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Absolut ins Herz

von Mathilda Grace (Autor:in)
230 Seiten
Reihe: Boston Hearts, Band 3

Zusammenfassung

Zwei seiner Brüder sind vom Markt und Kade MacDonald in heller Aufregung, denn er will auf keinen Fall die Nummer drei werden. Darum wird er sich auch tunlichst von dem neuen Hausmeister im LGBT-Zentrum seiner Väter fernhalten, denn Joe Travis ist genau das, was sich Kade unter seinem ganz persönlichen Traummann vorstellt. Höflich, anständig, gut aussehend, liebt Kinder – und er ist hinter Kade her, wie der Teufel hinter der armen Seele.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

Das »Boston Hearts« ist ein privat geführtes LGBT-Zentrum für obdachlose und anderweitig gefährdete Jugendliche in Boston, eröffnet von dem Anwalt Maximilian Endercott vor über fünfundzwanzig Jahren. Heute betreiben er und sein Ehemann Elias, der gleichzeitig Arzt des Zentrums ist, das »Bostons Hearts« gemeinsam und haben seit der Gründung nach und nach acht teils schwer missbrauchte und traumatisierte Jugendliche als Ziehkinder angenommen und sie mit viel Liebe und Geduld großgezogen.

 

Diese Männer erzählen in der »Boston Hearts Reihe« ihre Geschichten.

 

 

Zwei seiner Brüder sind vom Markt und Kade MacDonald in heller Aufregung, denn er will auf keinen Fall die Nummer drei werden. Darum wird er sich auch tunlichst von dem neuen Hausmeister im LGBT-Zentrum seiner Väter fernhalten, denn Joe Travis ist genau das, was sich Kade unter seinem ganz persönlichen Traummann vorstellt. Höflich, anständig, gut aussehend, liebt Kinder – und er ist hinter Kade her, wie der Teufel hinter der armen Seele.

 

 

Prolog

Kade

 

 

 

 

Als sie ihn fanden, war sein Bruder bereits tot und er selbst stand kurz davor ihm zu folgen.

Eine Stunde lang kämpften Sanitäter und ein sich zufällig vor Ort befindlicher Chirurg um ihrer beider Leben, und am Ende holten sie sowohl ihn als auch seinen Zwilling zurück in eine Welt, die für sie bislang nur aus einem dunklen, feuchten Keller und einem zugigen Dachboden bestanden hatte.

Sie hatten keine Namen, keinen Geburtstag, keine Eltern.

Niemand hatte gewusst, dass es sie gab.

Niemand hatte nach ihnen gesucht.

Kinder des Teufels nannte sie der Mann mit den dunklen Augen und wirren Haaren, den andere Männer in Uniform aus dem Haus brachten und in einen Wagen setzten.

Sie sahen ihn nie wieder.

Aber sie hörten das Geflüster. Von einer toten Frau oben im Bett, bereits skelettiert und zurechtgemacht wie eine Braut am Tag ihrer Hochzeit. Sie hörten, dass diese Frau ihre Mutter war, gestorben am Tag ihrer Geburt, und dass ihr psychisch kranker Vater, jener Mann mit den wirren Haaren, über ihren Verlust, den Verstand verloren und sie eingesperrt hatte, unfähig, sich richtig um sie zu kümmern, aber auch unfähig, jemandem zu sagen, dass sie existierten.

Sie sahen die mitleidigen Blicke, die sie allerdings erst Jahre später als mitleidig begriffen.

Sie sahen das Kopfschütteln und die Ratlosigkeit, wie man mit ihnen verfahren sollte.

Sie sahen die Hilflosigkeit in den Gesichtern der Menschen, die sich jetzt um sie kümmern sollten, und die nicht einmal in der Lage waren, ihnen zu erklären, warum sie nicht mehr auf den Dachboden oder in den Keller zurück durften. Weg von all dem grellen Licht und den störenden Geräuschen, die seinem Bruder so sehr in den Augen und den Ohren wehtaten, dass er immerzu weinte, sobald sie ihm keine Medikamente gaben, die ihn schlafen ließen.

Aber dann kamen sie.

Elias und Maximilian Endercott.

Sie löschten das Licht an der Decke, zogen die Vorhänge an den Fenstern zu und ließen die Rollos hinunter, bevor sie zwei kleine Leuchten einschalteten, die Sterne an die Decke warfen, und ihnen danach beibrachten, ein Kartenspiel zu spielen, um ihnen am Ende des Tages eigene Namen zu geben.

Kade und Marc MacDonald.

MacDonald, nach ihrer verstorbenen Mutter.

Kade – der starke Kämpfer.

Marc – die sanfte Seele.

Eine Beschreibung, die Kade gefiel, denn er hatte seit jeher auf seinen Bruder aufgepasst, der jetzt weniger weinte und von Tag zu Tag mehr lächelte, sobald Elias und Maximilian sie erst zu zweit und schließlich mit diesen beiden Jungen besuchten, die eines Tages ihre neuen Brüder werden würden.

Mit zwölf Jahren – zumindest schätzten die Ärzte ihr Alter auf diese Zahl – waren sie Gespenster ohne Namen.

Mit dreizehn lernten sie, dass Licht und Geräusche normal waren und ihnen keine Angst machen mussten.

Mit vierzehn versuchten ihre coolen Brüder ihnen, begleitet von viel Gelächter und dem stolzen Grinsen ihrer neuen Väter, das Fahrradfahren beizubringen.

Mit zwanzig schloss Kade endlich die Schule ab, unter dem Jubel seiner klatschenden Brüder, und küsste noch in derselben Nacht zum ersten Mal einen anderen Mann, den sein Bruder Cole ein paar Wochen später verprügelte, als Kade herausfand, dass sein Freund nur versuchte, ihn ins Bett zu bekommen, um eine Wette zu gewinnen.

Mit zweiundzwanzig wusste er immer noch nicht, was er aus seinem Leben machen sollte, also schlugen ihm seine Väter vor, sich versuchshalber ein bisschen mit der Verwaltung und der Organisation des »Boston Hearts« zu beschäftigen.

Kade erkannte schnell, dass ihm beides lag.

Fünf Jahre später schloss er erfolgreich sein BWL-Studium ab und nahm den Job an, den Maximilian ihm anbot, um ganz offiziell für seine Väter zu arbeiten und sich um all die kleinen und größeren Probleme zu kümmern, die es nun einmal so mit sich brachte, wenn man ein LGBT-Zentrum für obdachlose und benachteiligte Kinder und junge Erwachsene führte.

 

 

Kapitel 1

Kade

 

 

 

 

Kade MacDonald war auf der Flucht.

Eigentlich stimmte das nicht mal, schließlich konnte er im »Boston Hearts« so schnell durch die Flure laufen, wie es ihm beliebte, immerhin arbeitete er hier. Andererseits war es schon ein wenig auffällig, wie er sich in unbeleuchteten Nischen und Ecken herumdrückte, um möglichst ungesehen in sein Büro zu kommen, wo ein Berg Arbeit auf ihn wartete.

Ein heiteres Lachen ließ ihn sich nur noch tiefer in die enge Nische drücken, in die er zuvor mit dem auf lautlos gestellten Handy in der einen und einer Kaffeetasse in seiner anderen Hand gehuscht war, um Joe Travis, dem neuen Hausmeister im LGBT-Zentrum seiner Väter, aus dem Weg zu gehen, der seit seiner Einstellung hinter ihm her war, wie der berühmte Teufel hinter der unschuldigen Seele.

Coles lässige Worte, nach denen er in schallendes Gelächter ausgebrochen war. Und weil sein älterer Bruder ihn schon vor zwei Tagen auf seiner letzten Flucht vor Travis erwischt hatte, dürfte auch der Rest ihrer großen, neugierigen und immer zu Klatsch aufgelegten Familie mittlerweile Bescheid wissen, dass er einen Verehrer hatte.

Und genau das war leider Kades Problem. Er wollte keinen Verehrer. Er wollte auch keinen Freund. Schon gar keinen sexy Hausmeister, der in seiner Latzhose einen so knackigen Arsch vorzuweisen hatte, dass er Kade seit Wochen feuchte Träume bescherte. Mister Nervensäge, Joe Travis, sah umwerfend aus, wusste das und versuchte jeden Tag aufs Neue, ihn im Haus zu erwischen und auf ein Date einzuladen.

Nicht, dass Kade grundsätzlich etwas gegen Dates hatte, im Gegenteil. Ein paar hatte er in seinem Leben schon gehabt und er hatte auch nicht abstinent gelebt oder jedes Mal die goldene Regel, erst drei Dates und dann Sex, befolgt. Kade mochte Sex, aber er hielt es lieber unverbindlich. Vor allem seit er Dreißig geworden war und festgestellt hatte, dass ihm die Arbeit hier im Zentrum, mit den Kids, die seine Hilfe brauchten, viel mehr brachte, als eine Nacht schweißtreibender Sex. Und wenn er es auf einen Orgasmus abgesehen hatte, nun, den konnte er auch allein haben. Dafür brauchte es keinen anderen Mann.

Jedenfalls keinen in Fleisch und Blut, korrigierte sich Kade in Gedanken, denn die nächtliche, sexy Traumversion reichte ihm in seinem Bett derzeit völlig.

Außerdem gab es da Marc.

Sein sanfter Zwilling, der in seinem Lehrerjob hier im Haus seine Erfüllung gefunden hatte, und obwohl Kade das wusste, fiel es ihm immer noch unglaublich schwer, seinen Bruder sein eigenes Leben leben zu lassen. Vor allem seit sie nicht mehr in dem hübschen Zimmer bei ihren Vätern lebten, sondern jeder für sich ein eigenes Apartment bewohnten. Er hatte von Geburt an auf Marc aufgepasst und dass der ihn mittlerweile nicht mehr brauchte, damit kam Kade nicht sehr gut zurecht. Eines Tages würde sich das bestimmt ändern, aber momentan fühlte sich Marcs Selbstständigkeit für ihn wie ein Verlust an.

»Er ist in den Garten raus.«

Kade zuckte ertappt zusammen und lugte aus der Nische, vor der ein sehr amüsierter Derrick stand, einen großen Karton in den Händen haltend, der bis zum Rand mit Taschenbüchern und Hardcoverausgaben vollgepackt war. Die neue Bestellung für die Bibliothek war pünktlich eingetroffen. Sehr gut.

»Sicher?«, fragte er misstrauisch und Derrick lachte.

