein paar lustige Gesellen. Sie trugen bunte Gewänder aus sehr feinem Gewebe und mit allerlei Stickereien und Verzierungen. Sie waren ebenso schön anzusehen, wie sie für die Arbeit auf dem Feld ungeeignet waren. Im Takt ihrer Musik vollführten sie allerlei Verrenkungen, tollkühne Sprünge und mir gänzlich unbekannte Tänze, dass es eine wahre Pracht war. Es war atemberaubend und wunderschön anzusehen. Das Publikum war ganz in ihrem Bann gezogen und klatschte im Rhythmus zu der Musik.

Kaum jemand bemerkte, wie dunkle Wolken aufzogen. Erst waren sie klein und in weiter Ferne. Doch sie kamen schnell näher und schlossen sich zu immer größeren und dunkleren Formationen zusammen. Das Ungewöhnliche daran war jedoch, dass sie gleichzeitig aus allen Richtungen zu kommen schienen und uns einkreisten, wie ein dunkler Ring. Noch während ich über die Ursache dieses Phänomens nachdachte, brach das Unglück über uns herein.

Ein Sturm brach los und fegte alles hinfort, dass nicht niet- und nagelfest war. Regen prasselte auf uns hernieder. Er war kalt. Kein warmer Sommerregen, sondern so eisig, dass das Wasser in ihm gefror. Spitze Hagelkörner verletzten unsere unbedeckte Haut und bedeckten den Boden. Noch bevor die ersten die Flucht in die Häuser antraten, standen wir bereits knöcheltief im kalten Wasser. Ich fror bitterlich, wurde geschubst und gestoßen. Menschen schrien in Panik durcheinander.

Ich wusste mir nicht zu helfen. Wohin sollte ich mich wenden? Ich war neu in der Stadt und kannte doch niemanden. Wer würde mir an diesem fremden Ort Schutz gewähren? Niemand achtete auf mich und so tat ich das wohl einzig Vernünftige. Ich drängte mich bis ganz an die Bühne heran und kroch darunter. Ich zwängte mich zwischen den Kisten hindurch und hatte Glück. Eine der Kisten stand etwas erhöht, ihr Boden war trocken und die Bretter darüber hielten das meiste vom Regen ab. Ich kroch hinein und zog eine weitere Kiste vor ihre Öffnung.

Mir war immer noch empfindlich kalt, doch ich war wenigstens im Trockenen. Ich schloss die Augen und versuchte mich zu beruhigen. Was war nur geschehen? Eben noch war ein wunderschöner Sommertag gewesen. Die Menschen waren von überall hergekommen und hatten ausgelassen gefeiert. Ein solches Unwetter hatte ich noch nie erlebt und noch dazu war es ohne jede Vorwarnung über uns hereingebrochen. Das war es, was mich am meisten verunsicherte. Auf meinen langen Reisen hatte ich so einige Unwetter erlebt. Doch sie kündigten sich lange Zeit vorher am Horizont an. Ich kannte die Anzeichen und hatte stets genug Zeit gehabt, um mir einen schützenden Unterschlupf zu suchen. An einem solchen Tag verließ kein Bauer seinen Hof und streifte kein Jäger durch den Wald. Aber diesmal war es anders. Viel schneller als sonst und diesmal schien es keine Richtung zu geben, aus der das Unwetter kam. Bedeutete das auch, dass es keine Richtung gab, in die es wieder abziehen würde? Gut geschützt unter meiner kleinen Kiste begann ich mir große Sorgen zu machen.

Was war, wenn ich recht hatte? Wie lange konnte ich es in meinem Versteck aushalten? Wie lange würde es mir noch ausreichend Schutz vor dem Regen bieten? Eng und kalt wie es war, würde ich hier ohnehin nicht ewig ausharren können.

Dann setzten die Schreie ein. Ich meine, richtige Schreie. Angsterfüllt. Lebensbedrohlich und abrupt versiegend. Sie waren direkt über mir. Neben mir. So viele. So laut. Sie kamen von überall her. Wohin hätte ich fliehen können? Ich kuschelte mich ganz eng in meiner kleinen Höhle zusammen und hoffte auf ein Wunder. Ich wartete.

Plötzlich war es ganz still um mich herum.

Niemand rief mehr. Keine Schritte waren zu hören. Das Heulen des Sturms hatte sich gelegt. Der Regen war versiegt. Ich wagte es kaum zu atmen und lauschte weiter in die Stille. Ich blieb noch lange, wo ich war. Vor lauter Angst war ich wie gelähmt. Was hatte ich nur in den letzten Minuten gehört? Wohin waren die Menschen verschwunden?

Der Gesang eines Vögelchens weckte mich. Ich konnte es durch die Bretter sehen. Sein goldenes Gefieder funkelte in der Sonne. Die Luft war warm und duftete nach Frühling. Die Umgebung wirkte wieder friedlich und so kam ich aus meinem feuchten und kalten Versteck hervor. Die Sonne wärmte mich und begann sogleich meine Kleidung zu trocknen, wofür ich ihr mit einem Lächeln dankte.

Das Vögelchen sah mich an und legte den Kopf schief. Ganz so, als wolle es zu mir sprechen. Gehorsam schwieg ich und lauschte meinen Gedanken.

‚Sie sind fort.‘

‚Wohin, sind sie verschwunden?‘

‚An den Ort, an den ihnen niemand folgen kann und von dem es keine Rückkehr gibt.‘

‚Von einem solchen Ort habe ich noch nie etwas gehört.‘

‚Das solltest du auch nicht.‘

‚Warum sind sie fort?‘

‚Sie sind fort‘, stellte das Vögelchen erneut fest und flog davon. Nachdenklich blickte ich ihm nach und verfolgte seinen Flug, so lange wie ich es vermochte.“

Frau Reser schwieg und betrachtete den Sternenhimmel. Tausende Sterne waren heute zu sehen. Große, kleine, nahe und weit entfernte. Johannes war noch nie aufgefallen, wie viele Sterne es da oben gab und wie hell sie hier draußen leuchteten. Er sah zu seinem Bruder, der sich gerade das nächste Stockbrot genehmigte und sich währenddessen um zwei weitere bemühte, die über dem Feuer bucken. Sebastian konnte immer essen, stellte er beruhigt fest. So schnell würden sie heute wohl nicht zurückgehen, seine Chancen standen gut, dass er das Ende der Geschichte hören konnte.

Patrick hatte sich in eine Decke gekuschelt und nach hinten gelehnt. Er lächelte ihn träge an.

„Haben Sie die Spielleute jemals wiedergesehen?“, fragte ein Mädchen in die Stille.

„Nein. Sie blieben verschwunden.“

„Sie haben nie erfahren, was aus ihnen geworden ist? Warum sie verschwunden sind?“, fragte das Mädchen weiter.

„Doch. Aber es erforderte eine weite Reise und die Antworten, die ich erhielt, waren nicht die, die ich erwartet hatte.“

„Und Ihre Mutter? War dort etwa dasselbe wie in Luhmia passiert?“

Frau Reser lächelte milde und sah zu Hajo. Als dieser mit dem Kopf nickte, fuhr sie fort.

„Alles zu seiner Zeit, Gunda. Der Sturm hatte die Menschen vom Platz vertrieben. Doch ihr Hab und Gut hatten sie zurückgelassen. Teller waren zerbrochen, Obst zertreten und der Wein ausgelaufen. Die meiste Ware war gänzlich unbrauchbar. Ich sah mich genauer um und fand einen Laib Brot für mich, ein paar rote Äpfel und sogar ein kleines Stück Käse hatte den Sturm eingewickelt in einem Tuch überstanden. Damit füllte ich meine Tasche und stahl mich davon.

Ich verließ Luhmia, ohne auch nur mit einer Menschenseele gesprochen zu haben und mit der festen Absicht, niemals zurückzukehren. In sicherer Entfernung setzte ich mich unter einen Baum und aß eine Kleinigkeit. Ein kleiner goldener Vogel ließ sich neben mir nieder und sah mich auffordernd an.

„Oh, hallo“, begrüßte ich ihn. „Bist du der kleine Vogel von vorhin aus der Stadt?“

Natürlich erhielt ich keine Antwort. Tiere mögen das gesprochene Wort nicht, müsst ihr wissen. Aber er legte seinen Kopf schief und sah mich weiter an. Ich warf ihm ein paar Brotkrumen zu und schloss meine Augen.

‚Es war klug von dir, aus der lauten Stadt fortzugehen.‘

‚Weißt du, was dort geschehen ist?‘

‚Das weiß ich wohl.‘

‚Kannst du es mir verraten?‘

‚Wer fremden Geist sein Eigen nannte, sein Unrecht ihn auf ewig bannte.‘

‚Was meinst du damit?‘, fragte ich das Vögelchen verwirrt. Doch anstatt einer Antwort pickte es die letzten Krumen auf und erhob sich in die Lüfte. Es flog direkt in die gleisende Sonne und ich konnte es schon bald nicht mehr sehen.

‚Folge deinem Weg, Mädchen! Du wirst die Antworten finden!‘

Also packte ich meine Sachen zusammen und begab mich wieder auf Wanderschaft. Doch von nun an, machte ich einen weiten Bogen um die großen Städte. Mutter Natur meinte es gut mit mir. Wann immer es mich durstete, lenkte sie meine Schritte an ein klares Bächlein. Wenn meine Vorräte zur Neige gingen, geleitete mich mein goldener Freund an ein nahegelegenes Bauerngut, wo freundliche Menschen Brot und Käse gegen eine helfende Hand tauschten. So kam ich ohne weitere Zwischenfälle voran und erreichte sogar noch vor dem Einbruch des Winters mein altes Heimatdorf.

