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Totgespielt: Thriller

Lauf soweit du kannst

von L.C. Frey (Autor:in) Alex Pohl (Autor:in)
300 Seiten

Zusammenfassung

Der neue Psychothriller von Bild- und Amazon-Bestseller L.C. Frey Der erfolgreiche Thriller-Autor Andreas Herzog erwacht nach einem schweren Autounfall im Krankenhaus zu schrecklichen Neuigkeiten: Er soll seine Ex-Frau grausam verstümmelt und ermordet haben – vor den Augen ihres gemeinsamen Sohnes. Doch Herzog ist überzeugt von seiner Unschuld und stürzt sich in eine waghalsige Flucht mit der jungen Krankenschwester Lina. Während Herzog sich den Dämonen seiner Vergangenheit stellt, verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion: Weitere brutal zugerichtete Leichen tauchen auf – ermordet nach dem Muster in Herzogs letztem Thriller … Dieser schonungslose Psychothriller ist L.C. Freys bisher gewagtester Roman – und vielleicht auch sein persönlichster? Sichern Sie sich jetzt Ihr Exemplar und finden Sie heraus, ob Sie wirklich bereit für die Wahrheit sind! Empfohlen für Leser ab 18 Jahren.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


BÜCHER DES AUTORS

als ALEX POHL


WIR ODER IHR (Forever Ida-Reihe Bd. 2)

UND RAUS BIST DU (Forever Ida-Reihe Bd. 1)


HEISSES PFLASTER (Seiler&Novic-Reihe Bd. 2)

EISIGE TAGE (Seiler&Novic-Reihe Bd. 1)


als L.C. Frey:


TODESZONE: Tatort Malmö

SO KALT DEIN HERZ

TOTGESPIELT

DIE SCHULD DER ENGEL : Sauers erster Fall

ICH BRECHE DICH: Sauers zweiter Fall

BEUTETRIEB (Sloburn 3)

KINDERSPIELE (Sloburn 2)

SEX, DRUGS & TOD (Sloburn 1)

DAS GEHEIMNIS VON BARTON HALL

DRAAKK


Schreib-Ratgeber:

STORY TURBO: Besser Schreiben mit System

Weitere Informationen finden Sie auf der Website des Autors

Alex-Pohl.de

Über dieses Buch:

Der erfolgreiche Thriller-Autor Andreas Herzog erwacht nach einem schweren Autounfall im Krankenhaus zu schrecklichen Neuigkeiten: Er soll seine Ex-Frau grausam verstümmelt und ermordet haben – vor den Augen ihres gemeinsamen Sohnes. Doch Herzog ist überzeugt von seiner Unschuld und stürzt sich in eine waghalsige Flucht mit der jungen Krankenschwester Lina. Während Herzog sich den Dämonen seiner Vergangenheit stellt, verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion: Weitere brutal zugerichtete Leichen tauchen auf – ermordet nach dem Muster in Herzogs letztem Thriller …

Lektorat: Anke Höhl-Kayser

Covergestaltung, Layout und Satz: Ideekarree Leipzig, www.ideekarree.de, unter Verwendung von

©Jakub Krechowicz, Fotolia.com


Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck – auch auszugsweise – nur mit schriftlicher Genehmigung von L.C. Frey. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Alle in diesem Roman beschriebenen Personen sind fiktiv. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

L.C. Frey, C/o Ideekarree, Alexander Pohl, Breitenfelder Str. 66, 04157 Leipzig, E-Mail: autor@lcfrey.de

Für Krissy,

und meine Leserinnen und Leser.

Danke, jedes Mal und immer wieder!

Bevor du dich ins Vergnügen stürzt …


Als kleines Dankeschön für den Download dieses Buches möchte ich dir gern einen weiteren Thriller mit Kommissar Sauer schenken. Du erhältst ihn direkt auf meiner Website. Klicke dazu einfach auf folgenden Link:


Immer noch unentschlossen?

Dann einfach weiterblättern … Nach der Danksagung am Ende dieses Buches habe ich dir noch eine Leseprobe meines Bestseller-Thrillers DIE SCHULD DER ENGEL angehängt, den du kostenlos auf meiner Website erhältst.

Doch nun viel Spaß mit und Vorhang auf für …

TOTGESPIELT

»Andreas Herzog ist der Meister der Spannung!«

— Münchner Rundblick


»Geschmacklos, dumm und übertrieben brutal. Herzog ist der absolute Nullpunkt der deutschen Gegenwartsliteratur.«

— Kölner Tageblatt

PROLOG

Tommy hatte die ganze Zeit an der Tür gewartet. Als es endlich klingelte, deutete er auf das kleine Bildschirmfenster oberhalb des Schlüsselbretts und rief: »Papa, Papa!«, während er aufgeregt in seinem Rollstuhl herumzappelte. Sabine warf einen Blick auf den kleinen Monitor der Gegensprechanlage und lächelte unwillkürlich. Ja, das war Herzog, unverkennbar. Niemand sonst trug einen derart aufsehenerregend hässlichen Ledermantel zu Nike-Turnschuhen. Zumindest niemand, der dieses Ensemble mit einer sechshundert Euro teuren Gucci-Jeans vervollkommnete.

Er hatte sich wohl auch in diesem Jahr Mühe gegeben, sich selbst zu übertreffen, was die Geschenke für Tommy betraf. Die prall gefüllte Sporttasche, die er stolz in die Kamera reckte, war so riesig, dass sie den Großteil seines Gesichts verbarg, und dahinter ragte eine lächerliche Weihnachtsmannmütze hervor, passend zu seinen knallroten Nikes. Während sie ihrem aufgeregten Sohn abwesend durch die Haare fuhr, drückte Sabine auf den kleinen Knopf, der mit

Öffnen

beschriftet war, und setzte ein unverbindliches Lächeln auf. Tommy gab sich weit weniger Mühe, seine Freude über den Besuch zu verbergen, und auch wenn er bestimmt über Herzogs Geschenke begeistert sein würde, so war es doch das Erscheinen seines Vaters, dem er hauptsächlich entgegenfieberte.

Wenn du das bloß mal kapieren würdest, Herzog, dachte Sabine und lauschte auf die beschwingten Schritte im Treppenhaus, die zu ihnen unterwegs waren.

Dass es nicht nur um dein Geld geht, auch wenn das natürlich hilft.

Doch dann beschloss sie, dass sie Herzog heute, am Weihnachtsabend, mit Predigten dieser Art verschonen würde. Und sich selbst.

Er wummerte dreimal kräftig gegen die Tür.

»Weihna’mann!«, flüsterte Tommy ehrfürchtig und presste dann seine Hände auf den Mund. Sah sie aus weit aufgerissenen, leicht schräg stehenden Augen an.

»Genau«, sagte Sabine, laut genug, dass man es auf der anderen Seite der Tür hören konnte. »Hoffen wir mal, dass wir beide artig waren, was?«

Tommy stimmte ihr eifrig nickend zu.

Lächelnd öffnete Sabine Neuhaus die Tür. Draußen stand Herzog, die Sporttasche hochgereckt, hinter der die blödsinnige Mütze hervorlugte. Machte sich wahrscheinlich einen Riesenspaß aus dieser Weihnachtsnummer.

»Hey«, sagte sie und öffnete die Arme. »Soll ich dir was abnehmen, lieber Weihnachtsmann?«

»Aber gern«, sagte Herzog und drückte ihr die Sporttasche in die Arme.

Als Sabine sein Gesicht sah, erstarrte sie.

EINS

24. DEZEMBER

Herzog, 23 Minuten vorher

Es war kaum mehr als eine akustische Randnotiz. Etwas, das sie noch hinten an die Nachrichten quetschten, und das vermutlich auch bloß, weil irgendwer im Sender irgendwem beim Verlag einen Gefallen schuldete.

Gestern Nacht um Punkt zwölf startete der Verkauf des neuen Herzog-Thrillers »Totgespielt«. Der Münchner Autor Andreas Herzog, der Mitte der 2000er Jahre beachtliche Verkaufserfolge mit seinen Romanen »Mädchenaugen« und »Das Schattengericht« erzielte, ist für seine detaillierten und bisweilen recht blutrünstigen Szenen bekannt. Er selbst gab mit einer Lesung den Startschuss für den Verkauf seines neuesten Romans, der identisch mit dem Start der fiktiven Handlung im Buch ist, gerade noch rechtzeitig fürs Weihnachtsgeschäft. Was für eine verrückte Idee!

Kurz nach zehn spielten »Sturmwärts«, unsere allseits beliebten Coverrocker aus München, die im Buch einen kleinen Auftritt haben sollen.

Pünktlich um Mitternacht las Herzog das erste Kapitel direkt im Anschluss an den Auftritt von »Sturmwärts«. Die Kranhalle war mit etwa einhundert eingefleischten Herzog-Fans eher schwach gefüllt, trotz der geschickt getimten Marketingaktion blieben etliche Plätze frei.

Marion vom Wetter hat sich das Buch heute Morgen schon im Buchladen besorgt. Allerdings musste sie sich diesmal nicht durch Reihen kaufwütiger Fans kämpfen, wie das bei Herzogs ersten drei Büchern noch der Fall gewesen war. Sie meint, das Buch sei wie immer gut und knüpfe durchaus an die früheren Erfolge des Autors an. Es wartet allerdings neben den üblichen Psychospielchen und den üblichen Mengen an Blut mit wenig neuen Ideen auf.

Ich frage mich: Wird Herzog seinen Erfolg wiederholen und das Buch wochenlang in den Bestsellerlisten platzieren können wie seine früheren Knaller, oder hat er seine Leser bereits »Totgespielt«? Nun, wir werden sehen.

Okay, das warʼs mit den Lokalnachrichten. Hier ist für euch der Holger mit dem Neuesten vom Sport, und danach geht’s weiter mit den besten Hits und Infos aus München und Umgebung. Gefolgt vom Wetter mit unserer bezaubernden Marion …

Wütend drückte Herzog auf die Media-Taste am Autoradio und würgte den Sprecher ab. Eingefleischte Fans, dachte er, am Arsch!

Dann gab er Gas.

Arschlöcher, dachte Herzog, Arschlöcher allesamt.

Wie die subtil ihren Spott zum Ausdruck bringen, nachdem sie einem jahrelang für ein Interview in den Hintern gekrochen sind, das ist phänomenal. Ihr hättet Schriftsteller werden sollen, ihr Flachzangen! Seid richtig talentiert, bringt die Message zwischen den Zeilen rüber, ohne dabei allzu verkopft zu wirken, was immer das eigentlich bedeuten soll. Die Kritiker hätten ihre Freude dran. Aber im Gegensatz zu uns freischaffenden Risikoberuflern bezieht ihr ein sattes monatliches Gehalt mit eurer Schmutzschleuderei im Gute-Laune-Dudelradio. Eure zusammengestümperten Sendungen mit der immergleichen Unmusik zwischen den Werbeblöcken hören mehr Menschen, als sich ein Autor je als Leser wünschen kann. Das gibt euch die Macht zu entscheiden, wer gerade hot ist und wer nicht. Wer kommen darf und für wen es langsam Zeit wird, abzutreten.

Ach, fickt euch, dachte er und musste ein wenig kichern ob der Gossensprache, die sich mal wieder seiner Gedanken bemächtigte. Fickt euch, so schlecht lief es gestern nun auch wieder nicht.

Das stimmte. Die Kranhalle war nicht ausverkauft gewesen, wohl wahr, aber diese Schmach hatten schon ganz andere Größen einstecken müssen, bevor sie ein gigantisches Comeback hingelegt hatten. Schließlich pilgerte nicht jeder seiner Leser zu einer bescheuerten Lesung. Er selbst hätte es auch nicht getan, schon gar nicht zu einer Lesung von ihm, denn er hielt sich für einen furchtbaren Interpreten und einen noch schlechteren Vermarkter seiner eigenen Werke. Allerdings war das eine Meinung, die weder Urby noch der Verlag und vor allem nicht der Großteil seiner Leserschaft zu teilen schienen, und daher musste dieser Quatsch wohl hin und wieder sein. Promoaktionen eben. Nun, wenn es denn half, das Buch zu verkaufen. Das Buch, wie es Urby zu nennen begonnen hatte, und es dann — vermutlich mit Hilfe irgendeines streng geheimen Voodoozaubers — geschafft hatte, der Presse einzureden. Das Buch. Der neue Herzog. Die Rückkehr zu den Wurzeln. Endlich wieder lehrte der Meister des knallharten Thrillers die Konkurrenz das Fürchten. Bla bla bla. Was für ein Witz.

Aber dennoch war es alles andere als schlecht gelaufen. Herzog hatte sich, wie in alten Zeiten, zwei Drinks gegönnt und eine große Line, und dann hatte er die Sache meisterlich geschmissen. Vermutlich. Denn, wie immer, hatte er hinterher so gut wie keine Erinnerung an seine Lesung. Wie er sich auch kaum jemals an das eigentliche Schreiben seiner Bücher erinnern konnte. Totales Abtauchen in die Twilight Zone. Verschluckt von einem schwarzen Loch in der Realität oder so ähnlich. Aber die Signierstunde war gut gewesen. Schon mal grundsätzlich, weil sie das Ende dieser unsäglichen Lesung markiert hatte, inklusive Standing Ovations einiger der Anwesenden. Immerhin. Man war zufrieden. So zufrieden, wie die Leser es zuletzt bei »Vom Tod der Engel« gewesen waren und diese Veröffentlichung war immerhin schon über sechs Jahre her. Die beiden Versuche dazwischen hatte die Presse gehässig als ‚krampfhaften Versuch eines Bestsellerautors, sich zu einem richtigen Schriftsteller zu mausern‘ bezeichnet, und er gab ihnen recht, zumindest, was das Adjektiv ‚krampfhaft‘ betraf.

Was den Rest anging, so hatte Herzog eine wesentlich kürzere Beschreibung parat: Schrott — und diese Einschätzung schienen selbst die eingefleischtesten unter den Herzog-Fans zu teilen. Die Rezensionen auf ihren Blogs und bei den Onlinebuchhändlern klangen bemüht und eher so, als wolle man einen ehemaligen guten Freund nicht kränken, nachdem der seinen Zenit überschritten hatte.

Herzog war tatsächlich eine Weile gekränkt gewesen über die allzu harschen Urteile der Kritiker und Fans. Über Urbys verdrehte Augen und über die Weigerung des Verlags, »Das Windspiel schweigt« und »Sommerstille« ins Hauptprogramm aufzunehmen. Bloß, weil man ‚Roman’ draufschreiben musste, um der Wahrheit Genüge zu tun, anstatt wie sonst bei seinen Büchern üblich: »Thriller-Alarm! Nichts für Weicheier! Hardcore-Krimi!« und ähnlichen Mist. Wie auch, es starb ja gerade mal einer in »Sommerstille«. Ein Großvater, und der auch noch aufgrund von Altersschwäche. Wahrlich nicht unbedingt der Stoff, der einen die Nägel in die Sessellehne krallen ließ.

Und es gab noch ein, zwei klitzekleine Probleme, die betrafen den Porsche und das Haus, möglicherweise. Das Leben als Topautor war kostspielig, und man konnte es sich nur leisten, wenn man ein Topautor blieb.

Aber scheiß was drauf, auf das alles. Jetzt war er wieder da, nicht wahr? Mit »Totgespielt« war ihm ein weiterer Herzogscher Thriller-Killer gelungen. Zurück zu den Wurzeln, genau. Heißer und besser denn je. Roh und unverblümt. Herzog is back! Sogar Urby glaubte das. Der Einzige, der das ganze Ausmaß des Betrugs kannte, war Herzog selbst. Er und Sabine, natürlich.

Herrgott, er war in einem Alter, in dem andere Autoren gerade erst anfingen, einigermaßen wichtige (geschweige denn erfolgreiche) Bücher zu schreiben. Achtunddreißig, ein Altjugendlicher. Ein Mann in der Blüte seiner Jahre, der sich vehement weigerte, sich auch nur einen Tag älter als fünfundzwanzig zu fühlen. Er ging ins Fitnessstudio, hatte volles Haar, und dass es an den Schläfen grau wurde, tat der Attraktivität seiner Erscheinung durchaus keinen Abbruch — eine Tatsache, die sich auch gestern wieder bestätigt hatte. Während diese beschissene, drittklassige Coverband »Sturmwärts« ihren Mist runtergedudelt hatte, hatte er Bücher signiert. Genau wie früher, auch wenn die Schlange vielleicht ein klein wenig kürzer war. Wenn schon. Immerhin war da eine Schlange gewesen. Und diese blutjunge Blondine.