»Ja, ganz sicher. Aber ich bezweifle, dass er bei dieser Kälte lange draußen bleibt. Also sieh zu, dass du schnell in dein Büro kommst und es von innen verriegelst und verrammelst. Wobei ich ihm sogar zutraue, dass er von außen über den Balkon bei dir einsteigt. Leg dir am besten einen vierbeinigen Bodyguard mit scharfen Zähnen zu, der ihm in den Hintern beißt, wenn er zu lästig wird.«

»Joe ist nicht lästig, er ist nur … hartnäckig.« Kade deutete mit dem Kopf auf den Karton und ignorierte den Spruch mit dem Bodyguard, weil seine Familie seit Neuestem auf Hunde stand, nachdem Dare seiner kleinen Lilly einen tollpatschigen Dalmatiner-Welpen namens Bubbles geschenkt hatte. »Hast du mir die Rechnung geschickt?«

Derrick schmunzelte. »Die Rechnung liegt längst in deinem E-Mail-Postfach. Übrigens, er ist nicht nur hartnäckig, er ist bis über beide Ohren in dich verliebt, Kade.«

»Ja, ja, ja«, maulte er und machte sich an Derrick vorbei aus dem Staub, dessen heiteres Glucksen ihm folgte, bis er um die nächste Ecke bog, nachdem er einen genauen Blick in den Flur geworfen hatte, um sicherzugehen, dass der auch wirklich leer war, und dann schnell in sein Büro huschte.

Erleichtert aufatmend streckte er sich und stellte die Tasse ab, um einen raschen Blick aufs Handy zu werfen, ob es in der WhatsApp-Gruppe, die sie für alle Kinder im »Boston Hearts« eingerichtet hatten, etwas Neues gab. Da das jedoch nicht der Fall war, setzte er sich an seinen Schreibtisch und trank einen Schluck Kaffee.

Draußen fegte ein eisiger Wind pfeifend um das Haus und Kade schauderte unwillkürlich, als er sich daran erinnerte, wie er vorhin sein Apartmenthaus verlassen hatte. Das Jahr schien wirklich Rekorde brechen zu wollen. Erst der lange Winter bis in den Mai und nach einem kurzen Sommer hatte es bereits im November das erste Mal geschneit und seither irgendwie auch nicht mehr aufgehört. Was ihr ach so toller Präsident natürlich seit Beginn der letzten, heißen Wahlkampfphase dazu genutzt hatte, sich im TV lang und breit darüber auszulassen, wo denn der angebliche Klimawandel bliebe, der die Welt mit Hitze und Dürre bedrohte.

Die Dummheit dieses Mannes war erschreckend, aber Kade hatte weitaus Besseres zu tun, als sich weiter Gedanken darum zu machen. Rechnungen bezahlen zum Beispiel. Und dann die Vorratsliste für die Küche in Angriff zu nehmen, denn für die anstehende Weihnachtszeit brauchten sie oft das Doppelte an Vorräten von Lebensmitteln wie Mehl, Milch, Eier, Margarine, Kakao oder Zucker. In den folgenden Wochen würden hier im »Boston Hearts« Unmengen an Keksen und andere Leckereien gebacken werden, von dem alljährlichen Weihnachtsessen mal ganz zu schweigen.

Ein kaum hörbares Klopfen an der Tür lenkte ihn von der Kaffeetasse ab, nach der Kade gerade hatte greifen wollen, und er sah zur Tür. »Ja?«

Die Tür wurde ein Stück aufgeschoben, doch es dauerte ein wenig, bis der feingliedrigen Hand, die sich dann langsam um das dunkle Holz legte, ein Körper folgte, der genauso schlank und zierlich war wie die Hand. Kade warf seinem Besucher ein einladendes Lächeln zu.

»Hey, Brody.«

»Hey.«

Mehr sagte der schüchterne Junge vorerst nicht, aber daran hatte Kade sich bereits gewöhnt. Brody Cooper war ihr letzter Neuzugang im Herbst gewesen und dass er überhaupt mit ihm sprach, war für alle im Haus ein Riesenerfolg, denn Brody kam aus schlimmen Verhältnissen. Das traf zwar auf alle Kinder im »Boston Hearts« zu, aber Kade konnte sich nicht erinnern, dass sie vor Brody schon mal jemanden aufgenommen hatten, der von seinem eigenen Vater wie ein wildes Tier in einem zugigen Schuppen gehalten worden war. Maximilian versuchte seitdem herauszufinden, wie alt Brody war und ob er noch anderweitig Familie hatte, denn Brodys Vater hatte sich mit einem Revolver das Leben genommen, aber vorher wenigstens genug Anstand besessen, den Notruf zu wählen, damit Brody nicht starb, denn von der Eisenkette um seinen Hals hätte sich der Junge niemals selbst befreien können.

Drei Monate war das nun her und alle im Haus freuten sich über jeden noch so kleinen Fortschritt, den Brody machte. Und sei es nur die Tatsache, dass er endlich in seinem Bett schlief, statt darunter auf dem Boden, wie in den ersten Wochen, wo er offenbar in jeder Minute damit gerechnet hatte, wieder zurück in den Schuppen gebracht zu werden.

»Schokolade.«

Kade gluckste leise und zog die unterste Schublade seines Schreibtischs auf, wo er seit einiger Zeit immer Schokolade für Brody aufbewahrte, denn nach der war er verrückt. Niemand konnte sagen, wieso Brody ausgerechnet ihn als Bezugsperson ausgesucht hatte, aber Kade mochte den Jungen und er mochte Schokolade. Es fiel ihm daher nicht schwer, sie regelmäßig mit Brody zu teilen, der den ihm zugeworfenen Schokoriegel dann mit einem begeisterten Laut auffing, ehe er das Büro genauso zurückhaltend wieder verließ, wie er es zuvor betreten hatte.

Schmunzelnd schloss er die Schublade wieder, griff nach seinem Kaffee und gönnte sich zwei Schlucke, um sich danach endlich den offenen Rechnungen zuzuwenden. Als die bezahlt waren, war der restliche Kaffee kalt und Kade überlegt, sich in der Küche frischen zu besorgen.

Stattdessen wanderte sein Blick erneut zum Fenster, das im unteren Bereich ein paar Zentimeter mit Schnee bedeckt war. Der eisige Wind fegte ihn immer wieder mit neuen Böen heran, was zwar wunderschön aussah, aber auch für Probleme sorgte, denn mittlerweile mussten alle Wege um das »Boston Hearts« herum jeden Tag mehrmals gefegt und eisfrei gemacht werden, damit sich niemand aus Versehen verletzte. Und das war eine Mammutaufgabe, die Joe nicht alleine bewältigen konnte. Aus diesem Grund hatten sie einen Winterdienst engagiert, der sich um die großen Wege und Zufahrten kümmerte, während Joe mit den älteren Kids im Haus dafür sorgte, dass alle anderen Wege begehbar waren.

Bereits in dreieinhalb Wochen war Weihnachten und sollte es bis dahin so weiter schneien, bestand durchaus die Gefahr, dass sie hier draußen völlig eingeschneit wurden. Nicht zum ersten Mal, denn Boston hatte schon einige harte Winter hinter sich. Sie würden auch den diesjährigen überstehen und Kade hätte seinen Schreibtisch längst hinter sich gelassen, um unten im Garten einen Schneemann zu bauen, so wie er es früher mit Begeisterung getan hatte, würde er nicht in Arbeit ersticken.

Sein Blick fiel unwillkürlich auf den kleinen Schneemann mit einem gestrickten Schal, der seit dem ersten Advent neben seinem künstlichen Tischweihnachtsbaum auf der rechten Ecke des Schreibtischs stand. Er wusste nicht, wem er die niedliche Figur aus Porzellan zu verdanken hatte, hatte aber längst einen gewissen Hausmeister in Verdacht, denn sein Büro stand Tag und Nacht jedem im Haus offen und es war zudem der einzige Ort im Zentrum, an dem Joe Travis sich benahm, wie sich ein Hausmeister zu benehmen hatte. Hier gab es keine Witze, kein freches Grinsen, keine Einladungen zu Dates.

Es kam Kade immer vor, als wäre sein Büro so eine Art von neutraler Zone und er war insgeheim froh darüber. Wie hätte er hier arbeiten sollen, wenn er ständig Gefahr lief, von einem verliebten Hausmeister überfallen zu werden? Na gut, so nötig hatte es Joe Travis mit Sicherheit nicht, dass er ihn kurzerhand überfallen würde, und um ehrlich zu sein, war sich Kade auch nicht sicher, ob er sich wirklich dagegen wehren würde, denn Joe Travis war ein heißer Typ. Vor allem in dieser Latzhose, die er zur Arbeit trug und in deren gefühlt tausenden von Taschen er offenbar einen ganzen Werkzeugkoffer unterbrachte, weil er immer das richtige Werkzeug zur Hand hatte, sobald es darum ging, ein lockeres Scharnier zu reparieren, einen rostigen Nagel für ein Bild zu ersetzen oder die Rollleiter in der Bibliothek zu retten, weil Derrick das alte Ding toll fand und auf keinen Fall eine neue kaufen wollte.

Dabei hatte das »Boston Hearts« ein ausreichendes Budget für derartige Dinge, doch seit Joe bei ihnen arbeitete, blieb das jeden Monat zu einem Drittel unangetastet, denn der Kerl war ein Genie im handwerklichen Bereich und seine Väter liebten ihn dafür genauso wie die Kids, weil in diesem Haus wirklich kein Tag verging, an dem nicht irgendwo etwas repariert oder ersetzt werden musste.

So wie der Schwibbogen auf seinem Fensterbrett, erinnerte sich Kade und warf einen Blick auf das Corpus Delicti, das sich in diesem Jahr einfach nicht hatte einschalten lassen. Kade war kurz davor gewesen, den Bogen zu entsorgen, bis Joe vor einer Woche plötzlich in seinem Büro aufgetaucht war und nach fünf Minuten »Hm.« und »Ah.« Geräuschen den Wackelkontakt am Anschlussstück repariert hatte. Was immer das auch bedeutete. Kade war zwar ein Genie, wenn es um Zahlen, Warenbestände und Papierkram im Allgemeinen ging, aber von Technik oder Reparaturen hatte er keine Ahnung.

Das war Adrians Metier, den er schon ein paar Mal mit Joe fachsimpelnd im Haus oder in Joes Büro, das gleichzeitig auch eine kleine Werkstatt war, vorgefunden hatte. Anfangs war er deswegen furchtbar misstrauisch gewesen, vor allem seit jeder in ihrer riesigen Familie wusste, dass sein Großvater erst Cole und anschließend auch Dare verkuppelt hatte, aber seit Joe für das »Boston Hearts« arbeitete, hatte es keinen entsprechenden Spruch in diese Richtung gegeben.

Was andererseits dann auch schon wieder verdächtig war. Nicht, dass sein Großvater es je vergessen würde, ihn daran zu erinnern, dass er mit Mitte Dreißig längst alt genug war, um sesshaft zu werden. Im Gegenteil. Solche Sprüche durfte er sich mindestens einmal wöchentlich anhören, was Kade wiederum mit ebenso schöner Regelmäßigkeit einfach ignorierte und sich stattdessen gerne zum Essen einladen ließ, sobald ihm Emma fehlte oder er zu faul zum Kochen war.