Ihr könnt euch vorstellen, wie erleichtert ich war, als ich es unversehrt, ja beinahe unverändert vorfand. Es lag noch genauso verträumt an seiner kleinen Flussbiegung, wie ich es einst verlassen hatte. Nichts hatte sich verändert. Alle stand noch genauso da, wie vor vielen Jahren. Ich fand meine Mutter auf dem Feld hinter unserem Hof.

Sie sprach kein Wort zu mir, sondern zog mich einfach nur in ihre Arme und ließ mich lange Zeit nicht los. Ihr Herz schlug gegen meine Brust und ich atmete den Duft ihrer Haare. In diesem Augenblick verstand ich nicht, warum es mir ein so dringendes Bedürfnis gewesen war, von hier fortzugehen. Was war es gewesen, dass ich da draußen in der weiten Welt gesucht hatte. Lag nicht alles Glück der Erde hier, in den Armen meiner Mutter?

Still zog sie mich hinter sich her in unser Haus und wies mir einen Platz an unserem Tisch. Sie goss mir etwas von unserem Brunnenwasser in einen Becher und setzte sich zu mir. Es schmeckte herrlich, klar und frisch. Es war wunderbar kühl.

„Wie ist es dir ergangen?“, fragte sie mich.

„Gut“, erwiderte ich.

„Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?“

„Ich weiß es nicht“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Gerade eben frage ich mich, wonach ich eigentlich gesucht habe. Alles, wonach es mich verlangt, habe ich doch hier bei euch?“

Wir mussten beide lachen und sie nahm mich wieder in ihre Arme.

„Wenn es so ist“, sprach sie leise zu mir, „dann hast du gefunden, wonach du gesucht hast. Dein Zuhause. Es ist schön, dass du es bei uns gefunden hast!“

Sie sah mich an und legte ihren Kopf schief. Ich spürte ihre Gedanken in meinem Kopf.

‚Was bedrückt dich, mein Kind?‘

‚Ich habe so vieles erlebt auf meiner Reise. Ich werde euch über alles berichten. Später. Wenn ich mich ein wenig ausgeruht habe. Für den Moment bin ich froh, wieder zu Hause zu sein. Ich bin froh, dass ich noch ein Zuhause habe. Darf ich ein wenig bei euch bleiben?‘

‚Natürlich, mein Kind! Geh und ruh dich aus! Ich wollte dich nicht bedrängen.‘

Ich vernahm das Verständnis aus ihren Worten und sah die Sorgen in ihrem Blick. Sie war schließlich meine Mutter und nur eine Mutter konnte wissen, wie es um ihr Kind stand, ohne dass es ihr jemand sagte. Sie wusste es einfach. So wie ich wusste, dass auch sie große Sorgen plagten. Doch an jenem Abend beließen wir es dabei und ich zog mich alsbald zurück in mein Bett.

Am nächsten Morgen wurde ich von einem leisen Klopfen an meinem Fenster geweckt. Ich sah auf und bemerkte im letzten Moment, wie sich das goldene Vögelchen in die Luft schwang und davonflog. Mein kleiner Freund war also immer noch bei mir.

Ich stand auf und ging nach unten. Mein Vater versorgte gerade die Tiere auf dem Hof. Ich konnte hören, wie sie ihn freudig begrüßten. Meine Mutter saß vor der Küche und wartete in der Morgensonne auf mich. Sie hatte die Augen geschlossen und hielt sie genau in die helle Sonne. Ich erinnerte mich an dieses Spiel. Sie hatte es mir beigebracht. Wenn man die Augen schloss, dann konnte man durch sie in die Sonne blicken, ohne sein Augenlicht zu verlieren. Man sah die Sonne nicht wirklich, doch einige ihrer hellen Strahlen durchdrangen das Dunkel des Augenlids und färbten es hellrot. Goldenen Punkte blitzten auf und wenn man genau hinsah, verwoben sie sich zu kleinen Bildern und wurden zu einer Geschichte.

„Sie spricht nicht mehr zu uns“, raunte sie mir zu.

„Wer?“

„Die Sonne. Ich verstehe ihre Bilder nicht mehr.“

Sie sah mich mit traurigen Augen an.

„Vielleicht bist du einfach nur müde? Du weißt, die Sonne ist weit entfernt von uns, nur sehr wenige können sie überhaupt verstehen.“

„Aber ich konnte es einmal und jetzt spricht sie nicht mehr zu uns.“

Ich setzte mich neben sie und schloss die Augen. Sollte meine Mutter recht haben? Würde auch ich sie nicht mehr hören?

‚Du fragst die Falsche‘, vernahm ich ein zartes Stimmchen und erschrak. Noch nie hatte die Sonne in Worten zu mir gesprochen. Sie hatte mir weit entfernte Städte, fruchtbare Täler und fremdartige Wesen gezeigt. Ihre Bilder hatten die Reisende in mir geweckt. Doch niemals waren es Worte gewesen. Ich öffnete die Augen und erblickte meinen goldenen Freund auf dem Gartenzaun. Er sah zu mir herüber und hatte den Kopf schräg gelegt.

‚Sie bringt dir nicht die Erleuchtung, nach der es dich verlangt. Deine Suche endet an einem Ort fern von ihr und in geschrieben Wort.‘

Schon wieder ein Rätsel? Offensichtlich, denn mein Vögelchen schickte sich erneut an davonzufliegen.

„Ein Ort fern von ihr und in geschrieben Wort?“, grübelte ich laut. Waren wir nicht alle fern von ihr? Und wie konnte ein Ort nur aus Worten bestehen?

Meine Mutter stieß mich lachend in die Seite. Sie lachte so herzhaft, dass ihr die Tränen in die Augen schossen und sie kaum noch Luft bekam. Sie versuchte mir etwas zu sagen, doch ein ums andere Mal musste sie erneut lachen und drohte an Atemnot zu ersticken. Ich wurde langsam wütend. Was hatte ich denn nur gesagt, das so lustig gewesen war?

„Ach Elvira, mein Sonnenschein. Ein Ort fern von ihr? Das ist ein Ort, an den kein Tageslicht dringt. Ein Keller vielleicht oder ein Gewölbe. Ein Ort in geschrieben Wort? Denk nach, mein Schatz. Worte werden auf Papier geschrieben und in Bücher gebunden. Und wo sammelt man Bücher?“

„In einer Bibliothek?“, riet ich, ohne zu verstehen, worauf sie hinauswollte.

„Richtig, in einer Bibliothek. In Goduun ist jede dir bekannte Bibliothek ein Teil der großen Bibliothek. Was du vielleicht nicht weißt, ist die Tatsache, dass diese Bibliotheken miteinander verbunden sind. Unterirdisch. Man erzählt sich, dass dort unten riesige Gewölbe sind, in denen Bücher aus längst vergessenen Jahrhunderten lagern und in denen das gesamte Wissen unserer Ahnen geschrieben steht. Sie befinden sich tief im Verborgenen weit unterhalb von Goduun. Nur die Weisen und Gelehrten haben noch Zutritt zu ihr. Niemand sonst darf hinein. Ich denke, das ist der Ort, den dein kleiner Freund meinte.“

„Aber ich bin weder Gelehrte und Weise. Wie soll ich dort unten meine Antwort finden?“

„Das ist dein Vögelchen auch nicht und dennoch scheint es schon einmal da gewesen zu sein. Es muss eine Möglichkeit geben, um hineinzugelangen. Weißt du, deine Großmutter wusste noch aus einer Zeit zu berichten, in der jedermann freien Zutritt zur großen Bibliothek hatte. Eines Tages geschah ein großes Unglück und man wusste sich nicht anders zu helfen, als einen Teil der Bücher nach oben zu bringen und den Rest in Verborgenen zu halten.“

„Ein Unglück? Darüber habt ihr mir nie etwas erzählt? Was ist denn passiert?“

„Das war lange vor meiner Zeit“, lächelte mich meine Mutter entschuldigend an. „Verzeih, wenn ich dir nicht die Antworten geben kann, die du suchst. Aber du warst nie jemand, die sich mit den Erzählungen anderer zufriedengegeben hätte. Du wolltest die Dinge, von denen man dir berichtet hatte, mit eigenen Augen sehen. Vielleicht solltest du diese Angewohnheit beibehalten und dir ein eigenes Bild von den Gegebenheiten in der großen Bibliothek machen.“

„Ist das nicht gefährlich?“

„Ich weiß es nicht. Man sagt, niemand ist seit jenem Tag von dort unten zurückgekehrt. Das mag stimmen, aber ich hörte auch von niemanden, der es je versucht hätte. Deine Großmutter Amalie allerdings, wusste die gigantischen Gewölbe und die reich verzierten Bücher darin sehr genau zu beschreiben. Sie war dort, Elvira. Als junge Frau war sie dort und hat in diesen Büchern gelesen, ohne dass ihr je ein Leid widerfahren wäre.“

Meine Mutter ergriff meine beiden Hände und fügte in verschwörerischem Ton hinzu: „Wenn du mich fragst, wie gefährlich kann so ein Buch schon sein?“

Es war also beschlossene Sache, dass ich mich erneut auf die Reise begeben und nach einem Zugang zur großen Bibliothek suchen würde. Für diese Reise hatte ich nicht nur ihre Zustimmung, nein, es geschah auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin. Noch am selben Tag begann sie mit den Vorbereitungen. Sie beschaffte mir festes Schuhwerk, fertigte warme Kleidung für mich und trug in den nächsten Tagen allerlei haltbare und nahrhafte Vorräte zusammen.