Das war nett gewesen, sehr nett sogar. Natürlich hatte die Blondine einen Namen gehabt, bloß welchen? Sie war Studentin, natürlich. Germanistik vielleicht, oder Philosophie? Irgendwas in der Art, von der Einrichtung ihrer Wohnung zu schließen – vom Sperrmüll aufgesammelte Antikmöbel, die Spiegel voller Antifa-Aufkleber und ein Monster von Bücherschrank, in dem sich buchstäblich querbeet alles finden ließ, von Nietzsche bis Dan Brown. Ein bisschen wie sein eigener Bücherschrank, damals. Als er eine ähnliche Wohnung bewohnt hatte, nur eine Winzigkeit kleiner und schmutziger. Na gut, eine ziemlich große Winzigkeit. Die Blondine war hübsch, verteufelt hübsch, auf eine Weise, auf die es nur Studentinnen Anfang zwanzig sein können. Eine Art durchtriebener Naivität: Ein Mädchen, das wusste, was es wollte, aber kaum dem Alter entwachsen schien, da sie es bekam, indem sie eine Schnute zog und ein wenig mit den Wimpern klimperte. Als sie ihm das Buch zum Unterschreiben rüberreichte, hatten sich ihre Finger berührt, und das war kein Zufall gewesen. Grün lackierte Fingernägel. Süß, irgendwie. Also hatte Herzog seinen Stift gezückt und ihr eine Widmung hineingeschrieben, und zwar eine ganz persönliche:

Wir sind dann später im Club Zacharias. Komm doch vorbei, ich will dich tanzen sehen, schönes Mädchen.

Nicht unbedingt die hohe Poesie, fürwahr. Aber es hatte seinen Zweck erfüllt. Er hatte sie tanzen sehen, und anschließend hatten sie noch ein bisschen weiter getanzt, in ihrer zugemüllten Studentenbude im Westend. Ihr junger, geschmeidiger Körper hatte mit jedem Quadratzentimeter das gehalten, was ihr engelhaftes Gesicht versprochen hatte. Der Sex war gut gewesen, heftig und leidenschaftlich, auch wenn sie beide da schon ziemlich im Eimer gewesen waren von der Nacht im Zacharias. Das Vögeln hatte für einen Moment Herzogs Gedanken an weniger erfreuliche Dinge vertrieben. Wie zum Beispiel diesen erbärmlichen, fetten Kerl, der hinter dem Mädchen — blond, studentisch, namenlos — in der Schlange gestanden hatte. Hatte ihm sein Exemplar hingestreckt wie eine Waffe und dabei ein Gesicht aufgesetzt, als überreiche er einen Beschwerdebrief. Auf Herzogs aufgesetztes Lächeln und die Frage: »Für wen darf ich es signieren?«, hatte der Kerl irgendetwas Unverständliches in seinen Bart gemurmelt und dabei hektisch auf das Buch gedeutet. Mit Fingern, die nur so von Schmutz starrten. Ekelhaft. Und fett war der Kerl gewesen! Herzog hatte die übliche Belanglosigkeit in das Buch gekritzelt.

Vielen Dank und viel Spaß beim Lesen!

Als der Kerl davongewatschelt war, in seinen braunen, abgewetzten Cordhosen, hatte Herzog bemerkt, dass er die gleichen roten Nike-Sneakers trug, die Herzogs Markenzeichen waren. Erbärmlich. So sahen also die Die-Hard-Herzog-Fans heutzutage aus. Schmutzig, ungepflegt und fett und in etwa so sozial kompetent wie ein Hackklotz.

Vermutlich Hartz-IV-Empfänger und ausgezeichneter Kenner einer erlesenen Sammlung von Billigspirituosen.

Seht her, Leute, das ist der typische Herzog-Leser! Laden wir ihn doch in eine Talkshow ein, damit er uns erzählen kann, was ihn mit der hochgeistigen Literatur des Meisters verbindet.

Immerhin schien er das Buch gekauft und nicht aus irgendeiner Mülltonne gezogen zu haben. Den Verlag würde es freuen, und Urby vermutlich auch. Klar, bei denen tauchten solche Typen ja nicht auf und wollten die dreckige Klaue geschüttelt haben. Herzog signierte weiter, wie eine Maschine, was auch ganz gut der Art und Weise seines Profi-Lächelns entsprach. Als er aufschaute, verschwand die Blonde gerade mit einer Freundin am Ausgang, drehte sich noch einmal zu ihm um und schenkte ihm ein Lächeln. Dieses Lächeln sagte ‚Zacharias‘, und dass sie tanzen würde. Und was immer sonst er wollte, das sie tat. Bei Gott, hatte die Kleine einen süßen Po gehabt.

Herzogs Gedanken wurden jäh durch das Klingeln des Telefons unterbrochen, das mit dem Radio gekoppelt war. Es war ein Rrrinng!, wie es typisch für analoge Telefone war, bevor diese begonnen hatten, einen mit unsäglichen Pieptonvarianten von Beethovens Neunter und ähnlichem Unfug zu nerven. Auf dem Flachbildschirm des Gerätes erschien der Name des Anrufers.

Sabine :-(

Den traurigen Smiley hatte Herzog hinzugefügt, als es richtig schlimm gewesen war zwischen ihnen, und dann irgendwie vergessen, ihn wieder zu löschen. Seufzend warf er einen Blick auf seine Rolex. Fünf Minuten nach fünf, und er war noch nicht mal an der Reichenbachbrücke. Er rief: »Annehmen«, das Klingeln verstummte, es knackte und dann war er mit seiner Exfrau verbunden. Eine Tatsache, die für sich genommen nicht einer gewissen Ironie entbehrte, wie Herzog fand.

»Tut mir leid, Bine«, begann er das Gespräch denkbar ungünstig mit einem Schuldeingeständnis. »Ich bin gleich da. Du machst dir keine Vorstellung, was hier los ist. Weiße Weihnacht und das alles, kann kaum die Hand vor Augen sehen.« Was sogar stimmte. Aber natürlich war er auch zu spät losgefahren, wie immer. Was sie natürlich wusste.

»Hallo Andy.« Ihre Stimme klang matt aus den Boxen. Herzog hasste es, beim Vornamen genant zu werden, und Andy ging schon mal gar nicht. Was Sabine fünf Jahre lang mit erstaunlicher Vehemenz ignoriert hatte, erst recht, seit ihre Scheidung durch war. »Ich wollte nur …« O Mann, dachte Herzog und bremste. Sein Vordermann, der Fahrer eines uralten Audi 80, hatte urplötzlich beschlossen, in die Eisen zu steigen, weil die Ampel vor ihm auf Gelb schaltete. »Scheiße!«, rief Herzog, aber der Porsche hatte die Straße gut im Griff, sogar bei zentimeterhohem Schnee. Was man vom Großteil der Münchener Autofahrer nicht behaupten konnte. »Die fahren wie die Idioten hier! Als ob es jedes Jahr zum ersten Mal schneit! Mann!«

»Oh, sorry, ich wollte dich nicht ablenken, Andy.«

»Kein Problem, Bine. Ich hab’ ein Headset. Ich kann fahren. Auch wenn ich da scheinbar der Einzige hier bin. Was wolltest du denn?«

»Ich wollte nur wissen, ob du noch kommst. Tommy … er fragt die ganze Zeit nach dir.«

Tommy.

»Na klar komme ich, keine Frage! Und dann machen wir einen drauf, Tommy und ich, sag ihm das, ja?«

Sie kicherte ein bisschen. Es klang schwach und auch nicht ganz echt. Aber es rief die Erinnerung an das hervor, was er an Sabine einst geliebt hatte. Als sie in etwa in dem Alter gewesen war wie das blonde Mädchen gestern. Herzog schob den Gedanken mit einer unwirschen Kopfbewegung beiseite. »Ich werde allerdings nicht lange bleiben können, Bine.«

»Oh.«

»Ja, tut mir leid. Ich muss dann noch dringend in den Verlag.«

»An Heiligabend?«

»Ja, es geht um das neue Buch, sie haben ein paar Fragen wegen der zweiten Auflage.«

»Zweite Auflage? So gut läuft es? Wow!«

»Klar, Scha … Bine. Du kennst mich doch«, plapperte er fröhlich. Shit. Das war knapp gewesen. »Immer auf der Sonnenseite.« Halt die Klappe, Herzog, halt doch endlich deine verdammte Klappe!

»Na das freut mich für dich. Also wenn es Umstände macht, können wir auch …«

»Bist du verrückt? Ich komme vorbei. Ich hab’s Tommy schließlich versprochen.«

»Okay, schön. Bis dann. Fahr vorsichtig!« Klick, und damit war sie aus der Leitung.

Großartig, dachte Herzog. Du riesengroßer Vollidiot.

Er warf einen Blick auf die schwarze Sporttasche auf dem Beifahrersitz. Natürlich war es eine Lüge gewesen, dass er noch einmal zum Verlag musste. So, wie die Dinge lagen, war das vermutlich auch Sabine klar. Vom Verlagsgeschäft hatte sie nie auch nur das Mindeste verstanden, sah man von Herzogs augenrollenden Beschwerden über die Lahmarschigkeit der dort beschäftigten Dinosaurier ab, auch wenn diese Beschwerden mit zunehmendem finanziellen Erfolg Herzogs immer leiser geworden waren. Die Dinosaurier hatten ihn letztlich gut genährt, sehr gut sogar. Wenn er vielleicht auch nur die Krümel fraß, die aus ihren reißzahngespickten, träge mahlenden Mäulern fielen, so hatten diese Krümel ihm doch eine hübsche Villa und einen fast neuen Porsche 911 beschert. Carrera S, versteht sich. 560 PS, mit denen man auch ganz hervorragend im Stau stecken konnte.

Für Sabine hatte es eine schöne Scheidung gegeben, dachte Herzog bitter. Auch sie lebte schließlich vom Verkauf seiner Bücher, und das nicht schlecht. Herzog war niemals kleinlich gewesen, was die Unterhaltszahlungen betraf, und zum Geburtstag und Weihnachten hatte er für Tommy einen Dauerauftrag eingerichtet, von immerhin eintausend Euro. Jeweils. Kein Grund, sich wegen irgendetwas Vorwürfe zu machen.

Wieso war dann seine gute Laune, die Vorfreuden der Sporttasche betreffend, plötzlich wie weggeblasen? Wieso wäre er dann am liebsten gleich wieder umgedreht und hätte sich in seinem Haus verkrochen, das Telefon abgestellt, in einer kochend heißen Wanne voll Schaumbad und mit einer vollen Flasche Dalwhinnie auf dem Wannenrand?

I’m dreaming of a white christmas, plärrte Bing Crosby aus dem Radio.

Keine Ahnung, dachte Herzog, muss wohl an Weihachten liegen. An der beschissenen weißen Weihnacht.

Auch wenn die Scheibenwischer des Porsche auf Hochtouren arbeiteten, war durch die Scheibe wenig mehr zu erkennen als verschwommenes weißgraues Schneetreiben, erhellt von den kräftigen Xenonscheinwerfern, die scharfe Lichtkegel in das Flockengestöber schnitten und versuchten, für so etwas Ähnliches wie klare Sicht zu sorgen.

Die Straße war nun frei von anderen Fahrzeugen. Feiglinge, die bereits zu Hause vor dem Weihnachtsbaum hockten und ihre langweiligen Kleinbürgergeschenke auspackten. Sollten sie doch. Herzogs Hand tastete nach der schwarzen Sporttasche und streichelte sanft die raue Oberfläche. Sein Geschenk, an ihn selbst. Ein kleines bisschen Ruhe.

Herzog trat aufs Gaspedal und der Porsche beschleunigte mit einem kräftigen Röhren.

Aus: Andreas Herzog, »Vom Tod der Engel: Thriller«

2. Auflage: 450.000 Exemplare

Der Junge ging näher, folgte dem Duft. Öffnete die Tür, obwohl Mama gesagt hatte, er dürfe sie nicht beim Backen stören. Sie hatte sich verändert, seit Papa nicht mehr da war. Aber das war eine Lüge. Papa war nicht einfach nur weg oder für eine Weile verreist oder so. Das hatte er früher auch schon gemacht, sogar häufiger in letzter Zeit, aber da war er jedes Mal zurückgekommen. Diesmal nicht. Wenn Mama auch anfangs traurig über seine tagelangen Ausflüge gewesen war, seit einem Jahr oder so schien es, als hätte sie sich damit irgendwie abgefunden. Achselzuckend. Aber sie hatte ihn belogen. Papa war tot. Das war dem Jungen klar, als er gesehen hatte, dass Mama wieder weinte. Tagelang. Als die Tränen schließlich verebbt waren, war etwas anderes gekommen. Etwas Dunkleres, das Mama gepackt und seitdem nie wieder losgelassen hatte, das in sie eingedrungen war und von ihr Besitz ergriffen hatte wie der Dämon in einem der Gruselfilme, die er heimlich schaute. Auch das hatte ihm Mama natürlich verboten. Vermutlich glaubte sie, er würde sich fürchten und ins Bett machen oder so was. Aber das war selbstverständlich Unfug. Der Junge fürchtete sich kein bisschen vor den Gruselfilmen. Auch nicht vor denen mit Freddy Krueger, dem Mann mit der Krallenhand und dem verbrannten Gesicht. Den mochte er besonders gern, denn er war witzig. Hatte immer diese flapsigen Sprüche drauf, während er die Teenager aufschlitzte.

Aber jetzt, als er die Treppe hinunter in die Küche ging — dorthin, woher der Duft kam, dorthin, wohin zu gehen ihm verboten war — da stellten sich ihm die kleinen Haare im Nacken und an den Unterarmen auf, und etwas in seinem Unterleib zog sich zu einem kleinen, festen Ball zusammen. Vorsichtig schlüpfte er aus seinen Plüschpantoffeln, damit die dicke Gummisohle keinen Lärm auf den Fliesen unten machte.

Dann ging er weiter.

Es war Plätzchenduft, seine Mutter backte. Wie in jedem Jahr um die Weihnachtszeit. So, als sei überhaupt nichts passiert mit Papa. Sogar in dem Jahr, als Papa während der gesamten Feiertage fortgegangen (aber nicht gestorben) war, hatte Mama für sie beide Plätzchen gebacken. Nie durfte er dabei zuschauen oder vom Teig naschen. Aber das machte nichts, die fertigen Plätzchen entschädigten ihn dafür mehr als ausreichend.

Inzwischen hatte er den Fuß der Treppe erreicht und spähte um den Pfeiler des Treppengeländers hinüber zur Küche. Die Tür, stellte er fest, war nur angelehnt. Jetzt bemerkte er auch, was mit dem Duft nicht stimmte. Er war zu herb, zu intensiv. Etwas anderes war darin, etwas Scharfes, Bitteres. Der Junge presste den Ärmel seines Pyjamas vor Mund und Nase und ging weiter.

Auf den Duft, auf die angelehnte Küchentür zu.

Auf Mama zu.

Als er die Tür erreicht hatte, war aus dem Duft ein schwerer, intensiver Gestank geworden. Er öffnete die Tür und ihm quoll schwerer, beißender Rauch entgegen. Schwarzer Rauch, der aus den Spalten des Gasherds drang.

Die Plätzchen!

Noch während der Junge diesen Gedanken hatte, wieder und wieder in einer absurden Schleife, wie eine Schallplatte mit einem Sprung,

Die Plätzchen …

starrte er auf den Körper, der in der Mitte der Küche von der Decke hing.

… Sie sind alle …

Dort, wo sonst die Küchenlampe war. Den kleinen Bastkorb, der als Lampenschirm diente, hatte Mama abgenommen und säuberlich auf das karierte Tischtuch des Küchentischs gelegt. Des Tisches, an dem sie damals, in guten Zeiten, gemeinsam gegessen, miteinander gesprochen und gelacht hatten. Vor langer Zeit. All diese Gedanken schossen durch den Kopf des Jungen wie flinke, kleine Fische in einem trüben Teich. Silbrige Körper, die auftauchten und blitzschnell wieder verschwanden, ohne erkennbaren Zusammenhang.

… Die Plätzchen sind alle verbrannt.

Das Bein seiner Mutter zuckte noch einmal, und ihr Pantoffel flog von ihrem Fuß, als schüttele sie ihn unwillig ab.

Fort mit dir, denn ich brauche dich nicht mehr!

Nie wieder!

Dann war sie still. Schwankte nur noch leicht hin und her, baumelte an dem Seil, das sie sich aus dem Kabel der Lampe gemacht und um den Hals gelegt hatte, bevor sie vom Esstisch gesprungen war.

Er starrte auf den Körper seiner Mutter, bemerkte, dass etwas an der Innenseite ihrer Schenkel entlanglief und zu Boden tropfte. Er unterdrückte ein schrilles Lachen, indem er sich den Pyjamaärmel fester auf den Mund drückte, und so kam nur ein gedämpftes Glucksen hervor.

Mama fürchtete sich ebenfalls, hatte sich offenbar ganz gewaltig gefürchtet, der Sauerei auf dem Küchenboden nach zu urteilen. Seine Augen tränten von dem beißenden Qualm, der die Küche erfüllte und ihm den Atem nahm, aber das störte ihn nicht. Er starrte bloß auf die Leiche, die echte Leiche seiner Mutter, die da vor ihm hing. Er empfand keine Trauer, keine Furcht und kein Entsetzen.