Der Hausanschluss begann zu klingeln und Kade riss sich vom Anblick des Schwibbogens los. »Boston Hearts, Kade am Apparat. Was kann ich für Sie tun?«

»Sehr freundlich, Bursche. Anscheinend habe ich bei deiner Erziehung ja doch nicht alles falsch gemacht.«

Kade lachte leise. »Hallo, Grandpa.«

»Hallo, mein Junge. Ich wollte nur mal hören, wie es dir so geht, aber wie ich dich kenne, sitzt du an diesem winterlichen Dienstagmorgen bereits seit Stunden am Schreibtisch, statt das Wetter auszunutzen und einen Schneemann zu bauen, so wie früher. Ich kann mich noch gut daran erinnern. Du warst ein niedlicher Bengel und hast immer so laut gekreischt, dass mir die Ohren klingelten, während Cole dir Schnee in den Kragen gestopft hat. Hach, ich vermisse die alten Zeiten.«

Kade eindeutig nicht, immerhin war er kein dünner Hering mehr, der nicht einmal gewusst hatte, was Schnee war, bis Cole und Dare es Marc und ihm mit einer Schneeballschlacht ein für allemal gezeigt hatten. Auf die Grippe hinterher hätte er zwar verzichten können, aber die zwei Wochen, in denen sich Marc danach um ihn gekümmert hatte, hatte seinen Bruder und ihn nur noch enger zusammengeschweißt.

»Grandpa ...«

»Und?«, unterbrach der ihn feixend. »Hast du seit deinem letzten Besuch bei uns endlich deinen zukünftigen Ehemann gefunden und willst ihn mir vorstellen?«

Als hätte er es nicht geahnt. Kade wusste nicht, ob er lachen oder lieber den Kopf auf die Tischplatte schlagen sollte. Aber da ersteres ihm vermutlich ein Paar von Adrian lang gezogene Ohren einbrachte, und zweiteres ziemlich wehtat, entschied er sich für einen anderen Weg, der zumindest bei ihm gleich für blendende Laune sorgen würde.

»Mein letzter Besuch bei euch ist gerade mal zwei Tage her, aber selbst wenn es wirklich so wäre, Grandpa, würde ich ihn dir garantiert nicht vorstellen.«

»Und wieso nicht, bitteschön?«, fragte Adrian prompt und hörbar entrüstet. »Als dein Großvater ist es ja wohl mein gutes Recht und natürlich auch meine geliebte Pflicht sicherzugehen, dass du einen guten Mann findest, oder etwa nicht? Wenn ich mich da auf Elias und Maximilian verlasse, die euch Jungs mit Sicherheit sogar tätowierte Rocker als Partner erlauben wür...« Adrian brach ab und schnappte nach Luft. »Oh mein Gott, das ist es, nicht wahr? Du heiratest einen Rocker. Und ihr wollt mir das alle nicht erzählen, was natürlich eine bodenlose Frechheit ist. Ein Rocker. Es ist unfassbar. Wie kannst du nur? Du machst deinem Familiennamen keine Ehre, Kade Endercott.«

»MacDonald«, korrigierte Kade trocken, da er wusste, dass das Adrian erst so richtig in Fahrt bringen würde.

»Papperlapapp«, grollte sein Großvater und Kade wäre vor unterdrücktem Gelächter beinahe erstickt. »Sag mir bitte, dass das nicht wahr ist. Kein Rocker. Wenn ich das Emma erzählen muss, lege ich dich übers Knie. Warum kannst du nicht einen nerdigen Bücherwurm heiraten wie Cole oder einen begabten Handwerker wie Dare? Nimm dir ein Beispiel an Maximilian, der hat sich einen Arzt geangelt. Stattdessen willst du dir einen Rocker ins Ehebett legen? Wie viele Tattoos hat der Mann? Vor allem, wo auf seinem Körper hat er sie? Ich habe mal gesehen, dass es Männer gibt, die sich sogar ihren … na du weißt schon, mit Tinte verschandeln. Wobei ich mich frage, wie das möglich ist, ohne dass sie dabei in Ohnmacht fallen. Nehmen die vorher eine Dosis Viagra und hoffen, dass er stehenbleibt, während sie besinnungslos auf dem Tätowierstuhl liegen?«

»Ich frage mich eher, was du dir angesehen hast, um solche Sachen zu wissen, Grandpa«, murmelte Kade und verbiss sich ein Lachen, denn er kannte da ein gewisses Filmchen aus dem Erwachsenenbereich, mit einem sexy Darsteller, der sich seinen kompletten Penis tätowiert hatte. Was in diesem Film ganz nett anzusehen gewesen war, gar keine Frage, aber im realen Leben wollte er lieber nicht genauer darüber nachdenken, wie dieses Tattoo zustande gekommen war.

»Was hast du gesagt?«, fragte sein Großvater.

Nichts, nichts, entschied Kade und lachte in sich hinein, um sich gleich darauf zu räuspern. »Ich wollte von dir wissen, was du gegen Rocker hast, Grandpa? Blake ist sogar ein ehemaliger Knastbruder und er darf Dare trotzdem heiraten.«

»Dein zukünftiger Schwager ist ein guter Mann, auf den ich nichts kommen lasse«, grollte Adrian wie erwartet und da hielt Kade sein Lachen nicht länger zurück. »Frecher Bursche. Dein Bruder hat einen wunderbaren Verlobten und ein tolles Mädel gleich dazu bekommen, nimm dir daran ein Beispiel.«

»Oh ja, und du hast ihn Dare ausgesucht.«

»Und? Hast du bisher eine Beschwerde von deinem Bruder gehört? Nein. Ich sollte mich endlich auf die Suche nach einem passenden Ehemann für dich machen, Kade, sonst wird das nie was werden, bevor du Vierzig bist … Da fällt mir ein, ich habe neulich einen alten Freund getroffen, der einen Enkel hat ...«

»Vergiss es, Grandpa. Du weißt, was Elias davon hält«, fuhr Kade Adrian schaudernd über den Mund, da er auf keinen Fall verheiratet werden wollte. Schon gar nicht mit dem Enkel eines alten Freundes seines Großvaters. Der bestimmt ein netter Kerl war, er wollte diesem Unbekannten da nichts unterstellen, aber dennoch kam das nicht infrage.

»Von dem habe ich bislang auch keine Beschwerde gehört, was seine zukünftigen Schwiegersöhne angeht«, erinnerte ihn Adrian spitz und Kade stöhnte. »Jetzt tu nicht so theatralisch. Der junge Mann, von dem ich rede, passt mit Sicherheit besser zu dir als dieser Rocker, mit dem du hoffentlich noch nicht die Bettfedern quietschen lässt. Ich verlange ja nicht, dass ihr erst heiraten müsst, bevor ihr schweißtreibenden Sex haben könnt, aber ein wenig Anstand wäre ...«

»Grandpa, es gibt keinen Rocker«, erklärte Kade belustigt, auch wenn das wahrscheinlich nichts nützen würde.

»Ich werde mich bei Maximilian über dich beschweren.«

Ja, genau so hatte er sich das gedacht, und nach einem »Ich hab dich lieb, Grandpa.« legte Kade lachend auf, weil er sich endlich einen frischen Kaffee holen wollte, da er es irgendwie nicht auf die Reihe bekam, sich eine eigene Kaffeemaschine in sein Büro zu stellen, die ihm jeden Tag Unmengen an Wegen ersparen würde. Aber andererseits ersparte ihm die ständige Lauferei die Treppen rauf und runter das Sportprogramm, und nirgends bekam man so leckeren Kaffee wie in der Küche. Von dem Essen, das dort ständig zur Selbstbedienung bereit stand, weil bei der Menge Kinder im Haus immer eines Hunger hatte, gar nicht zu reden.

Mit einer Kaffeetasse in einer und einem Teller mit belegten Sandwichs in seiner anderen Hand, betrat Kade wenig später wieder sein Büro, als das Telefon auf dem Schreibtisch erneut zu klingeln begann. Das konnte doch nur einer sein.

»Ja?«, nahm er den Anruf entgegen, nachdem er den Teller und die Tasse abgestellt hatte und zur Balkontür getreten war, um einen Blick in die glitzernde Winterlandschaft zu werfen.

Es war ein wunderschöner Anblick und er wurde noch ein bisschen besser, als Kade Joe Travis entdeckte, der sich gerade mit einer Schneefräse über die große Terrasse hermachte. Dick eingepackt, mit Handschuhen, Mütze und einem Schal in dem gleichen Muster, wie der Schneemann auf seinem Schreibtisch ihn um den Hals trug, arbeitete er sich schnell und effizient in Richtung Treppe vor, für die schon ein Besen bereitstand. Kade seufzte leise, als Joe stoppte und sich vorbeugte, um etwas an der Fräse einzustellen. Gott, dieser Hintern.

»Bewunderst du die Aussicht?«

Kade fuhr auf dem Fuße herum und wurde rot, als er Marc an der Tür stehen sah, während sein Vater Maximilian ihm ins Ohr lachte, was ihn wieder daran erinnerte, dass er das Telefon in der Hand hatte.

»Äh … Kann ich dich zurückrufen, Dad? Marc ist hier.«

»Natürlich, mein Junge.«

Verflixt, sein Vater wusste etwas. Wahrscheinlich wusste er nicht, was er wusste, aber dass etwas im Busch war, das wusste Maximilian jetzt definitiv und wahrscheinlich würde er später alles versuchen, um ihm ein paar Details zu entlocken. Nicht, dass er vorhatte, sie seinem Vater zu geben. Es ging niemanden etwas an, dass er Joe Travis' Hintern heiß fand. Abgesehen von seinem Bruder vielleicht, denn Marc würde niemandem etwas erzählen, wenn er ihn darum bat.

»Hast du nicht Unterricht?«, fragte Kade nach einem Blick auf die Uhr, stellte das Telefon in die Station und grinste schief, als sein Zwilling leise lachte und dann ungeniert hinter seinem Schreibtisch Platz nahm, um sich ein Sandwich zu stibitzen. »Hey, das ist mein Frühstück, du Dieb.«

»Ich war spät dran heute früh«, nuschelte Marc mit vollem Mund und Kade verdrehte die Augen, ehe er sich kurzerhand auf die Schreibtischkante setzte und sich das zweite Sandwich nahm, bevor sein Bruder ihm das ebenfalls klaute.

»Kau runter, Blödmann. Und schling nicht so.«

Er lächelte, als Marc zu ihm hoch blinzelte, weil er wusste, dass die Ermahnung umsonst war. Marc wusste, dass sie nicht mehr hungern mussten, aber die Angst davor war leider so tief in ihm verwurzelt, dass er sie wahrscheinlich niemals ablegen würde. Kade hatte selbst Tage, vor allem wenn er mal wieder nicht dazu gekommen war einzukaufen, an denen er sich aus der Küche im Zentrum bediente und viel zu viel mitnahm, aus einer vollkommen irrationalen Angst heraus, dass am nächsten Tag nichts mehr da war. Aber dank der immer geduldigen und vor allem erfahrenen Unterstützung von Sean Beaumont, dem langjährigen Psychologen hier im »Boston Hearts«, waren die Anfälle, die jedes Mal mit verrückten Hamsterkäufen endeten, im Laufe der Jahre selten geworden und dafür war Kade dem Mann unglaublich dankbar.