Als wir gemeinsam meinen Ranzen packten, fiel mir mein Traum wieder ein. Ich dachte an unser Gespräch am Tage meiner Rückkehr. Sie hatte nach meinen Sorgen gefragt und ich hatte gespürt, dass auch sie große Sorgen plagten. Ich verstand nicht, welcher Art ihre Sorgen waren. Mein Vater war ein gesunder und kräftiger Mann, die Ernte würde in diesem Jahr reich ausfallen und das Vieh war wohlgenährt. Dennoch spürte ich, dass sie versuchte, etwas vor mir zu verbergen, wenn sie ihren traurigen Blick von uns abwandte und die Einsamkeit suchte. Ich war mir sicher, dass ihre Sorgen noch immer da waren.

„Was verbirgst du vor mir?“, fragte ich sie unumwunden.

Sie unterbrach ihre Arbeit und sah kurz auf. Mit einem stummen Nicken beendete sie ihr Tun und bat mich nach draußen. Wir saßen eine Weile schweigend auf unserer Bank vor dem Haus. Die Sonne schien so kräftig, wie an jenem ersten Morgen. Um uns herum sangen die Vögel ihre Lieder, der Wind streifte die Blätter der Bäume und ganz in der Ferne hörten wir sogar das leise Rauschen des Flusses. Es war so wunderbar friedlich, dass ich meine Frage beinahe vergessen hatte.

‚Sieh nach oben!‘, unterbrachen mich ihre Gedanken. ‚Sieh in den Himmel! Fällt dir etwas auf?‘

Ich gehorchte.

Der Himmel war blau. Wie immer. Hinter dem Fluss hingen ein paar weiße Wolken über den Bergen. Es war alles so, wie es sein sollte.

‚Achte auf die Wolken!‘

Sie waren schneeweiß und weit entfernt. Sie bewegten sich kaum. So sehr ich mich bemühte, es gelang mir nicht auszumachen, in welche Richtung sie zogen. Alles ganz normal. Oder?

‚Sieh weiter hin!‘

Unverändert. Als ob sie jemand auf den Himmel aufgemalt hätte. Die Wolken wechselten weder ihre Form noch ihre Position.

Plötzlich kam Bewegung ins Spiel. Blitzschnell schoben sie sich in unsere Richtung und wuchsen auf das Doppelte an. Im nächsten Moment schon stoppten sie und hingen wieder unbeweglich am Firmament.

Mit weit aufgerissen Augen sah ich meine Mutter an.

‚Bleib noch ein wenig und sieh genau hin! Die Dinge sind nicht mehr so, wie sie scheinen.‘

Das waren sie tatsächlich nicht. Was mir in Luhmia widerfahren war, war längst nicht alles. Die Dinge hatten sich verändert und es lag an mir herauszufinden, warum das so war. Ich müsste einen Weg in die große Bibliothek finden und einen Weg, um dieses seltsame Verhalten zu beenden. Doch dazu berichte ich euch morgen. Für heute ist es Zeit, in eure Hütten zu verschwinden, meine lieben Freunde.“

Johannes sah empört auf die Uhr. Sie waren doch höchstens seit einer Stunde hier. Er stockte. Das konnte nicht sein. Patrick kicherte neben ihm.

„Geht uns allen so. Immer. Ich sagte doch, sie ist die Beste!“

„Ja, aber. 23 Uhr? Ernsthaft? Das waren doch nie im Leben vier Stunden Lagerfeuer!“

„Glaub’s mal!“, mischte sich Ben ein. „Los jetzt ihr beiden, ab in die Kojen. Sonst bekomme ich massig Ärger wegen Verstoß gegen die Nachtruhe. Kümmert ihr euch um das Feuer, Patrick?“

„Klar, wie immer. Wir sehen uns dann morgen früh.“

Ben hatte schon fast zu den anderen aufgeschlossen, als er es sich anders überlegte und noch einmal zurückkam.

„Meinst du, deine zwei Neuen halten heute Nacht durch?“, raunte er ihm vertraulich zu.

„Heute Nacht auf jeden Fall. Die sind so müde, die merken bestimmt nichts mehr“, grinste Patrick. „Ich glaube kaum, dass die Hajos letzten Rundgang überhaupt noch mitbekommen.“

„Hihi“, kicherte Ben. „Da könntest du recht haben. Gute Nacht Euch!“

„Gute Nacht!“

Patrick starrte seinen Freunden hinterher. Obwohl es bereits tiefste Nacht war, konnte er die beiden aufgrund ihrer Größe gut unter dem Rest der Jugendlichen ausmachen. Die Gruppe entfernte sich rasch und es wurde ruhig um das Lagerfeuer. Hajo hatte die Glut auseinandergezogen und löschte sie gerade mit Wasser ab. Die angenehme Wärme verschwand und es wurde dunkel.

Patrick sah sich nach seinen beiden Schutzbefohlenen um. Sie waren verschwunden. Er blickte zur Hütte, doch auch dort war es dunkel.

„Die lauschen schon an der Matratze, keine Panik“, grinste ihn Hajo an. „Hab sie reingehen sehen.“

„Oh, gut“, antwortete Patrick verunsichert. Das passierte ihm normalerweise nicht. Er war ein guter Beobachter und ihm entging selten etwas.

„Soll ich nachher nochmal bei euch vorbeischauen?“

„Ich glaube, den Weg kannst du dir heute sparen. Die sahen ziemlich hinüber aus, wenn du mich fragst.“

„Wollte nur gefragt haben. Dann wünsche ich euch ´ne angenehme Nachtruhe!“

„Danke, dir auch!“

Wie zur Antwort erscholl ganz in der Nähe der Ruf eines Käuzchens. Patrick zuckte leicht zusammen. Es war so laut, als ob es direkt über ihnen auf einem Ast säße. Hajo grinste ihn an und schlurfte dann zum Camp.

Das Rauschen des Windes wurde stärker. Lauter. Patrick vernahm, wie die alten Bäume ächzten. Unmittelbar neben ihm knackte plötzlich ein Ast. Erschrocken machte er einen Satz zur Seite und starrte ins Dunkel.

Nichts.

Da war absolut nichts zu erkennen. Es musste ein verdammt dicker Ast gewesen sein, so laut wie das geknackt hatte. Irgendetwas Großes hatte direkt neben ihm gestanden und er hatte es nicht gesehen. War es noch da?

Jetzt war wieder nur das leise Rauschen des Waldes zu hören. Endlich schob sich der Mond hinter einer großen Wolke hervor und leuchtete die Lichtung aus.

‚Da war wirklich nichts‘, schalt er sich.

Patrick drehte sich um und ging betont langsamen Schrittes zu seiner Hütte.

‚Sieh dich bloß nicht um!‘

Er musste all seine Willenskraft aufbringen, um nicht doch noch loszurennen. Doch das würde sein Geheimnis bleiben.

Drei

Patrick erwachte wie gewohnt zu Beginn der Morgendämmerung. Zu seinem Leidwesen war er putzmunter und wagte nicht, auf ein erneutes Einschlafen zu hoffen. Also schwang er sich aus dem Bett und griff sich seine Badehose.

Für ihn gab es nichts Schöneres, als den Beginn eines neuen Tages unten am Fluss zu erleben. Die Schatten der Nacht zogen sich in winzige Spalten zurück und verbargen sich dort vor dem hellen Sonnenlicht. Der morgendliche Nebel lichtete sich zu kleinen Schwaden und löste sich immer mehr auf, bis er ganz verschwunden war. Zu keiner Tageszeit war das Flusswasser so rein und klar, wie am frühen Morgen. Selbst an Stellen, wo man längst nicht mehr stehen konnte, war noch jeder Kieselstein sichtbar.

Patrick überlegte einen Moment, ob er die beiden Brüder mitnehmen sollte und entschied dann, dass ein kleiner Umweg nicht schaden würde.

Die Tür zu Bens Hütte war angelehnt. Das kleine Fenster stand weit offen. Vermutlich hatten sich die Holzstämme ordentlich aufgeheizt und man versuchte so, ein wenig Kühle in das Innere zu bekommen. Patrick zog die Tür vorsichtig auf und schob seinen Kopf hinein.

Halleluja!

Da drinnen war es ordentlich heiß!

Und laut.

Patrick sah sich um und versuchte den Übertäter auszumachen. Es war Sebastian, der auf dem Rücken und nur mit Shorts bekleidet auf seinem Bett lag und mit seinen Geschnarche den halben Wald absägte! Wie konnten die anderen nur bei diesem Lärm schlafen?

Gar nicht, wie er feststellen durfte.

Johannes richtete sich steif auf und kam ihm entgegen. Er schob ihn wortlos nach draußen und zog sich dort sein T-Shirt und seine Sandalen über.

