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So Kalt Dein Herz

Psychothriller

von L.C. Frey (Autor:in) Alex Pohl (Autor:in)
269 Seiten

Zusammenfassung

Als Tim in ein abbruchreifes Haus einzieht, ahnt er nicht, dass das alte Gemäuer bereits einen Bewohner hat. Eines Nachts macht er eine Entdeckung, die sein Leben für immer verändern wird. Anna ist eine Herumtreiberin, die vor allem eins möchte: Unsichtbar sein. Als Tim auf den Wildfang Anna trifft, scheint der Ärger vorprogrammiert. Das Mädchen ist von düsteren Geheimnissen umgeben. Warum beobachtet sie wie besessen das Haus gegenüber? Wer ist sie wirklich? Ein tödliches Geheimnis. Als in der Nähe des Hauses ein kleines Mädchen spurlos verschwindet, findet Tim heraus, dass Anna ein schreckliches Geheimnis vor ihm verbirgt. Weiß Anna mehr von den grausamen Verbrechen, als sie zugibt? Wahrheit oder nicht? Als Tim herausfindet, wer Anna wirklich ist, wird er unaufhaltsam in einen Strudel aus Lügen und Verbrechen gezogen. Als er begreift, was auf dem Spiel steht, muss er eine Wahl treffen, die das Leben aller Beteiligter für immer verändern wird.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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SO KALT DEIN HERZ

* * *

Für Krissy.

Außerdem für meine Leserinnen und Leser,

und für das beste Alpha-Team der Welt.

Ihr wisst, wer ihr seid!

* * *

WIE MAN EINEN SPATZ FÄNGT

PROLOG

Niemand weiß, was der Tod ist, ob er nicht für den Menschen das größte ist unter allen Gütern. Sie fürchten ihn aber, als wüßten sie gewiß, daß er das größte Übel ist.

– Platon

Sie ist perfekt. Ein perfektes kleines Energiebündel. Sie trägt eine pinkfarbene Pudelmütze mit einer weißen Bommel, unter der ihr weiches, blondes Haar hervorlugt. Sie trägt sie nicht, weil es so furchtbar kalt wäre, sondern vermutlich eher, weil das ihre momentane Lieblingsmütze ist. Vielleicht ist es für sie auch der Helm eines Feuerwehrmannes oder eines Rennfahrers?

Wie alt mag sie sein? Sechs Jahre? Oder doch erst fünf? Auf jeden Fall noch nicht alt genug, um in die Schule zu gehen und einer verwirrenden Menge von verunreinigenden Einflüssen ausgesetzt zu werden. Verdorben zu werden, unbrauchbar, beschmutzt. Noch nicht.

Noch ist sie perfekt.

Rein.

Die Kleine läuft auf das Gebüsch zu, umrundet es, wirft einen raschen Blick zurück in die Richtung, aus der sie gekommen ist, und hockt sich hin.

Will sie …?

Nein. Sie ist nicht hier, um ihr kleines Geschäft zu verrichten. Sie schaut nochmals am Gebüsch vorbei zurück. Dann lächelt sie zufrieden. Natürlich. Sie versteckt sich vor jemandem. Ihr kleines Gesicht ist von einem köstlichen rosigen Schimmer überzogen, der es wie von innen heraus leuchten lässt. Noch immer glaubt sie, dass sie allein hier ist.

Vielleicht ist sie doch erst fünf.

»Hey«, flüstere ich. Damit der- oder diejenige, vor der sie sich versteckt, es nicht mitbekommt. Falls der- oder diejenige tatsächlich eine reale Person ist.

Die Kleine dreht den Kopf, dabei lächelt sie. Sie erschrickt nicht einmal. Sie ist voller Vertrauen.

Ein erstes Lächeln, und ihre Augen werden groß, sie sind von einem arglosen Blau wie der Himmel an einem Sommertag, wenn ihn keine Wolke trübt. Wie kristallklares Wasser in einer geschützten Lagune. Kein Gedanke an Gewitter, Stürme oder Zeiten von Regen, Schnee, Trübsal und Tod.

Das alles ist für sie noch nichts als eine ferne Ahnung, die sie nicht betrifft in ihrer kleinen, neuen Welt. Noch nicht.

»Hey, du. Vor wem versteckst du dich denn?«

Sie strahlt, dann legt sie einen winzigen Finger auf die Lippen. Ihre blauen Augen sind riesengroß. Du musst leise sein, sagen diese Augen, weil wir Verstecken spielen. Damit ich nicht gefunden werde.

»Verstehe«, flüstere ich und lächle. Gehe noch ein wenig tiefer in die Hocke. Spiele das Spiel mit.

Schweigen. Sie sieht mich interessiert an.

»Ich kenne ein echt gutes Versteck«, sage ich beiläufig. Als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt.

»Wirklich?«, flüstert die Kleine, den Finger drolligerweise immer noch auf den Lippen.

Ich nicke. Bekräftigend.

Dann nimmt sie den Finger herunter. Überlegt. Lugt über das Gebüsch in den Wald hinein. Nichts zu sehen oder zu hören aus der Richtung, in die sie blickt. Nur das endlose Grün und Braun und darüber ein paar Fetzen Himmel.

»Es ist nicht weit weg. Da wird dich bestimmt niemand finden.« Ich sage es, als sei es mir gerade erst eingefallen. Eine tolle Idee.

Sie öffnet die Lippen und zieht die Stirn kraus, ein Ausdruck tiefer Nachdenklichkeit, den sie sich fraglos irgendwo abgeschaut hat. Denn eigentlich hat sie sich schon längst entschieden. Natürlich hat sie das. Das Angebot ist einfach zu verlockend.

»Niemand, ganz wirklich?«, fragt sie. Die beiden oberen Schneidezähne fehlen, und sie lispelt ein wenig. Ganz und gar entzückend. Ganz und gar unschuldig. Vollkommen. Perfekt. Rein.

Nicken. Bekräftigen. Lächeln, doch nicht zu sehr. Nur eine Andeutung. Gerade genug, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Ein bisschen mehr in die Hocke gehen. Kleiner werden, auf Augenhöhe mit ihr, aber nicht ganz. Das Spiel mitspielen, aber die Oberhand behalten.

Es ist so einfach.

»Gut«, sagt sie schließlich und nickt. Die Haare unter ihrem Mützchen fliegen dabei. Da ist ein kleiner Soßenfleck auf ihrem pinkfarbenen T-Shirt. ›Little Miss Princess‹ steht darauf in geschwungenen Buchstaben, die am Rand mit unzähligen Glitzersteinchen besetzt sind, ebenfalls in hellem Pink.

Auf allen Vieren kriecht sie aus dem Gebüsch, greift nach der dargebotenen Hand und lässt sich von mir führen. Ihre Hand ist winzig, warm und ganz weich. Sie umfasst gerade mal zwei meiner Finger.

Dann gehen wir, schleichen vielmehr geduckt durch das Unterholz, die Deckung der mächtigen Stämme ausnutzend. Sind Räuber oder Dschungelkämpfer oder vielleicht Piraten, und wir dürfen uns auf keinen Fall von unseren Feinden schnappen lassen!

Da ist kein Knacken jenseits der Büsche, kein Rufen. Wer immer sie sucht, tut das offenbar ohne allzu großen Eifer.

Gut.

Endlich erreichen wir den Wagen. Einen Augenblick lang scheint sie zu zögern, aber sie lässt meine Hand nicht los. Stehenbleiben, nicht drängen jetzt, nicht ungeduldig werden. Die Tür öffnen. Lächeln.

So einfach.

Ich gehe um das Auto herum, und dabei ziehe ich unbemerkt das kleine Plüschtier aus der Tasche. Ein ganz besonders toller Zaubertrick, wie das kleine Hündchen seine Stoffnase an der Scheibe plattdrückt. Vergnügt jauchzt sie auf und streckt die Hand danach aus. Jetzt hat sie nur noch Augen für das Plüschgesicht, das wackelt, dass die kleinen Ohren nur so fliegen. Ein lustiger Spaßmacher.