»Brody ist unten«, erklärte sein Bruder, als er aufgegessen hatte, und zwinkerte ihm grinsend zu. »Er beobachtet unseren, laut meiner Schüler, sehr heißen Hausmeister auf der Terrasse beim Schneeschieben.«

Kade verpasste ihm einen gespielt tadelnden Schlag gegen den Hinterkopf, der Marc nur lachen ließ. »Abmarsch. Geh aus unserer Jugend Genies machen«, grollte er und deutete auf den Berg Papiere in seiner Ablage. »Ich habe hier zu arbeiten und muss vorher noch Dad zurückrufen, um ihm zu versichern, dass ich nicht im Traum daran denke, einen von Kopf bis Fuß tätowierten Rocker zu heiraten.«

Marc stöhnte auf. »Grandpa?«

»Wer sonst?«

»Wie kommt er auf einen Rocker?«

Kade hob ratlos die Arme. »Ich habe keine Ahnung und ich will auch nicht wissen, warum er über Männer Bescheid weiß, die sich die Schwänze tätowieren lassen … Nein, frag nicht. Ich bin traumatisiert von diesem Gespräch.«

Marc lachte, erhob sich und umarmte ihn. »Hab dich lieb.«

»Ich dich auch, kleiner Bruder.«

Kurz darauf war er wieder allein und starrte missmutig auf den Stapel Papiere, der erledigt werden wollte. Dazu standen heute ein paar Anrufe beim Jugendamt an, weil unter anderem immer noch der Bescheid fehlte, der Brodys Unterbringung im »Boston Hearts« offiziell machte, und Maximilian wartete mit Sicherheit bereits auf seinen Rückruf.

Kade schürzte die Lippen und blickte aus dem Fenster. Der Schneefall war dichter geworden, dafür hatte der Wind etwas nachgelassen. Die perfekte Gelegenheit, um sein inneres Kind für eine Weile rauszulassen, denn genau darauf hatte er gerade unglaublich Lust. Scheiß auf den lästigen Papierkram. Der war nachher auch noch da, ganz egal, ob er jetzt loszog und einen Schneemann baute oder nicht. Und vielleicht gelang es ihm ja sogar, einen schüchternen, schokoladensüchtigen Teenager zur Mithilfe zu überreden.

Kades Blick landete auf seinem Garderobenständer, an dem sein Wintermantel hing, dann grinste er und griff zum Telefon. »In zwei Minuten draußen im Garten. Ich habe vor, mit Brody einen Schneemann zu bauen. Machst du mit?«

 

 

Kapitel 2

Joe

 

 

 

 

Was für ein Anblick.

Joe musste wirklich an sich halten, um nicht zu den dreien aufzuschließen und ihnen beim Bauen ihres Schneemanns eine Weile Gesellschaft zu leisten. Aber das hätte Brody vermutlich vertrieben und das wollte er keinesfalls riskieren, nachdem der Junge sich endlich ein bisschen aus der Höhle herauswagte, in der er jahrelang gelebt hatte.

Wobei es keine Höhle, sondern ein Schuppen gewesen war, in dem man ihn auch noch angekettet hatte. Joe konnte und wollte sich auch gar nicht vorstellen, wie schlimm das gewesen sein musste. Eines wusste er allerdings mit Sicherheit, nämlich dass das »Boston Hearts« eindeutig der richtige Ort für Brody Cooper war, um eines Tages hoffentlich psychisch stabil genug zu sein, damit er sich ein eigenes Leben aufbauen konnte.

Doch im Moment war der zurückhaltende Junge noch weit davon entfernt, ansatzweise stabil zu sein. Dass er allerdings gerade mit Kade MacDonald und dessen Vater Elias Endercott im Garten einen gewaltigen Schneemann baute und dabei eine Menge Spaß hatte, dem breiten Grinsen in seinem Gesicht nach zu urteilen – Maximilian, Adrian und Sean würden begeistert sein, und aus diesem Grund hielt sich Joes schlechtes Gewissen in Grenzen, als er sein Handy zückte und begann, heimlich ein kurzes Video zu drehen, das er an die drei weiterschickte, ehe er sich daran machte, die Treppe vom Schnee zu befreien.

Das war einer seiner vielen verschiedenen Jobs im Zentrum und es war der erste Job überhaupt, den Joe gerne machte. Sein Großvater hatte sich deswegen Sorgen gemacht, das wusste er, genauso wie seine älteren Schwestern, denn obwohl er in ihrer Familie das Küken war – trotz seiner fast vierzig Jahre –, hatte er lange Zeit nichts mit seinem Leben anzufangen gewusst. Er war nie auf die schiefe Bahn geraten und er war auch nicht der Dümmste in der Schule gewesen.

Joe hatte beruflich bloß nie etwas gefunden, das ihn lange genug gefesselt hatte, um dabei zu bleiben, sodass er sich Jahr für Jahr mit ständig neuen Gelegenheitsjobs herumgeschlagen hatte, bis sein Großvater im Herbst mit dem Angebot aus dem »Boston Hearts« an ihn herangetreten war. Erstaunlicherweise schien es genau das Richtige zu sein, denn Joe liebte sowohl die körperlich äußerst anstrengenden Tätigkeiten, wie jetzt das Schneeschieben, als auch die Fummelarbeiten, wenn irgendwo eine Tür quietschte, eine Birne gewechselt werden musste oder ein Kronleuchter drohte, von der Decke zu fallen.

Wobei Joe auf letztgenannten Vorfall gut hätte verzichten könnten. Das war vielleicht ein Chaos gewesen, als Derrick vor vier Wochen aufgefallen war, dass der Leuchter seltsam schief hing, und das direkt über einer rege frequentierten Sitzecke in der Bibliothek, die sie nach diversen Umbauarbeiten erst frisch eingerichtet hatten. Wäre das riesige Ding aus der gebrochenen Halterung gefallen, hätten Kinder sterben können.

Allein die Vorstellung bescherte ihm eine Gänsehaut, denn dank seiner Schwestern hatte er einen gewaltigen Stall voll mit Nichten und Neffen, die er über alles liebte, und so langsam kam Joe in ein Alter, wo er ernsthaft darüber nachdachte, selbst ein oder zwei solcher Zwerge in die Welt zu setzen. Allerdings sollte er besser in Erfahrung bringen, was sein Auserwählter über das Thema Kinder dachte, und vor allem, wie er dazu stand, selbst welche zu produzieren.

Sein Handy piepte und er machte eine kurze Pause, um in den Garten zu schauen, wo die drei Helden gerade versuchten, den Bauch des Schneemanns zu formen. Grinsend kramte Joe sein Handy aus der Jackentasche. Ah, Sean Beaumont. Und die Nachricht des Psychologen bestand aus einem Smiley, in Form eines hochgereckten Daumen, gefolgt von dem Satz: Ich wusste, dass Kade einen Zugang zu ihm findet. Joe schrieb nicht zurück. Jeder hatte gehofft, dass es Kade früher oder später gelingen würde zu Brody durchzudringen, und diesem ersten Schritt in die richtige Richtung würden hoffentlich weitere folgen.

Manchmal kam er sich vor, als wäre er längst ein Teil dieser eingeschworenen Gemeinschaft. Ein Teil der Endercotts, denn so behandelten sie ihn. Von Anfang an hatten sie das getan. Es gab keine Unterschiede zwischen Maximilian Endercott oder seinem Mann Elias, denen all das hier gehörte, und jemandem wie ihm, dem zuletzt hinzugekommenen, kleinen Angestellten. Jeder wurde in diesem Haus gleich behandelt und das war mit Sicherheit auch ein Grund, warum Joe sich hier so wohl fühlte und weshalb er diesen neuen Job, ganz unabhängig von seinen Gefühlen für Kade, unbedingt behalten wollte.

Sein Handy piepte erneut und die Nachricht ließ ihn heiter lachen. Wenn sich ein stinkreicher Anwalt im schicken Zwirn darüber beschwerte, dass er arbeiten musste, während seine Männer Spaß hatten – das musste man definitiv nicht mit einer Antwort kommentieren.

Ein lautes Lachen lenkte ihn vom Handy ab und ließ ihn in den Garten hinunterschauen, wo der Schneemann mittlerweile komplett war, inklusive zweier Äste als Arme, einem karierten Schal und einem Eimer als Hut. Glucksend machte er ein Foto für sich selbst, während die Baumeister eine Diskussion wegen der fehlenden Kohlestücke anfingen, die darin mündete, dass sie zu dritt den Weg ins Haus einschlugen, um Kohle und eine Möhre als Nasenersatz zu holen.

Joe sah ihnen amüsiert nach und wollte sein Handy gerade wieder wegstecken, als es anfing zu klingeln. Nach einem Blick auf das Display grinste er und nahm ab. »Hallo, Adrian.«

»Hallo, Bursche. Ist der Schneemann mittlerweile fertig?«

Joe kicherte. »Sie sind ins Haus gegangen, um nach einer Mohrrübe und Kohlestücken zu suchen. Keine Ahnung, wo sie die auftreiben wollen, immerhin werden sämtliche Kamine mit Holz beheizt, aber ich setze auf Kade. Wenn jemand in diesem Haus weiß, wo man Kohle findet, dann er.«

Adrian lachte. »Manchmal denke ich, der Bursche hat einen Computer in seinem schlauen Kopf. Wer weiß denn bitteschön die genaue Stückzahl von Kugelschreibern im Lager?«

»Dein Enkel.«

»Wie wahr. Und? Wie kommst du bei ihm voran?«

»Er ist gut im Verstecken. Heute Morgen hat er es wieder in der Nische versucht und Derrick hat ihn gerettet, bevor ich ihn erschrecken und ihm klarmachen konnte, dass ich das Versteck längst entdeckt habe.«

Adrian Endercott schnaubte abfällig. »Du genießt das alles viel zu sehr, das behauptet zumindest dein Großvater immer wieder, genauso wie er behauptet, dass du ein guter Kerl bist. Also wag es nicht, mich zu enttäuschen. Kade hat einen Mann verdient, der seiner würdig ist und das bist du eindeutig nicht, wenn du ihn nicht einfangen kannst.«

»Dein Enkel ist kein Reh.«

»Und du kein Jäger mit einem Gewehr. Also streng dich an, Joseph, sonst erzähle ich Bart, dass sein jüngster Enkel meiner Emma Sorgen bereitet und dann kannst du dir was anhören.«

Joe gluckste heiter. »Netter Versuch, Adrian, aber du weißt sehr wohl, dass Grandpa sich aus der Sache heraushält und dir längst deine kupplerischen Ohren lang gezogen hätte, hätte ich mich nicht Hals über Kopf in Kade verliebt, als ich angefangen habe im Zentrum zu arbeiten.«

»Warum seid ihr dann noch nicht verheiratet, zum Teufel?«

»Weil ich ein anständiger Kerl bin und deinen Enkel in aller Ruhe umwerben möchte. Außerdem will Kade überhaupt nicht heiraten, ich werde ihn also erst mal von meinen guten Seiten überzeugen müssen. Und das wird mir kaum gelingen, wenn du dich ständig einmischst, also lass es, sonst kündige ich und erzähle Grandpa, dass du schuld bist.«

»Frecher Bursche.«

Den Spruch bekam er üblicherweise mindestens einmal die Woche zu hören, seit Adrian Endercott sich dazu entschlossen hatte, ihn mit Kade zu verkuppeln, doch Joe war genauso fest entschlossen, gegenzuhalten, denn er wollte Kade das Tempo bestimmen lassen. Nichts gegen eine Einladung zu einem Date oder weitere, kleine Geschenke, wie den Schneemann mit dem von ihm selbst gestrickten Schal auf Kades Schreibtisch, aber eine Einmischung von außen würde er sich verbitten, notfalls auch mit direkten Worten.