„Noch so ´ne Nacht überlebe ich nicht“, brummte er. „Ich habe so einen Schädel dran.“

Er hielt beide Hände in maximaler Entfernung von seinem Kopf und verleierte die Augen. Patrick klopfte ihm verständnisvoll auf die Schultern und zog ihn mit sich.

„Moin erstmal“, raunte er ihm grinsend zu. „Ich will runter zum Fluss. Komm doch mit, vielleicht ist ein kühles Bad genau das, was du jetzt brauchst?“

„Klingt cool. Ach, und auch Moin. Sorry, bin noch nicht ganz da.“

Sie kamen gerade am Bolzplatz vorbei, als sie hinter sich Schritte vernahmen. Patrick warf verwundert einen Blick zurück.

„Musst nicht gucken. Ist Sebastian. Der riecht das, wenn ich mich auf mehr als hundert Meter von ihm entferne!“

Patrick zog anerkennend die Augenbrauen nach oben.

„Nicht übel. Seid ihr Zwillinge, oder so?“

„Nee, wirklich nur Brüder. Sebastian ist ein Jahr älter als ich.“

„Ein Jahr, zwei Monate und zwei Tage, um genau zu sein“, mischte dieser sich atemlos ein. „Was machen wir Schönes?“

„Baden!“, kam die einstimmige Antwort.

„Oh nö!“, schmollte Sebastian. Er hatte immer noch nicht mehr an, als vorhin in der Hütte. „Aber ich muss nicht wieder irgendwelche doofen Tests machen, oder?“

„Nein. Alles cool. Entspann dich!“

„Na dann!“

Sebastian setzte sein schönstes Sonnyboy-Lächeln auf und betrat den alten Pfad, der sie den Steilhang entlang nach unten zum Fluss führte. Am Horizont ging gerade die Sonne auf. Dort, wo ihre warmen Strahlen die Erde berührten, erwachten die kleinen Tiere in ihr zu neuem Leben. Dunkelheit und Kälte wichen zurück. Die Stille der Nacht wurde von den Stimmen des Tages übertönt. Immer mehr Tiere stimmten in dieses morgendliche Konzert ein. Es war faszinierend, wie schnell diese Verwandlung voranschritt. Hier oben auf der Ebene hatten die Sonnenstrahlen bereits die letzten Schatten der Nacht vertrieben. Unten am Fluss war es noch tiefe Nacht und zogen dichte Nebelschwaden durch die Schlucht.

Langsam gingen sie nach unten. Sie hatten es nicht eilig. Es würde noch mindestens eine Stunde dauern, bis die ersten im Camp erwachten und aufstanden. Etwa ab dem zweiten Drittel der Strecke wurde es so dunkel, dass sie ihre Schritte verlangsamen mussten. Johannes schlang die Arme um den Oberkörper und rieb sich instinktiv an den Oberarmen. Ohne die Sonne war es merklich kühler, die feuchte Luft und die leichte Brise des Flusslaufs verstärkten diesen Effekt noch. Und da sollten sie baden gehen? Johannes war sich keineswegs sicher, ob er dieses Wagnis eingehen wollte.

Patrick schien jedoch gar nicht vorzuhaben, sofort ins Wasser zu springen. Er lenkte seine Schritte etwas flussaufwärts und erklomm ein paar Felsbrocken, die an dieser Stelle ins Wasser gestürzt waren.

„Dürfen wir da überhaupt rauf?“, fragte Johannes vorsichtig.

„Hajo sieht es nicht gerne, wenn wir darauf rumturnen, weil die Strömung zwischen den Steinen ziemlich stark ist. Aber solange wir nur zu dritt hier unten sind und die Füße aus dem Wasser halten, ist es schon ok.“

„Seit wann bist du so ein Schisser?“, stichelte Sebastian und folgte Patrick. „Sowas kümmert dich doch sonst nicht?“

„Bin ich doch gar nicht. Ich weiß nur gerne vorher, ob ich mir Ärger einhandle oder nicht“, verteidigte der sich und folgte den beiden auf die Steine.

Schweigend saßen sie auf dem großen Felsbrocken und starrten flussabwärts. Vor ihnen lag das Flusstal mit ihrem Badestrand. Die Sonne kämpfte sich zaghaft über den Horizont und färbte den Himmel in ein leuchtendes Orange. Die dichten Nebelschwaden rissen auf und wurden durchsichtiger. An einigen Stellen gaben sie den Blick auf das golden funkelnde Wasser des Slid frei.

Direkt neben ihnen ragten die Steilhänge nach oben. So dicht, dass man meinen konnte, man müsse nur die Arme ausbreiten, um sie zu beiden Seiten berühren zu können. Hinter ihnen kam der lautstark tosende Fluss angerollt und brauste unter ihnen hinweg. Immer wieder traf die eisige Gischt ihre nackten Waden und mahnte sie, dem Slid nicht zu nahe zu kommen.

„Was war das?“, fragte Sebastian plötzlich und starrte angestrengt in den Nebel, der etwas weiter flussabwärts noch über dem Wasser hing.

Die Brüder hatten es auch gesehen und starrten angestrengt in die Richtung. Am anderen Ende der Schlucht hatte sich etwas im Nebel bewegt. Er war sich erst nicht sicher gewesen, doch dann hatte er es wiederentdeckt. Etwas kam langsam auf sie zu. Etwas Großes. Größer als sie. Die Jungs versteiften sich und starrten in den Nebel. Doch dieser verbarg hartnäckig die riesige Gestalt. Nur ihr Umriss war auszumachen, dann war sie wieder verschwunden.

Patrick sprang auf.

„Ihr habt es doch auch gesehen, oder?“

Die Brüder nickten stumm.

„Wo ist es hin?“

In diesem Moment riss der Nebel auf und der Schatten wuchs aus dem Nichts zu seiner wahren Größe heran. Patrick machte instinktiv einen Schritt zurück und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren.

„Was zur Hölle ist das?“

Noch immer verhüllte der Nebel die Gestalt des Besuchers. Doch das Wesen war stehen geblieben und sah in ihre Richtung. Es beobachtete sie und schien zu überlegen, ob von ihnen eine Gefahr ausging oder nicht. Dann trat es langsam aus dem Nebel heraus und senkte sein Haupt, um erneut aus dem Fluss zu trinken.

„Ein Hirsch!“, entfuhr es Patrick. Ehrfürchtig ließ er sich auf die Knie sinken. „Was für ein kolossaler Kerl. Seht euch nur sein riesiges Geweih an. Meine Güte, hat der mir einen Schrecken eingejagt!“

„Er ist wunderschön“, raunte Johannes leise. „So stark, seht euch nur seine Muskeln an. Wahnsinn. Aber wo ist seine Herde? Warum ist er allein hier unten?“

„Die meisten Hirsche sind Einzelgänger“, klärte Patrick ihn auf. „Sie schließen sich nur zur Paarungszeit ihrer Herde an. Trotzdem ungewöhnlich, dass er hier unten ist. Hier gibt es nur einen Ausgang. Bei Gefahr könnte er nirgendwo hin.“

Als ob er sie verstanden hätte, hob der Hirsch den Kopf. Er beäugte den alten Pfad und verfolgte ihn bis hinauf zu Ebene. Die Sonne beschien den Pfad nun vollständig. Es war alles ruhig. Zufrieden lenkte der Hirsch seine Aufmerksamkeit wieder auf den Fluss und ging ein paar Schritte hinein, so dass ihn der Nebel erneut verbarg.

„Krass“, murmelte Sebastian. „Als ob er auf etwas wartet.“

Kaum hatte er das ausgesprochen, machte der Hirsch einen riesigen Satz und landete am Ufer des Slid. Sicheren Trittes erklomm er den Pfad und verließ die Schlucht.

„Oder auch nicht“, murmelte Sebastian enttäuscht.

„Täusch dich mal nicht“, widersprach Patrick. „Seht euch das an!“

Etwa auf halber Strecke bliebt der Hirsch stehen und wandte den Kopf in ihre Richtung. Johannes hatte das Gefühl, dass er sie direkt ansah. Einen nach den anderen. Erst danach sah er zurück auf den schmalen Pfad und begrüßte seinen kleinen goldenen Freund, der dort auf ihn wartete.

Das Vögelchen flog kurz auf und nahm in seinem Geweih Platz. Gemeinsam setzten sie ihren Weg nach oben fort.

„Das glaub ich jetzt nicht“, flüsterte Patrick heiser.

„Als ob sie sich kennen“, flachste Sebastian. Sie alle hatten doch schon von ungewöhnlichen Tierfreundschaften gehört. Warum also nicht auch ein Hirsch und ein Vögelchen?

„Schon möglich, aber das meine ich gar nicht“, beharrte Patrick. „Erinnert ihr euch an die Geschichte von gestern Abend? Frau Reser hat etwas von einem goldenen Vögelchen erzählt. So etwas gibt es hierzulande nicht und ich habe es als Quatsch abgetan. Aber das da ist eindeutig golden. Oder spinne ich jetzt?“

„Vielleicht liegt es ja am Sonnenlicht?“, versuchte Johannes zu beschwichtigen. „Komm schon Patrick. Willst du mir jetzt weismachen, dass die Story mit dem Vogel gestern Abend wahr sein könnte? Vielleicht auch noch, dass Frau Reser mit Tieren sprechen kann? Es gibt so viele Vogelarten, könnte es nicht vielleicht doch sein, dass es so etwas gibt?“

„Keine Ahnung. Im Moment weiß ich gerade gar nichts mehr.“

„Wie war das jetzt mit ´ner Runde Schwimmen?“, versuchte Sebastian noch einmal die Stimmung aufzulockern. Patrick und Johannes nahmen die Aufforderung gerne an und folgten ihm zum Badestrand. Johannes tauchte behutsam seine Zehenspitzen in das Wasser und setzte sich dann zu Patrick in den Sand. Er zählte im Stillen ganz langsam von zehn an rückwärts und fixierte die Stelle, an der Sebastian soeben wagemutig untergetaucht war.