Als Nächstes entdeckt sie die Schokoladentafel.

Ein fragender Blick, aber ja, natürlich ist das in Ordnung, lang nur kräftig zu. Sie nimmt ein Stück und steckt es in den Mund. Es ist wunderbar süß. So süß, dass man das starke Schlafmittel nicht mehr schmeckt, mit dem die Schokolade versetzt ist.

Das hat sie überzeugt.

Verschmitzt kneift sie die Augen zusammen, bis sie nur noch schmale Schlitze sind. Vermutlich glaubt sie, dass man das so macht, wenn man einen besonders listigen Plan ausgeheckt hat.

Ich strahle sie an.

Sie lächelt zurück.

Dann steigt sie in das Auto.

1 HEIMSTATT

Tim Schätzing ließ den Blick über die Ruine schweifen. Denn das war es, eine Ruine. Kein Grund, sich da etwas vorzumachen. Er beschloss dennoch, es von nun an lieber »das Haus« zu nennen. Etwa aus dem gleichen Grund, aus dem man die eigene Großmutter liebevoll »Oma« nennt und nicht »debile alte Schachtel«, selbst wenn das der Wahrheit möglicherweise näher käme.

Respekt. Damit hatte es eine Menge zu tun. Mit Respekt und Würde, Eigenschaften, die das Alter mit sich brachte, bestenfalls. Wie eben auch den Verfall.

Das andere war die Tatsache, dass er beschlossen hatte, dieses Haus zu seinem Haus zu machen. Und das würde er. Trotz der mitleidigen Blicke einiger Kumpels aus dem Baugeschäft. Trotz der Sache mit Simone. Trotz allem. Er würde das durchziehen; dieser Vorsatz hatte vielleicht auch ein bisschen mit Respekt zu tun. Mit Respekt vor sich selbst.

Tim zog die Hand aus der Hosentasche und bemerkte, dass er sie beim Gedanken an Simone zu einer Faust geballt hatte. Er öffnete sie. Eine seiner leichtesten Übungen. Mit der offenen Hand winkte er dem Haus zu. Dem Haus, nicht der Ruine.

Hallo Partner, wollen doch mal sehen, wie sich das mit uns beiden anlässt, wie? Jetzt, wo wir quasi miteinander verheiratet sind. Auf Gedeih und Verderb, in guten wie in schlechten Zeiten, bis dass der Tod uns scheidet.

Wie zur Antwort blitzte in einem der oberen Stockwerke etwas auf. Eine Reflexion der Sonne, die für einen Augenblick zwischen den Wolken hervorlugte. Als zwinkerte das Haus ihm zu.

Hallo Partner.

Tim musste ein bisschen grinsen. Nein, er würde das Haus bestimmt nie wieder eine Ruine nennen. Schon allein, weil das Simones Wortwahl gewesen war. »Ruine, Finanzgrab, hässlicher, alter Klotz« hatte sie es genannt, und noch einiges mehr. Sie hatte einen regelrechten Vorrat an wenig schmeichelhaften Bezeichnungen für das Haus gehabt. Und nicht nur für das Haus.

Und damit war seine gute Laune endgültig dahin. Tim schüttelte den Kopf, als hoffte er, den Gedanken an Simone auf diese Weise loszuwerden. Wie immer funktionierte das überhaupt nicht.

Doch zum Grübeln war auch später noch Zeit. Momentan gab es jede Menge zu tun. Es war Spätsommer, der Winter war also praktisch schon im Anmarsch. Und für eine ehrwürdige, alte Dame war der Winter stets eine kritische Jahreszeit, in dieser Hinsicht unterschieden sich Menschen kaum von Häusern.

Tim liebte es, Dinge instand zu setzen. Und zumindest bei Dingen, insbesondere Häusern, hatte er dafür auch ein recht gutes Händchen. Seine kleine Ein-Mann-Firma lief gut, sogar ausgezeichnet in manchen Monaten, und die meisten seiner Kunden empfahlen ihn mit glühenden Worten weiter. Zumindest diejenigen, die Qualität zu schätzen wussten und bereit waren, dafür zu bezahlen. Tim war gut in dem, was er tat, und das respektierten auch die anderen Freiberufler, die er manchmal für ein Projekt zu Hilfe holte. Gerade deshalb hatten die meisten von ihnen mit dem Kopf geschüttelt, als er ihnen das Haus gezeigt hatte.

Warum eine Auszeit nehmen, hatten sie gefragt, wo es doch gerade einigermaßen läuft? Tim hatte keine Antwort darauf gehabt.

Dennoch hatte er sich entschlossen, für mindestens ein Jahr nur einen Kunden exklusiv zu betreuen: sich selbst. In der Hoffnung, dass sich seine Kunden nach all dieser Zeit noch an ihn erinnern würden und er im Anschluss an dieses kleine Abenteuer nicht der ärmste Hausbesitzer aller Zeiten sein würde.

Was soll‘s, dachte Tim und steckte den Schlüssel in das Schloss der Haustür. Schlimmstenfalls fange ich wieder von vorne an. Dann habe ich aber ein Haus und vielleicht sogar eine kleine Werkstatt im Erdgeschoss. Das letzte Mal hatte ich nur die alte Garage und noch nicht mal einen Computer.

Ich packe das schon.

Der Schlüssel ließ sich halb herumdrehen, dann blockierte er. Tim rüttelte daran. Nichts zu machen, der steckte fest. Das Schloss, vielmehr die rostigen Überreste einer einstmals kunstvollen Schmiedearbeit, war vermutlich seit Jahrzehnten nicht geölt worden – was hatte er auch erwartet. Er drückte noch einmal gegen das Türblatt und drehte gleichzeitig am Schlüssel. Im Inneren des Schlosses erklang ein leises Knacken, dann flog die Tür auf und Tim stolperte in den Flur. Etwas fiel klirrend zu Boden.

»Sieht aus, als hätte sich lange niemand mehr an deinem Keuschheitsgürtel zu schaffen gemacht, Großmutter«, murmelte Tim und hob den Rest des in der Mitte durchgebrochenen Schlüssels vom Boden auf. Die andere Hälfte steckte nun im Schloss fest, und dort würde sie bis zum Ende aller Tage bleiben. Egal, er würde die Haustür ohnehin auswechseln müssen. Er beschloss nachzusehen, ob sich in der Kiste vielleicht eine Überfalle und ein altes Vorhängeschloss für die Haustür fand, zumindest bis sich die Zeit fand, eine neue Tür zu kaufen.

Dann ging er weiter in die kühle Dunkelheit.

Der Flur war eine Schutthalde, aber das wusste Tim bereits. Schließlich hatte er sich das Haus direkt nach der Versteigerung von innen angeschaut (und, wie Simone jetzt zweifellos angemerkt hätte, dummerweise nicht vorher). Damals war er noch voller Enthusiasmus gewesen. Dass die Maklerin die meiste Zeit betreten auf ihre Schuhspitzen geschaut hatte, hatte er noch seiner einnehmenden Persönlichkeit zugeschrieben. Während sie irgendwas von gutem Zustand und nur geringem Schimmelbefall gefaselt hatte, war vor Tims innerem Auge ein saniertes und komplett eingerichtetes Eigenheim entstanden, mit ausreichend Platz für mindestens vier Kinder, einer Werkstatt und einer ganzen Etage zum Fremdvermieten. Eine gemütliche Küche mit rustikalen Echtholzmöbeln im Bauernstubenstil hatte er gesehen, wo nur wasserfleckige Wände waren, von denen sich die Tapeten schälten, und ein Parkett, das aussah, als bestünde es aus den Resten eines vor Jahrzehnten aufgegebenen Sägewerks. Fußbodenheizung in allen Zimmern. Ein Wohnzimmer mit Kamin, das im Winter zum Kuscheln auf der Couch einlud. Ein erstes Kinderzimmer mit selbstgemalten Sternen und Planeten an den Wänden. Für ein Kind, das es nun nicht mehr geben würde.