»Oh ja, aber ein frecher Bursche, der ganz genau weiß, was er will. Also? Wirst du dich zurückhalten?«

Adrian brummelte ein bisschen, dann seufzte er. »Du bist ein guter Junge, Joseph. Mach mir keine Schande.«

»Das würde ich nie wagen.«

»Gut. Wie geht’s deinen süßen Mädels?«

»Meine Schwestern versohlen dir den Hosenboden, falls sie je herausfinden, dass du sie süße Mädels nennst.« Joe verkniff sich ein Grinsen, als Adrian wiederholt lachte. »Und soweit ich weiß, haben sie in den letzten Wochen keine neuen Neffen und Nichten produziert, von denen ich wissen sollte.«

»Von denen du wissen solltest? Pah. Du besuchst sie viel zu selten, da bist du keinen Deut besser als meine Burschen.«

Oh nein, kein neuer Vortrag darüber, dass Enkelkinder ihre sie über alles liebenden Großeltern gefälligst drei- bis fünfmal wöchentlich zu besuchen hatten. »Adrian, dir ist bewusst, dass meine Schwestern alle längst erwachsen sind und ihre eigenen Leben haben? Mit Mann und Kindern, wohlgemerkt. Und falls ich auf einmal anfange, sie dauernd zu besuchen, schleppen sie mich zu einen Arzt, weil ich das noch nie getan habe, also mit Sicherheit todkrank bin. Was im Übrigen auch für Grandpa gilt und das weißt du sehr gut, du kennst ihn schließlich schon seit einer halben Ewigkeit.«

»Was auch für dich gilt, Bursche, vergiss das nicht«, grollte Adrian und schnaubte, als Joe kicherte, denn er erinnerte sich sehr gut daran, wie er seinem Großvater und Adrian als kleiner Bengel bei einem Nachmittagsspaziergang entwischt war und die beiden stundenlang nach ihm hatte suchen lassen. Er hatte Verstecken spielen immer geliebt. »Ich weiß genau, woran du gerade denkst, und du kannst von Glück reden, dass ich viel zu höflich war, dir den Hosenboden stramm zu ziehen, weil du uns damals in Angst und Schrecken versetzt hast.«

»Ich war sechs Jahre alt und ihr habt mich nicht gefunden.« Joe schniefte gespielt. »Ich war soooo enttäuscht von euch.«

»Joseph Richard Travis!« Joe begann zu lachen und Adrian stöhnte auf. »Du hast dich kein Stück verändert, mein Junge, und das gilt garantiert auch für deine Schwestern. Siehst du sie wenigstens an Weihnachten?«

»Natürlich. Wir treffen uns wie jedes Jahr bei Grandpa und Grandma.« Joe kam eine Idee. »Hatte ich dir eigentlich erzählt, dass ich darüber nachdenke, Kade einzuladen, das kommende Weihnachtsfest mit uns zu verbringen, damit er sich nicht mit dir herumärgern muss?«

»Du frecher ...«

Joe legte feixend auf, schob das Handy zurück in die Tasche und wollte gerade die Schneefräse wieder einschalten, als ihm aus dem Augenwinkel eine Bewegung unterhalb der vorderen Treppe auffiel, die ihn irritiert stutzen ließ. Um die Zeit hatten die Kids eigentlich Unterricht, zumindest die, die aktuell schon in eine Klasse gingen, und Brody war bestimmt noch bei Kade und dessen Vater. Etwas Dunkles huschte plötzlich von links durch sein Blickfeld, das definitiv zu klein war, um menschlich zu sein, und Joe trat nah an das hüfthohe, steinerne Geländer, um sehr aufmerksam den Bereich rechts unterhalb der Treppe in Augenschein zu nehmen.

Durch den stärker werdenden Schneefall brauchte er einige Zeit, bis er endlich einen grau-schwarzen Fleck entdeckte, ganz dicht zwischen Mauer und Treppe hockend, der offensichtlich vier Beine und einen Schwanz hatte. Und im nächsten Moment jämmerlich maunzte, was Joe, hätte er die laute Schneefräse in Betrieb, nie und nimmer gehört hätte.

»Scheiße«, murmelte er schockiert und eilte, so schnell der Schnee es möglich machte, die Treppe runter und dann um das Geländer herum. Die Katze erschreckte sich natürlich vor ihm, fauchte und drückte sich noch etwas tiefer in ihr Versteck, das ihr den sicheren Tod bringen würde, wenn er sie nicht schnell hervorlocken und ins Warme bringen konnte. »Hey, du Süße«, flüsterte Joe und ging in die Knie. »Gott, du bist ja fast noch ein Baby«, erklärte er ihr oder ihm und robbte sich langsam näher heran, wobei ihm ein dreckiger Jutesack auffiel. »Fuck.«

Joe ahnte, was er in dem Sack finden würde, da Maximilian ihn vorgewarnt hatte, dass das passieren könnte. Das Gelände des Zentrums war riesig und es wäre nicht das erste Mal, dass es von Unbekannten als kostenlose Mülldeponie benutzt oder homophobe Sprüche an die Hauswände gesprayt wurden. Die Endercotts taten viel für ihre Kinder hier und auch allgemein, mit den unzähligen Wohltätigkeitsprojekten, die sie seit Jahren unterstützten, doch damit eckten sie leider auch immer wieder an. Vor allem, weil sie ausschließlich queere Kinder im »Boston Hearts« aufnahmen.

Dass sie stinkreich waren und jeden dieser Vorfälle rigoros an die Polizei meldeten, ganz egal, ob dabei am Ende etwas herauskam oder nicht, sorgte bei ihren Neidern zusätzlich für Unmut. Er würde solche Menschen nie verstehen und sollte er denjenigen jemals in die Finger kriegen, der diesen Sack voller kleiner Katzen bei ihnen abgeladen hatte, würde er ihm ohne jedes schlechte Gewissen eine reinhauen.

Joe streckte eine Hand aus und flüsterte minutenlang leisen Nonsens, bis das Kätzchen sich irgendwann von dem Sack weg und zu ihm traute, und darüber war er so erleichtert, dass Joe für einen Augenblick vergaß, wie kalt es hier draußen war, bis eine weitere Böe ihn erzittern ließ. Er musste unbedingt zurück ins Haus, genauso wie das Kätzchen und der Sack, in welchem er hoffentlich nicht nur tote Katzenbabys fand.

Als das Fellknäuel sich schließlich von ihm hochheben ließ, fühlte Joe trotz Handschuhe seine Finger kaum noch. Er schob das Kätzchen in seine Jacke, zog den Reißverschluss hoch und schnappte sich den Sack. Der Wind heulte und trotzdem hörte er ein Maunzen durch den Stoff. Gott sei Dank. Wenigstens ein weiteres Kätzchen lebte noch und damit das so blieb, musste er sich jetzt wirklich beeilen.

»... wenn wir nachher … Joe? Was hast du denn da?« Elias Endercott kam mit gerunzelter Stirn auf ihn zu, da war er eben erst durch die Terrassentür in den großen Aufenthaltsraum im Erdgeschoss getreten. Der Arzt hatte sein Handy am Ohr, das er nach einem »Bleib bitte kurz dran.« jedoch senkte und ihm den alten Sack abnahm, um ihn zu öffnen. »Was ist das …? Oh mein Gott.« Er nahm das Handy erneut ans Ohr. »Maximilian, jemand hat Katzenbabys bei uns im Garten abgeladen. Joe hat sie gerade in einem Sack gefunden … Kann ich dir noch nicht sagen, er ist durchgefroren. Ich muss mich um ihn kümmern … Sechs oder sieben, schätze ich. Eine ist noch am Leben.«

»Zwei«, sagte Joe mit klappernden Zähnen und öffnete den Reißverschluss seiner Jacke, woraufhin sich das Kätzchen ein Stück hervorwagte. Er hielt es fest, ehe es runterfallen konnte. »Keine Angst, Süße, wir tun dir nichts.« Das darauffolgende Maunzen war so laut und gequält, dass es ihm eine Gänsehaut bescherte. »Shhht, alles ist gut. Hier passiert dir nichts.«

»Ja, natürlich. Ich gebe dir sofort Bescheid, nachdem ich Joe versorgt habe … Gut. Bis nachher.«

Elias steckte sein Handy weg und packte ihn dann wortlos am Arm. Joe ließ sich ziehen und wurde kurz darauf vor dem Kamin auf den Boden gedrückt, was ihn schmerzhaft die Luft einziehen ließ. Seine Beine prickelten vor Kälte und er konnte nicht mehr aufhören, mit den Zähnen zu klappern. So lange war er doch gar nicht draußen gewesen. Jedenfalls war es ihm nicht so lange vorgekommen. Doch Elias schien das anders zu sehen, denn nachdem er das zweite, lebende Katzenbaby aus dem Sack genommen und auf ein Kissen auf die gemauerte Kaminumrandung gelegt hatte, auf der die Kids abends gerne saßen und sich vom prasselnden Feuer wärmen ließen, nahm er ihm kurzerhand das andere Kätzchen ab, setzte es zu seinem Geschwisterchen und legte eine Couchdecke um die beiden, bevor er anfing, ihn aus seiner Jacke zu schälen.