Was er spürte, war Faszination.

Das hier war besser als die Freddy-Filme.

Weil es echt war.

Etwas tief in ihm war gerufen worden, und nun hob es seinen Kopf an die Oberfläche seines Bewusstseins wie ein Urtier, das vom Grund eines stillen Sees auftauchte. Der Junge sah an sich hinab und bemerkte, dass eine seiner Hände in seinen Pyjamahosen steckte und dort reibende Bewegungen vollführte. Er schaute nur einen Augenblick hin, dann zuckte sein Blick zurück zu dem baumelnden Körper. Während seine Bewegungen heftiger wurden, und seine Lunge gegen die erstickenden Gase ankämpfte, hatte er nur Augen für das eine Objekt seiner Begierde.

Für seine erste Konfrontation mit dem ultimativen Gefühl.

Später würde er noch sehr oft an diese erste Begegnung mit dem Tod zurückdenken. Ihm würde klarwerden, dass er damals, in diesem Moment, den Tod bei der Arbeit beobachtet hatte. Live und in Farbe. Und der Tod hatte ihn, im Gegensatz zu seiner Mutter beim Plätzchenbacken, zuschauen lassen.

Ihm würde klar werden, dass dies ein gewaltiges Privileg war, nur wenigen vorbehalten.

Er würde beginnen, die Arbeit des Todes zu tun — auf der Suche nach jenem ultimativen Gefühl, das sein Denken im Laufe der Jahre auszufüllen begann wie ein Luftballon, den jemand in seinem Kopf aufblies. Größer und immer größer, bis es nur noch den Ballon in seinem Kopf gab. Das ultimative Gefühl. Das ihn schweben ließ. Aber so oft er sich auch bemühte, nie wieder würde das Gefühl so intensiv sein wie an jenem ersten Tag in der Küche.

ZWEI

27. DEZEMBER

Walkowiak fror. Ganz erbärmlich, und das alles wegen eines Arschlochs, um die Dinge beim Namen zu nennen. Also beschloss der Kommissar, nicht länger tatenlos mitten im Schneegestöber herumzustehen und den Jungs von der Kriminaltechnik dabei zuzusehen, wie sie inmitten des anhaltenden Schneegestöbers versuchten, Fotos von dem eingeschneiten Wrack des Porsche 911 Carrera S zu schießen, das allmählich unter einer Schneewehe versank.

Um den Wagen war es wirklich schade, fand Walkowiak.

Um den Kerl, der darin gewesen war, wäre es nicht halb so schade gewesen. Wenn er sich denn in dem Wagen befunden und Walkowiak und dem Dutzend Polizisten, welche die Mordkommission ‚Neuhaus’ inzwischen umfasste, eine Menge Arbeit erspart hätte. Zwischen Weihnachten und Neujahr, ausgerechnet. Sie hatten Walkowiak am ersten Feiertag vom Gänsebraten weggeholt, eine der wenigen wirklichen Traditionen, welche die Familie Walkowiak heute noch pflegte. Eine heilige Tradition. Mit Füßen getreten, wegen eines durchgedrehten Schriftstellers, der anschließend noch nicht einmal den Anstand besessen hatte, seinen Selbstmord richtig hinzubekommen. Ein Arschloch eben.

Walkowiak stapfte durch den Schnee zurück zum Einsatzwagen und klopfte, worauf die Schiebetür rasselnd zur Seite geschoben und hinter ihm gleich wieder zugeworfen wurde. An dem Porsche hatte sicher nichts gerasselt, so lange er noch aus einem Stück bestanden hatte, anstatt aus einer nutzlosen Masse verbogenen Blechs und gesplittertem Sicherheitsglas. Ein Jammer war das.

»Kaffee?«, fragte einer der Beamten und streckte ihm einen Pappbecher mit einer schlammfarbenen Flüssigkeit hin, die Walkowiak mit einem angewiderten Gesichtsausdruck hinunterkippte. Ekelhaft, wie zu erwarten. Aber immerhin heiß.

»Also?«, fragte er in die Runde.

Hinrichs, der Leiter der KT, antwortete ihm. »Muss wohl von der Straße abgekommen sein. Ist auch nicht schwer, man kann ja kaum was erkennen bei dem Mistwetter. Dann ist der Wagen die Böschung hinab ausgerollt und — bumm! — Endstation deutsche Eiche.«

»Gut gezielt, wie?« Walkowiak grinste in die Runde.

»Kann man sagen, ja.«

»Also habe ich recht mit dem Selbstmord?«

»Hm. Schwer zu sagen. Es könnte auch ein Unfall gewesen sein. Er war nicht mal besonders schnell.«

»Wie schnell denn?«

»Um das sagen zu können, müssen wir uns den Wagen im Labor anschauen. Aber nach einer ersten flüchtigen Betrachtung dessen, was die Jungs da gerade aus dem Schnee graben, würde ich sagen dreißig bis fünfzig km/h. So in der Richtung.«

»Witterungsangepasste Geschwindigkeit also?«

»Das liegt wiederum im Auge des Betrachters. Angepasst wäre es, bei dieser Witterung zu Hause zu bleiben.«

»Wem sagen Sie das?« Walkowiak gedachte der knusprigen Gans, die er am ersten Tag dieses Debakels verpasst hatte. Er hatte sich am nächsten Tag ein Stück aus dem Kühlschrank stibitzt, bevor er zur Arbeit gehastet war, aber es war irgendwie nicht das Gleiche gewesen wie ein Festtagsbraten in Familie.

»Na gut. Wissen wir inzwischen, wo der Kerl ist?«, wandte sich Walkowiak diesmal an den jungen Bebrillten, der in einer Ecke saß und auf die Tastatur des Laptops auf seinen Knien einhackte.

»Hä?«, fragte der Bebrillte. Offenbar hatte Walkowiak ihn aus einem komplexen Geflecht von Ermittlergedanken gerissen. Oder aus der Betrachtung von Pornobildchen. Walkowiak machte sich da wenig Illusionen.

»Herzog, Andreas. Unser entsprungener ‚Künstler’, der das Schmuckstück da draußen geschrottet hat.« Walkowiaks Art, das Wort Künstler zu betonen, ließ keinen Zweifel daran, was er von dieser Art des Broterwerbs hielt.

»Er ist ein Künstler? Maler oder so was?«

»Schriftsteller. Schundromane. Hab’ mal einen gelesen. Mord und Totschlag, hauptsächlich. So wie bei …«

»Oh«, machte der junge Polizist.

»Genau. Und? Haben Sie schon eine heiße Spur?«

»Ich, äh …«

Wer zur Hölle ist dieser Vollidiot?, dachte Walkowiak, und was macht er in meiner Mordkommission? Schicken sie uns jetzt schon die Schülerpraktikanten zum Einsatz?

Von draußen wurde erneut an die Blechtür des Kleinbusses geklopft. Walkowiak selbst riss die Tür auf und das von der Kälte gerötete Gesicht eines Polizisten erschien. Die Kapuze auf seinem Kopf war schneebedeckt. Seine behandschuhte Rechte verschwand darunter, weil er ein Mobiltelefon an sein Ohr drückte.

»Ja«, sagte er, offenbar in das Telefon, »Ich weiß, wo das ist.«

Walkowiak schaute den Polizisten erwartungsvoll an, während große Schneeflocken und eine anständige Portion Kälte in das Innere des Busses geweht wurden. Er trug einen Bart, der voller Eiszapfen war. Wie ein Promotionsfoto von Reinhold Messner, dachte Walkowiak. Oder auch vom Yeti.

»Und?«, fragte er ungeduldig.

»Sie haben Herzog gefunden«, antwortete der Polizist.

Herzog kam nur langsam zu sich. Die Realität war ein fernes Ereignis am Ende eines langen Tunnels aus weißen Wattebäuschen, durch die sich Herzogs Bewusstsein nur träge hindurchkämpfte. Immer wieder verschwamm die Sicht vor seinen Augen, das Weiß wurde grau, farblos … schwarz. Dann rüttelte ihn jemand an der Schulter und das diffuse Licht kehrte zurück. Allmählich lichtete sich auch der Tunnel aus Watte und Nebel. Weißem Nebel. Schneegestöber. Schneegestöber, das in fetten, weißen Flocken die Frontscheibe seines Porsche verklebte, während er den Wagen durch die Nacht steuerte. Und dann …

Und dann? Schneegestöber über seiner Erinnerung. Da war nichts mehr außer … Erneut drohte er das Bewusstsein zu verlieren, wieder wurde er wachgerüttelt. Von kräftigen, erfahrenen Händen.

»Hallo?«, fragte eine sonore Männerstimme, irgendwo seitlich seiner Wahrnehmung, »Hallo, können Sie mich hören? Kommen Sie, wachen Sie auf. Geben Sie sich ein bisschen Mühe.«

»Ischhh …«, krächzte Herzog. Seine Kehle fühlte sich rau und trocken an, so als hätte er sich ein paar Tage lang ausschließlich von Sandpapier und Sägespänen ernährt. »Issschhhh…«, hauchte er noch einmal.

»Wunderbar!«, freute sich die Stimme. »Das ist doch schon mal ein Anfang. Jetzt schlagen wir mal ein wenig die Augen auf, ja?« Ein Arzt. Niemand sonst würde dieses bescheuerte ‚Wir’ verwenden. Denn dass dieser Typ, der ihn gelegentlich rüttelte, seine bereits offen hatte, stand ja wohl außer Frage.

»Aaarsccchthsch?«

»Ja, ich bin ein Arzt. Mein Name ist Dr. Schaller. Sie haben verdammt großes Glück gehabt.«

Langsam hob Herzog die Augenlider. Auch wenn es ihn erhebliche Anstrengung kostete, setzte er sich letztlich durch und öffnete die Augen einen Spaltbreit.

»Guten Tag, guten Tag!«, frohlockte der Arzt.

»Guuuhn …«

»Sehr schön. Sie sind also wieder bei uns. Wunderbar.« Aus dem Nichts schoss ein gleißend heller Lichtstrahl in Herzogs ungeschützte Augen, als der Arzt mit einer kleinen Lampe hineinleuchtete.

»Au!«, zischte Herzog.

»Pupillenreaktion normal«, konstatierte der Arzt. »Willkommen zurück im Leben!«

»O Mann.« Blinzelnd schaute Herzog nach oben, direkt in das vollbärtige Gesicht eines Endfünfzigers mit einer auffällig rot umrandeten Brille, die in seiner Holzfällervisage ungefähr so passend wirkte wie eine Schlagbohrmaschine in der Hand einer Ballerina.

»Fühlen wir uns noch ein wenig benommen, ja? Das geht vorbei. Wie geht es Ihnen sonst so? Schmerzen?«

»Nein, nein, ich … denke nicht. Da ist … Nebel.«

»Einschränkungen der Klarsicht. Okay. Das ist normal. Versuchen Sie doch bitte mal, Ihr Bein anzuheben.« Herzog tat es, auch wenn er viel lieber zurück in den wohltuenden Schlaf gedriftet wäre. »Wunderbar. Jetzt das andere. Gut! Okay, jetzt heben Sie Ihre Hände bitte so, dass Sie selbst sie sehen können! Ausgezeichnet. Halten Sie mal drei Finger hoch. Wunderbar. Vier plus fünf ist?«

»Äh … nn … neun.«

»Wundervoll. Alles bestens, würde ich sagen. Verraten Sie mir eben noch, wie Sie auf den, äh … Sperlingsweg geraten sind?«

»Schperlingwhe…?« Sperlingsweg?

»Ganz recht«, fuhr die sonore Stimme des Arztes fort. »Dort hat man Sie aufgelesen. Nachdem Sie auf der Straße zusammengebrochen sind. Ziemlich leicht bekleidet für die herrschenden Temperaturen, möchte ich hinzufügen.«

»Ich … ich weiß nicht. Hab’ noch nie … von einem … Sper … Sperlingsweg gehört.«

»Oh. Aber Sie erinnern sich schon an Ihren kleinen Ausflug, ja?«

»Ich, nein … oder doch. Da war etwas, ein … irgendetwas Schlimmes … ich …«

Ein Auto, an einem Baum. Sein Porsche. Ein Unfall, und er selbst. Er steht auf, sieht sich um. Es ist furchtbar kalt, aber er hat nur seinen Anzug an, friert bis auf die Knochen. Durch das dichte Schneegestöber sieht er Lichter am Horizont. Die Lichter einer Stadt. München. Oder nein, das sind die Lichter eines kleinen Dorfes, es sind viel zu wenige für München.

Dann war die Erinnerung plötzlich wieder da.

»Autounfall«, sagte Herzog. »Ich hatte einen Unfall. Da waren Lichter, auf die bin ich zugelaufen, weil mir kalt war und ich nicht wusste, wohin. Dann … Häuser, ein Dorf oder so was.« Er musste den Unfall auf dem Weg zu Sabine gebaut haben. Ja, genau, dahin war er unterwegs gewesen. Sabine, und dann die schwarze Sporttasche. Prall gefüllt mit allem, was man für ein paar Tage in einer einsamen Berghütte benötigte. Warme Klamotten, ein paar Flaschen Wein und … und ein paar Sachen, die doch recht speziell waren. Nicht gut.

»Genau. Sie hatten einen Unfall, auf der Neureeder Straße, kurz vor Buchendorf. Sie erinnern sich, wunderbar. Es war gut, dass Sie auf das Dorf zugelaufen sind. Wer weiß, wann ob Sie bei diesem Wetter überhaupt rechtzeitig gefunden hätte. Aber nächstes Mal packen Sie sich eine dicke Jacke ins Auto, versprechen Sie mir das? Und ziehen Sie die an, bevor Sie bei vier Grad unter Null auf Erkundungstour gehen.«

»Ich … ja, klar. Mach ich.« Herzog versuchte ein Lächeln. Er hatte den Porsche geschrottet. Unfall. Das bedeutete Polizei, die früher oder später auftauchen und den Wagen unter die Lupe nehmen würde. Ergo auch die schwarze Sporttasche. Vielleicht auch deren Inhalt. Und wenn sie schon dabei waren, vielleicht auch das kleine Geheimfach, in dem er seinen Vorrat ‚Inspiration’ versteckt hatte. Shit. Herzog spürte, wie sein Lächeln verebbte.

»Ist … ist der Wagen ausgebrannt?«, fragte er mit matter Stimme. Die Hoffnung starb wohl zuletzt.

»Ausgebrannt?«, fragte der Arzt. »Ich weiß nicht. Bis gerade eben wusste ich ja nicht mal, dass Sie einen Autounfall hatten. Aber so weit ich weiß, brennen Autos nur äußerst selten aus. Die Tatsache, dass Sie es noch bis nach Buchendorf geschafft haben, spricht doch deutlich dagegen, dass der Wagen … o mein Gott!«, entfuhr es ihm plötzlich, »Waren Sie denn etwa nicht allein in dem Auto?«

»Doch, doch«, beruhigte ihn Herzog. Nur ich und das Koks, haha.

»Na dann, Herr Herzog. Glück im Unglück, würde ich sagen. Ihr CT sieht gut aus, das heißt, in Ihrem Kopf ist alles in Ordnung. Bis auf eine leichte Gehirnerschütterung. Die kleinen Lücken, die Sie noch in Ihrer Erinnerung haben, dürften sich in der nächsten Stunde schließen. Versuchen Sie, sich einfach zu erinnern, und es wird nach und nach wiederkommen. Die Teile des Puzzles werden sich zu einem Bild zusammenfügen, sozusagen. Okay?«

»Ja, klar«, sagte Herzog, »Okay.«

»Wundervoll. Sehen Sie zunächst von allzu hastigen Bewegungen ab, das könnte Schwindelanfälle hervorrufen und wir wollen ja nicht, dass Sie uns zusammenklappen wie ein altes Mütterchen, nicht wahr?«

»Nein.« Das wollen wir ganz sicher nicht.

»Gut. Ich habe Ihnen außerdem eine Halskrause verschrieben, nur für den Fall, dass wir irgendwelche Haarrisse übersehen haben. Nicht, dass Ihnen der Kopf plötzlich von den Schultern rollt.« Der Arzt kicherte. Herzog fand, es klang wie ein Zwölfjähriger, der sich diebisch über die Pointe in einem anzüglichen Witz freut. Ärzte!

»Hm«, machte Herzog.

Der kichernde Witzbold mit der Designerbrille wandte sich von Herzog ab. »Schwester Lina, wir legen ihn erst mal in Zimmer elf zu Herrn … Dingens …«

»Heintze«, ließ sich eine angenehm sanfte, weibliche Stimme vernehmen.