Vier. Sebastian tauchte wild prustend aus den Fluten auf und kam zu ihnen an den Strand gelaufen.

„Hättest du mir nicht sagen können, dass es so kalt ist? Gestern Abend war es irgendwie wärmer!“

„Sorry“, lächelte Patrick ihn an. „Aber das kommt dir nur so eisig vor, weil die Luft hier unten noch so kalt ist. Sobald die Sonne über den Fluss ist, ist es hier unten wieder wie im Backofen. Dann bist du froh über jede Abkühlung.“

Sebastian ließ sich neben Patrick in den Sand sinken.

„Dauert ´ne Weile, bis man warm wird, was?“

„Ach sei still!“, grummelte Sebastian. „Machst du das öfters?“

Patrick sah ihn verständnislos an.

„Ich meine in aller Herrgottsfrühe aufstehen und hier runterkommen.“

Patrick nickte langsam und starrte auf das funkelnde Wasser des Slid.

„Ich bin nicht so ein Langschläfer, wie die meisten im Camp. Sobald es hell wird, zieht es mich schon wieder nach draußen. Also ja, ich stehe in aller Herrgottsfrühe auf. Manchmal lese ich ein Buch, manchmal komme ich hierher. Je nachdem, worauf ich gerade Lust habe. Wenn ich die Hütte voll habe, verziehe ich mich lieber nach draußen.“

Sebastian zwinkerte ihm verschwörerisch zu. Das ging ihm ähnlich. Auch in ihrer Hütte war es viel zu warm gewesen, die Luft war stickig und die anderen beiden hatten um die Wette geschnarcht. Hier draußen lagen sie nun lang ausgestreckt im Sand und warteten darauf, dass die Sonne endlich über dem Horizont klettern und sie wärmen würde. Das war viel besser! Es gab ihnen ein winziges Gefühl von Freiheit.

Aber ein paar Stunden mehr Schlaf wären ihm trotzdem ganz lieb gewesen. Sebastian gähnte herzhaft und schloss die Augen.

„Da ist er wieder!“, raunte Patrick ihnen plötzlich zu. „Sehr nur, da oben am Steilhang. Das gibt’s doch gar nicht.“

Sebastian blinzelte träge in die Sonne. Da war tatsächlich etwas auf dem Steilhang und zwar direkt über den Steinen auf denen sie vor ein paar Minuten noch gesessen hatten. Er richtete sich auf und schirmte die Augen mit seiner Hand ab. Ein großer Schatten stand am Abhang und blickte über die Ebene.

„Da kommt er nie im Leben rüber“, überlegte Patrick. „Das ist selbst für ihn viel zu weit.“

„Das scheint ihm auch klar zu sein“, stimmte Johannes zu. Allerdings blieb der Große, wo er war und schaute weiter über die Schlucht. „Wie ist er überhaupt ins Camp reingekommen? Über den Zaun?“

„Glaube ich nicht“, antwortete Patrick leise. „Der ist zu hoch. Ich vermute über den Fluss. Ein paar von denen sind echt gute Schwimmer.“

Sebastian sah zweifelnd flussaufwärts zu den Stromschnellen: „Ernsthaft? Da durch? Das glaube ich nun wieder nicht. Nicht ohne Blessuren.“

„Naja, irgendwie wird er auf jeden Fall hierhergekommen sein. Er kann ja nicht einfach aus dem Nichts auftauchen.“

Die Sonne stand nun genau in ihrem Blickfeld und blendete sie. Die Luft begann zu flimmern, so dass man außer dem enormen Umriss ihres Hirsches kaum noch etwas erkennen konnte. Doch es schien fast so, als ob ein goldenes Funkeln in der Mitte der Schlucht hing. Zunächst war es nur ein kleiner Punkt, dann breitete er sich zu beiden Seiten aus und verband die Ebenen miteinander. Ganz so, als wäre es eine Brücke aus Glas.

„Was macht ihr denn so früh hier unten?“

Die Jungs fuhren erschrocken herum. Auf dem Pfad stand Frau Reser und hatte die Arme in die Hüften gestemmt. Sie trug eine Jeans und ein altes Holzfällerhemd darüber. Zusammen mit ihren schweren Wanderschuhen sah sie aus, als wolle sie sich im nächsten Augenblick wieder auf eine ihrer Reisen begeben.

Patrick fand als erster seine Stimme wieder: „Baden. Wir wollten baden. Aber dann war es uns doch zu kalt. Und was machen Sie hier, Frau Reser?“

Sie kicherte.

„Nennt mich endlich Elvira. Ich bin zwar alt, aber ich möchte nicht immer daran erinnert werden.“

Sie kam auf sie zu und hockte sich neben sie in den Sand.

„Ich wollte in den Wald und nach ein paar Kräutern für meine Küche suchen. Wenn ihr Lust habt, dann könnt ihr mir dabei Gesellschaft leisten. Ich könnte euch ein bisschen was darüber beibringen, was meint ihr?“

„Klar, warum nicht“, antworte Johannes stellvertretend für alle. „Wir helfen gerne.“

„Na dann kommt. Ich zeige euch unterwegs, was wir mitnehmen können und was nicht. Wir brauchen auch nicht lange. Bis zum Frühstück sind wir wieder zurück, versprochen!“

Elvira sprang auf und lief leichtfüßig den Steilhang hinauf. Hätte ihr langes weißes Haar nicht locker über ihren Schultern gehangen, man wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass man eine alte Lady vor sich hatte.

Johannes schüttelte verwirrt den Kopf und warf dann einen Blick nach oben auf den Abhang. Das Flimmern war verschwunden und mit ihm der Hirsch.

„Wo ist er hin?“, raunte er Patrick zu.

„Keine Ahnung. Ich war genauso abgelenkt wie du.“

„War der Vogel noch bei ihm?“

„Ich bin mir nicht sicher, die Sonne hat ganz schön geblendet. Aber es könnte schon sein, dass er über der Schlucht auf den Hirsch gewartet hat. In dem ganzen Geflimmere war ja kaum was zu erkennen.“

„Das ergibt doch keinen Sinn!“

Sebastian beschäftigte etwas anderes: „Schon komisch, dass sie ausgerechnet jetzt hier unten auftaucht. Ist er da wirklich rüber gegangen?“

„Jetzt entspannt euch mal!“, mahnte Johannes. „Es wird bestimmt eine vernünftige Erklärung für das Ganze geben. So ein riesiger Hirsch wird sich ja nicht einfach in Luft aufgelöst haben. Der muss Spuren hinterlassen haben. Bestimmt ist er noch irgendwo in der Nähe.“

Patrick spreizte seinen rechten Arm etwas ab und zwang die Brüder zum Stopp. Er deutete auf den weichen Sand neben sich.

„Solche Spuren meinst du? Kann zumindest nicht schaden, wenn wir da oben mal nachschauen. Dann wissen wir zumindest, in welche Richtung er gegangen ist.“

Mit etwas Glück könnten sie ihn während ihrer Kräutersuche vielleicht sogar noch einmal sehen. Doch daraus wurde nichts. Oben angelangt, lenkte Frau Reser – Elvira – ihre Schritte in die entgegengesetzte Richtung. Sie folgten dem Steilhang flussabwärts. Elvira begann zu erklären: „Jeder Wald teilt sich in unterschiedliche Zonen auf. Je nachdem, wo ihr euch gerade befindet, wachsen unterschiedliche Pflanzen. Die meisten Kräuter und Sträucher zum Bespiel findet ihr eher am Waldrand. Je tiefer ihr in den Wald hineinkommt, desto weniger Licht dringt auf den Boden. Das Angebot ist dort nicht mehr so üppig, wie hier draußen. Vielleicht finden wir ja gleich ein wenig Dost oder Knoblauchrauke. Die kann man gut trocknen und später als Gewürz benutzen. Giersch wäre auch nicht schlecht. Der ist so ähnlich wie Spinat. Mögt ihr Spinat? Die meisten Kräuter schmecken nicht nur, sie helfen auch gegen Bauchschmerzen oder Kopfschmerzen. Oder falls man mal nicht schlafen kann. Ich bin gespannt, was wir so finden. Meistens findet man nämlich genau das, was man gerade am dringendsten braucht. Selbst wenn man gar nicht danach sucht.“

Sie plauderte unentwegt, während sie sich immer weiter vom Camp entfernten. Bald zeigte sie ihnen die weißen Blüten des Giersch und kurz darauf fanden sie das zarte Rosa des Dostes und das kräftige Pink des Ziestes. Sie erfuhren, gegen welche Art Bauchschmerzen die einzelnen Kräuter wirkten und wie sie angewendet werden konnten. Es machte tatsächlich Spaß unter ihrer Anleitung nach den Pflanzen zu suchen. Innerhalb kürzester Zeit war ihr Korb gefüllt und Elvira lotste sie in den Wald hinein. Immer weiter fort vom Fluss und dem Pfad.