Tim zwang seine Gedanken in die Gegenwart zurück. Er hatte den zweiten Stock erreicht und stand im überwucherten Treppenhaus. Hier gab es ein Fenster, das zum Park hinaus zeigte. Allein diese Aussicht rechtfertigte den Kaufpreis. Zehntausend Euro, das war geradezu lächerlich für ein eigenes Haus, egal in welchem Zustand.

Er stellte fest, dass das Fenster keine Scheibe mehr hatte, was vermutlich der Grund für das wild wuchernde Grünzeug auf der Treppe war. Der Wind musste die Samen oder Pollen, oder wie immer diese Dinger hießen, durch das offene Fenster hereingeweht haben. Und den Regen, der das Holz der Treppenstufen aufgeschwemmt und so den kleinen Büschen und Bäumchen einen guten Nährboden zum Leben geschaffen hatte.

»Tut mir leid, aber das ist jetzt meins«, sagte Tim, dann begann er, ein paar der Bäumchen herauszureißen. Er warf sie durch das offene Fenster hinaus in die Wildnis, die einmal ein Garten gewesen war. Oder ein Innenhof, schwer zu sagen.

Da hörte er den Rasenmäher zum ersten Mal.

2 KRIECHSTRÖME

Die letzten Tage hatte Tim hauptsächlich damit verbracht, es sich in einem der kleineren Zimmer im dritten Stock gemütlich zu machen. Es war mit Abstand das wohnlichste von allen, was vor allem bedeutete, dass der Schimmel bislang noch nicht bis hierhin vorgedrungen war.

Tim hatte den größten Teil seines Werkzeugs, eine Matratze und die Campingausrüstung in dieses Zimmer geräumt, das vielleicht einmal ein Kinderzimmer gewesen war, wie passend – immerhin jagte er auch kindischen Träumen nach, nicht wahr? Tim musste grinsen. Und wenn schon. Mehr Luxus brauchte kein Mensch, abgesehen vielleicht von fließendem Wasser. Und einer Heizung.

Beides würde er noch vor dem Wintereinbruch haben, kein Problem. Bis dahin würden es eben der Gaskocher und der Ölradiator tun müssen. Für die anderen Geschäfte, die man üblicherweise in der Nähe fließenden Wassers erledigte, genügte ihm zunächst der Innenhof, den er zunächst fälschlicherweise für einen Garten gehalten hatte. Tim hatte ein Loch hinter den Büschen ausgehoben und es mit einer alten Tür abgedeckt. Er hatte schon schlimmere Sanitäranlagen benutzen müssen. Kein Problem.

Alle ein oder zwei Tage fuhr er mit seinem Pick-up an eine Raststätte in der Nähe, die Duschgelegenheiten für Trucker anbot.

Auch das war kein Problem.

Freilich hätte er auch in seiner alten Wohnung duschen können. Aber das hätte möglicherweise bedeutet, Simone zu begegnen. Kein besonders wahrscheinliches Szenario, aber dennoch nicht ausgeschlossen. Also schied das aus. Dann lieber die Raststätte und das Loch im Innenhof.

Jemand wummerte gegen die Eingangstür unten.

Tim füllte etwas Kaffee in seine Blechtasse und stellte den Gaskocher ab, dann ging er nach unten. Das Treppenhaus hatte er inzwischen einigermaßen vom Grünzeug befreit (und dabei weitere Verheerungen des Mauerwerks freigelegt) und es zog auch nicht mehr so stark, seit er die eingeworfenen Fenster notdürftig mit Brettern abgedichtet hatte.

Was allerdings auch eine gewisse Einschränkung der Lichtverhältnisse mit sich brachte, und das war in diesem Treppenhaus kreuzgefährlich. Nicht nur für Einbrecher oder Vandalen, die das Haus möglicherweise immer noch für unbewohnt hielten, sondern auch für seinen Besitzer. Er notierte im Geiste: Licht ins Treppenhaus, so schnell wie möglich!

Es wummerte erneut.

Tim rief: »Komme!« Und als Nächstes: »Au! Verdammte Sch…!«, als er einen Großteil des Kaffees über seine Arbeitshose kippte.

Von einer der Stufen hatte sich beim Drauftreten ein großer Brocken gelöst, und beinahe hätte er den Rest der Treppe im Kopfsprung bewältigt. Tim ermahnte sich, in Zukunft vorsichtiger zu sein, denn so etwas konnte allzu leicht mit einem gebrochenen Fuß enden. Ein Ausfall des einzigen Arbeiters in dieser Phase des Bauvorhabens wäre fatal. Von einem Genickbruch auf halber Strecke ganz zu schweigen.

Unten kramte er den Schlüssel aus der Tasche und fummelte ihn in das Schloss seiner brandneuen Haustür – ein rohimprägniertes Schmuckstück aus Echtholz und geradezu ein Schnäppchen für die 500 Euro, die sie ihn gekostet hatte.

Auch wenn eine neue Tür vielleicht ein etwas seltsamer Anblick war in dem ansonsten völlig verfallenen Gebäude. Wann immer Tim die Tür betrachtete, fiel ihm ein Spruch aus irgendeinem alten Krimi ein. Fast ein bisschen so, wie eine Leiche zu schminken. Bloß sorgte seine Art der Schminke dafür, dass ab sofort keine jugendlichen Punks mehr in das vermeintlich leerstehende Haus einbrachen und sein Werkzeug klauten. Hoffte er zumindest.

Er öffnete die Tür.

»Das ist ’ne schöne Tür, Tim«, sagte Gernot anerkennend und hielt ihm seine Hand hin. Eine raue Hand voller Schwielen. Die Art von Händen, die den Schmutz nie ganz loswerden, so sehr man sie auch schrubbt. Die Art, unter deren Nägeln sich ständig Schmutzränder befinden. Arbeiterhände. Ehrliche Hände. Tim packte zu und erwiderte den kräftigen Druck.

»Grüß dich, Gernot«, sagte er grinsend, »’nen Kaffee?«

Gernot beugte sich vor, um skeptisch in Tims halbleeren Kaffeebecher zu schauen.

»Nicht im Dienst, danke«, sagte er und schüttelte mit einem schiefen Grinsen den Kopf. Dann trat er ein.

Er sah sich um und pfiff leise durch seine Zähne.

»Ja, ich weiß …«, begann Tim, aber Gernot brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen. Im Gegensatz zu den meisten anderen der wenigen Besucher, die Tim bisher in seiner neuen Heimstatt begrüßt hatte, war Gernot vom Fach. Was bedeutete, dass er in dem Haus vielleicht ein bisschen mehr sah als eine Ruine. Ein Finanzgrab. Eine kindische Spinnerei.

Gernot sah sich ausgiebig um, schließlich schaute er so konzentriert nach oben, als wolle er die Decke mit Blicken durchdringen. Und wer weiß, dachte Tim, vielleicht war er ja tatsächlich dazu in der Lage.

»Die Dachbalken sind noch in Schuss?«, fragte Gernot.

»Klar«, sagte Tim. Zumindest hoffte er das inständig. Im Frühjahr spätestens würde er genau wissen, was der Regen, der durch die offenen Fenster auf der Wetterseite eingedrungen war, noch von der Grundsubstanz übriggelassen hatte. Einer der Schornsteine war in sich zusammengefallen, aber soweit Tim das beurteilen konnte, hatte er die Dachhaut nicht verletzt, sogar die Sparren sahen einigermaßen trocken aus. Die würden den nächsten Winter schon noch überstehen.

Gernot nickte.

»Hast dir ’ne Menge Arbeit aufgehalst«, brummte er dann. Nicht abwertend und auch nicht in dem Tonfall, dass noch ein »… du Idiot« drangepasst hätte. Nur eine simple Feststellung. Viel Arbeit, jede Menge Arbeit. Und Arbeit war etwas, das beide Männer nicht scheuten.

»Ich will mir hier im Erdgeschoss ’ne Werkstatt einrichten«, sagte Tim, »den mittleren Stock will ich vermieten und oben …«

Oben sollte eigentlich das Kinderzimmer hin. Die Kinderzimmer.