»Genau, Heintze. Nehmen Sie sich Sebastian und betten Sie unseren Herrn Herzog zur Ruhe. Schauen Sie alle halbe Stunde mal nach ihm, und wenn er einschläft, können Sie ihn jetzt schlafen lassen. Ich denke, wir können Hirnschäden weitestgehend ausschließen.« Fragt sich nur, bei wem, dachte Herzog und hätte beinahe selbst ein bisschen gekichert. Vielleicht würde die Polizei auch gar nicht in seine Tasche schauen. Schließlich spielte die ja für den Unfall keine Rolle. Ja, und vielleicht fliegen draußen auch ein paar Schweine durchs Schneegestöber.

»Ich schau dann nochmal vorbei, aber ich denke, mit ein paar Tagen Ruhe ist unserem Englischen Patienten hier am meisten gedient.«

»Ist gut, Doktor.« Eine sexy Stimme, dachte Herzog. Es würde sich vermutlich lohnen, herauszufinden, zu welchem Gesicht diese Stimme gehörte. »Ich mach das Bett fertig.«

»Ja, ja«, sagte der Arzt, »tun Sie das.«

Herzog hörte, wie die Schwester die Tür hinter sich schloss, und daraufhin beugte sich der Rübezahl mit der knallroten Hipsterbrille über ihn. »Mal ganz im Vertrauen, Herr Herzog. Ich weiß, es ist Winter, und es geht mich auch nichts an, aber ein Rat unter Freunden: Sie sollten sich künftig vom Schnee fernhalten. Verstehen wir uns?«

»Vom Schnee?« Herzog tat unschuldig. Reiner Reflex.

»Sie wissen schon.« Der Arzt machte eine Geste, indem er seinen Zeigefinger mit einer blitzschnellen Bewegung abwechselnd unter eins seiner gewaltigen Nasenlöcher hielt und kurz schniefte. »Wenn Sie sich schon diesen Scheiß reinpfeifen müssen, dann fahren Sie anschließend bitte nicht mit dem Wagen. Nicht jeder hat so viel Glück wie Sie.«

»Ich … ist in Ordnung«, log er dem Arzt vor, und der nickte ernst, wohl wissend, dass in dieser Beziehung nur sehr wenig in Ordnung war oder in absehbarer Zeit in Ordnung kommen würde.

»Was ist das?«

»Was ist was?«

»Ihr rechter Arm. In der Beuge. Ist das der Einstich, mit dem Sie …?«

»Einstich?« Hektisch zog Herzog den Arm hervor. Er zog ab und zu mal eine Line und auch das nicht regelmäßig. Außer, wenn der Stress ihn zu übermannen drohte. Wenn Veröffentlichungstermine näher rücken, zum Beispiel, und er noch kein einziges vernünftiges Wort zu Papier gebracht hatte. Aber ein Einstich? Er war doch kein verdammter Junkie, der sich irgendeinen Scheiß in die Venen pfiff! Doch da war ein kleines Loch, keine Frage, mit einem blassrosa Rand. Er hatte keine Ahnung, wie das da hingekommen war.

»Es … ich …«, stammelte Herzog. »Keine Ahnung. Das muss wohl vom Unfall stammen.«

»Wie Sie meinen«, sagte der Arzt. Ernst nun, ohne jede Spur eines Lächelns in seinem grundgütigen Gesicht. »Sie haben noch ein paar Kratzer im Gesicht — keine Angst, es sind nur kleine — und wir haben eine Fleischwunde in ihrem Oberarm genäht, nur zur Sicherheit. Kratzen Sie nicht daran herum, dann haben Sie gute Chancen, dass nicht mal eine Narbe zurückbleibt.«

Die Tür ging auf, die Schwester war zurück.

»Rollen Sie ihn rüber«, sagte der Arzt und würdigte Herzog keines weiteren Blickes.

Wie sich herausstellte, war Schwester Lina nicht ganz das, was ihre Stimme versprochen hatte. Hübsch, ja, aber auch nicht gerade die angehende Sexgöttin, die ihre Stimme hatte vermuten lassen. Eine Frau, die Herzog in einem Club als ‚süß’ etikettiert und ihr ein kurzes Lächeln geschenkt hätte, bevor er sich den wirklich heißen Mädchen zuwandte. Nur für den Fall.

Herzog warf einen Blick auf ihren Oberkörper, denn der war alles, das er aus seiner derzeitigen Position von ihr sehen konnte. Ihre Schultern waren eine Winzigkeit zu rund, was darauf schließen ließ, dass sie nicht eben gertenschlank war. Vielleicht nicht unbedingt dick, aber eben auch nicht Herzogs bevorzugtes Beuteschema: groß, blond, und sportlich schlank bis durchtrainiert. Und blond war das Mädchen ganz bestimmt nicht. Beziehungsweise ließ sich das nicht sagen, denn ihre Haare waren von einem so tiefen Schwarz, dass es nur gefärbt sein konnte. Als sie den Kopf ein wenig drehte, bemerkte Herzog, dass ihre Haare auf dieser Seite zu wenig mehr als einem kurzen Stoppelfeld zurechtgestutzt waren, über das ihre längeren Haare fielen. Herzog fand diese Art von Frisur bescheuert, musste aber zugeben, dass es diesem Mädchen durchaus stand. Ihr Gesicht war wirklich hübsch, vielleicht sogar etwas mehr als nur süß. Nein, korrigierte er sich, definitiv mehr als nur süß. Eine gerade Nase, hohe Wangenknochen, die ihrer Erscheinung beinahe etwas Vornehmes verliehen. Ein kleiner Mund, volle Lippen und schwarze, geheimnisvolle Augen. Wobei das Attribut ‚geheimnisvoll‘ wohl hauptsächlich auf den großzügig darum verteilten, schwarzen Eyeliner zurückzuführen war.

Diese Art von Mädchen kannte Herzog zur Genüge, wenn sie auch normalerweise nicht annähernd so gut aussahen wie dieses hier. Aus irgendeinem Grund zogen seine Bücher solche Leserinnen geradezu magisch an. Vermutlich morbide Faszination an der grausamen Seite des Todes. Schwester Lina schenkte ihm einen aufmunternden Blick aus ihren dunklen Augen und Herzog musste zugeben, dass diese durchaus etwas für sich hatten. Ein Versprechen dunkler Mysterien, das hatte er mal in der Liebesschnulze einer Konkurrentin gelesen — ihr Verlag bezeichnete die äußerst erfolgreichen Teenieschmonzetten allerdings als Paranormal Romance, was immer das bedeuten sollte. Man mochte von dieser Art von Mädchen halten, was man wollte, auf jeden Fall waren sie im Bett ausgesprochen experimentierfreudig, wie Herzog aus eigener Erfahrung wusste. Mit einer Mischung aus fatalistischer Nonchalance und kindlicher Neugier machten die alles Mögliche mit, von Fesselspielchen bis zu einer Menage a trois mit ihrer besten Freundin. Er würde dieses Krankenhaus nicht ohne ihre Nummer verlassen, so viel stand fest.

»Sie sind Andreas Herzog, der Schriftsteller, oder?«, sagte sie. Nun, das lief ja besser an als erwartet.

»Schon möglich«, sagte er und versuchte, es wie in einem alten Gangsterfilm klingen zu lassen. Sie kapierte es. Kicherte. Sympathisches Mädchen. Während sie das tat, also das Kichern, bildeten sich auf ihrem Nasenrücken entzückende, kleine Kräusel. Gott, dachte Herzog und bemerkte, dass sich unter seiner Bettdecke ein aufrichtiges Interesse an der jungen Krankenschwester zu regen begann. Wenn sie damit nicht auf der Stelle aufhört, ziehe ich sie in mein Bett, und es ist mir völlig wurscht, ob uns der alte Knacker da drüben dabei zuschaut.

»Ha, wusste ich’s doch«, sagte sie und wandte sich dann unvermittelt zum Gehen. Als sie die Tür erreicht hatte, sagte Herzog, nun selbst eine Schmonzette imitierend: »Oh, Schwester, werde ich Sie jemals wiedersehen?«

Sie drehte sich zu ihm um und ja, sie war nicht schlank, oder hochgeschossen, so weit sich das unter ihrem Kittel erkennen ließ. Ihre Figur war weiblich. Ausgesprochen weiblich und voll sinnlicher Versprechungen.

Gott, Herzog, reiß dich zusammen, sonst fängst du noch an zu sabbern.

»Schon möglich«, wiederholte sie seine Worte von vorhin — nun war sie die Femme fatale aus jenem alten Gangsterfilm — schenkte ihm noch ein entzückendes Lächeln und dann war sie durch die Tür verschwunden.

»Det is ’ne janz Kesse«, ließ sich prompt sein Zimmergenosse vernehmen. Das musste demnach der allseits beliebte Herr Heintze sein. Herzog drehte den Kopf und gewahrte ein schmächtiges Männlein, das in einem Bett mit aufgerichtetem Kopfteil saß und zu ihm herübergrinste, wobei es den Daumen der rechten Hand in die Höhe streckte. Schwester Lina hatte ihre Fans hier, keine Frage. Herzog erwiderte die Geste des Alten mit der linken Hand, woraufhin Heintzes schelmisches Grinsen noch ein wenig breiter wurde.

»Ich bin Herzog«, sagte er, aber der Alte hatte seinen Blick schon wieder dem Fernseher zugewandt, der in einer gegenüberliegenden Ecke des Zimmers angebracht war. Völlig fasziniert folgte der Mann irgendwelchen Nachrichten und jetzt bemerkte Herzog auch die Stöpsel der Kopfhörer, die sich der Alte bis zum Anschlag in die Ohren geschoben hatte.

Er bemerkte noch etwas: Der linke Ärmel seines Krankenhaushemdchens war nach oben gerutscht und hatte die verblassten Buchstaben eines Satzes freigelegt, die jemand auf Herzogs Arm gemalt hatte, vermutlich mit einem Permanentmarker. Herzog konnte nur den letzten Teil des Satzes erkennen:

… es nicht.

Also schob er den Ärmel weiter nach oben, bis er die ganze Botschaft lesen konnte. Die offenbar von ihm selbst stammte, wie er am charakteristischen Schwung des Strichs beim kleinen ’t’ erkennen konnte. Eine Marotte, die er sich irgendwann — offengestanden aus reiner Affektiertheit — zugelegt hatte, abgeschaut aus irgendeinem alten Hitchcockfilm. Ein typischer Herzog, also. Auch wenn er keinerlei Erinnerung daran hatte, sich das auf den Arm geschrieben zu haben. Was da stand, entzifferte Herzog mit einiger Mühe als:

Du warst es nicht.

Er war es nicht, na wunderbar. Gut zu wissen, vermutlich. Eigentlich hätte er jetzt wohl grinsen müssen. Die Blondine, das war die einzig mögliche Erklärung. Offenbar hatten sie in der Wohnung der Studentin irgendeinen kindischen Unfug angestellt, bevor sie die erwachsene Art von Unfug angestellt hatten und er hatte wer weiß was getan, ihr vielleicht einen Schnurrbart angemalt, während sie ihm einen genuckelt hatte oder so was.

Sehr erwachsen, Herzog.

Aber aus irgendeinem Grund wollte ihm das Grinsen nicht so recht gelingen. Diese Botschaft hatte etwas unbestimmt Beunruhigendes. Er war es also nicht. Er wollte auf keinen Fall, dass er das vergaß. Blieb die Frage, was um alles in der Welt gemeint war.

Was war er nicht gewesen?

Oder:

Was hatte er nicht getan?

Als Herzog den Blick erneut zum Fernsehgerät hob, erhielt er eine mögliche Antwort auf eben jene Frage. Aus seiner nagenden Beunruhigung wurde blankes Entsetzen.

Auf dem Bildschirm erschien ein Foto von ihm. Kein besonders aktuelles. Eines, auf dem er noch nicht den Fünftagebart trug, der mittlerweile — zusammen mit den roten Sportschuhen — zu seinem optischen Markenzeichen geworden war. Das mit dem Fünftagebart hatte mit dem kleinen Ansatz eines Doppelkinns zu tun, der erschien, wenn Herzog sich glatt rasierte, weswegen er das nach Möglichkeit vermied. Sein erster Gedanke, als er das Foto auf dem Bildschirm des Fernsehgerätes erblickte, war:

Urby, du Idiot.

Sein Agent. Von wem sonst sollten sie das Foto auch haben?

Was Herzog allerdings wesentlich mehr beunruhigte, war das nächste Bild, das eingeblendet wurde. Es zeigte Sabine Neuhaus, ehemals — wenn auch nur für kurze Zeit — Sabine Herzog. Bine. In der Laufzeile darunter flimmerte ein Wort, das Herzogs Aufmerksamkeit geradezu magisch in seinen Bann zog.

Mord

»Hey, können Sie das vielleicht lauter stellen?«, brüllte er in Richtung seines Zimmergenossen. Der drehte sich zu Herzog um, schenkte ihm ein verschlafenes Lächeln und einen fragenden Gesichtsausdruck.

»Hä?«

»Das da!« Herzog gestikulierte in Richtung des Fernsehers. »Machen Sie das mal lauter, bitte!«

Heintze nickte und kramte die Fernbedienung unter seiner Bettdecke hervor. Umständlich fummelte er an dem Gerät herum, bis der Ton so urplötzlich ansprang, dass Herzog erschrocken zusammenfuhr. Heintze brüllte: »Jessas!«, und riss sich die Ohrhörer aus seinen Gehörgängen. Dann fummelte er die Lautstärke des Fernsehers von ohrenbetäubendem Brüllen auf ein gerade erträgliches Maß zurück.

»… dem grausamen Mord an seiner Exfrau Sabine N. Wie wir erfahren haben, ist der Thrillerautor immer noch nicht aufgetaucht, jedoch hat die Polizei inzwischen den Wagen von Herzog, einen Porsche 911, in der Nähe von München verlassen vorgefunden. Offensichtlich ist Herzog heute, drei Tage nach dem Mord, verunfallt. Zur Stunde sucht die Polizei mit Hochdruck nach Andreas Herzog. Interne Quellen wollten sich momentan noch nicht äußern, in welcher Weise der Schriftsteller in das brutale Verbrechen verwickelt ist und ob er gar unter Verdacht steht, es begangen zu haben. Auch Gerüchte, dass es sich bei dem Unfall um einen versuchten Selbstmord Herzogs handeln könnte, wurden bislang weder bestätigt noch entkräftet. Hat sich der Autor da etwa in eine seiner eigenen Geschichten verstrickt?«

Herzog konnte das schiefe Grinsen des unsichtbaren Sprechers aus dem Off geradezu hören, als er seinen persönlichen Verdacht aussprach — natürlich als Fragesatz, damit nachher niemand dem Sender irgendwelche Unterstellungen vorwerfen konnte. Nachher, wenn der Ruf des Opfers ein für alle Mal und unwiederbringlich geschädigt war. Arschlöcher.

Ungefähr da kapierte Herzog, dass es bei dieser Sache gerade um ihn gegangen war.

Sein Ruf. Sein …

Nein.

Dann traf ihn die Wucht der Erkenntnis mit aller Macht.

Sabine.

Jemand hatte Sabine ermordet.

Aber das war nicht möglich. Es war ein Marketinggag. Ja, es musste so sein. Urby, der sich über ihn lustig machte. Der ihm einen alten, zahnlosen Schauspieler aufs Zimmer gelegt und einen Fernseher hingestellt hatte, in den er von irgendwo eine gefälschte Nachrichtensendung einspielte, unter den wachsamen Augen einer versteckten Kamera. Urby, der sich das alles ansah, es für die Nachwelt aufzeichnete und sich derweil scheckig lachte.

Allein, das war Bullshit.

Urby mochte ein abgedrehter Typ sein und bisweilen einen wirklich seltsamen Sinn für Humor besitzen. Aber so etwas war sogar für seine Begriffe ein paar Nummern zu makaber.

Sabine.

Dann war es eine Verwechslung. Ja, eine Frau, die Sabine ein bisschen ähnlichsah und … Sabine ging es gut, musste es gut gehen. Alles andere lag einfach zu weit außerhalb des Bereichs des Möglichen, der Normalität.

Und wenn es nun doch Sabine war?

Herzog starrte immer noch gebannt auf den Bildschirm, blinzelte, weil die Sicht vor seinen Augen verschwamm. Wischte sich über die Wange, weil ihn da irgendetwas kitzelte. Musste sich am Rand seines Bettes festhalten, weil sich das Zimmer um ihn zu drehen begann. Immer schneller und schneller.

Die zweite Erkenntnis traf ihn mit der Wucht eines Vorschlaghammers, der ihm beinahe die »Lichter ausblies«, wie es die Schurken in seinen Romanen gelegentlich auszudrücken pflegten. Nur dass jemand Sabine die Lichter ausgeblasen hatte, nicht wahr?

Und dieser Jemand war Herzog, oder zumindest schienen das die Polizei und die Presse zu glauben. Überhaupt jeder, außer …

Du warst es nicht.