„Wohin gehen wir?“, fragte Patrick verwundert. „Ich dachte im Wald wächst nichts?“

„Das habe ich nicht gesagt“, antwortete sie. „Ich habe gesagt, hier wächst weniger. Die meisten Pflanzen sind kleiner und schwerer zu finden. Aber es gibt genauso viele Kräuter, die die direkte Sonne meiden. Nelkenwurz und Salbei zum Beispiel mögen es lieber etwas schattiger. Man muss nur wissen, wo man sie suchen muss.“

Elvira blieb stehen und sah sich um. Dann zuckte sie mit den Schultern.

„Schade. Manchmal finde ich an dieser Stelle ein paar Triebe, aber heute haben wir wohl kein Glück. Naja, wir haben auch so genug gesammelt. Der Korb ist zumindest randvoll. Wollen wir?“

Sie strahlte ihre Helfer an. Die Jungs grinsten zurück und gingen dann auf das Camp zu. Zwischen den Bäumen konnte man die bunten Hütten erkennen, sie waren also nicht mehr weit entfernt.

„Euch beide habe ich übrigens noch nicht in meiner Küche gesehen? Ihr seid neu im Camp, oder?“

„Gestern angekommen“, antwortete Johannes artig.

„Gehören sie zu dir, Patrick?“

„Nein“, antwortete dieser, „es sind Bens Schützlinge. Ich übernehme nur ab und zu mal die Aufsicht.“

„Soso“, schmunzelte Elvira. „Helft ihr mir bei den Vorbereitungen für das Frühstück? Ihr habt doch bestimmt von den Campregeln gehört? Jeder soll einmal in der Küche aushelfen, sonst bekommt er sein Armband nicht. Was die wenigsten wissen, beim Frühstück muss man im Grunde nicht viel mehr machen, als die Vorräte rauszutragen. Kein Kochen, kein Kleinschneiden und den Abwasch übernimmt die Spülmaschine. Also, was meint ihr drei? Bekommt ihr das hin?“

„Na klar!“, platze Sebastian raus.

„Für Mittag und Abend habe ich dann wieder meine Helfer. Nur früh morgens möchte immer niemand vor den anderen aufstehen.“

Elvira lachte und strahlte dabei über das ganze Gesicht, so dass die Jungen gar nicht anders konnten, als mitzulachen. Bis die ersten zum Frühstücken in den Speisesaal kämen, blieb ihnen noch eine gute halbe Stunde. Das würde bestimmt lustig werden und sie hatten ohnehin nichts Besseres vor.

Zwei Stunden später saßen sie in einer Reihe auf der Veranda. Ihre schmerzenden Füße lagen auf dem Geländer und den Oberkörper hatten sie bequem zurückgelehnt.

„Ich wusste nicht, dass das so anstrengend ist“, schmollte Sebastian. „Elvira hat uns ganz schön gescheucht!“

„Normalerweise macht sie das allein“, gab Patrick zu bedenken. „Höchstens, dass Hajo ihr mal hilft.“

„Krass, wie sie das einfach so wegsteckt. Ich kann jetzt schon nicht mehr.“

„Ihr wart toll“, lobte Elvira und trat aus der Küche. „So schnell wie heute, war ich noch nie mit dem Aufräumen fertig. Das muss meistens die Mittagsschicht mit übernehmen. Was mache ich denn jetzt nur mit der vielen freien Zeit? Kann ich euch etwas Gutes tun? Habt ihr überhaupt schon gefrühstückt?“

Wie zur Antwort meldete sich Sebastians Magen lautstark. Johannes verleierte die Augen: „Sobald der essen hört, ist er dabei!“

„Süß oder herzhaft?“, fragte Elvira schmunzelnd.

„Süß!“, bestimmte der gerade Verhungernde.

„In Ordnung, dann werde ich euch mal etwas ganz Besonderes zaubern“, versprach Elvira und verschwand wieder in der Küche.

„Die ist schwer in Ordnung“, stelle Sebastian fest.

„Ohne Zweifel“, stimmte Patrick zu.

Es war ruhig auf dem Campus geworden. Vermutlich waren alle unten am Strand. Nur sie und Elvira waren noch hier. Sebastian stopfte sich zufrieden den letzten Pancake in den Mund. Er hatte acht Stück davon gegessen, dazu noch Rührei und Speck. Johannes würde nie verstehen, wo sein Bruder diese Unmengen hin aß. Er musste neidvoll anerkennen, dass Patrick, dieser Hänfling, seinem Bruder in Nichts nachstand. Er selbst hatte schon nach drei Pancakes kapituliert. Danach hatten die beiden eine Art Wettessen veranstaltet, welches nur in einem Unentschieden endete, weil just in dem Moment die Pancakes alle waren.

Elvira sah Sebastian eine Weile schweigend zu. Sie schien über irgendetwas nachzudenken. Dann gab sie sich einen Ruck und begann zu sprechen: „Wisst ihr schon, was ihr als dritte Prüfung machen wollt?“

Johannes horchte auf: „Ich dachte, das entscheidet Hajo?“

„Ja und nein. Hajo entscheidet, wann welche Prüfungen abgenommen werden. Aber letztlich entscheidet ihr, an welchem Tag ihr eure Prüfung ablegen wollt. Und damit wählt ihr eure Prüfung selbst aus. Nur für die ganz Unentschlossenen“, Elvira warf Patrick einen bedeutungsschweren Blick zu, „denkt er sich etwas Besonderes aus.“

„Ich war nicht unentschlossen“, schmollte Patrick. „Es war nur leider so, dass er mich die meisten Prüfungen nicht mitmachen gelassen hat, weil sie für mich zu einfach gewesen wären.“

„Da ist was dran!“, lachte Elvira. „Jedenfalls wird Hajo heute Nacht die Spurensuche verteilen. Die macht kaum einer mit, weil die meisten nicht wissen, wo sie mitten in der Nacht nach Tierspuren suchen sollen. Sie warten dann lieber auf so etwas wie finde drei verschiedene Nadelbäume oder sieben verschiedene Laubbäume. Aber wisst ihr, es gibt einen Ort, an den sie alle irgendwann kommen. Wenn ihr dort zur richtigen Zeit wartet, werdet ihr mehr als genug Tieren begegnen.“

„Der Slid“, riet Johannes. „Sie müssen trinken.”

“Richtig und genau das macht diese Prüfung so einfach. Leider werdet ihr in dem losen Sand keine guten Spuren finden und dort, wo der Boden etwas feuchter ist, werden sie regelmäßig vom Slid weggespült. Ihr müsst euch also entscheiden, ob ihr euch eine Weile auf die Lauer legen oder ob ihr den Tieren eine Art Falle stellen wollt, indem ihr dafür sorgt, dass die Spuren nicht von Wind und Wasser zerstört werden können. Wenn ihr es clever anstellt, dann könnt ihr diese Aufgabe in einer halben Stunde lösen.“

„Sie kommen wirklich jeden Tag an den Fluss?“, fragte Sebastian.

„Klar“, antwortete Patrick. „Du trinkst doch auch jeden Tag. Allerdings reicht das Zeitfenster von einigen Stunden vor Sonnenaufgang bis weit in die Dämmerung hinein. Ich glaube kaum, dass ihr euch so lange auf die Lauer legen wollt.“

„Also brauchen wir feuchte Erde und eine Stelle, wo möglichst viele entlanglaufen.“

„Und morgen früh schießen wir dann die Fotos!“, jubilierte Sebastian. „Genial!“

„Wenn ihr nachher unten am Strand seid, könnt ihr ja schon mal nach einer geeigneten Stelle Ausschau halten“, bestätigte Elvira ihre Vermutung.

Spuren im Sand. Patrick muss wieder an ihren Hirsch denken und wurde ruhig. Er war sich mit einem Mal absolut sicher, dass Elvira den Hirsch gesehen haben musste. Ein so großes Tier konnte man nicht übersehen und sie war direkt an ihm vorbeigelaufen. Und dann war da noch dieses immense Flimmern über der Schlucht gewesen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass man dieses Funkeln nur aus ihrem Blickwinkel hatte sehen können. Sie musste etwas bemerkt haben.

„Apropos Spuren am Strand“, begann er vorsichtig. „Wir haben da vorhin etwas Komisches beobachtet. Als du zu uns runter zum Slid gekommen bist, musst du direkt daran vorbeigelaufen sein.“

„So? An was denn?“, fragte Elvira argwöhnisch.

Patrick stutzte. War es ein Fehler? Oder sollte er ihr von ihren Beobachtungen erzählen? Falls Elvira sie vorhin absichtlich abgelenkt und in eine andere Richtung gelockt hatte, dann würde sie ihm wohl kaum erzählen, was er wissen wollte. Andererseits hatte sie selbst ihnen von dem goldenen Vogel erzählt. Warum sollte sie es jetzt geheim halten wollen?

Patrick wagte den Versuch: „Wir saßen auf den großen Steinen, als ein riesiger Hirsch aus dem Nebel kam. Er kam ein Stück auf uns zu und ging dann zurück in den Nebel. Es war komisch. Er stand viel zu tief im Wasser, falls er nur trinken wollte und er machte den Eindruck, als wenn er auf etwas oder jemanden warten würde?“

Elvira lehnte sich nach vorne und sah ihn interessiert an. Er hatte ihre volle Aufmerksamkeit.