Joe sah ihm ein paar Sekunden verblüfft dabei zu. »Äh, ich ziehe mich normalerweise selbst aus.«

»Normalerweise sind deine Finger dabei auch nicht völlig steif gefroren, weil du draußen im Schnee gehockt und wie ein echter Held Katzenbabys gerettet hast.«

Dem konnte er schlecht widersprechen. Eine Sache irritierte Joe allerdings ein wenig. »Woher weißt du, dass ich im Schnee gehockt habe?«

Elias deutete auf seine Hose, die bis zu den Knien hoch mit den Resten von Schnee bedeckt war, und lächelte bei seinem überraschten »Oh.« nur milde, ehe er seiner Mütze, dem Schal und seinen Handschuhen zu Leibe rückte. Seine Stiefel folgten gleich darauf und Joe verkniff sich jeden Kommentar, als Elias ihm schließlich sogar aus der Hose helfen musste, weil er nicht in der Lage war, mit seinen schmerzenden Fingern den Knopf zu öffnen und sie selbst auszuziehen. Der Pullover und sein T-Shirt waren das letzte, was ihm geklaut wurde, bevor Elias ihn in gleich zwei flauschige Decken einwickelte, um ihn langsam und mit der Hilfe des Kaminfeuers wieder aufzuwärmen, ehe er ein weiteres Mal nach seinem Handy griff.

»Kade? Kannst du bitte in der Küche Tee besorgen und in den Aufenthaltsraum bringen? Und ruf den Tierarzt an … Joe hat im Garten einen Sack voller Katzenbabys gefunden. Zwei leben noch … Ja, ich weiß … Kade, aufregen bringt nichts, das weißt du doch. Ruf ihn an und komm her. Joe ist halb erfroren, ich möchte ihn hier nicht alleinlassen. Ach, und bring mir bitte meine Tasche mit … Ja, dein Vater weiß schon Bescheid, er ruft die Polizei an … Danke, mein Junge.«

»Mir geht’s gut«, brachte Joe zitternd heraus und verdrehte die Augen, als ihn daraufhin ein Blick traf, der keiner weiteren Erklärung bedurfte. Elias Endercott war und würde immer ein Arzt mit Leib und Seele bleiben, und darum entschied er allein, wem es gut ging und wem nicht. Und wehe dem, der sich ihm in der Hinsicht in den Weg stellte.

Joe hatte schon früher durch Adrian, aber besonders seit er hier angefangen hatte zu arbeiten, genug Geschichten über die Endercotts und ihre Söhne gehört, um zu wissen, wann es das Beste war, den Mund zu halten, und das hier war definitiv ein solcher Moment. Außerdem hatte er gerade eine Bewegung zu seiner Linken wahrgenommen und blickte neben sich, um kurz darauf erleichtert zu seufzen.

»Aber hallo, wen haben wir denn da?«, murmelte Elias und ließ von ihm ab, um einen Blick auf das zweite Katzenbaby zu werfen, das seinen Kopf ein Stück gehoben hatte und sich jetzt mit tiefblauen Augen genauer umsah.

Die beiden Katzenbabys hatten sich aneinander gekuschelt und waren nur durch ihre Farben auseinanderzuhalten. Grau-schwarz und weiß-grau, und wenn er nur halbwegs richtig lag, waren die Katzen definitiv noch zu klein, um von ihrer Mutter getrennt zu werden. Aber sie hatten zumindest schon mal ihre Augen offen. Hoffentlich war das ein gutes Zeichen.

 

Der hergerufene Tierarzt war jedenfalls der Meinung, denn zwei Stunden später, nachdem Joe mit Tee abgefüllt und von Kade und Elias so oft sorgenvoll beäugt worden war, bis er gedroht hatte, sich in die nächste Schneewehe zu werfen, wenn sie nicht aufhörten ihn anzusehen, als würde er gleich sterben, setzte Doktor Marx das zweite Kätzchen gerade mit einem sehr zufriedenen Nicken in einen Brotkorb zurück, den Marc zuvor als provisorischen Katzenkorb vorgeschlagen hatte.

Mittlerweile war Kades Zwillingsbruder zusammen mit ein paar seiner Schüler hier eingetrudelt, die eigentlich raus in den Garten gewollt hatten, um Kades niedlichen Schneemann, O-Ton George, ein brünetter Halbstarker, der mit einem blonden Raubein namens Dave zusammen war, mit einem viel geileren Schneemann, O-Ton Logan, einer der Ziehsöhne vom Ältesten der Endercott-Jungs, zu übertrumpfen. Offenbar hatte Sean das Video in dieser internen WhatsApp-Gruppe der Schüler geteilt und Joe konnte dem Mann zu der Idee nur gratulieren.

Wie bekam man junge Leute denn besser aus dem Haus, als mit einem Wettkampf? Und wenn sich die Kids um den Schnee draußen kümmerten, indem sie Schneemänner bauten, hatte er am Ende weniger Arbeit. Allerdings würde der Wettkampf erst mal warten müssen, denn im Moment waren die Katzenbabys natürlich viel interessanter.

»Sie sind klein, aber mit vernünftiger Pflege haben sie eine gute Chance, groß zu werden«, sagte Doktor Marx gerade und tauschte einen amüsierten Blick mit Elias, den Joe ziemlich gut nachempfinden konnte. Und nicht nur er, wenn er das Feixen in unzähligen Gesichtern um sie herum richtig deutete.

»Was heißt vernünftige Pflege im Detail?«, fragte Elias und Joe verkniff sich ein Lachen, als Kade die Unterlippe zwischen seine Zähne zog und einen Blick mit seinem Bruder tauschte, der daraufhin die Stirn runzelte.

»Sie brauchen für ein paar Wochen einen Mutterersatz und das meine ich wörtlich. Füttern alle paar Stunden, auch nachts, bis sie selbstständig trinken und fressen können. Ich kann euch alles besorgen, was ihr braucht, denn neben der regelmäßigen Fütterung, ist unter anderem auch Wärme wichtig. Eben alles, was sie in dem Alter von der Mutter bekommen würden.« Der Tierarzt schürzte die Lippen und sah dabei aus, als würde er vor unterdrücktem Gelächter bald ersticken. »Den Bauch nach jeder Mahlzeit leicht massieren, sauber machen, weil sie noch zu klein sind, um auf ein Katzenklo zu gehen – das wird kein Pappenstiel. Wenn ihr das nicht wollt, sagt es, dann bringe ich die Kleinen in einem Tierheim unter und ...«

»Nein!« Kade und Marc. Synchron.

Joe biss sich auf die Lippe, um nicht zu lachen. Er hatte es von Anfang an gewusst, nachdem erst Kade einen Blick auf die Kätzchen geworfen hatte und danach Marc. Diese Katzenbabys würden definitiv nicht in einem Tierheim enden, sondern zwei aufopferungsvolle Daddys bekommen, die in ein paar Tagen nicht mehr wissen würden, wo ihnen der Kopf stand, denn ein Baby blieb ein Baby, egal ob mit zwei Beinen oder vier Pfoten. Und das wusste Joe, da er früher mehr als einmal auf die Babys seiner Schwestern aufgepasst hatte. Katzenbabys waren zwar keine Menschenbabys, dafür konnten sie von Geburt an bereits laufen und mit Sicherheit genauso laut schreien.

Elias lachte leise. »Wir nehmen sie.«

»Na dann«, sagte Doktor Marx und hob schmunzelnd das grau-schwarze Kätzchen auf die Hand, um es Marc zu reichen. »Die Dame des Hauses. Bitte schön.« Hinterher war die weiß-graue Katze an der Reihe, die der Mann kurzerhand Kade in die Hände drückte. »Und hier der Herr. Gern geschehen.« Sein Blick suchte Elias. »Ich lasse alles, was ihr braucht, noch heute herschicken, inklusive der Rechnung. Sie werden bald mächtig Hunger haben, ich mache eine Eillieferung draus. Ruft sofort an, wenn irgendwas nicht stimmt, sie nicht trinken wollen oder Ähnliches. Aber ich denke, es wird alles gut gehen, die beiden sind gesund und munter.« Doktor Marx schaute auf den Sack, den Elias zuvor neben Joe gestellt hatte, damit die Kinder ihn nicht sofort sahen. »Ich kümmere mich darum.«

»Danke«, murmelte Elias und erhob sich, um den Sack zu nehmen und den Tierarzt nach draußen zu bringen.

Joe, der mittlerweile in geborgten Sachen am Kamin saß, da es im »Boston Hearts« sogar eine Kleiderkammer gab, aus der spontane Neuzugänge wie Brody mit dem Nötigsten versorgt wurden, lachte leise und lenkte damit prompt die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich.

»Wie willst du sie nennen, Marc?«, fragte er und zwinkerte Brody zu, der mittlerweile auch anwesend war, sich aber lieber an der hinteren Tür herumdrückte, obwohl nicht zu übersehen war, dass er sich gerne zu Kade gesellt hätte.

»Maggie«, antwortete Marc und gluckste, als das Kätzchen auf seiner Hand maunzte.

»Gefällt ihr wohl«, sagte George und grinste, als die kleine Katze daraufhin gähnte und sich hinterher auf Marcs Hand zu einem Ball zusammenrollte. »Da ist jemand müde.«

»Kein Wunder, bei so viel Aufregung in derart kurzer Zeit.« Elias gesellte sich wieder zu ihnen und schmunzelte. »Und du, Kade? Wie soll der kleine Mann heißen?«

»Charlie.«

 

 

Kapitel 3

Kade

 

 

 

 

Nach drei Tagen begann Kade sich ernsthaft zu fragen, ob er den Verstand verloren hatte, sich ein Katzenbaby zuzulegen, denn Charlie raubte ihm langsam aber sicher den letzten Nerv.

Der Kater schrie gefühlt ununterbrochen, hatte ständig und überall Hunger, und wehe, wenn er es in der Nacht wagte, sich auf die andere Seite zu drehen, statt aufzustehen, dann brüllte der Kater das ganze Haus zusammen. Es war wahrscheinlich nur noch eine Frage der Zeit, bis seine Nachbarn sich über ihn beschwerten oder er vor lauter Müdigkeit am Schreibtisch im »Boston Hearts« einschlief. Zumindest so lange, bis Charlie mit lautem Gebrüll seine nächste Portion Milch einforderte.

Das einzig Gute an der ganzen Sache war, dass man Charlie förmlich beim Wachsen zusehen konnte, denn abgesehen von dem Geschrei ging es dem Kleinen wunderbar und zumindest tagsüber hatte er dank der Kids im Zentrum immer jemanden, der sich um Charlie kümmerte.

Wenn das doch bloß auch so mit dem Füttern funktionieren würde. Aber leider ließ Charlie sich nur von ihm Milch geben und Kade beneidete Marc darum, der mit seiner Maggie diese Probleme nicht hatte. Sie schrie auch nicht so viel und schlief schon fast eine halbe Nacht durch. Aber nicht mal der Versuch, Charlie von Marc füttern zu lassen, war von Erfolg gekrönt, da der kleine Schreihals sie offensichtlich mühelos unterscheiden konnte, und am Ende der Woche war Kade so mit den Nerven am Ende, dass er kurz davor stand, den verrückten Kater samt Zubehör einzupacken und in ein Tierheim zu verfrachten, ehe er etwas Dummes tat.