»Ist Simone da?«, fragte Gernot. Er machte sich keine Mühe zu verbergen, dass er das nur fragte, um nicht unhöflich zu wirken.

Tim schüttelte den Kopf.

Die paar Gelegenheiten, bei denen die beiden sich im gleichen Raum befunden hatten, waren nicht gerade von spontaner gegenseitiger Sympathie geprägt gewesen. Vielmehr war eine gewisse Unterkühlung zu spüren gewesen. Was übrigens auf die meisten seiner Kumpel und ihr Verhältnis zu Simone zutraf.

Tim stieß die Tür zum Keller auf, und damit war die Sache durch. Es gab genug zu tun. Nein, dachte er, Simone ist nicht da, und für die Zukunft kannst du dir diese Frage sparen.

»Jesses!«, sagte Gernot, als sein Blick auf die ersten Stufen der Holztreppe fiel, die nach unten in die Finsternis führte. »Wenn da unten Scheiße liegt, oder Leichen, vergiss es!« Vermutlich sollte das ein Scherz sein.

»Weder noch«, versprach Tim. »Hab schon nachgeschaut.«

»Hast echt Mut, Großer«, sagte Gernot und ließ offen, ob er damit den finsteren Keller oder den Gesamtzustand des Hauses meinte. Er stellte seine Werkzeugkiste auf dem Treppenabsatz ab und öffnete sie. Nacheinander holte er eine starke Taschenlampe, eine Abisolierzange und einen Schraubendreher daraus hervor. Er knipste die Lampe an und Tim folgte ihm die Stufen hinab in den Keller.

»Ich werd verrückt«, sagte Gernot, nachdem er sich im Keller umgeschaut hatte. »Der ist ja beinahe trocken. Dachte schon, ich brauch ein Schlauchboot, um zum Zähler zu kommen.«

»Witzig«, sagte Tim. »Der Sicherungskasten ist hier drüben.«

Gernot nickte und leuchtete dann in eine andere Ecke des Kellers, wo die Wasserleitungen vom Hauptrohr abzweigten.

»Diese Leitungen, Mannomann. Aus der Steinzeit.«

»Das ist schlecht, oder?«

Gernot schüttelte den Kopf. »Nee. Im Gegenteil. Solide, gute Handwerksarbeit. Aus einer Zeit, als die Leute es sich noch leisten konnten, sorgfältig zu arbeiten. Und noch anständig für ihre Arbeit bezahlt wurden.«

Er warf Tim einen gespielt vorwurfsvollen Blick zu.

»Ja, ja«, entgegnete Tim, »die gute alte Zeit, als du für zehn Pfennig nicht nur ein Brot, sondern den ganzen Bäckerladen leerkaufen konntest.«

»Klugscheißer«, brummte Gernot. »Würde mich aber echt nicht wundern, wenn die noch funktionieren. Ist eben noch deutsche Wertarbeit.«

Er ging zu den Rohren, leuchtete den Hauptwasserzähler an und klopfte dagegen. Dann griff er nach dem Absperrhahn der Hauptleitung. Ächzend drückte er sein Körpergewicht dagegen, und für einen Moment befürchtete Tim, er würde den Hahn und ein gutes Stück der Leitung abbrechen und den bislang beinahe trockenen Keller zu guter Letzt doch noch fluten.

Mit einem vernehmlichen Quietschen bewegte sich der Hahn und kurze Zeit später gab die Leitung gurgelnde Geräusche von sich. Irgendwo oben knallte etwas. Hastig drehte Gernot den Hahn wieder zu.

»Funktioniert noch«, sagte er. »Wenn du die Hähne am Verteiler zusperrst, kannst du es ja mal länger laufen lassen. Und dann Zimmer für Zimmer ausprobieren. Vielleicht hast du Glück und kommst um die Neuverlegung herum.«

»Ich soll diese Uralt-Dinger drinlassen?«

»Hier unten auf jeden Fall, das würde ich dir zumindest raten. Den Rest solltest du mal ordentlich durchpusten lassen, dann kannst du sie bestimmt auch noch verwenden, oder zumindest einen Teil. Gut möglich, dass dich diese Rohre überleben, mein Lieber. Aber da fragst du am besten einen, der sich damit auskennt. Den Harry zum Beispiel, wenn er nicht gerade mit der Messehalle zu tun hat.«

Tim nickte. Das waren doch zur Abwechslung mal gute Nachrichten. Falls die Leitungen sogar im dritten Stock funktionierten, würde er sich einen elektrischen Durchlauferhitzer in eins der Badezimmer stellen und natürlich die freistehende Badewanne, die er noch von dem Bauprojekt für diesen verrückten Architekten Krieger übrig hatte. Und dann bye-bye, Raststättendusche.

»Hm«, sagte Gernot. Er hatte inzwischen den Stromkasten geöffnet und blickte auf einige ziemlich antiquiert wirkende Stromzähler und eine Ansammlung verstaubter Schraubsicherungen. Stirnrunzelnd leuchtete er auf einen der Zähler und klopfte dann dagegen.

»Und?«

»Hmm«, brummte Gernot noch mal.

»Was hmm?«

»Hast du irgendwas am Laufen, Tim?«

»Du kennst mich doch, ich hab immer was am Laufen«, sagte Tim wie aus der Pistole geschossen.

»Blödmann. Ich meine, hast du irgendwelche Geräte in Betrieb da oben?«

»Nee. Ich hab überhaupt keinen Strom da oben. Deswegen hab ich dich ja angerufen. Du erinnerst dich?«

»Hm. Aber irgendwas saugt da jedenfalls. Kann dir allerdings nicht sagen, in welchem Stockwerk. Soweit ich das beurteilen kann, ist hier alles völlig durcheinander eingebaut und natürlich gibt es auch nirgendwo einen Plan oder ’ne Beschriftung.«

»Tja, deswegen bin ich ja so glücklich, dass du hier bist, Meister«, sagte Tim. »Und du sagst, da liegt noch Strom an? Ist doch prima, oder?«

»Kommt drauf an«, sagte Gernot. »Ob das prima ist, werden wir gleich sehen. Geh am besten ein paar Schritte zurück, du Burgbesitzer.«

»Haha«, sagte Tim, wich aber trotzdem vorsichtshalber ein Stück zurück. Strom war nichts, womit er sich anlegen wollte.

Gernot umfasste den gummierten Griff seines Schraubendrehers und knipste den größten Schalter an, dann drehte er, eine nach der anderen, die restlichen Sicherungen hinein. Von weiter oben war ein lautes Klirren zu hören und irgendetwas zerbarst, dann schlug der Hauptschalter wieder um.

»Ein Kurzer«, kommentierte Gernot. »Ich vermute mal, im zweiten Stock. Okay, noch mal.«

Er schaltete den Hauptschalter wieder ein und fuhr dann mit den anderen Sicherungen fort. Die, bei der es geknallt hatte, ließ er ausgeschaltet. Es gab keine weiteren Zwischenfälle. Als er die letzte Sicherung hineindrehte, fiel ein matter Lichtschimmer vom Flur in den Keller.

»Na bitte«, sagte er und deutete dann mit dem Schraubendreher auf die Sicherung, die den Kurzschluss verursacht hatte.

»Die ist hinüber. Ich geh gleich mal hoch und schau mir das an. Vielleicht ist es ja nur irgendein vergammeltes Kabel.«

»Okay«, sagte Tim, »danke dir. Jetzt habe ich Strom. Wahnsinn!«

»Ja, Wahnsinn«, brummte Gernot, aber er lächelte auch ein bisschen. »In welchem Stock wohnst du?«

»Dritter. Der ist noch am besten in Schuss.«

Gernot sah auf seine Armbanduhr. »Das sollte zu schaffen sein. Ich schau mir die Kabel an und repariere sie, sollte das nötig sein. Die anderen Sicherungen lässt du besser draußen, bis jemand die komplette Elektrik erneuert hat. Und nur zur Sicherheit: Ich würde an deiner Stelle den Hauptschalter jedes Mal ausschalten, wenn ich das Haus verlasse. Es sei denn, du hast eine Versicherung auf den alten Kasten abgeschlossen, die auch selbstgelegte Brände mit einschließt.«

»Verstehe«, sagte Tim. »Danke dir, Gernot, wirklich. Das werde ich dir nicht vergessen.«

»Schon gut«, sagte Gernot und deutete dann auf den Stromzähler, der vorhin gelaufen war. Jetzt stand er still. »Und das würde ich auch im Auge behalten.«

»Lief der denn schon die ganze Zeit?«, fragte Tim.