„Gewartet? Auf wen?“

„Du hast uns doch gestern Abend von diesem goldenen Vögelchen erzählt. Genauso einer kam plötzlich den Pfad herunter und landete in seinem Geweih.“

Elvira lehnte sich zurück und dachte nach. Eine Weile sagte keiner von ihnen ein Wort.

„Sie sind dann zusammen nach oben gegangen“, berichtete Patrick weiter. „Ich schwöre, der Vogel blieb die ganze Zeit über in dem Geweih sitzen.“

Elvira nickte bedächtig.

„Habt ihr die beiden noch einmal gesehen?“, forschte sie weiter. Patrick fühlte sich wie in einem Verhör.

„Ich bin mir nicht sicher. Die Sonne war gerade aufgegangen und hat so geblendet. Aber ich glaube der Hirsch stand oben am Abhang, als du zu uns gekommen bist.“

„War der Vogel bei ihm?“

„Könnte sein.“

„Was ist dann passiert?“

„Als wir das nächste Mal hingesehen haben, waren beide verschwunden. Wir dachten, dass du vielleicht …“

„Ich? Nein.“

Elvira stand auf und ging ein paar Schritte auf der Veranda auf und ab.

„Ein Hirsch also“, sprach sie leise vor sich hin. „Und Faro hat ihn begleitet. Es muss schlimmer sein, als ich bisher angenommen hatte.“

Sie wandte sich wieder an die Jungs: „Habt ihr sonst etwas beobachtet? Ist euch irgendetwas aufgefallen?“

Patrick dachte an die gläserne Brücke. Hatte es sie wirklich gegeben oder hatte er sich das nur eingebildet? Er war sich plötzlich sicher, dass Elvira sie nur aushorchte, sie selbst aber nichts preisgab. Warum erzählte sie ihnen nicht, was sie wusste? Patrick entschied sich dazu, vorerst zu schweigen und schüttelte den Kopf.

„In Ordnung“, sagte Elvira. „Ich werde euch erklären, was ihr gesehen habt. Aber nicht jetzt. Ich muss vorher selbst noch ein paar Dinge in Erfahrung bringen.“

„In Goduun?“, fragte Sebastian aufs Geratewohl. „Gibt es das wirklich? Ich meine, du sprichst davon, als ob du wirklich dort gewesen wärst.“

Elvira lächelte und stützte den Kopf in ihre Hände: „Ich war dort, Sebastian. Es war mein Zuhause, ich bin dort aufgewachsen.“

„Warum bist du von dort fortgegangen? Wenn es doch dein Zuhause war?“

„Ich war jung. Ich wollte die Welt entdecken. Ich wollte auf den Grund des Ozeans tauchen und den Himmel berühren. Zumindest dachte ich das am Anfang meiner Reisen. Luhmia hat mir die Augen geöffnet. Bis dahin hatte ich viele Abenteuer erlebt, viele Orte gesehen und noch viel mehr gelernt. Aber es war nie genug und es zog mich jedes Mal wieder fort. In Luhmia verstand ich endlich, warum das so war und immer so bleiben würde. Ich musste erkennen, wer ich bin und akzeptieren was ich bin. Es ging nicht mehr nur um mich. Goduun ging es schlecht und jemand musste dem Einhalt gebieten. Aber solange ich noch in Goduun war, hatte ich immer das Gefühl, dass es da draußen noch etwas gibt, das darauf wartet, von mir gefunden zu werden. Dass ich am falschen Ort war. Also habe ich mich außerhalb von Goduun auf die Suche danach gemacht.“

„Und du hast es hier gefunden? Im Camp?“

„Nein, es ist nicht im Camp. Es könnte überall sein. Ich meine, wirklich überall auf dieser Welt. Das ist mein Problem, Patrick. Ich weiß noch immer nicht, wo ich suchen soll. Ich weiß ja noch nicht einmal, wonach ich suchen soll. Wenn Faro gestern hier war, dann sollte ich zuerst mit ihm reden. Vielleicht hat er endlich herausgefunden, was damals wirklich passiert ist. Dann wären wir einen großen Schritt weiter.“

Elvira sprach wieder mehr zu sich und sah in die Ferne.

„Du kannst wirklich mit den Tieren sprechen?“, fragte Sebastian.

„Natürlich! Das kannst du auch. Ihr habt nur verlernt zuzuhören und so haben eure Tiere diese Gabe verloren. Es braucht ein wenig Übung und vor allem Vertrauen. Wenn mein Gegenüber diesen Pfad nicht kennt, dann kann ich ihn auch nicht benutzen. Ich kann nur noch wenige von den Tieren aus eurer Welt erreichen.“

Sebastian starrte sie ungläubig an. Seltsame alte Lady. Er mochte sie trotzdem.

„Möchtest du es lernen?“, fragte sie ihn leise.

„Geht das denn?“

Elvira nickte.

„Am einfachsten wird es sein, wenn du es mit deinem Bruder ausprobierst. Ihr kennt euch am besten und vertraut euch. Du darfst nicht laut sprechen. Das stört die Konzentration. Versuche, an nichts zu denken, außer an die Worte, die du sagen möchtest. Du musst sie in deinem Inneren hören. Und dann wirst du dort eine Antwort erhalten. Am Anfang hörst du nur den Klang seiner Stimme, wie ein leiser Nachhall seiner Worte. Mit ein wenig Übung wirst du sie dann auch verstehen.“

Sebastian schielte vorsichtig zu Patrick hinüber. Sie meinte das wirklich ernst und sie wirkte dabei kein bisschen geistesgestört. Patrick zuckte leicht mit den Schultern. Er hatte ja recht, wer so eine Frage stellte, musste auch mit der entsprechenden Antwort rechnen. Vor allem bei jemandem wie Elvira.

Elvira packte sie an den Armen und zog sie energisch nach oben: „So!“, bestimmte sie. „Jetzt schert euch endlich an den Strand. Ihr seid nicht hier, um Trübsal zu blasen. Lasst das meine Sorge sein und sobald ich etwas weiß, gebe ich euch Bescheid.“

Sie gehorchten.

Den Rest des Tages verbrachten sie mit den anderen am Strand und vor allem im Wasser. Doch es war nicht derselbe Ort wie noch vor wenigen Stunden. Die nächtlichen Schatten und der morgendliche Nebel waren einer unerträglichen Hitze gewichen. Das ausgelassene Geschrei der Jugendlichen echote vielfach durch die Schlucht, so dass man den tosenden Slid kaum noch wahrnehmen konnte. So gespenstisch ihr Aufenthalt in der Morgendämmerung gewesen war, so übervölkert war dieser Ort jetzt am Nachmittag.

Sie sprachen nicht viel miteinander und dachten jeder für sich über das Gehörte nach. Die meiste Zeit lagen sie im warmen Sand und dösten schläfrig vor sich hin.

Sebastian ertappte sich ein paar Mal dabei, wie er tatsächlich versuchte, mit seinem Bruder ohne Worte zu kommunizieren. Natürlich funktionierte es nicht und Johannes lachte ihn für jeden seiner trotzigen Versuche aus.

Irgendwann hatte er dieses Unterfangen aufgegeben und beobachtete, wie Hajo am anderen Ende der Schlucht ein paar Kletterbegeisterte sicherte. Sebastian hatte schon nach kurzer Zeit das Interesse daran verloren. Für seinen Geschmack war das eine zu einfache Tour. Das war kein wirkliches Klettern, bestenfalls Bergsteigen. Wenn man nicht unerwartet auf einem losen Stein abrutschte, war das Ganze völlig ungefährlich.

Genau in diesem Moment wurde es am Steilhang laut und Sebastian sah sich genötigt hinzusehen.

„Abgerutscht?“, fragte er Johannes. Der zuckte nur mit den Schultern. Aus dieser Entfernung war nicht viel zu erkennen. Hajo hielt die Sicherungsleine straff. Weiter oben hing jemand in den Seilen und klebte am Steilhang.

Sebastian sprang auf und lief zu Hajo. Es war Thorben, der da oben festhing. Ausgerechnet Thorben war so unglücklich in einen Spalt gerutscht, dass er sich nicht aus eigener Kraft herausziehen konnte und somit weder vorwärts noch rückwärts kam.

„Warum ziehst du ihn nicht rauf?“, fragte er Hajo.

Hajo wies mit einer Kopfbewegung auf einen Punkt über Thorben.

„Da scheint sich was gelöst zu haben. Das Seil hängt genauso fest wie er.“

Das war nicht ungefährlich, wie sie beide wussten. Sobald Thorben wieder mit vollem Gewicht im Seil hing, könnte sich das Hindernis lösen und nach unten stürzen. Dasselbe würde wohl passieren, sobald Hajo von der anderen Seite zu straff am Seil zog.

„Jemand muss da rauf?“

„Ohne Sicherung?“, Hajo schnaufte entrüstet. „Vergiss es!“

„Ne bessere Idee hast du ja wohl auch nicht“, murmelte Sebastian und sah sich nach Johannes um. Der stand bereits neben ihm.

„Also einmal nach oben für dich?“

Sebastian nickte stumm, während Johannes sich einen weiteren Sicherungsgurt schnappte.

„Du verstehst mich“, grinste Sebastian.