In seiner Schrift, auf seinen eigenen Arm geschrieben, mit einem wasserfesten Stift. Er war es nicht, natürlich war er es nicht. Weil … weil er so etwas niemals gekonnt hätte, noch nicht einmal annähernd. Er hatte sie während ihrer Ehe nicht einmal geschlagen oder auch nur angerempelt. Kaum, dass jemals ein harsches Wort über seine Lippen gekommen war. Außer dieses eine Mal, als Sabine …

Bitte! Damit ich mich wieder spüren kann.

Herzog fühlte, wie sein Magen sich verkrampfte und irgendetwas in ihm nach oben wollte. Er würgte, aber natürlich kam nichts. Da war nichts in ihm, das er hätte hervorwürgen können. Gewaltsam stoppte er gedanklich die Rotation des Bettes.

Konzentriere dich, Herzog!

Er war am frühen Nachmittag zu Sabine gefahren, ganz recht. Aber er war nie dort angekommen. Denn auf dem Weg dorthin hatte er einen Unfall gehabt, mit dem Porsche. Das war schließlich der Grund, warum er jetzt hier lag und sich diesen Scheiß im Fernseher anschaute. Das würde die Polizei herausfinden und dann war er aus dem Schneider. Ein bewusstloser Mann, der sich mit einer Gehirnerschütterung zum nächsten Dorf schleppte, konnte nicht losgehen und seine Exfrau ermorden. So einfach war das.

Aber halt, was hatte der Nachrichtenheini da gerade gesagt?

Heute, drei Tage nach dem Mord …

Aber das war ein noch viel größerer Haufen Bullshit! Er hatte mit Sabine gesprochen, während er zu ihr gefahren war. Wie lange war das her? Eine Stunde, zwei möglicherweise?

Drei Tage nach dem Mord.

Ein ganzes Bullshit-Panorama.

Oder?

Herzog sah sich hektisch um. Sein Zimmernachbar verfolgte die Nachrichten mit mildem Interesse. Offenbar hatte er Herzog nicht als den Mann auf dem blöden Doppelkinn-Promotionsfoto erkannt. Das Lee-Childs-Phänomen, schoss es Herzog durch den Kopf. Wenn ein Autor außerhalb seiner gewohnten Umgebung auftaucht, ist er praktisch anonym, ganz im Gegensatz zu Politikern und Rockstars. Und die meiste Zeit über war das ein verdammter Segen.

Herzog erspähte eine Tageszeitung auf Heintzes Nachttisch.

Das würde den Bullshit ein für alle Mal aus der Welt schaffen.

Er schwang die Beine aus dem Bett und den Oberkörper hinterher, was ihn beinahe sein Gleichgewicht gekostet und ihn der Länge nach auf dem kalten Linoleumboden hätte aufschlagen lassen.

»Fuck!«, fluchte er leise und zog sich am Rand des Bettes hoch, den er im letzten Moment erwischt hatte. Dann tat er einen vorsichtigen Schritt auf Heintzes Nachttisch zu, dann noch einen, und dann hatte er die Zeitung erreicht. Er musste sie nicht vom Nachttisch nehmen, um zu erkennen, dass sein Antlitz (wiederum das Doppelkinn-Foto) auf der Titelseite prangte. Der Titelseite des Münchner Rundblicks vom 27. Dezember.

Drei Tage, nachdem er mit Sabine telefoniert hatte.

Herzog hatte nicht die Spur einer Ahnung, was er seit dem Weihnachtsabend getrieben hatte. Dort, wo seine Erinnerung hätte sein müssen, klaffte nur ein riesiges Schwarzes Loch.

Was hatte der Arzt mit der roten Designerbrille und dem eigentümlichen Humor noch gesagt?

Eine leichte Gehirnerschütterung. Vermutlich fällt Ihnen im Laufe der nächsten Stunde alles wieder ein. Wie bei einem Puzzle werden die einzelnen Teile dann einen Sinn ergeben.

Das war zum Schießen. Offenbar war der Humor des Kerls noch ein paar Nuancen seltsamer, als Herzog bisher angenommen hatte. Nein, dachte er, nichts würde einen Sinn ergeben, da konnte ihm einfallen, was wollte. Dass er auf einem Fahndungsfoto im Fernsehen auftauchte und seine Exfrau ermordet haben sollte, würde in tausend Jahren keinen Sinn ergeben.

Aber dennoch wäre ihm wohler gewesen, wenn er sich wenigstens an etwas hätte erinnern können, das während der vergangenen drei Tage passiert war. An irgendeine unbedeutende Nebensächlichkeit, wie zum Beispiel, wo er geschlafen und was er gegessen hatte. Aber das konnte er nicht. Herzog beschlich das Gefühl, dass der Doktor unrecht behalten würde, was diese ganz spezielle Amnesie betraf. Amnesien, also partielle oder vollständige Erinnerungslücken, wurden unter anderem durch Schock hervorgerufen und — Rauschzustände, zum Beispiel durch … zum Beispiel durch Drogen.

Aber auch hier gab es das Problem der verlorenen drei Tage. Hätte er den Porsche direkt im Anschluss an den »Mord« an den Baum gesetzt, hätte die Geschichte möglicherweise Sinn ergeben. Aber so …

Plötzlich fror Herzog.

Tommy.

Was ist mit Tommy geschehen?

Sie haben nichts über Tommy gesagt.

Wer immer Sabine am Weihnachtsabend ermordet hatte (und das war ganz bestimmt nicht er gewesen, drei verlorene Tage hin oder her), hatte ganz sicher auch Tommy in der Wohnung angetroffen. Und dann was mit dem Jungen gemacht? Seinem Jungen?

Er musste hier weg, das wurde Herzog klar, und zwar schleunigst.

Er musste zu Tommy.

Während er das dachte, wurde ihm noch etwas klar, undeutlich zunächst, aber dann schwappte die Erkenntnis an die Oberfläche seines Bewusstseins wie eine gewaltige Luftblase, die vom Grund eines Sees aufstieg und mit einem lauten Plopp an der Oberfläche zerplatzte.

Tommy hat alles gesehen.

Das musste er, denn Tommy war die ganze Zeit über bei Sabine gewesen, keine Frage. Wo hätte er auch sonst sein sollen? Soweit Herzog wusste, war der einzige Weg, den Tommy inzwischen allein zurücklegte, der zur Toilette, und als Gang konnte man das auch kaum bezeichnen, weil Tommy ja dahin rollte. Aber Tommy würde ihn entlasten können. Theoretisch. Vielleicht.

Herzog stellte fest, dass er den Münchner Rundblick noch immer in den Händen hielt und dabei war, die Zeitung zu einem kleinen Ball zusammenzuknüllen. Hastig strich er sie glatt und legte sie wieder auf Heintzes Nachttisch. Der Alte hatte seine Aufmerksamkeit inzwischen vom Fernsehprogramm ab- und Herzog zugewandt. Herzog warf ihm ein Nicken und ein flüchtiges Lächeln zu, das Heintze nicht erwiderte. Hatte er ihn inzwischen etwa doch erkannt?

Nun, dachte Herzog, das spielte jetzt wohl auch keine Rolle mehr. Nicht, so lange Heintze ihm wenigstens noch ein paar Minuten schenkte, bevor er den roten Knopf neben dem Kopfteil seines Bettes drückte.

Herzog hastete zum einzigen Schrank im Raum, öffnete ihn. Auf der rechten Seite hing ein einsamer, cremefarbener Anzug, komplett mit Oberhemd und einer milchig braunen Krawatte, schätzungsweise anno Mitte der Sechziger. Groovy, dachte Herzog und musste unpassenderweise grinsen. Auf dem Boden des Schranks stand ein Paar älterer Lederschuhe, die bequem aussahen und offenbar gut gepflegt worden waren. Die linke Seite beherbergte mehrere Fächer. In einem davon lag ein dicker Strickpulli, und das war’s. Womit immer Herzog hier angereist war, man hatte es entweder weggeworfen oder in ein anderes Zimmer gebracht. Scheiße.

Herzog warf einen verzweifelten Blick auf Heintze, der ihn jetzt mit einem milden Grinsen musterte.

»Ich, äh …«, begann Herzog, »Ich müsste mir das mal ausborgen, okay? Ich bring’ es Ihnen auch zurück. Ach was, ich kauf’ Ihnen komplett neue Klamotten, wenn ich … wenn ich diese Sache geklärt habe. Okay?«

Heintze reagierte nicht.

Herzog nahm die Kleidung vom Schrank und zog sie hastig über, wobei er auf die Krawatte verzichtete. Schönes Teil, aber er hatte einfach keine Zeit dafür. Die Hose war ein bisschen weit und kurz und das gesamte Ensemble, inklusive des dicken Wollpullis und des legeren Sportsakkos, war so gar nicht Herzogs Stil, von den fehlenden knallroten Sneakers ganz zu schweigen, aber im Großen und Ganzen passten ihm die Klamotten. Es könnte sich durchaus als praktisch erweisen, wenn man ihn nicht auf den ersten Blick erkannte. Sein Krankenhaushemd warf er in eines der Fächer auf der linken Seite.

»Danke«, sagte er zu Heintze, der auch darauf so wenig reagierte wie auf den dreisten Diebstahl, der direkt vor seinen Augen stattfand. Der alte Mann lächelte weiter sein tiefenentspanntes Buddhalächeln und damit hatte es sich.

Herzog lief zur Zimmertür hinüber, öffnete sie und prallte zurück.

Geräuschlos zog er die Tür zurück ins Schloss, denn ein paar Meter den Gang hinunter hatte er den bärtigen Arzt mit der modischen Brille entdeckt, und zwar vertieft ins Gespräch mit einem dicken Kerl in einem grauen Regenmantel — und einem uniformierten Polizisten. Wobei, gesprochen hatte eigentlich nur der Mann im Regenmantel, und nach einem Gespräch sah das Ganze auch nur sehr entfernt aus. Der Regenmantel hatte mit hochrotem Kopf auf den Arzt eingestikuliert, der seinerseits (allerdings wenig beeindruckt vom ausladenden Gestus seines Gegenübers) in Richtung des Krankenzimmers deutete.

Herzog stand für einen Moment unschlüssig bei der Tür herum, und dann hörte er die raschen Schritte der beiden Polizisten (denn nur darum konnte es sich bei dem Mann im Regenmantel und seinem Kompagnon handeln) und des Arztes. Die Klinke wurde heruntergedrückt, und dann flog die Tür auf und krachte gegen die Wand. Herzog duckte sich ein wenig tiefer in das Innere des Kleiderschranks.

»Hey!«, ließ sich der Arzt vernehmen. »Sie sind hier in einem Krankenhaus, verdammt nochmal!«

Keiner der beiden Polizisten würdigte ihn einer Antwort.

»Wo ist er?«, fragte ein dröhnender Bass. Das musste der Dicke mit dem Regenmantel und dem tomatenroten Gesicht sein. Der Uniformierte blieb weiterhin stumm.

»Er liegt in … er müsste … Oh!«

»Oh?«, wummerte der Bass, »was soll das heißen, oh?«

»Bitte, Herr Kommissar, dämpfen Sie Ihre Stimme! Denken Sie bitte an die anderen Patienten, ich muss darauf bestehen, dass …«

»Die anderen Patienten sind mir momentan völlig wurscht, Herr Doktor«, sprach der Donner. Der nun allerdings ein klein wenig leiser grollte. »Wo ist Herzog, hm?«

»Er lag jedenfalls hier, Herr Kommissar. Sehen Sie, das Bett wurde benutzt.«

»Was Sie nicht sagen. Ihm wenigstens ein paar Manschetten zu verpassen, wäre wohl zu viel verlangt gewesen, wie? Scheiße, verdammte!« Das Gewitter hatte wieder seine gewohnte Lautstärke erreicht, das Anhängsel blieb wie gewohnt stumm.

»Ja, wäre es. Und brüllen Sie hier nicht so herum! Woher hätte ich denn wissen sollen, dass der Mann gesucht wird?«

»Mann, Doc. Schauen Sie denn keine Nachrichten?«

»Sie werden entschuldigen, aber ich habe seit Weihnachten fast ununterbrochen Schichtdienst. Zwei unserer Chirurgen liegen mit einer schweren Grippe zu Hause flach und ich rotiere hier rund um die Uhr, während daheim der Gänsebraten kalt wird. Ich habe noch nicht mal meine Geschenke aufgemacht. Nein, Herr Kommissar, ich habe meine Freizeit nicht damit verbracht, in die Glotze zu starren, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Ich hatte nämlich keine Freizeit.«

»Ist ja auch egal«, meinte das Donnergrollen. »Wir müssen ihn jedenfalls finden, und zwar sofort. Was … was macht der Alte denn da die ganze Zeit?«

»Herr Heintze?«, fragte der Arzt, »versuchen Sie, uns was zu sagen?«

Schritte entfernten sich und dann konnte Herzog ein gedämpftes Flüstern vernehmen. Das musste Herr Heintze sein, der ihnen jetzt sein — offengestanden nicht besonders — originelles Versteck verriet. Das war’s dann also. Herzog bereitete sich moralisch darauf vor, dem geifernden, verschwitzten Polizisten im Regenmantel gegenüberzutreten, um dann in Handschellen aus dem Krankenhaus geführt zu werden.

»Verstehe«, sagte der Arzt. »Sieht so aus, als habe Herr Herzog das Zimmer bereits vor etwa zehn Minuten verlassen.«

»Was?«, blaffte der Rotgesichtige.

»Ja. Herr Heintze meint, er habe sich gleich, nachdem ihn die Schwester hierher verlegt hat, wieder hinaus auf den Gang geschlichen.«

»Scheiße!«, war das Letzte, das Herzog hörte, bevor die Polizisten auf den Gang hinausstürmten, der Arzt hinterdrein, vermutlich um zu verhindern, dass sie das Krankenhaus in einen Trümmerhaufen verwandelten, indem sie eine Abkürzung durch den OP nahmen.

Kurz, nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, ließ Heintze eine rasche Abfolge von Pfeiftönen hören, ein bisschen wie das Zwitschern eines kleinen Vogels, und Herzog trat aus dem Kleiderschrank, in dem er sich versteckt hatte. Heintze grinste ihn breit an. Dann winkte der alte Mann ihn zu sich heran. Zögernd trat Herzog auf das Bett des Alten zu und beugte sich zu ihm hinab.

»Hamwer schön verarscht, die beeden Lackaffen, wa?« Er tätschelte Herzogs Arm, dann sagte er: »Kiek mal in det Fach da in meinem Nachttisch, det jroße.«

Herzog tat es. Darin fand er eine Strickmütze und einen dazu passenden Schal.

»Für wennick rauchen jehe«, erklärte der alte Mann. »Na ja, jetzt wohl nich mehr. Nimms mit, brauchst es dringender als icke.«

Herzog nahm die Sachen aus dem Fach.

»Danke«, sagte er dann zu dem Alten.

»Schon jut. Aber jetzt sollteste zusehen, dassde von hier verschwindest, bevor die beeden Superhirne von der sojenannten Staatsmacht zurückkommen.«

Herzog streckte dem Alten die Hand hin und dieser ergriff sie mit überraschend festem Druck. Dabei bemerkte Herzog, dass der Alte ebenfalls ein Tattoo besaß, und zwar auf dem linken Unterarm. Allerdings war dies keines der Marke »Du warst es nicht«, und es war auch nicht mit einem Textmarker angebracht, sondern permanent, und schon vor vielen Jahren. Statt eines Sinnspruchs oder einer dieser gewagten Herz-Anker-Kreuz-Kombinationen, wie sie unter Seeleuten und Hipstern üblich sind, zeigte es eine sechsstellige Nummer in verblasster Tinte. Vielleicht erklärte das Heintzes Hilfsbereitschaft ihm gegenüber. Und seine gesunde Skepsis gegenüber jenen, die er als Staatsmacht bezeichnet hatte.

»Vielen Dank«, sagte Herzog und drückte dem Alten fest die Hand. »Sie retten mir den Arsch.« Lächelnd erwiderte der Alte den Händedruck und sank dann zurück in die Kissen.

»Zumindest hoffe ich das«, fügte Herzog leise hinzu.

»Keene Ursache, Kumpel. Und jetzt hau mal besser ab!«

Herzog schlüpfte hinaus auf den Gang, die Mütze tief in die Stirn und den Schal bis über beide Ohren hochgezogen. Er war sich einigermaßen sicher, dass seine lächerliche Verkleidung schon vor der nächsten Kurve auffliegen würde.