Gernot zuckte mit den Schultern. »Möglich. Sind vielleicht Kriechströme. Irgendein Kabel, bei dem die Isolierung durchgegammelt ist, hinter einer Wand vermutlich. Verdammt gefährlich, so was kann dir das ganze Haus in Brand stecken.«

»Oh, und nun?«, fragte Tim.

»Ich hab den Kreis erst mal abgeschaltet. Keine Ahnung, was da Strom gezogen hat, und es war auch nicht viel. Ganz bestimmt war’s aber nicht im dritten Stock und auch nicht im Treppenhaus, das können wir ausschließen. Wie du siehst.« Er deutete auf den matten Schimmer von jenseits der Kellertreppe.

»Gut.«

»Okay, dann schau ich mir jetzt mal den dritten Stock an. Wenn der FI in den nächsten Tagen wieder rausfliegt, lässt du ihn draußen und rufst mich an, klar? Dann muss ich mal sehen, ob ich dir jemanden vorbeischicken kann. Ich muss allerdings nächste Woche auf Montage und …«

»Es wird schon gehen«, versprach Tim. »Hauptsache, ich bin diese Kriechströme los. Das klingt ja richtig unheimlich.«

»Ist es auch«, sagte Gernot und schaute Tim ernst an. Dann knipste er die Taschenlampe aus, ließ sie in der Tasche seiner Arbeitshose verschwinden und fragte: »Und wo kriege ich jetzt einen richtigen Kaffee her?«

3 DER ERSTE TRAUM

Man sagt, dass der erste Traum in einem neuen Zuhause manchmal Wirklichkeit wird.

Tim irrt durch das nächtliche Haus. Es ist sein Haus und irgendwie auch wieder nicht. Es wirkt größer und seltsam verwinkelt. Das Treppenhaus ist ein gigantisches Labyrinth voller Spinnweben und finsterer Ecken, Treppen, die kopfüber ins Nichts führen, Türen, hinter denen sich endlose Korridore verbergen, wie auf einem der Gemälde von M.C. Escher.

Er öffnet eine weitere Tür und steht plötzlich im Flur der Wohnung, die er mit Simone teilt. Geteilt hat, verbessert er sich noch im Traum, aber dann verliert sich dieser Gedanke. Entschwindet ins Nirgendwo, wohin die Logik schon vorausgegangen ist. Er sieht wieder das Fenster am Ende des Flurs.

Die Bretter, die er davorgenagelt hat, sind jetzt verschwunden, stattdessen befindet sich dort ein richtiges Fensterkreuz. Uralt. Aus irgendeinem Grund weiß er, dass es grün ist, obwohl er die Farbe im Dunkeln nicht erkennen kann, und dass diese Farbe in großen Fetzen vom Rahmen abplatzt. Dass darunter nichts ist als schwarzes, vermodertes Holz, in dem kleine, weiße Würmer hausen.

Der Mond hängt wie ein aufgedunsener, schimmeliger Pfannkuchen genau vor diesem Fenster und ist viel zu groß und viel zu nah, wie das einzelne Auge eines neugierigen Giganten. Sein kaltes, abweisendes Licht ergießt sich in den Flur. Tim sieht nach unten und seine Füße baden im bleichen Schein dieses widerlichen Mondes. Sie sehen aus wie die Füße einer Leiche.

Dann hebt er den Blick und das Fenster ist verschwunden. Stattdessen ist da jetzt eine Tür, so alt und verschimmelt wie der Fensterrahmen, der dort gerade noch war. Irgendwie fühlt sich Tim von dieser Tür angezogen, und als er nach der Klinke greift (sie fühlt sich feucht und irgendwie klamm an, obwohl das Quatsch ist, denn natürlich besteht sie aus Metall), weiß er plötzlich, dass diese Tür einst schwarz gestrichen war. Schwarz ist sie immer noch, aber jetzt ist es keine Farbe mehr. Es ist das von feuchten Schwämmen halbzersetzte Holz der Tür, des Pudels eigentlicher, ekelhafter Kern.

Während Tim noch über dieses seltsame Gleichnis grübelt, betritt er den Raum oder steht vielmehr schon mittendrin. Es ist ein Badezimmer, und dann erkennt er es wieder.

Es ist nicht mehr viel übrig von der Inneneinrichtung und auch das ist nur logisch, denn es ist das Bad im zweiten Stock. Das, wo er die tote Ratte im Abfluss des zertrümmerten Waschbeckens gefunden hat. Das Tier muss sich da durchgequält haben, immer tiefer, bis es schließlich steckenblieb und elendig zugrunde ging. Wie viele Tage, fragt sich Tim, hat das wohl gedauert? Wie viele Tage in der Finsternis, in der absoluten Gewissheit des langsam nahenden Todes?

Ob sie wohl lange gequiekt hat, bevor sie starb?

Für einen Moment wundert er sich über die seltsame Klarheit, die ungewöhnlich ist für einen Traum, doch er hat keine Zeit, weiter darüber nachzudenken.

Er steht nun vor dem einzigen Einrichtungsgegenstand, der in diesem Raum noch einigermaßen erhalten ist, der Wanne. Ein großes, urzeitliches Ungetüm, von dessen Verkleidung die meisten Fliesen bereits abgefallen sind. Darunter kommen faustgroße Rostlöcher in der Emaille zum Vorschein, aus denen etwas Schwarzes, Schleimiges hervorschwappt.

Trotz der Löcher ist die Wanne seltsamerweise bis knapp unter den Rand mit Wasser gefüllt, oder vielmehr mit einer zähen, tiefschwarzen Brühe. Auf der Oberfläche spiegelt sich das Licht des blassen Totenmonds, der durch das Fenster lugt.

Und dann bewegt sich etwas am Boden dieses schwarzen Tümpels.

Tim will sich abwenden, nein, er will aus dem Zimmer rennen. Davonlaufen, wie er es immer schon getan hat. Aber er kann nicht. Wie gebannt starrt er in die Wanne, während Bewegung in die Wasseroberfläche kommt. Luftblasen steigen auf und zerplatzen mit einem widerlich schmatzenden Geräusch. Hier und da kräuseln sich kleine Wirbel, doch die Flüssigkeit ist viel zu träge und schleimig für normales Wasser.

Immer mehr Luftblasen zerplatzen geräuschvoll an der Oberfläche. Und mitten in dem schmutzigen Wasser zeigt sich ein bleicher Schimmer, etwas steigt träge nach oben. Umrisse schälen sich aus dem Dunkel am Grunde der Badewanne, und noch immer ist Tim unfähig, den Blick von diesem grotesken Schauspiel abzuwenden.

In dem Moment, als es durch die Wasseroberfläche bricht, weiß Tim, was es ist. Was es schon immer war. Denn es hat schon immer in dieser Badewanne gewohnt, seit Anbeginn der Zeit.

Das Gesicht des kleinen Mädchens ist bleich und leblos, aufgedunsen und – wie kann er das bloß erkennen bei diesem Licht, wie ist das möglich? – die Haut hat einen Stich ins Blaue. Die Lippen hingegen sind tiefschwarz, und Tim weiß, dass auch die Zunge dieses Wesens von einem tiefen Nachtschwarz ist. Diese Zunge darf er niemals zu sehen bekommen, sonst wird er augenblicklich den Verstand verlieren. Die Zunge bedeutet das Ende, und in jedem anderen Moment wäre dieser Gedanke vielleicht komisch.