„Ich bin dein Bruder. Ist ja nicht das erste Mal, dass ich dich sichere. Wird ein Spaziergang für dich.“

„Sag das nicht zu laut. Erst mal abwarten, was das Problem da oben ist. Ok, bin fertig. Bereit?“

„Gehst du schräg hoch?“, hielt Johannes ihn auf.

„Ist vielleicht besser, dann kannst du uns nachher leichter sichern. Falls es nötig sein sollte.“

„Dann hast du aber weniger Seil“, gab er zu bedenken.

„Das passt schon“, blieb Sebastian zuversichtlich.

Johannes nickte und sucht die Wand nach der idealen Route ab.

„Alles klar“, sagte er, als er wusste, welchen Weg Sebastian wählen würde. „Dann los.“

Sebastian erklomm die ersten Meter ungesichert und legte die erste Sicherung erst auf drei Meter Höhe. Klick! Er war verdammt schnell. Zu schnell für Hajo. Die Zweite folgte auf etwa fünf Meter Höhe. Klick!

„Was denkt ihr, was ihr da tut?“, schimpfte Hajo nun hinter ihnen. „Sofort runter da!“

Klick!

Das war die dritte Sicherung. Johannes atmete erleichtert auf. Jetzt begann seine eigentliche Aufgabe. Sebastian war jetzt hoch genug, dass Johannes eine realistische Chance hatte, ihn rechtzeitig vor dem Boden abzufangen. Sebastian gönnte ihnen eine Pause und sah nach unten.

Da stand Hajo und starrte ihn mit offenem Mund an.

„Alle Achtung, ist der schnell!“, staunte Hajo.

„Deswegen ist er ja der Vorsteiger und nicht ich“, erklärte Johannes.

„Er weiß, was er da tut?“

„Zur Not geht er bis ganz nach oben“, grinste Johannes.

„Oh bitte nicht“, verleierte Hajo die Augen. „Wenn das eure Eltern herausfinden, bekomme ich ´nen Mordsärger.“

„Von denen?“, bezweifelte Johannes. „Bestimmt nicht!“

Sebastian hatte eine Art Plateau erreicht. Klettern war hier nicht mehr möglich. Er musste versuchen, den losen Sand zu erklimmen, ohne dass das Geröll ins Rutschen geriet. Dort unten stand Johannes. Der sich dann entscheiden müsste: weiter sichern oder ausweichen. Vermutlich war Thorben weiter oben etwas Ähnliches passiert. Der hing noch etwa zwei Meter über ihm und verfolgte gebannt, wie Sebastian sich ihm näherte.

„Er muss weiter hoch. Sollte er sich nicht erstmal um Thorbens Seil kümmern?“, fragte Hajo.

„Wozu? Schätze, er wird ihn bei mir mit ranklippern.“

„Was!?“, keuchte Hajo. „Wie willst du die beiden halten?“

„Werden ja wohl kaum beide gleichzeitig den Halt verlieren“, brummte Johannes. „Sebastian weiß, was er tut.“

Sebastian war bei Thorben angekommen und sprach kurz mit ihm. Was auch immer Sebastian ihm erzählt hatte, Thorben nickte.

Klick- Klack!

Thorben hing hinter Sebastian im Seil.

Klick.

Hajos Seil baumelte lose neben ihnen an der Felswand. Sebastian kletterte ein Stück nach oben und legte hier eine weitere Sicherung. Dann gab er Thorben das Zeichen, sich an dem Seil nach oben zu ziehen. Der brauchte einen zweiten Versuch, doch dann hing er frei im Seil und blickte nach oben zu Sebastian, der ihm irgendetwas erklärte.

Johannes verleierte die Augen.

„Jetzt lass dich doch einfach ab!“, fluchte er leise vor sich hin. „Ich wollte hier nicht den ganzen Abend verbringen.“

Hajo klopfte ihm auf die Schulter: „Soll ich übernehmen?“

„Lass mal. Ich kenne den Irren da oben besser als du.“

Hajo sah in verwirrt an, dann verstand er und nickte bedächtig.

„Ist nicht das erste Mal, dass er so ´ne Nummer abzieht?“

„Sebastian? Nö. Für seine Verhältnisse ist alles im grünen Bereich.“

Thorben begann sich vorsichtig abzulassen. Wirklich langsam. Zentimeter für Zentimeter. Johannes stöhnte entnervt auf.

„Habt ihr sowas überhaupt mal geübt?“, fragte er Hajo.

„Klar. Aber du weißt doch, wie es ist. Wenn es ernst wird, sind alle Daten gelöscht.“

„Komm schon Thorben!“, rief Hajo nach oben. „Gib mal ein bisschen mehr Seil, wir essen zeitig!“

Johannes kicherte und stellte erleichtert fest, dass Thorben sich tatsächlich etwas schneller abließ. Als er sich zum ersten Mal von der Wand abstieß, klang ein anerkennendes Raunen aus dem umstehenden Publikum.

Johannes hatte ihre Zuschauer bis eben völlig ausgeblendet. Wie viele von ihnen waren wohl noch da und verfolgten ihre Aktion? Er sah zu Sebastian, der entspannt an der letzten Sicherung hockte und Thorben seinerseits absicherte. Es waren wohl ein paar mehr geblieben, so selbstgefällig wie der in seinem Seil hing. Johannes musste schmunzeln.

Endlich erreichte Thorben den Boden und klickte sich aus. Jetzt würde sich Sebastian gleich in das Seil hängen. Oder?

Nein.

Natürlich nicht. Der spazierte weiter die Wand hinauf. Typisch. Ihre Rettungsaktion war vorbei, jetzt ging es um den Spaß. Wohin wollte er? Zum Seil? Ganz nach oben? Oder einfach nur zeigen, wie es geht?

Sebastian zog sich kraftvoll nach oben und legte bedächtig Sicherung um Sicherung. Die letzte direkt unter einem Überhang. Johannes ahnte, was folgen würde. Hajo würde diesmal zu Recht ausfallend werden und wüste Beschimpfungen auf Sebastian loslassen.

Sebastian klebte wie eine Spinne an dem Felsen. Johannes war es ein Rätsel, wie er in dieser Position überhaupt noch Halt finden konnte. Aber das war eben Sebastian, der kam überall hoch. Er hatte die Spitze erreicht und griff mit einer Hand über den Rand. Als er die zweite in Position hatte, ließ er sich langsam ab und hing nun knapp hundert Meter über dem Abgrund. Sein einziger Halt waren seine beiden Hände. Die einzige Sicherung war das Seil, das Johannes in seinen Händen hielt.

Hinter Johannes herrschte Totenstille.

‚Jetzt mach nicht so eine Show und zieh dich endlich hoch!‘, dachte er. ‚Ich habe keine Lust, dich die komplette Stecke abzulassen.‘

Langsam zog er sich nach oben und kletterte auf den Vorsprung. Er blieb, natürlich, direkt am Abgrund stehen und sah nach unten. Johannes schnaufte wütend, als er sein selbstgefälliges Grinsen sah. Dann ging Sebastian in die Richtung, in der er das alte Seil vermutete und verschwand aus ihrem Blickfeld.

Wenig später surrte es nach unten. Kein Steinschlag folgte. Sebastian kam zurück auf den Vorsprung und suchte Johannes.

Was hatte er nun schon wieder vor? Sollte er sich nicht eine einfachere Route für den Abstieg suchen? Sebastian zeigte mit der Hand auf sich und dann ins Tal.

‚Oh bitte nicht!‘ – „Hajo!“, rief Johannes atemlos. „Ich brauche dich zum Sichern!“

Hajo stand bereits neben ihm und klickte sich wortlos das Seil ein.

Unmittelbar darauf ertönte Sebastians Freudenschrei, als er sich in die Luft schwang und kurz darauf ihr gemeinsames Aufstöhnen, als das Sicherungsseil ihn am weiteren freien Fall hinderte.

Das war wieder mal typisch Sebastian. Der hatte seinen Spaß und den anderen stand der Schweiß auf der Stirn und tropfte ihnen in die Augen. Johannes schielte zu Hajo und bat stumm um dessen Zustimmung. Der nickte verständnisvoll, also nahm er die Hände vom Seil und ließ Hajo den Rest machen. Nachdem Sebastian unten angekommen war, klickte er sich aus und ging ohne ein Wort zurück ins Camp. Während er den Pfad nach oben ging, sah er wie Hajo Sebastian eine Standpauke abhielt.

‚Als ob das bei dem irgendwas bringen würde!‘, schmollte er.

Patrick gesellte sich auf dem Weg zu ihm. Er spürte, dass Johannes gerade nicht gut auf die eben gezeigte Aktion zu sprechen war und lief schweigend neben ihm her. Er konnte sich nur schwer vorstellen, dass Johannes in seiner Verfassung in das überfüllte Camp zurückwollte und drängte ihn deshalb zur Feuerlichtung.

„Alles ok?“, fragte Patrick, nachdem er sich neben ihn gesetzt hatte.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752142471
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
Fluss Geheimnis Geist Bibliothek Abenteuer Entführung Vogel Mystik Wald Feriencamp Kinderbuch Jugendbuch

Autor

  • C. Sonntag (Autor:in)

Die zweifache Mutter lebt und arbeitet im Herzen Deutschlands. In ihrer freien Zeit widmet sie sich ihren Romanhelden und entführt ihre Leser in eine fantasievolle Welt voller Mystik und Abenteuer. Ihr Debütroman erschien 2018.
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Titel: Das Geheimnis der alten Lady