Ein Gedanke, für den er sich schämte, aber das anhaltende Schreien zerrte mehr und mehr an seinen Nerven, weil es Kade an früher erinnerte, und als er sich schließlich mehrmals dabei ertappte, wie erstarrt vor Charlie zu stehen, nicht in der Lage, den Kater zu füttern oder auch nur anzufassen, wusste er, dass er handeln musste.

Er steuerte mit vollem Karacho auf einen jener furchtbaren Anfälle zu, die Marc und er in den ersten drei Jahren in ihrem neuen Zuhause bei den Endercotts oft gehabt hatten, und Kade war klar, dass er Charlie dafür keine Schuld geben durfte, doch wenn der niedliche Kater nicht endlich Ruhe gab, würde genau das passieren und ihn psychisch um Jahre zurückwerfen. Marc und er hatten damals so heftig kämpfen müssen, um in dieser hellen, lauten Welt einen Platz für sich zu finden, und er wollte diesen Platz nicht wegen eines Katzenbabys wieder verlieren. Er wollte nur eine Nacht durchschlafen und seine Ruhe haben, war das denn zu viel verlangt?

Hätte Joe doch bloß nicht diesen Sack gefunden. Travis. Der Mistkerl, der sich hinterher mit einem Grinsen einfach aus der Verantwortung gestohlen hatte. Warum hatte er nicht früher an ihn gedacht? Er hatte schließlich keine Probleme damit, an den Knackarsch ihres heißen Hausmeisters zu denken. Vor allem in der Nacht, sofern er denn dafür überhaupt Zeit hatte, weil ein gewisser Kater ihm ins Ohr plärrte.

»Gott, halt endlich die Klappe!«, fluchte er, als Charlie, der vor der Heizung in seinem Korb saß, maunzte, und griff nach seinem Handy. Er hatte alle wichtigen Nummern der Leute aus dem Zentrum in seinem Telefonbuch und die von Joe Travis war schnell gefunden. »Du dämliches Arschloch!«, fauchte er, nachdem am anderen Ende der Leitung abgenommen worden war. »Hättest du nicht den verdammten Sack gefunden, hätte ich jetzt nicht ein kreischendes Mistvieh am Hals, das mir den letzten Nerv raubt. Ich hoffe, du hast dich gut amüsiert, Travis, denn ab sofort bist du für Charlie verantwortlich. Ich habe die Schnauze gestrichen voll.«

 

»Miau.«

»Sorry, Kleiner, aber deine Milchbar namens Kade ist heute definitiv geschlossen. Entweder nimmst du die Milch von mir an oder du bleibst hungrig.«

Das nächste Maunzen war lauter und eindringlicher und es riss Kade endgültig aus seinem Dämmerschlaf, den er sich mit Hilfe einer Schlaftablette beschert hatte, da er nach dem Anruf bei Joe in einen Weinkrampf abgeglitten war, wie er ihn schon lange nicht mehr gehabt hatte, aber auf keinen Fall Marc hatte anrufen wollen. Stattdessen hatte er Charlie ins Badezimmer gesperrt, wo auch das Katzenklo stand, und hatte die Tablette genommen, überall das Licht ausgemacht und seine Vorhänge zugezogen, weil Kade aus langjähriger Erfahrung wusste, was auf einen Weinkrampf oft folgte, und seine Psyche hatte nicht lange auf sich warten lassen.

Am Ende war es so schlimm geworden, dass ihm selbst das leise, stetige Brummen des Kühlschranks in der Küche solche Kopf- und körperliche Schmerzen bereitet hatte, dass Kade ins Schlafzimmer geflüchtet war. Mit Ohropax, unter zwei Decken, bei geschlossener Tür und runtergezogenen Rollos, damit bloß kein Licht oder Geräusch zu ihm durchdrang.

Migräneattacken nannten es die Ärzte.

Kade fand die Erklärung zu leicht, obwohl sie medizinisch gesehen wahrscheinlich stimmte. Für Marc und ihn war es viel mehr als das. Für sie war es eine Warnung, immer gut auf sich aufzupassen, denn ihr Leben hatte gleich nach ihrer Geburt in Gefangenschaft begonnen, die garantiert im Tod geendet hätte, wäre nicht zufällig nach Jahren jemandem aufgefallen, dass die Frau, die sie geboren hatte, plötzlich verschwunden war. Doch was anschließend gekommen war, bis Maximilian und Elias sie gefunden hatten – Kade würde die erste Zeit im Krankenhaus wahrscheinlich nie vergessen, die seinen kleinen Bruder fast in den Wahnsinn getrieben hatte.

Der ständige Krach, das grelle Licht und diese furchtbaren Gerüche überall um sie herum – und dann noch diese ganzen wunderlichen Dinge, die sie nie zuvor gesehen hatten.

Erst Maximilian und Elias hatten sie verstanden und dafür gesorgt, dass sie vorerst wieder in Dunkelheit und Stille leben konnten, um sie dann ganz langsam an für normale Menschen so profane Dinge wie elektrisches Licht oder fließendes Wasser heranzuführen. Mit ihren geschätzten zwölf Jahren hatten sie damals nicht mal eine Toilettenspülung gekannt. Geschweige denn, dass sie Namen gehabt hatten. Unzählige Jahre war das nun her, aber manche Dinge änderten sich leider niemals.

Beim nächsten Miauen zuckte Kade zusammen. Er musste im Schlaf die Ohropax verloren haben, doch ehe er etwas sagen oder die Stimme hinter sich überhaupt einer Person zuordnen konnte, hörte er auf einmal Marc mit demjenigen sprechen.

»Bring ihn bitte raus. Momentan ist sogar sein Maunzen zu laut für Kade.«

»Bist du sicher, dass wir eure Väter nicht anrufen sollen?«, fragte die Stimme, die sich bei genauerem Hinhören verdächtig nach Joe Travis anhörte, aber aus welchem Grund sollte der an einem Sonntag zu seiner Wohnung kommen? Und überhaupt, von wem wusste Joe, wo er wohnte? Sein Bruder würde es ihm wohl kaum erzählt haben? Oder etwa doch? Kade war irritiert, aber gleichzeitig auch viel zu erschöpft, um sich umzudrehen und zu fragen, was hier los war. Er wollte einfach nur schlafen, die lästige Welt aussperren und warten, bis sein Kopf aufhörte zu dröhnen und sein Körper sich wieder entspannte.

»Ich rufe sie her, wenn es nötig wird. Fürs Erste warten wir ab. Ich will wissen, wie schlimm es ist, bevor ich zu Hause die Pferde scheu mache oder Sean einschalte.«

»Braucht er noch etwas?«

»Nein. Er muss nur schlafen. Schlaf hilft immer.«

»Marc ...«

»Ja, ich weiß. Kannst du kochen?«

»Ja, wieso?«

»Weil ich Hunger habe und das hier noch ein paar Stunden dauern wird. Du kochst uns was und ich erzähle dir, warum er vorhin ausgeflippt ist und dich angerufen hat.«

Wäre Kade nicht so fertig gewesen, hätte er den beiden jetzt einen Vortrag darüber gehalten, dass sie in seiner Küche nichts zu suchen hatten, ganz besonders Marc nicht, der beim Kochen immer zu einem kompletten Chaoten mutierte. So aber schaffte er es nicht mal, mit dem Daumen zu wackeln.

Stattdessen seufzte Kade erleichtert, als sich die Tür hinter ihm schloss und daraufhin himmlische Ruhe einkehrte.

Er dämmerte wieder weg.

 

Als Kade das nächste Mal die Augen aufschlug, brannte auf dem Nachttisch ein Teelicht und nach einem Gähnen blickte er in grüne Augen, die seinen eigenen so ähnlich waren, dass ihre Väter damals mehrere Wochen gebraucht hatten, bis sie gelernt hatten, Marc und ihn auseinanderzuhalten. Selbst heute gelang es ihnen manchmal noch, Maximilian und Elias zu täuschen oder einen ihrer Brüder auszutricksen. Nur mit Adrian hatte das nie funktioniert, und seltsamerweise hatte auch Joe Travis vom ersten Tag an keine Probleme damit gehabt, Marc und ihn zu unterscheiden.

Sein Bruder lächelte, als Kade erneut gähnte, weil er immer noch müde war, aber ansonsten ging es ihm gut. Kein Zittern mehr, keine Kopfschmerzen, keine schmerzenden Muskeln im ganzen Körper und vor allem keine damit oft einhergehenden Krämpfe. Nur eine seltsam bleierne Müdigkeit, die zu großen Teilen seinem Schlafmangel der letzten Tage geschuldet war.

»Wo ist Charlie?«

»Im Wohnzimmer. Joe hat ihn gefüttert.«

Kade blinzelte überrascht. »Ernsthaft?«

Marc nickte sichtlich amüsiert. »Oh ja. Es hat mehr als eine Stunde gedauert, aber schließlich hat Charlie begriffen, dass er entweder die Milch von Joe nimmt oder hungrig bleibt.« Sein Bruder strich ihm über die Wange. »Soll ich Dad anrufen?« Auf sein Kopfschütteln hin grinste Marc. »Was ist mit Sean?« Noch ein Kopfschütteln, das seinen Zwilling leise lachen ließ, bevor er sich enger an ihn kuschelte und einen Arm um ihn legte. »Es war Charlie, oder?«

»Ja«, sagte Kade leise. »Sein ständiges Schreien … Ich habe seit Dienstag keine Nacht mehr richtig geschlafen.«

»Er hat sich völlig auf dich geprägt. Maggie ist da eindeutig selbstständiger.«

»Na super«, murmelte Kade seufzend. »Und was mache ich jetzt mit ihm? Noch eine Woche sein Gezeter und ich werfe ihn beim nächsten Mal aus dem Fenster.«

»Das würdest du nie tun, das weißt du«, tadelte Marc und küsste ihn auf die Stirn. »Lass Joe helfen. Charlie lässt sich jetzt von ihm füttern, das solltest du nutzen. Außerdem hat er schon versprochen, dich nicht bei unseren Vätern zu verpetzen.«

»Hast du es ihm erklärt? … Und?«, fragte er, als Marc bloß nickte. »Versteht er es?«

»Anfangs nicht. Oder besser gesagt, er hat mir die übliche Erklärung mit der Migräne nicht geglaubt. Der Mann ist kein Dummkopf.« Marc grinste schief. »Also hat er so lange immer wieder nachgehakt, bis ich ihm alles erzählt habe.«

»Alles?«, fragte Kade und wusste nicht, ob er entsetzt oder erleichtert sein sollte, dass er es nicht tun musste.