Mitschrift eines Tonbandprotokolls, zugehörig zum Fall Andreas Herzog

»Was ist mit Kindern, Herr Herzog? Haben Sie jemals wieder über Kinder nachgedacht?«

»Ich habe einen Sohn, Professor.«

»Tommy, ja, ich weiß. Er lebt bei Ihrer Exfrau.«

»Richtig. Aber ich besuche ihn, sooft ich kann.«

»Hm. Ich meinte, weitere Kinder. Ist das eine Option für Sie?«

»Nein, ich denke nicht.«

»Verstehe. Was ist mit Ihrer Kindheit, hatten Sie eine glückliche?«

»Hm, ja. Meine zweite Kindheit, die war in Ordnung. Glücklich, könnte man sagen. Ich hatte Freunde, wir haben oft im Wald gespielt. Auf dem alten Truppengelände, oben beim Hartholz …«

»Ihre zweite Kindheit?«

»Ja. Als ich acht Jahre alt war, kam ich zu Adoptiveltern. Nach einem kurzen Aufenthalt im Heim.«

»Oh.«

»Ja. Und das Heim würde ich zu dem Teil zählen, der nicht besonders glücklich verlief. Dafür war er wenigstens kurz.«

»Ihrer ersten Kindheit, sozusagen?«

»Genau. Meine leiblichen Eltern … als mein Vater starb, war ich sechs. Er hatte einen Unfall, aber später habe ich auch das andere begriffen.«

»Das andere?«

»Er war ein Trinker. Er war Alkoholiker, aber er hat nicht ausschließlich deshalb getrunken, weil sein Körper von dem Zeug abhängig war. Bei ihm, das hat man mir später erzählt, war es eher so, dass er einfach gern betrunken war. Und zum Schluss war er kaum noch etwas anderes. Ich kann mich immer noch an die Streitigkeiten zwischen meinen Eltern erinnern. Sie haben eigentlich ständig gestritten, und ich vermute, dass es dabei oft auch um die Trinkerei ging. Manchmal blieb er lange weg, bisweilen eine ganze Woche. Und wenn er zurückkam, hatten sich die beiden augenblicklich wieder in den Haaren. Es war fast eine Erleichterung, als er …«

»Als er den Unfall hatte?«

»Ja. Aber auch das war nicht ganz so, wie es mir Mutter damals erzählt hat. Er war natürlich besoffen, als er gefahren ist, soviel konnte ich mir schon damals zusammenreimen. Doch die Polizei fand später, als sie den Wagen aus dem Fluss zogen, heraus, dass er nicht mal die Bremse getreten hat. Im Gegenteil. Er hat beschleunigt.«

»Ihr Vater hat sich umgebracht?«

»Ja. Und vielleicht hat es Mutter deswegen so mitgenommen.«

»Sie sagten, es habe die Situation daheim eher entspannt.«

»Nein. Das hätte so sein sollen, nach all der Streiterei und dem Gezänk zwischen meinen Eltern. Aber ironischerweise ging sein Tod meiner Mutter sehr zu Herzen. Sie fiel in ein riesengroßes Loch, fand selbst zu Alkohol und Pillen und … ich glaube, der einzige Grund, warum sie noch zwei Jahre weitergemacht hat, war ich. Doch irgendwann war sie so sehr in ihrer eigenen Welt, dass sie wohl auch mich übersehen hat.«

»Und was passierte dann?«

»Sie brachte sich um. Hat sich im Schuppen neben der Scheune aufgehängt, an einem Seil, das sie an einen Querbalken geknotet hatte.«

»Das ist ja furchtbar!«

»Ja, aber … aber ich habe sie gehasst, und ich glaube, ich hasse sie immer noch, irgendwo tief in mir.«

»Sie haben sie gehasst?«

»Ja.«

»Weil sie Sie verlassen hat und Ihrem Vater in den Tod folgte?«

»Nein. Das war es nicht.«

»Wieso dann?«

»Weil sie wusste, dass ich es war, der sie finden würde.«

Herzog hatte seinen Gang ganz instinktiv dem cremefarbenen Anzug angepasst, den er jetzt trug. Das hieß, er lief leicht gebückt, eher gemächlich, und zog sogar sein rechtes Bein ein wenig nach, ohne dass er hätte sagen können, warum er das tat. Es schien einfach das Richtige zu sein.

Es funktionierte beinahe.

Er hatte den Tresen im Eingangsbereich der Petrus-Klinik bereits im Blick, als er mit dem rotbebrillten Arzt zusammenprallte. Herzogs Blick war so sehr von seinem Ziel, dem Ausgang, in Anspruch genommen, dass er nicht bemerkte, wie der Arzt um eine Kurve bog und urplötzlich vor ihm auftauchte. Vom Schwung seiner Bewegungen getragen, rannte Herzog in den Bauch des Mannes und sein Gesicht prallte auf dessen mächtigen Brustkorb. Nur die Geistesgegenwart des massigen Arztes bewahrte ihn davor, rücklings auf den Linoleumboden des Krankenhausflurs zu prallen.

»Entschuldigung!«, sagte der Arzt und stellte Herzog, den er für einen gebrechlichen, alten Mann hielt, wieder auf die Füße. Ungefähr so, wie andere Leute ein Kind wieder auf die Füße stellten, oder ein umgefallenes Spielzeug. »Geht’s Ihnen gut?«

Herzog beeilte sich, zu nicken, und der Arzt, offenbar sehr in Eile, hastete weiter, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen. Von den beiden Polizisten keine Spur. Jetzt oder nie. Herzog schlenderte zum Ausgang hinüber und musste seine gesamte Willenskraft aufbieten, um nicht Hals über Kopf loszurennen.

Dann war er draußen.

Was ihm sofort bewusst machte, wie dünn der Anzug des Alten in Wirklichkeit war. Die Kälte biss in Herzogs nahezu ungeschützte Beine und es dauerte auch nur ein paar Sekunden, bis sie den dünnen Strickpulli durchdrungen hatte, der Herzogs Oberkörper schützen sollte.

Wieso hatte Heintze bei seiner Einlieferung nicht wenigstens einen Mantel getragen, lag er etwa schon seit dem Sommer in diesem Zimmer dort herum? Herzog war ihm dankbarer denn je, dass der Alte ihm wenigstens noch Schal und Mütze anvertraut hatte, und das nicht nur, weil es verhindert hatte, dass er gerade eben von Dr. Schaller erkannt worden war. Die Kälte war nicht zum Aushalten und der Schnee hatte noch ein paar Zentimeter zugelegt, seit Herzog das letzte Mal darauf geachtet hatte.

Vor drei Tagen. Oder so sagen sie zumindest.

Was ihn direkt vor das nächste Problem stellte, oder genau genommen vor eine ganze Reihe von Problemen. Erstens, wohin sollte er gehen, jetzt, wo dieser übergewichtige Beamte und seine mehr oder weniger uniformierten Freunde ihn suchten, unterstützt von den Medien? Seine Wohnung war vermutlich ganz weit oben auf der Liste der schlechten Ideen. Überspringen wir für einen Moment Punkt eins, ohne eine Lösung gefunden zu haben, und beschäftigen wir uns mit dem logisch daraus folgenden Punkt zwei. Wie sollte er überhaupt von hier fortkommen — egal, wohin? Er besaß keinen einzigen Cent, um ein Taxi zu bezahlen. Falls ihn dessen Fahrer nicht sowieso umgehend zum nächsten Polizeirevier kutschieren würde, nachdem er ihm eine kräftige Dosis Pfefferspray verpasst hatte. Dass Taxifahrer dergleichen bei sich führten, wusste Herzog von Recherchen zu »Das Schattengericht«, und es erschien nur allzu logisch in Anbetracht ihrer oftmals eher zwielichtigen Fahrgäste. Zu denen jetzt wohl auch Herzog gehörte.

Damit fielen auch die öffentlichen Verkehrsmittel aus, es sei denn, man nahm die Gefahr in Kauf, beim Schwarzfahren erwischt zu werden. Was ebenfalls umgehend, spätestens bei der Aufnahme seiner Personalien, dazu führen würde, dass Herzog seinen Tag auf einer Polizeiwache beendete, eingesperrt in einen Verhörraum, ihm gegenüber ein ganz spezieller schlecht gelaunter Typ im Regenmantel, und zwar nicht Columbo.

Herzog stopfte die Hände, so tief es ging, in die Taschen des Sakkos, die gottlob echte waren und keine von diesen zugenähten Schmucktaschen, gelobt sei die alte Schneiderskunst! Es brachte trotzdem nicht allzu viel. Seine Fingerkuppen begannen schmerzhaft zu brennen, und er spürte, wie die Kälte allmählich jedes Gefühl aus ihnen verdrängte. Also nahm er die Hände aus den Taschen und steckte sie unter seine Achselhöhlen. Womit er für jeden Passanten sofort wie jemand aussah, der völlig unpassend für die Witterung angezogen war. Wie jemand, zum Beispiel, der gerade aus einem Krankenhaus ausgebrochen war, wegen leichter geistiger Verwirrung, und der schleunigst zurück in sein warmes Bett gebracht werden sollte.

Das, meine Freunde, ist ja mal ein echt beschissener Plot, dachte Herzog. Unser Held, ein bis vor kurzem noch unbescholtener Schriftsteller, jetzt plötzlich ein gefährlicher Psychopath und Killer, sollte wenigstens eine realistische Chance zum Weitermachen haben. Ansonsten ist das Buch nämlich genau hier zu Ende. Also denk, verdammt nochmal, Herzog! Denk nach!

Aber Herzog konnte nicht denken. Für ihn gab es nur ein Ziel. Tommy, sein Sohn. Tommy, dem es gut gehen würde, der nichts abbekommen hatte, weil … weil ihm eben nichts passiert war. Weil es sonst in den Nachrichten gewesen wäre. Tommy, der bestätigen konnte, dass Herzogs nichts, aber auch gar nichts mit dem gewaltsamen Tod von irgendwem zu tun hatte, am allerwenigsten mit dem von Sabine.

Erneut spürte Herzog, wie irreal ihm diese Situation vorkam. Es war absurd. Unwirklich. Nein, es war schlichtweg unmöglich. Diese ganze Sache war ein Schwindel oder vielleicht eine Verwechslung. Sabine war nicht tot, konnte nicht tot sein, und er würde es beweisen. Indem er hinfuhr. Sabine und Tommy besuchte. Dann würden sie von dort gemeinsam die Polizei anrufen und die ganze Sache aufklären. Der nächste Anruf würde Herzogs Anwalt gelten, der ein paar Beamten, die ihn bei dieser Schweinekälte zur Flucht gezwungen hatten, gehörig die Hölle heißmachte. Dieser fette Schimpanse und die Seinen würden bezahlen für diese Nummer, und Herzog würde seinem Kumpel Heintze von der Entschädigung einen ganzen Schrank voller Anzüge kaufen und ein, zwei gefütterte Wintermäntel gleich dazu. Er würde …

»Andreas Herzog?«, ertönte eine Stimme hinter ihm.

Ruckartig fuhr Herzog herum und bemerkte erst da, dass ihm während seiner letzten Minuten der Schal vom unteren Teil seines Gesichts gerutscht war. Das nun für jedermann gut sichtbar war, wenn auch gerötet von der Kälte. So viel zum Lee-Childs-Phänomen. Ungläubig starrte Herzog in die dunkelbraunen Augen, die ihn leicht amüsiert musterten.

»Andreas Herzog«, wiederholte die Stimme, aber diesmal war es keine Frage mehr.

Er war erkannt worden.

»Sie sind diese Krankenschwester«, stellte Herzog fest. Er hatte einige Mühe, das Gesicht unter der dicken Kapuze mit dem künstlichen Fellbesatz zu erkennen. Das Outfit ganz in Schwarz. Natürlich.

»Bin ich. Aber es kommt auch vor, dass mich die Leute Lina nennen. Lina Bittner.«

Sie streckte ihm die Hand entgegen, die in einem schwarzen Wollfäustling steckte, und Herzog ergriff sie mit einem nervösen Lächeln, das sie gelassen erwiderte. Offen, herzlich, keine Spur von Schüchternheit. Herzog war sie sofort sympathisch, und jetzt, im goldschimmernden Licht der Parkplatzlaterne, musste er zugeben, dass ihre Erscheinung durchaus etwas war, woran zu erinnern sich lohnte. Sie trug ihren schwarzen Eyeliner jetzt noch ein bisschen auffälliger und Herzog wurde klar, warum er sie nicht gleich erkannt hatte. Abgesehen von der Kapuze trug sie Piercings in ihren Nasenflügeln, einen großen Ring durch ihre Nasenscheidewand und dazu passend ein paar kleinere Ringe in ihrer Unter- und Oberlippe. So sehr sich Herzog auch Mühe gab, diesen Gesichtsschmuck als pubertär und unpassend für eine erwachsene Frau und noch dazu eine Krankenschwester zu empfinden — es stand ihr irgendwie. Sexy, auf so eine Mir-doch-wurscht-was-du-davon-hältst-Weise. Zu einer anderen Zeit, in einem anderen Leben, dachte Herzog, hätte ich jetzt schon ihre Nummer. Mindestens. Bevor dieser Gedanke davongehuscht war, weil sich Herzog dringenderen Dingen zuwenden musste, glaubte er in ihren Augen ein spöttisches Bist-du-dir-da-sicher? aufblitzen zu sehen.

»Ist Ihnen nicht kalt?«, wollte Lina wissen.

»Doch, schon. Aber ich …«

»Sollten Sie jetzt nicht in dem Bett liegen, in das ich Sie vor einer Stunde gesteckt habe?«

»Kann schon sein«, antwortete Herzog vorsichtig.

»Mann, ich hätte schon vor einer Stunde Schichtende gehabt und hätte verschwinden können, wenn Sie nicht gewesen wären, und jetzt danken Sie es mir, indem Sie einfach abhauen«, sagte sie und ihr Grinsen wurde noch eine Spur breiter.

»Tut mir leid.«

»Mir nicht. Ich fandʼs cool. Andreas Herzog. Auf meinem OP-Tisch. Na ja, nicht meinem, sondern dem von Dr. Schaller natürlich. Aber cool war’s trotzdem.«

»Wie meinen Sie das?«

»Hallo? Morddurst? Das Schattengericht? Vom Tod der Engel? Ich hab’ sie alle. Als Hardcover, natürlich. Nicht schlecht, was Sie so schreiben. Das meiste davon zumindest.«

»Danke«, sagte Herzog und begann, mit den Zähnen zu klappern.

»Au Scheiße, ich laber Sie hier voll und derweil erfrieren Sie mir fast. Kommen Sie, ich bring Sie wieder rein.« Sie ergriff seinen Arm, offenbar im Begriff, ihn zurück zum Eingang des Krankenhauses zu führen.

»N-n-n-nein-n!«, war alles, das Herzog zwischen seinen klappernden Zähnen hervorstoßen konnte. Lina schenkte ihm einen langen und überaus skeptischen Blick. Dann seufzte sie: »Nein?«

»N-n-nicht zurück da rein. Ich muss … weg. Etwas Dringendes erledigen.«

»Etwas Dringendes, ja?« Linas Gesichtsausdruck wandelte sich von amüsierter Skepsis zu Sorge.

»Bitte«, sagte Herzog, »Das ist wirklich sehr wichtig. Sie dürfen mich nicht zurückbringen. Bitte.«

Es musste wohl etwas in seinem Blick gewesen sein, das sie überzeugte. Oder die Tatsache, dass er ganz erbärmlich mit den Zähnen klapperte.

»Na gut«, sagte Lina und blinzelte ihm verschwörerisch zu, »verstehe. Na, dann kommen Sie mal.«

Einfach so.

Herzog folgte ihr auf den Parkplatz, wo sie zielstrebig auf einen kleinen Wagen zusteuerte, der aussah wie eine Mischung aus einem Geländefahrzeug und etwas aus einem Überraschungsei. Mit ihrem Ärmel wischte sie den Schnee von der Beifahrertür, rüttelte ein paar Mal an dem Griff und bekam sie schließlich auf.

»Rein da!«, befahl sie Herzog, der nur allzu gern Folge leistete. Lina beugte sich über seine Beine auf die Fahrerseite, ließ den Wagen im Leerlauf an und fummelte dann an irgendwelchen Knöpfen am Armaturenbrett herum. Offenbar mochte sie BHs nicht besonders, dachte Herzog, als er das sanfte Gewicht ihrer Brüste durch den dünnen Stoff seiner Hose spürte. Stress, dachte er, bringt einen auf die absurdesten Ideen, und das in den unmöglichsten Momenten.

»Wird eine Weile dauern«, sagte sie, »bis die Heizung warm wird. Solange nehmen Sie am besten die hier.« Sie langte an ihm vorbei in den Fond des Wagens und förderte eine Wolldecke zutage, die sie Herzog um die Schultern legte. Auch wenn die Decke selbst kalt war, so fühlte sich diese zusätzliche Stoffschicht bereits himmlisch an, fand Herzog.

»Na bitte«, sagte Lina, schlug die Tür von außen zu. Kurz darauf begann sie, das Auto rings um Herzog von Schnee und Eis zu befreien. Sein Körper schöpfte neue Hoffnung und das Zittern ließ allmählich nach. Als sie mit dem Kratzen fertig war, öffnete sie die Fahrertür, die ohne den geringsten Widerstand aufging, und ließ sich neben Herzog auf den Fahrersitz fallen. Inzwischen war die Heizung des Wagens zum Leben erwacht und sandte warme Luftströmungen durch das Innere. Herzog streckte seine Handflächen der Hitze entgegen, die aus dem Lüftungsgitter im Armaturenbrett strömte.