An dem Anblick vor ihm ist nichts Komisches.

Der restliche Körper des Mädchens schwebt ihm entgegen, vom schwarzem Grund der Wanne, wo es gelegen hat. Wie klein dieser Körper ist! Wie alt ist dieses Kind? Vier, vielleicht fünf Jahre?

Und Tim kann den Blick immer noch nicht von diesem kleinen, aufgequollenen Gesicht abwenden. Dem Gesicht der Kinderleiche. Auch wenn er sich im Moment nichts sehnlicher wünscht.

An dem kleinen Körper kleben die Überreste dessen, was einst ein Nachthemdchen war. Die Ärmchen, die unter dem Stoff hervorragen, sind dünn und zerbrechlich wie Streichhölzer. Die dünne Haut ist von einem Netz tiefblauer Adern durchzogen.

Tim betrachtet den toten Körper und trotz des anhaltenden Schreckens verspürt er so etwas wie Mitleid. Nicht mit diesem Ding, sondern mit dem Kind, das sie einst war. Was ist nur mit ihr geschehen?

Aber dann sieht er wieder in ihr Gesicht.

Der Leichnam schlägt die Augen auf und sieht ihn aus bleichen, toten Augen an. Es sind keine Pupillen mehr darin zu erkennen.

Als Tim sieht, dass sich winzige Würmer darin tummeln, beginnt er zu kreischen.

Und er hört lange nicht wieder damit auf.

4 NÄCHTLICHE GERÄUSCHE

Tim erwachte schweißgebadet. Als er die Decke mit zitternden Fingern zurückschlug, strich die Kälte empfindlich über seinen nackten, verschwitzten Körper. Kalt, glitschig, fiebrig. Er drehte sich auf der durchgelegenen Matratze herum und hätte schwören können, er hätte ein Schwappen vernommen.

War es überhaupt möglich, derart zu schwitzen, und das bei dieser Kälte?

Für die spätsommerlichen Tage mochten noch T-Shirt und kurze Hose genügen, aber in den Nächten machte sich die Kälte in dem alten Gemäuer empfindlich breit.

Tim knipste die Lampe an und sandte einen stillen Dank an Gernot, als das Licht anging. Dann erhob er sich. Er zitterte immer noch ein bisschen. Gut möglich, dass er sich eine Erkältung eingefangen hatte. Das würde vermutlich auch diesen unheimlichen Schweißausbruch erklären. Oder es lag am Essen. Er hatte sich seit über einer Woche fast ausschließlich von Fast Food ernährt, kein Wunder. Er schnappte sich ein T-Shirt vom Boden und rieb sich den Oberkörper trocken, dann streifte er seine Shorts ab. Er kramte in dem Koffer neben seinem Bett, bis er Ersatz gefunden hatte und zog die frische Unterhose an. Schließlich drehte er sein Kissen mit der schweißgetränkten Seite nach unten und legte sich wieder hin.

In diesem Moment hörte er das Geräusch zum ersten Mal.

Ein Klappern wie von Holz auf Holz, und es kam von oben.

Sein erster Gedanke war das Dach. Sicher hatte es endlich den Geist aufgegeben, und einer der altersschwachen Sparren war zusammengebrochen und …

Nein, das hätte ein anderes Geräusch verursacht. Eher ein Poltern und vermutlich auch ein spürbares Beben, wenn Teile des Dachs auf den Boden krachten. Nicht dieses … Klappern.

Tim schüttelte den Kopf und setzte sich auf den Rand der Matratze. Vielleicht eine Nachwirkung dieses seltsamen Traums. Nur dass »seltsam« gar kein Ausdruck für diesen Horror war. Da kamen einem eher Begriffe wie »verstörend« oder »furchteinflößend« in den Sinn. Der erste Traum in einem neuen Haus, sagen sie …

Und ich sage, dass ich endlich wieder ein vernünftiges Bett brauche, dachte Tim. Gleich morgen ziehe ich los und hole mir ein schönes, großes Bett. Irgendwas aus Echtholz, wenn möglich, aber nicht zu teuer und um Himmels willen kein gebrauchtes. Es wird wunderbar riechen, nach frischem Holz und vielleicht eine Spur nach Beize. Da drin werde ich schlafen wie ein Baby, Fast Food oder nicht.

Dann hörte er das Geräusch erneut.

Ratten, vielleicht? Auch das noch. Tim ergänzte in Gedanken seine Einkaufsliste für den morgigen Tag: Ein Bett für mich und Rattenfallen für den Dachboden. Sorry, Leute, aber ihr hattet eure Zeit. Jetzt ist es mein Haus.

Keine Ratten, dachte er, als das Geräusch zum dritten Mal ertönte. Zu schwerfällig, nicht flink genug. Eher wie ein …

Wie ein Kind, das aus einer Badewanne steigt?

Und dabei stehe ich nicht mal auf Horrorfilme, dachte Tim. Jetzt weiß ich auch, wieso.

Er erhob sich seufzend von der Matratze, schlüpfte in seine Arbeitshosen, die auch mal wieder einen Gang zum Waschsalon vertragen konnten, wie er feststellte, und zog seine Engelbert Strauss an – eingelaufen, aber bestens in Schuss. Dann griff er sich die Stabtaschenlampe aus seiner Werkzeugkiste und ging in Richtung Tür. Nach kurzem Zögern kehrte er um und nahm auch noch den Zimmermannshammer aus seiner Werkzeugkiste mit. Nur für den Fall, dass sich die Ratten als außergewöhnlich große Exemplare entpuppen würden. Das Gewicht des Werkzeugs in seiner Hand gab ihm eine gewisse Sicherheit. Er versuchte zu grinsen, aber irgendwie gelang ihm das nicht so recht.

Während er die Stufen zum Dachboden hinaufstieg, kamen ihm die eingeschlagenen Fensterscheiben und die Graffiti wieder in den Sinn, die er bei seiner ersten Inspektion dort oben gefunden hatte. Jugendliche, vielleicht waren sie zurückgekehrt. Die konnten solche Geräusche machen. Blieb nur die Frage, wie sie auf den Dachboden gelangt waren, aber vermutlich würde er sie das gleich selbst fragen können.

Keine Ratten und keine toten Mädchen.

Wenn er bloß diese weißen Augen aus dem Kopf bekäme.

Ja, und Licht hier oben, das wäre auch ein Projekt. Für morgen zum Beispiel. Er fasste den Stiel seines Hammers etwas fester und öffnete die Tür zum Dachboden.

»Hallo?«, rief er, laut genug, um einem nächtlichen Vandalen eine faire Chance zu lassen. Zur Flucht oder um auf die Knie zu sinken und um Gnade zu flehen vielleicht auch, um sein verdammtes Graffiti zu Ende zu sprühen. Die Taschenlampe sandte einen zitternden Lichtfinger in die Dunkelheit, der hier und da auf verfallene Wände und verblichene Kunstwerke aus Spraydosen traf. Also nichts Neues in dieser Hinsicht.

»Ich habe einen Hammer!«, rief er und dachte im gleichen Augenblick, wie unsagbar dämlich das war. Was, wenn der Kerl ein Einbrecher war und jetzt rief: »Toll, und ich habe eine Pistole.« Oder ein Messer. Oder einen verdammten Baseballschläger.

Niemand antwortete.

Tim ließ den Lichtfinger der Taschenlampe weiterwandern. Nichts. Dann klapperte etwas direkt neben ihm und er fuhr erschrocken herum. Beinahe hätte er gequiekt. Die Lampe rutschte ihm aus der Hand und der Lichtstrahl verlosch, als sie auf dem Boden aufschlug.

Tim hatte die Geräuschquelle gefunden.

Das Fenster klapperte ein weiteres Mal und jetzt sah er auch, woran das lag. Es war eins dieser altmodischen Kippfenster und es stand halb offen. Der Verschluss, ein verbogener Riegel aus Metall, hatte sich an einer Seite gelöst und schwang nun hin und her, hin und her. Dann und wann knallte er dabei gegen den blechernen Fensterrahmen, dann schwang er zurück und das Spektakel begann von vorn.