Marc nickte erneut. »Ja. Er war völlig schockiert, meinte im nächsten Moment aber bereits, dass das deine heftige Reaktion am Telefon erklärt, und er ist bereit, dir mit Charlie zu helfen. Was du im Übrigen definitiv für dich nutzen solltest, denn der Kerl kann echt gut kochen.«

Und darüber würde Kade lieber nicht genauer nachdenken, auch wenn sein Magen das anders sah und prompt knurrte. Er schnaubte, als Marc gluckste. »Ja, ja, ja, sag nichts … Apropos Telefon … Wie kommt ihr beide überhaupt hierher?«

»Nach deinem Anruf hat er sich Sorgen gemacht und mich angerufen, weil er Elias nicht erreichen konnte und mein Name vor Maximilians in seinem Telefonbuch im Handy steht. Was dein Glück ist, denn Dad hat vorhin zurückgerufen und er hat sich bei ihm entschuldigt, weil er sich angeblich verwählt hätte. Nachdem er mir ausführlich erzählt hatte, was du ihm alles an den Kopf geworfen hast, war mir klar, was los ist. Ich habe Joe deine Adresse gegeben und ihn herbestellt. Für alle Fälle und weil er eine Erklärung verdient hatte.« Marc deutete mit dem Kopf zur Tür. »Wir haben dir einen Teller von der Lasagne, die er gemacht hat, in die Mikrowelle gestellt.«

»Ich hatte Zutaten für Lasagne hier?«, fragte Kade verdutzt und Marc grinste.

»Gemüselasagne. Und glaub mir, sie ist verdammt köstlich. Sei froh, dass du überhaupt was davon abbekommst. Aber Joe war der Meinung, es wäre sehr unhöflich von mir, dir in deiner Küche alles wegzuessen.«

Kade gluckste. »Du bist und bleibst ein Vielfraß.«

»Ich habe eben einen guten Stoffwechsel.«

»Oh ja, und falls du jemals kochen lernst, passt du in einem Jahr durch keine Tür mehr.« Marc lachte und boxte ihm gegen die Schulter. »Was?«, gab sich Kade unschuldig. »Ich sage nur, wie es ist. Dad meinte schließlich oft genug, dass sie froh sein können, reich zu sein, weil du ihnen sonst die Haare vom Kopf gefuttert hättest.« Kade zwinkerte seinem Bruder neckend zu. »Weißt du noch, wie Cole immer seinen Teller mit den Armen beschützt hat, während du am Tisch neben ihm gesessen hast? Er war so erleichtert, als wir Finn als Bruder bekamen und du angefangen hast, ihm das Essen zu klauen.«

Marc prustete los. »So schlimm war ich gar nicht.«

Von wegen, dachte Kade feixend und horchte auf, als es leise an der Tür klopfte und auf sein »Ja?« hin Joe ins Zimmer trat. Er hatte seinen weiß-grauen Schreihals auf dem Arm und Kade streckte mit einem erleichterten »Charlie.« sofort beide Hände nach dem kleinen Kater aus, der auch prompt zu ihm tapste und sich von ihm streicheln ließ, nachdem Joe ihn auf dem Bett abgesetzt hatte.

»Geht es dir besser?«, fragte Joe und lächelte, als Kade bloß nickte, weil er nicht wusste, was er sagen sollte. »Super. Dann hoch mit euch. Kade, ich habe im Angesicht all meiner Kräfte um einen Teller Essen für dich gekämpft, und ich glaube, dass du jetzt was vertragen könntest.« Joe lachte, als sein Magen die Frage mit einem eindeutigen Knurren beantwortete. »Okay, ich habe verstanden. Kommt ihr in die Küche? Marc, ich habe eben Nachtisch gezaubert. Schokoladenpudding. Nicht, dass du uns noch aus Versehen vom Fleisch fällst.«

»Hey! Das klingt, als wäre ich verfressen.«

Marc erhob sich und folgte einem glucksenden Joe aus dem Zimmer, während Kade schmunzelnd auf Charlie hinuntersah, der sich neben ihm auf der Decke zusammengerollt hatte und jetzt leise schnurrte.

»Die beiden sind verrückt, oder?«

»Miau.«

Statt seinem Bruder und Joe gleich in die Küche zu folgen, entschied sich Kade kurzerhand um und machte vorher einen Abstecher unter die Dusche, weil er sich eklig fühlte. Das heiße Wasser war eine wahre Wohltat und wärmte ihn von Kopf bis Fuß, sodass er einfach eine Weile unter dem laufenden Wasser stehenblieb, bis es anfing kälter zu werden. Die Freuden eines alten Hauses mit ebenso alten Leitungen, aber Kade lebte gern hier, weil alle seine Nachbarn ruhig und freundlich waren und die Miete für Boston ziemlich günstig.

Was vermutlich auch daran lag, dass er der alten Sara Knox im Erdgeschoss, der das Haus gehörte, oft bei Kleinigkeiten im Haushalt half oder ihr die Einkäufe in die Wohnung trug. Sara war Witwe, kinderlos und gebrechlich genug, dass Kade sich sofort Sorgen um sie machte, falls er eine Woche nichts von ihr hörte, aber geistig war sie bedeutend fitter, als so manches von den Kids im »Boston Hearts«. Außerdem gehörte Sara zu den wenigen Menschen, die von seinen Anfällen wusste, da sie mal einen aus Versehen live miterlebt hatte. Sie hatte ihn nie anders behandelt und ihrer Meinung nach, stand jedem ein gewisser Anteil an Wahnsinn oder Schrulligkeit zu. Kade hatte die alte Dame echt gerne und er wusste, dass sie ihn mit einem breiten Grinsen bedenken und ihm zu seinem exzellenten Geschmack gratulieren würde, sollte er jemals mehr tun, als den Hintern von Joe Travis nur aus der Ferne anzuschmachten.

Es duftete verführerisch, als Kade kurz darauf in die Küche trat, die gleichzeitig Wohn- und Essbereich war. Ein Teller, der bis zum Rand mit Lasagne gefüllt war, wartete auf ihn. Neben einem Schälchen Pudding und einem Bier. Und Charlie, der in der Sekunde versuchte, von einem der vier Barhocker auf die Theke zu klettern, die Kade sich statt eines Esstisches zugelegt hatte, für den in seinem Apartment schlicht kein Platz war. Für ihn allein reichten der offene Koch-, Ess- und Wohnbereich, ein Bad und sein Schlafzimmer allerdings völlig aus.

»Nichts da«, murmelte Joe und setzte den Kater zurück auf den Boden, um zu lachen, als der prompt mit zwei Pfoten nach ihm angelte und dabei umfiel. »Das musst du eindeutig noch üben, Zwerg.«

Kade grinste, setzte sich und probierte die Lasagne. Sie war genauso lecker wie sie aussah und der Teller schneller leer, als er es überhaupt richtig mitbekam. Joe grinste und erhob sich, um einen zweiten aus dem Küchenschrank zu holen und in die Mikrowelle zu stellen. Marcs beleidigtes Schnauben, denn dass der Teller im Küchenschrank versteckt gewesen war, verriet im Grunde schon alles, ließ Joe und ihn in Gelächter ausbrechen, und Kade naschte zwei Löffel von dem Pudding, während der Teller seine Runden drehte.

»Wo hast du Kochen gelernt?«, fragte er, denn der Pudding war nicht weniger köstlich als die Lasagne zuvor.

»Meine Mutter.« Joe lehnte sich an die Küchenzeile. »Nach drei Mädels war ich der erste Junge für sie und Dad und Mum waren der Meinung, auch ein Mann sollte kochen können, also hat sie mich genauso für jeden Küchendienst eingespannt wie meine Schwestern.« Er grinste. »Mittlerweile koche ich von uns vier allerdings am Besten und das nehmen mir Gabby, Sammy und Emmy ab und an so übel, dass sie mich verhauen. Meist an Weihnachten, wenn wir uns alle bei Grandma und Grandpa treffen, denn ich kann definitiv besser Kuchen backen als sie.«

Kade prustete los und auch Marc hing bereits lachend halb auf der Theke, halb auf dem Barhocker.

»Was?«, gab sich Joe unschuldig. »Ich erzähle euch nur die Wahrheit. Ihr könnt meine Schwestern gerne fragen. Sie heißen übrigens Gabrielle, Samantha und Emmeline.«

»Und du hast nur ein Joe abbekommen?«, fragte Marc.

Joe grinste. »Joseph Richard Travis. Nach meinem Vater. Ich sollte eigentlich erst nach Grandpa genannt werden, aber Mum hat sich mit Händen und Füßen dagegen wehrt.«

Oh nein, er würde nicht nachfragen, auf gar keinen Fall. Es war schon schlimm genug, dass Joe offenbar in einer ähnlichen Familienkonstellation aufgewachsen war wie er selbst. Adrian würde natürlich begeistert sein und sofort anfangen, ihm Joe Travis als zukünftigen Ehemann unter die Nase zu reiben. Das fehlte Kade gerade noch. Er hatte auch ohne die Einmischung seines Großvaters genug damit zu tun, Joe nicht noch heißer zu finden, als es dessen Arsch ohnehin bereits war. Und er wollte es nicht Cole und Dare nachmachen und sich kurzerhand von Adrian verheiraten lassen. Wenn überhaupt, würde er sich den zukünftigen Mister MacDonald schön selbst suchen.

»Okay, ich sterbe vor Neugier«, riss ihn Marcs Stimme aus seinen Gedanken. »Wie heißt dein Großvater?«

»Bart. Von Bartholomäus.«

»Ernsthaft?«

»Ganz ernsthaft.«

Wieder lachte Marc und als Kade das hörte, entspannte er sich unwillkürlich, denn sein Bruder fühlte sich wohl und das sprach eindeutig für ihren sexy Hausmeister, der dann seinen zweiten Teller vor ihm abstellte und sich gleich darauf erneut mit Charlie beschäftigte, der unermüdlich daran arbeitete, den freien Barhocker hochzukommen, und der kleine Kater war in der Hinsicht sehr erfinderisch. Grinsend und dabei essend sah Kade zu, wie Joe sich zu Charlie auf den Boden setzte und ihm eine Hand zum Spielen gab, und so bekam er zu spät mit, dass er plötzlich keinen Schokoladenpudding mehr hatte.

»Marc!«

»Was?« Sein Bruder blinzelte ihn aus seinen grünen Augen harmlos an, während er gleichzeitig mit Genuss den Löffel voll Schokoladenpudding ableckte. »Ich bin noch im Wachstum.«

»Mit sechsunddreißig?«

»Ich wachse eben langsam.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752142990
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Mai)
Schlagworte
Liebesroman schwul Familie Liebe Romanze

Autor

  • Mathilda Grace (Autor:in)

Aufgewachsen in einem kleinen Dorf im tiefsten Osten von Deutschland, lebe ich heute in einer Großstadt in NRW und arbeite als Schriftstellerin. Seit 2002 schreibe ich Kurzgeschichten und Romane, bevorzugt in den Bereichen Schwule Geschichten, Drama, Fantasy, Thriller und Romanzen. Weitere Informationen zu meinen Büchern, sowie aktuelle News zu kommenden Veröffentlichungen, findet ihr auf meiner Homepage.
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Titel: Absolut ins Herz