»Also, wohin fahren wir?«, fragte Lina. Langsam setzte sie den Fiat aus der Lücke und fuhr zum Ende des Parkplatzes.

»In den Süden. Nach Neuried«, sagte Herzog. »Sie wissen, wo das ist?«

Lina nickte und sie setzten ihre Fahrt schweigend fort. Ihr Schweigen passte ganz hervorragend zu der weißen stillen Landschaft draußen. Die Straßen waren mittlerweile weitestgehend geräumt, aber alle Fahrer steuerten ihre Fahrzeuge mit vorsichtigem Bedacht, so auch Lina. Was Herzog nach seinem jüngsten Erlebnis in seinem Porsche für eine ausgezeichnete Idee hielt.

»Warum tun Sie das, Lina?«, brach er schließlich das Schweigen.

»Warum tue ich was?«

»Mir helfen? Ich meine, Sie wissen …«

»Dass Sie ein gefährlicher Irrer sind?« Lina lächelte.

Herzog verschluckte sich beinahe. »Ich, äh ...«

»Mann, für einen Schriftsteller sind Sie aber nicht besonders wortgewandt.« Lina beschleunigte den Wagen sanft, um die Grünphase noch zu erwischen.

»Ich … na ja, ich war es nicht«, antwortete Herzog und musste Lina recht geben. Nicht besonders wortgewandt. »Zumindest glaube ich das.«

»Schon klar.« Lina schmunzelte. »Cool, wie Stenzel.«

»Wer?«

»Na, Stenzel, der Kommissar, den der Geisteskranke in »Vom Tod der Engel« dazu bringt, seine eigene Familie umzubringen. Das war echt ein starkes Buch, also die »Engel«. Viel besser als Ihre beiden letzten, wenn ich das mal sagen darf.«

Wie zur Hölle konnte das Mädchen jetzt nur über seine blöden Bücher reden?

»Aber diese Marketingaktion. Absolut coole Idee, total überzeugend. Ihnen fallen doch echt immer die coolsten Sachen ein. Erst die Band zur Lesung und dann diese Verfolgungsjagd, total geil! Allein die Idee, das Buch am Tag der Veröffentlichung starten zu lassen, das war klasse. War das eigentlich Ihre Idee oder die vom Verlag?«, plapperte sie fröhlich weiter. »Und dann das mit dem Mord. Das muss ja Unsummen gekostet haben, diese Nachricht in der Presse zu lancieren. Aber hey, ich schätze, das spielen Sie mit dem neuen Buch locker wieder ein. Was man so hört, soll es ja wieder in die Richtung der alten Bücher gehen. Ich hab’s mir auch gekauft, noch bei der Lesung am Dreiundzwanzigsten. Sie haben’s mir übrigens signiert, aber ich bin Ihnen wohl nicht aufgefallen. Ihre anderen Bücher hab’ ich übrigens auch mit Widmung. Bis auf Sommerstille hab’ ich Ihre Unterschrift in jedem. Sie werden sich vermutlich nicht dran erinnern, bei den ganzen Büchern, die Sie andauernd unterschreiben müssen …«

»Stop, Lina, bitte!«, flehte Herzog und legte seine Hand auf ihren Unterarm. »Wovon reden Sie? Welche Marketingaktion?«

»Na, das mit dieser Frau, die Sie ermordet haben sollen. Starke Sache. Hätte nicht gedacht, dass der Sender bei so was mitmacht. Es war ja sogar in der Zeitung, glaube ich.«

Herzog schwieg. Ihm fiel beim besten Willen nichts Vernünftiges ein, das er darauf hätte erwidern können. Sie glaubte, das sei alles nur Theater. Was es vermutlich auch war. Sein musste. Hoffnung keimte in Herzog auf. Alles würde sich aufklären, sobald sie bei Sabine waren. Und Tommy.

»Wohin fahren wir eigentlich? Zu Ihnen nach Hause?« Sie warf ihm einen Seitenblick zu, den er unter anderen Umständen nur allzu gern als Einladung gewertet hätte. Im Moment beschränkte sich all seine Vorstellung allerdings darauf, in ein paar Minuten die Treppe zu Sabines Wohnung hinaufzuhasten, sie und Tommy in die Arme zu schließen und diesem ganzen Unsinn ein Ende zu machen. Und anschließend ein paar Leuten gehörig in den Arsch zu treten, allen voran einem gewissen Agenten namens Urbaniak, genannt Urby, der uralte Doppelkinnfotos von ihm in Umlauf brachte. Dem ganz besonders fest. Um Linas Nummer konnte er sich später immer noch kümmern.

»Genau. Ich …« Herzog räusperte sich. »Ich muss etwas überprüfen. Hängt mit der Presseaktion zusammen.«

»Oh, die läuft noch? Das ist ein Teil davon, ja? Dann kommt das wohl in Ihrem neuen Buch vor? Oh, verdammt, ich wollte es eigentlich gleich am 24. anfangen, aber es ging nicht, weil ich Schicht hatte, und abends war ich dann so fertig, dass mir nur noch die Augen zugefallen sind. So ein Mist. Jetzt weiß ich doch gar nicht, was ich als Nächstes tun soll. Ich meine, ich will es ja so machen, wie es im Buch steht.«

»Sie machen das ganz ausgezeichnet, Lina.«

»Echt?«

»Echt«, sagte Herzog und versuchte ein Lächeln. Erstaunlicherweise bekam er es sogar hin. Oder irgendetwas in der ungefähren Nähe eines Lächelns. Natürlich stand in »Totgespielt« kein Wort von einem Krankenhausaufenthalt des Hauptakteurs, der nebenbei bemerkt auch nicht Schriftsteller, sondern Finanzbeamter war (zumindest tagsüber, wenn er nicht gerade seinen nächtlichen Mordgelüsten nachging). Schon gar nicht ließ sich dieser Kerl von Krankenschwestern in einem winzigen Fiat durch die Gegend kutschieren, mit nichts bekleidet als einem viel zu dünnen Sommeranzug, den er einem alten Mann geklaut hatte. Änderungen dieser Größenordnung hätte sich noch nicht mal der ewig nörgelnde Hofbauer, sein Lektor beim Verlag, getraut. Oder? In jedem Fall war jetzt ein denkbar schlechter Augenblick, Lina auf diesen Umstand hinzuweisen, also hielt Herzog einfach die Klappe.

Herzogs Hoffnung, dass sich diese gesamte dumme Angelegenheit alsbald in Wohlgefallen auflösen würde, hielt an, bis sie die Parkstraße erreicht hatten. Da nämlich erblickte er das Einsatzfahrzeug der Polizei.

»Scheiße!«, fluchte er und rutschte in seinem Sitz zusammen.

»Weg hier!«, zischte er in Linas Richtung, und sie reagierte glücklicherweise besonnen. Sie setzte einfach den Blinker und bog ohne große Hast in die nächste Nebenstraße ab. Unbemerkt von den Polizisten, gottlob. Doch Herzog hatte noch etwas gesehen, das sich auf dem verschneiten Gehweg vor Sabines Haus abspielte. Das beunruhigte ihn fast noch mehr als das versammelte Polizeiaufgebot. Ein Junge in einem Rollstuhl, der, in einen knallblauen Anorak und dicke Decken gewickelt, die Stufen zum Hauseingang hochgehievt wurde, von einem Mann mit Brille, dessen ziviler Auftritt ihn eher als einen Arzt als einen Polizisten erscheinen ließ. Der Junge war Tommy. Die Tatsache, dass sein Rollstuhl nicht von Sabine, sondern einem wildfremden Mann geschoben wurde, umringt von einer Meute Polizisten, konnte nur eins bedeuten.

Alles war wahr.

Damit schwand das letzte bisschen Hoffnung, das Herzog an diesem Tag gehabt hatte, dahin.

»Okay, das war jetzt ein bisschen seltsam«, sagte Lina gedehnt und schaute zu Herzog herüber, der sich im Beifahrersitz des Fiat einrollte und düster durch die Windschutzscheibe ins Schneegestöber starrte. »Die waren echt, oder? Ich meine, die Polizei? Das war es, was Sie überprüfen wollten, oder?«

»Ja«, antwortete Herzog leise.

»Okay«, meinte Lina, und Herzog glaubte, ein Zittern in ihrer Stimme zu hören. Dann fasste sie sich. Aber jetzt lächelte sie nicht mehr. »Habe ich eine Chance, lebend aus der Sache rauszukommen, wenn ich tue, was Sie sagen?« Herzog bemerkte, dass die Knöchel ihrer Finger weiß hervortraten, während sie das Lenkrad umklammerte.

»Wie bitte?«

»Nun, offenbar bin ich die größte Idiotin der Welt. Dass Sie die Presse für eine etwas makabre Marketingaktion gewinnen, kann ich mir noch vorstellen. Aber die Polizei? Sehr unwahrscheinlich. Und besonders belustigt sahen die eben auch nicht gerade aus. Oder Sie. Daraus kann ich nur schließen, dass alles wahr ist. Und dass ich gerade tatsächlich einen gefährlichen Verrückten durch die Gegend fahre, der zufällig einer meiner Lieblingsschriftsteller ist.«

»Aber …«

»Also, werden Sie mich töten?« Sie brachte den Wagen zum Stehen und wandte ihm ihr Gesicht zu. Ihre großen, dunklen Augen hatten jetzt eine Spur von Traurigkeit, aber das war auch schon alles. Es war kein Entsetzen darin zu sehen, nicht einmal ein Anflug von Angst.

Sie fragt das im vollen Ernst, schoss es Herzog durch den Kopf. Und wenn ich jetzt ‚Ja’ sagen würde, wäre sie vermutlich nicht einmal besonders überrascht. Wer ist dieses schöne, traurige Mädchen? Was muss sie bloß erlebt haben, um so gleichgültig zu bleiben?

Doch dann ging auch dieser Augenblick vorbei und Herzog beeilte sich, zu antworten:

»Natürlich nicht. Ich werde Sie nicht umbringen. So wie ich auch Sabine nicht umgebracht habe oder sonst irgendjemanden. Das ist alles … ein riesengroßes Missverständnis. Es ist …«

»Okay«, sagte Lina wieder. »In diesem Fall denke ich, es ist an der Zeit, dass wir uns in Ruhe irgendwo unterhalten. Außerdem habe ich Hunger. Meinen Sie, das ließe sich verbinden?«

Sie glaubt es, dachte Herzog. Einfach so. Allmählich gewann er seine Fassung zurück, Babyschritt für Babyschritt. Und irgendwie half sie ihm dabei. Ihre Gleichgültigkeit, die ebenso gut auch nur ein mittelschwerer Schock sein konnte.

»Ich … also, ich würde Sie ja wirklich gern zum Essen ausführen, aber …«

»Verstehe. Ist gerade ein schlechter Zeitpunkt, schon klar. Ich dachte auch eher an etwas zum Mitnehmen.«

»Oh, ja. Klar. Gute Idee! Allerdings bin ich gerade nicht sehr flüssig.«

Lina setzte den Wagen wieder in Bewegung. »Diese Runde geht auf mich.« Dann begann sie, unvermittelt zu kichern. »Das wollte ich schon immer mal sagen.«

Zwanzig Minuten später parkten sie in der Meindlstraße und mampften Burger mit Pommes frites. Lina hatte die Scheibenwischer abgeschaltet und die Scheibe begann, sich zusehends mit Schnee zuzusetzen, während Passanten an ihnen vorbeihasteten, ihre Mützen tief in die Stirn gezogen in dem vergeblichen Versuch, sich gegen den anhaltenden Schneesturm zu schützen. Unter anderen Umständen hätte das durchaus gemütlich oder romantisch sein können, fand Herzog und bemerkte, dass er diese Art von Fast Food bestimmt seit fünf Jahren nicht mehr gegessen hatte. Nicht mehr, seit er Sabine ... Nun ja, der Geschmack hatte sich nicht verändert. Diesmal allerdings kam es Herzog vor, als habe er selten etwas Köstlicheres gegessen.

»War das Ihr Sohn?«, fragte Lina.

»Hmmmggh?«, erwiderte Herzog, der gerade ein großes Stück von seinem Burger abgebissen hatte.

»Der Kleine da, im Rollstuhl.«

»Ja«, sagte Herzog, nachdem er das Stück heruntergewürgt hatte. »Das ist Tommy.«

»Was fehlt ihm?«

»Er ... er hat das Downsyndrom. Und er ist Autist.«

»Ach du Scheiße.«

Herzog kaute schweigend, sah den Vorüberhastenden zu. Dann sagte er: »Tommy ist ein lieber Junge. Nein, das stimmt nicht. Er ist toll. Er ist erst acht, aber er kann zeichnen, so was haben Sie noch nicht gesehen! Und er brüllt auch nicht den ganzen Tag herum, wie viele glauben, oder geht einem auf die Nerven … oder ...« Und dann waren ganz plötzlich die Tränen da, ohne Vorwarnung.

»Scheiße, was ist nur los?«, rief er mit erstickter Stimme. »Was ist nur …«

Lina legte eine Hand auf Herzogs zitternde Schulter. Es wirkte ein bisschen unbeholfen, als ob sie so etwas selten tat. Aber der sanfte Druck ihrer Finger tat dennoch sehr gut. »Tut mir leid«, erklärte sie. »Ich wollte nicht ... Ich habe es nicht böse gemeint.«

»Schon gut«, sagte Herzog nach einer Weile. Inzwischen war es ihm gelungen, die Reste des Burgers und die Pommes in die Tüte zurückzukippen und eine Hand frei zu bekommen. Er zupfte die Serviette aus der Tüte und wischte sich die Tränen fort. »Es stimmt ja. So etwas Ähnliches habe ich anfangs auch gedacht, als ich davon erfuhr, dass Tommy ... dass er behindert sein würde.«

»Aber es ist Ihnen inzwischen egal.«

»Nein, es ist ... komplizierter als das. Ich und seine Mutter, wir haben uns getrennt, kurz nach seiner Geburt. Aber nicht wegen Tommy. Tommy ist ein Schatz, er ist klasse. Aber zwischen mir und Sabine hat es nicht mehr hingehauen. Sabine, das ist die Frau ...«

»Auf dem Foto, ich weiß.«

Sie schwiegen beide eine Weile, und Lina starrte zur Frontscheibe hinaus. Die war inzwischen so zugesetzt, dass es da ohnehin nichts mehr von der Außenwelt zu sehen gab. Herzog pickte sich die restlichen Pommes aus der Tüte und für eine Weile kauten beide bedächtig, bis Herzog schließlich das Schweigen brach.

»Und was machen wir jetzt?«

»Gute Frage. Oder anders formuliert: Haben Sie mir gerade meine Henkersmahlzeit ausgegeben?«

»Ich denke, in dieser Hinsicht können Sie beruhigt sein. Ich glaube nicht, dass Sie Ihre Exfrau … Sie wissen schon.«

»Dass ich sie umgebracht habe?«

»Ja. Ich werde Sie nicht zur Polizei fahren.«

»Gut. Es gibt allerdings noch zwei Probleme, und ich denke, ich schulde Ihnen, Sie darauf hinzuweisen.«

»Und die wären?« Nun starrten sie beide auf die Scheibe, als ob es da irgendwas zu sehen gäbe. Was es nicht tat, außer einer gleichmäßigen weißen Fläche auf der Frontscheibe.

»Erstens machen Sie sich strafbar, wenn Sie mir helfen. Je länger Sie mir helfen, desto schlechter werden Sie aus der Sache wieder rauskommen.«

»Damit kann ich leben.«

»Oh. Einfach so?«

»Einfach so. Ich bin schon groß, wissen Sie? Ein großes Mädchen.«

»Das sind Sie ganz bestimmt.«

»Na, danke schön!« Sie schenkte ihm ein entzückendes, halbseitiges Grinsen. Wenn darin ein Vorwurf lag, so war er nicht echt.