Großartig, dachte Tim. Und das beschert dir eine klatschnasse Matratze. Was wäre wohl passiert, wenn du hier oben wirklich auf Ratten getroffen wärst? Hättest dir vermutlich einen Stuhl geschnappt, dich draufgestellt und so lange um Hilfe gerufen, bis ein richtiger Mann gekommen wäre, um dich zu retten.

Du Weichflöte.

Diese Vorstellung amüsierte ihn ein bisschen, und er musste grinsen, während er das Dachfenster mit einem kräftigen Ruck schloss. Dann hinderte er den losen Riegel an jeglichem weiteren Geklapper: Er brach ihn einfach ab.

Anschließend ging er wieder nach unten und versuchte zu schlafen. Das gelang ihm leidlich gut, für den Rest dieser Nacht.

5 STIMMUNGSWECHSEL

Am nächsten Morgen fühlte sich Tim erstaunlich gut gelaunt, wenn auch ein bisschen müde von den Ereignissen der vergangenen Nacht. Nachdem er sich einen kräftigen Kaffee gekocht hatte, war er in ein Bettenhaus gefahren und hatte sich ein Bett gekauft (und ein paar Rattenfallen aus dem Baumarkt, nur für den Fall). Den Rest des Vormittags hatte er damit verbracht, den großen Holzkasten zusammenzubauen. Ein schönes Bett aus hellem Echtholz, das optisch sogar zur Haustür passte. Auch wenn das vermutlich nie jemand außer ihm bemerken würde.

Tim hatte sich Zeit gelassen beim Zusammenbau. Wie man sich bettet, so liegt man und das alles. Nun betrachtete er lächelnd sein Werk. Goodbye, Alpträume und Schweißausbrüche. Hallo, entspanntes Erwachen.

Falls er sich eine Erkältung eingefangen hatte, so hatte sich diese mit dem Rest der Nacht verzogen. Hatte wohl eingesehen, dass sie keine Chance hatte, weil er nun nicht länger auf einer durchgelegenen Matratze auf dem Boden schlafen würde. Also auch: Goodbye, Erkältung. Wundervoll.

Allerdings hieß es kurz darauf auch: Goodbye, gute Laune.

Sein Handy bimmelte, und anfangs grinste er einfach weiter. Vielleicht war das Gernot, um mit ihm einen Termin zu vereinbaren, an dem er die restlichen Stromleitungen verlegen würde.

Wunderv…

Sein Grinsen gefror, als er die Nummer auf dem Display erkannte. Dann fiel es aus seinem Gesicht wie bröckeliger Putz von einer alten Wand.

Es war nicht Gernot.

»Ja?«, fragte er. Versuchte, es genervt klingen zu lassen. Hatte das Gefühl, dass ihm das kein bisschen gelang. Wusste nicht mal, ob er überhaupt genervt war. Und hasste sich vielleicht sogar ein bisschen dafür.

»Tim?«, fragte sie. Überflüssigerweise.

»Was willst du?« Jetzt funktionierte das mit dem Genervtklingen schon besser, fand Tim.

»Ich … ich wollte mich mal melden. Wir, äh … es sind ja noch ein paar Dinge zu klären.«

Nein, wirklich? Was denn zum Beispiel? Wer das Haus bekommt und wer die Kinder? Ach, warte, wir haben ja gar keine Kinder. Und das Haus? Ach ja, das Haus hat dir ja gar nicht gefallen, das habe ich nun ganz für mich allein, richtig?

»Ja«, sagte Tim.

»Ich … ich frage mich, ob wir uns nicht mal irgendwo auf einen Kaffee treffen wollen und …«

»Das ist gerade schlecht«, sagte er. »Ich habe zu tun. Das Haus …«

Das Haus, das du nicht haben wolltest. »Träumer«, hatte sie ihn genannt und den Kopf geschüttelt. Wirst du eigentlich nie erwachsen? Das hatte sie schon mal zu ihm gesagt, irgendwann am Anfang ihrer Beziehung. Bloß hatte sie ihn damals dabei angelächelt. Aber das war verdamp lang her, wie es in diesem Song hieß.

»Verstehe«, sagte sie.

Es hatte sich ausgeträumt. Ungefähr zu dem Zeitpunkt, als er nach Hause gekommen war, Schampus in der einen Hand, und nicht mal billigen, und den unterschriebenen Kaufvertrag für das Haus in der anderen. Es hatte eine Überraschung werden sollen, und bei Gott, es war eine Überraschung geworden. Eine Mordsüberraschung.

»Wofür ist der?«, hatte sie gefragt und auf den Sekt gedeutet. Mit diesem verkniffenen Lächeln, das er in letzter Zeit öfter an ihr bemerkt hatte. Die Stirn in Falten gelegt, als wolle sie sagen:

»Ich vermute, das hängt mal wieder mit einem deiner Träume zusammen? Die ich schon längst so satt habe. Wirst du eigentlich nie erwachsen?«

Bloß hatte er das damals natürlich noch nicht wahrhaben wollen. Wie schon in all den Monaten zuvor. Seit ihr Lächeln seine Aufrichtigkeit eingebüßt hatte.

»Wir haben ein Haus«, hatte er die Tatsache in den Raum gestellt und sie angestrahlt. Er war glücklich gewesen, zumindest noch in diesem Moment. Glücklich, etwas mit ihr teilen zu können, das er für den Beginn einer wundervollen Sache hielt. Einer wundervollen Sache mit Kinderzimmern.

Dann hatte er ihr alles erzählt.

Er war noch nicht allzu weit gekommen, als sie zu heulen angefangen hatte. Auf diese Art, wie es ein kleines Mädchen tun mochte. Nicht, weil es sich das Knie aufgeschlagen hat. Sondern, weil Papa ihr zu Heiligabend die falsche Puppe geschenkt hat. Die tief empfundene Verzweiflung einer echten Prinzessin.

»Warum tust du mir das an?«, hatte sie schluchzend hervorgestoßen. Was vielleicht eine angemessene Reaktion gewesen wäre, wenn er ihr gerade gestanden hätte, mit ihren beiden besten Freundinnen geschlafen zu haben. Gleichzeitig. »Kaufst dir irgend so eine Bruchbude.«

»Es ist keine …« Na gut, vielleicht war es eine Bruchbude. Aber er war Handwerker, und kein schlechter, er würde es hinbekommen. Wo war denn nur das Problem?

Sie hatte energisch den Kopf geschüttelt und ihre akkurat frisierten Haare waren nur so geflogen, ganz das kleine Mädchen. Tim hatte ein paar Tränen auf ihren Wangen bemerkt. Im Licht der Küchenlampe hatten sie wie kleine Sterne geglitzert.

»Ich …«, hatte sie geschluchzt, »ich muss auch mal ankommen, weißt du?«

»Ja, klar«, hatte er gesagt und war einen Schritt auf sie zugegangen, um sie in die Arme zu nehmen, Kaufvertrag und Flasche immer noch in der Hand. Sicher war es nur der Schock über die Plötzlichkeit seines Entschlusses. Es war aber auch ein besonderes Schnäppchen gewesen. Zehntausend Euro, das war gar nichts, wenn man bedachte, was er dafür bekommen hatte.

»Genau darum geht es ja«, hatte er gesagt. »Da können wir endlich beide ankommen, Schatz. Unten baue ich meine Werkstatt rein, die Mitte können wir vermieten und oben das Geschoss ist nur für uns. Das Kinderzimmer …«

»Kinderzimmer?«, hatte sie gefaucht und war zwei hastige Schritte rückwärtsgegangen. Hatte ihn aus zornigen, tränennassen Augen angestarrt. »Ein Kinderzimmer? Und wann wird das fertig? In zwei Jahren? Fünf? Zehn? Oh, du und deine Projekte, Tim.«

Und dann hatte sie es gesagt.