»Entschuldigung«, beeilte sich Herzog, zu sagen. »Ich meinte bloß, Sie wirken erwachsen. Sie scheinen zu wissen, was Sie tun. Besser als ich im Moment zumindest.«

»Hm«, sagte Lina. »Und die zweite Sache?«

»Um ganz ehrlich zu sein: Ich weiß wirklich nicht, was ich in den letzten drei Tagen getan habe. Ich habe eine Gedächtnislücke, so groß, dass ein LKW hindurchpasst, samt Anhänger.«

»Eine temporäre Amnesie, ja. Dr. Schaller sprach vorhin davon. Das kommt wohl von Ihrem Unfall. Das ist nichts Ungewöhnliches. Normalerweise vergeht das ein paar Stunden bis Tage später. Ihr Gehirn scheint ja nicht angegriffen worden zu sein. Ist Ihnen schlecht oder so was?«

»Nein, mir geht es gut. Aber das ist nicht das Problem.«

»So? Was denn dann?«

»Meine Gedächtnislücke setzt ein, kurz bevor diese Sache mit Sabine passiert ist. Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist, dass ich auf dem Weg zu Sabine und Tommy war, und da habe ich noch mit Sabine telefoniert. Dann ist es plötzlich drei Tage später und ich erwache auf Dr. Schallers Operationstisch.«

»Oh.«

»Ja.«

»Heißt das, Sie können nicht gänzlich ausschließen, dass Sie es vielleicht doch waren?« Auch jetzt fehlte jeder Anflug von Angst in ihrer Stimme. Da war nur Interesse herauszuhören, wie bei einem Arzt, dem ein besonders interessanter Krankheitsverlauf berichtet wurde. Bewundernswert, fand Herzog. Er hätte vermutlich bei nächster Gelegenheit die Flucht ergriffen, anstatt einen potenziell hochgefährlichen Psychopathen zu Burger und Pommes einzuladen.

»Na ja«, sagte Herzog, »ich habe das hier.« Er zog den Ärmel des Sakkos nach oben, damit Lina einen Blick auf sein Tattoo (temporäres Tattoo wie in ‚Temporäre Amnesie’) werfen konnte.

»Du warst es nicht.« Lina hatte einige Mühe, die verblasste Schrift zu entziffern. »Das ist schräg«, stellte sie fest. Zutreffend, dachte Herzog. »Wissen Sie zufällig, wessen Schrift das ist?«

»Zufällig ja, Lina. Es ist nämlich meine.«

»Was ist denn das für eine verdammte Scheiße, bitte?«, verlangte Kommissar Walkowiak zu wissen. Schaller ertrug die Schimpftiraden des übergewichtigen Ermittlers bereits seit ein paar Minuten, ohne sich davon sonderlich beeindruckt zu zeigen. Jahrelange Erfahrung im Umgang mit streitsüchtigen Patienten und Angehörigen hatte ihn gelehrt, dass Menschen immer dann am lautesten zu brüllen pflegten, wenn sie sich eingestehen mussten, dass der unerwünschte Ausgang einer Sache hauptsächlich auf ihr eigenes Verschulden zurückzuführen war.

Walkowiak wandte sich erneut an Herrn Heintze und gab sich sichtlich Mühe, sein Temperament wieder einigermaßen unter Kontrolle zu bringen, allerdings mit eher mäßigem Erfolg. Dr. Schaller erwog für einen Moment, den Kommissar darauf hinzuweisen, welche überaus ungesunde Kombination Übergewicht und eine Neigung zu Wutausbrüchen für die Gesundheit des Herzens darstellte, ließ es aber dann bleiben. Schwer vorstellbar, dass Walkowiak seine Ratschläge in irgendeiner Weise beherzigen würde. Vermutlich würden sie sich spätestens zum ersten Infarkt wiedersehen, und der würde nicht mehr lange auf sich warten lassen.

»Also nochmal.« Walkowiaks Wurstfinger nestelten an der Bettdecke von Herrn Heintze. Für einen Moment befürchtete Schaller, der Kommissar werde dem alten Mann die Decke wegreißen und drohen, sie ihm erst zurückzugeben, wenn der mit der ganzen Wahrheit rausrückte. »Herzog hat Sie gebeten, die Nachrichten laut zu stellen. Und dann?«

»Dann hat er se sich anjesehen, die Nachrichten, nich?«

»Und ist aus dem Bett gesprungen, hat sich Ihre Klamotten geschnappt und ist fortgerannt.«

»Jenauso waret jewesen. Aber …«

»Aber?« Walkowiaks Gesicht wechselte im Sekundentakt zwischen einer intensiv tiefroten und einer käsig weißen Färbung hin und her. Kein gutes Zeichen, dachte Dr. Schaller mit einem Anflug von Mitleid. Welches sich allerdings schnell wieder verflüchtigte.

»Aber ick hab’ ihm vorher noch meine Mütze und meinen Schal jegeben. Und meene Schuhe. Sonst holt det Männeken sich ja den Tod.«

»Das ist Fluchthilfe, Mann!«Walkowiak presste die Worte zwischen seinen wulstigen Lippen hervor. »Ich kann Sie wegen Komplizenschaft mit einem Straftäter anklagen!«

»Na, denn tunse mal, wat se nich lassen können, wa?« Dr. Schaller verkniff sich ein Grinsen. Der alte Kerl hatte Eier, wenn auch nur noch im übertragenen Sinne, genau genommen. »Ist ziemlich kalt draußen«, fuhr Heintze fort. »Konnte ihn ja schlecht in Strümpfen türmen lassen!«

»Aha!«, rief Walkowiak und streckte seinen dicken Zeigefinger triumphierend in Richtung des Alten, als wolle er ihm ein Auge ausstechen. »Also wussten Sie, dass er fliehen wollte, und haben ihm ganz bewusst dabei geholfen!«

»Na logo«, gab Heintze unumwunden zu. »Der arme Kerl hatte ja nüscht. Nich mal ne eigene Unterhose. Ich weiß nich, obse wissen, wie det is, wenn ma jar nüscht hat. Aber ick weeß, wie det is. Keen anjenehmet Jefühl, der kannick Ihnen flüstern.«

Heintze begann zu kichern, als sei das das Lustigste, was er diese Woche erlebt hatte.

»Aber bevorse hier den jroßen Maxe markieren, sollten se eenes wissen, Herr Kommissär. Ick habe nich mehr lang uff dieser Erdenkugel und wennse mich in irjend ’nen Jerichtssaal schleppen wollen oder in de Arrestzelle, dann nur zu. Ick glaube allerdings nich, dass Se noch lange Freude an mir haben werden, versteh’n se?«

Walkowiak warf einen fragenden Seitenblick zu Dr. Schaller. Der nickte kaum merklich. Es stimmte. Heintzes Organe waren voller Metastasen, er bekam Unmengen an Schmerzmitteln, aber unter dem Strich war der alte Mann praktisch bereits auf dem Weg in eine hoffentlich bessere Welt. Nicht, dass ihn Schaller auch nur einmal hatte klagen hören. Auch wenn er sich sicher war, dass der Mann unerträgliche Schmerzen leiden musste, trotz der Unmengen an Schmerzmitteln, die er mittlerweile bekam. Heintze war vieles, aber ganz bestimmt kein Jammerlappen. Der Kommissar musste erst noch geboren werden, der es zustande brachte, diesen Veteranen einzuschüchtern.

»Und ick will Ihnen noch ’nen juten Rat geben, Herr Kommissär. Sparense sich den Aufwand. Dieser Herzog da, den Se jagen wollen, der ist janz bestimmt keen Mörder. Ich hab’ ’n paar Mörder kennengelernt, ick seh es einem an der Nase an, könnte man sagen. Dieser Herzog, det ist ’n anständiger Kerl, und wennse auch nur halb so viel erlebt hätten wie ich, mein Junge, dann wüsstense das, sobaldse ihm nur mal die Hand zum ‚Guten Tag’ geben.«

»Na gut.« Walkowiak stand auf, ohne auf die letzte Bemerkung des Alten einzugehen. »Zu Fuß kann er nicht weit gekommen sein. Welche Farbe, sagten Sie, hatte Ihr Anzug?«

»Det war ein janz schöner, so’n cremefarbener. Und passen Se mir bloß auf, dasse da keene Löcher rinschießen, ja? Ist nämlich meen bester.« Diesmal gelang es Dr. Schaller nicht, ein Lächeln zu verbergen. Zumindest bis zu dem Moment, da das heisere Lachen des Alten zu einem bellenden Husten wurde. Dann stand er auf und warf Walkowiak einen ernsten Blick zu. »Ich glaube, das genügt.«

Walkowiak bewegte sich bereits auf die Tür zu. Als er sie geöffnet hatte, drehte er sich noch einmal zu dem älteren Patienten um und nuschelte etwas, das mit viel Fantasie ‚gute Besserung’ hätte heißen können.

»Ja, Sheriff«, erwiderte Heintze, gänzlich ohne zu nuscheln. »Sie mich ooch, wa?«, und stieß noch einen heiseren Lacher aus. Die Tür fiel hinter Kommissar Walkowiak ins Schloss.

Ja, überlegte Dr. Schaller, während er selbst zur Tür ging — ohne große Eile, denn er legte keinen allzu großen Wert darauf, Walkowiak draußen auf dem Gang gleich wieder in die Arme zu laufen — ja, rein instinktiv war er geneigt, Heintze und seiner sicherlich nicht unbeträchtlichen Erfahrung in puncto Menschenkenntnis recht zu geben. Herzog war einfach nicht der Typ, den man sich beim Zerstückeln seiner Exfrau vorstellen konnte. Andererseits — war das nicht gerade typisch für erfolgreiche Psychopathen, dass sie unerkannt in der Masse untertauchen konnten, ohne aufzufallen? Und, was noch wesentlich schwerer wog: Als sie Herzog mit ein paar Skalpellschnitten von seinen Gucci-Jeans befreit hatten, war das gute Stück regelrecht von eingetrocknetem Blut getränkt gewesen. Zu viel Blut und zu alt, um allein aus Herzogs Unfallwunden zu stammen. Irgendetwas sagte ihm, dass die Spurensicherung der Polizei das Blut als das von Sabine Neuhaus identifizieren würde.

»Okay«, sagte Lina, »Ich habe drüber nachgedacht. Ich werde Ihnen helfen.«

»Das kann ich nicht von Ihnen verlangen. Ich kann es noch nicht mal zulassen. Die Tatsache, dass Sie bis jetzt noch nicht die Polizei gerufen haben, war schon mehr, als ich von einer Wildfremden erwarten kann. Viel mehr.«

»Vielleicht bin ich gar keine Wildfremde«, sagte Lina leise.

»Wie meinen Sie das?«

»Ich habe auch ein paar Tattoos, wissen Sie?« Mit einer geschmeidigen Bewegung schlüpfte sie aus ihrer Jacke und schob den Ärmel ihres schwarzen Sweatshirts nach oben, wie es Herzog soeben mit seinem Anzugärmel getan hatte. Allerdings war dort wesentlich mehr zu sehen als ein mit einem Permanentmarker hingekritzelter Spruch. Ihre Arme waren von einem dichten Netz aus Linien, geometrischen Symbolen und kleinen bildhaften Darstellungen bedeckt. Da waren große, dunkle Sterne und etwas, das wie eine Schwalbe mit gebrochenen Flügeln aussah, verbunden durch ein wildes Gestrüpp dornengespickter Ranken. Alles in allem wirkte keines der dargestellten Symbole besonders positiv oder gar lebensbejahend, aber Herzog war sich sicher, dass in jedem einzelnen eine tiefe Bedeutung für ihre Trägerin lag. Was Herzog hier erblickte, hatte nichts mit einem Modetrend oder reiner Hautverschönerung zu tun. Vielmehr waren diese Bilder Narben, nach außen getragen, vermutlich, damit die Besitzerin sich daran erinnerte, wer oder was ihr diese Narben zugefügt hatte — und dass sie überlebt hatte. Trotzdem.

Du warst es nicht.

Du lebst noch.

Vielleicht hatten sie doch mehr gemeinsam, als Herzog zunächst angenommen hatte. Soweit er es erkennen konnte, zogen sich die Hautbilder oberhalb von Linas Handgelenk über den gesamten Arm, verschwanden dann unter ihrem Ärmel, von wo sie sich vermutlich bis zur Schulter weiterzogen. Oder noch weiter.

»Bei der Arbeit muss ich natürlich immer langärmelige Klamotten tragen«, sagte Lina mit einem entschuldigenden Lächeln. »Das kann ganz schön belastend sein, besonders im Sommer. Aber es geht nicht anders.«

Dann, leiser, fügte sie hinzu: »Verstehen Sie?«

Herzog nickte.

Fasziniert folgte er den verschlungenen Linien und Symbolen auf Linas Haut, die sich wie Blutgefäße über ihren Arm zogen. Als sein Finger behutsam über ihren Unterarm strich, bemerkte er, dass es noch einen zweiten Grund für die Tätowierungen gab. Im Bereich von Linas Handgelenk tastete er über hartes, vernarbtes Gewebe. Als er diese Stelle berührte, zog sie rasch den Arm weg und fuhr hastig wieder in ihre Jacke.

»Ich verstehe«, sagte Herzog. Denn das war etwas, das er nur zu gut verstand.

Es geht nicht anders.

»Aber ich kann trotzdem nicht verantworten, dass Sie meinetwegen Ärger bekommen. Ich werde jetzt aussteigen und Sie fahren nach Hause und vergessen, dass Sie mich jemals außerhalb Ihrer Arbeit gesehen haben. Danke für den Burger. Sobald ich wieder auf den Füßen bin, werde ich mich erkenntlich …«

»Nein«, unterbrach ihn Lina, und dann leiser, fast flehend: »Bitte!«

Für eine Schrecksekunde hörte sich ihre Stimme wie eine hundertprozentige Kopie von Sabines an.

Tu mir weh, damit ich mich wieder spüren kann. Damit ich weiß, dass ich noch lebe.

Herzog konnte gerade noch die Tür aufreißen, da spülte die Flutwelle auch schon seine Gedanken fort und er übergab sich keuchend auf den Gehsteig.

Stumm reichte Lina ihm eine Serviette. Herzog wischte sich den Mund ab und warf die Serviette neben die halbverdauten Reste seiner letzten Mahlzeit in den Schnee. Eine ältere Frau rümpfte die Nase ob der Sauerei und hastete rasch weiter, wobei sie einen winzigen Hund an einer pinkfarbenen Leine hinter sich herzerrte.

Herzog schloss die Tür.

»Das war das Anästhetikum«, meinte Lina. »Sie hätten noch etwas warten sollen mit dem Essen.«

»O Mann«, sagte Herzog und ließ sich in den Sitz sinken. »Das tut mir leid.«

»Keine Ursache. Ich habe schon weit Schlimmeres gesehen. Ich bin Krankenschwester, schon vergessen?«

»Shit«, sagte Herzog, »Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht. Im Moment scheint sich mein Leben um mich herum mit rasender Geschwindigkeit zu drehen. Ein bisschen wie ein Wasserstrudel, wenn man in einem gigantischen Waschbecken den Stöpsel gezogen hat. Wen wundert’s, dass einem davon schlecht wird?«

»Wie der Strudel in einem riesigen Waschbecken. Hm, das gefällt mir«, bestätigte Lina. »Wissen Sie was? Sie sollten Schriftsteller werden.«

»Sehr witzig.«

»Stimmt«, sagte Lina und nickte bestimmt. »Ich bin ein echter Witzbold. Okay, haben Sie einen Ort, wohin Sie können? Wo Sie ein paar Tage ungestört sind? Vermutlich wäre es keine gute Idee, wenn wir jetzt zu Ihnen fahren.«

»Ungestört? Ich vermute mal, dass die Polizei inzwischen eine Großfahndung nach mir ausgerufen hat. Ich kann natürlich nicht nach Hause, und bei Sabines Wohnung waren wir grade.«

»Hm, zu mir können Sie leider auch nicht. Meine Mitbewohnerin …«

»Ich komme schon klar. Wenn Sie unbedingt wollen, fahren Sie mich zum Bahnhof.«

»Und dann? Sie haben kein Geld und noch nicht mal vernünftige Winterklamotten, und was glauben Sie, wo die Polizei Sie als Erstes suchen wird, mal von den Flughäfen abgesehen.«

»Scheiße, ja. Das stimmt vermutlich.«

»Und wo wollen Sie von da überhaupt hin?«

»Ich …« Herzog dachte nach. »Es gibt eine Hütte. In den Bergen. Sie gehört einem Freund, der sich gerade in Asien die Sonne auf den Bauch scheinen lässt. Dorthin war ich unterwegs, bevor …«

»Bevor Sie Ihr Gedächtnis verloren haben, verstehe. Weiß irgendjemand von der Hütte? Außer Ihrem Freund, meine ich? Jemand, der der Polizei davon erzählen könnte?«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739339597
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (März)
Schlagworte
Mord Psychothriller Horror Psycho Thriller Entführung grausam Krimi Spannung Gewalt

Autoren

  • L.C. Frey (Autor:in)

  • Alex Pohl (Autor:in)

Mit über 1.5 Millionen verkauften Büchern ist Alex Pohl alias L.C. Frey einer der meistgelesenen Autoren Deutschlands. Er ist außerdem eine Hälfte des erfolgreichen Bestseller-Autorenduos Oliver Moros, sowie Co-Autor des Nr.1-SPIEGEL-Bestsellers “Abgefackelt” von Michael Tsokos. L.C. Freys Schreibratgeber ‘STORY TURBO: Besser schreiben mit System‘ gilt als das deutschsprachige Standardwerk für moderne Autorinnen und Autoren. Der Autor lebt und arbeitet in Leipzig.
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Titel: Totgespielt: Thriller