»Ich hab das alles so satt! Dich und deine Spinnereien!«

»Hey«, hatte er gesagt, »wir können das packen, wir zwei, zusammen. Und der Kleine kann uns dabei helfen. Der kriegt das schönste Kinderzimmer aller Zeiten. Er kann die Wände selbst bemalen, wie findest du das? Oder sie, wenn’s unbedingt sein muss.«

Das hatte witzig sein sollen, aber als es Tims Mund verließ, klang es nur noch schal wie abgestandenes Bier.

Sie hatte nur dagestanden, den Kopf gesenkt, und lange Zeit nichts mehr gesagt. Die Tränen waren noch eine Weile weitergeflossen, ein paar davon waren auf die Fliesen zwischen ihren Füßen getropft. Trip-trap, wie ein undichter Wasserhahn.

»Ich brauche einfach mal ein bisschen Sicherheit«, hatte sie schließlich geflüstert. Er hatte noch einmal versucht, sie zu umarmen.

»Nein, lass«, hatte sie gesagt und sich aus seinen Armen herausgewunden. Ihn stehenlassen wie den Idioten, der er war, mit seinem dämlichen Sekt und seinem dummen Kaufvertrag und seinem Traum vom Kinderzimmer mit den selbstbemalten Wänden. Tim, der ewige Träumer. Der ewige kleine Junge. Welch ein Ärgernis.

»Ich habe es für die Kinder gekauft«, hatte er gesagt, und dabei selbst nur noch flüstern können. Sie war stehengeblieben und hatte sich umgedreht, die Türklinke in der Hand.

»Du hast eine Ruine gekauft«, hatte sie gesagt, mit einer Bestimmtheit, als verstünde sie etwas davon. »Ein Finanzgrab, und das wird auch dich zugrunde richten. Du kannst deine Arbeit nicht einfach für ein paar Jahre liegen lassen.«

»Na klar kann ich das«, hatte er geantwortet, »es ist doch nur für ein Jahr, höchstens. Kein Problem.«

»Doch«, hatte sie beharrt, »das ist es. Du hast nämlich keinen einzigen Angestellten. Niemanden, der das Geschäft in der Zwischenzeit weiterführen könnte, keinerlei Sicherheiten, und deine Ersparnisse hast du gerade zum Fenster hinausgeworfen. Wenn du tatsächlich irgendwann mit dem Haus fertig wirst, werden dich deine Kunden vergessen haben. Dann fängst du von vorn an. Mal wieder. Wie du es andauernd machst.«

Offene Worte waren das, und sie hatten Tim verletzt. Sie hatten verdammt wehgetan. Zumal es das erste Mal war, dass sie ihm so deutlich die Meinung sagte. Das erste Mal, dass sie überhaupt so etwas wie eine eigene Meinung zu besitzen schien.

»Toll, dass du plötzlich so viel Ahnung von der Baubranche hast«, hatte er gesagt und dabei ziemlich beleidigt geklungen, was er eigentlich hatte vermeiden wollen. Ganz der kleine Junge, mal wieder.

Sie hatte ihn traurig angelächelt und den Kopf geschüttelt, während die Tränen auf ihren vom Weinen geröteten Wangen langsam getrocknet waren.

»Hab ich nicht, Tim. Aber wir bearbeiten auch Förderkredite in der Bank. Daher weiß ich schon ein paar Dinge über erfolgreiche Unternehmen. Dass sie expandieren müssen, zum Beispiel. Und dazu braucht es Angestellte. Sonst sind sie auf Dauer nicht stabil.«

»So wie das mit uns, meinst du?«, hatte er geflüstert, und ein dicker Kloß war langsam seinen Hals hinaufgekrochen.

Sie hatte ihm einen beängstigend kalten Blick zugeworfen. »Ich brauche jetzt Stabilität, verstehst du?«

Tim hatte sie angestarrt und zu begreifen versucht, was sie ihm damit sagen wollte. Was sie ihm da an den Kopf warf.

»Ich bin fast dreißig, Tim.« Sanft jetzt, ihre Verhandlungsstimme. Ob sie genauso klang, wenn sie einen Förderkredit ablehnte, weil ihr das Unternehmen auf Dauer nicht stabil genug erschien?

»Du bist siebenundzwanzig.« Seine Stimme hatte versagt.

»Du weißt genau, was ich meine. Wenn man zu spät schwanger wird, kann das Kind missgestaltet werden.«

Ungefähr an dieser Stelle war Tim der Unterkiefer runtergeklappt.

»Wie bitte?«

Das war so typisch Simone. Missgestaltet. Nicht perfekt. Nicht gut genug. Im Leben einer Simone hatte aber nun mal alles perfekt zu sein, alles musste genau nach dem Plan laufen, den sie sich vorgenommen hatte, das begriff Tim jetzt schlagartig. Die Erkenntnis traf ihn mit beinahe körperlicher Wucht. Gnade Gott dem Kind, das es wagen sollte, missgestaltet aus ihr herauszukriechen. Gnade Gott dem missgestalteten Balg, wenn es mit vier Jahren nicht perfekt Geige spielen konnte.

»Das ist dein Problem?«, hatte er gefragt, und dabei hatte er beinahe lachen müssen. »Dass es nicht perfekt sein könnte?«

Sie hatte genickt. »Ich muss schließlich auch mal an mich denken. An meine Karriere. Tut mir leid, Tim, ich habe einfach genug. Ich kann nicht mehr.«

Dann hatte sie sich umgedreht, die Klinke heruntergedrückt und war gegangen. Geradewegs ins Schlafzimmer, wo sie den großen Koffer gepackt hatte. Ein paar Minuten später hatte Tim gehört, wie die Wohnungstür hinter ihr ins Schloss gefallen war.

Da hatte er immer noch mitten in der Küche gestanden, die Flasche in der einen, den Vertrag in der anderen Hand. Und hatte vergeblich versucht, aus diesem absurden Traum zu erwachen.

Und dann war er allein gewesen.

»Tim?«, fragte Simones Stimme aus dem kleinen Lautsprecher des Telefons. »Bist du noch dran?«

»Ja.«

»Da ist noch was, worüber ich mit dir reden wollte.«

»So?«

»Ja. Ich wollte es dir eigentlich lieber persönlich sagen, aber wenn du keine Zeit hast …«

»Tja«, sagte Tim, »ist gerade wirklich stressig hier. Hab mir ein Bett gekauft.«

Sie kicherte ein bisschen und Tim verspürte einen kleinen Stich in der Herzgegend, als er das vertraute Geräusch hörte. Etwas Feuchtes kitzelte seine Wange. Ärgerlich wischte er es fort.

»Also«, fragte er, »was wolltest du mir noch sagen?«

»Es ist …«, begann sie. Brach ab. Fing noch mal an. »Es ist wegen Volker. Ich wohne jetzt bei ihm. Ich dachte, das solltest du wissen.«

Stille.

Für einen Moment war Tim so perplex, dass er die eigentliche Aussage gar nicht begriff.

»Was für ein Volker?«, fragte er, dann fiel es ihm ein. Siedend heiß. Volker Ahrens. Ihr direkter Vorgesetzter. Bei der beschissenen Bank.

Als das Telefon gegen die Wand des Schlafzimmers flog, bereute Tim seine Reaktion noch nicht. Auch nicht, als die Einzelteile des zerstörten Geräts auf den Boden prasselten. Das kam erst viel später.

Nachdem der Regen der elektronischen Kleinteile schließlich versiegt war, starrte er die jämmerlichen Überreste an, als überlegte er, was er ihnen jetzt noch antun könnte. Viel gab es da nicht mehr.

Ausgerechnet Volker Ahrens.

6 DAS GEHEIMNIS DES DACHBODENS

In den nächsten Tagen arbeitete Tim mit wenig Begeisterung daran, sein vorläufiges Schlafzimmer im dritten Stock herzurichten, dafür aber mit eiserner Verbissenheit. Was den Vorteil hatte, dass er zügig vorankam, während er mit dem Brecheisen die Paneele von den Wänden riss und durch neue Holzverkleidung ersetzte.

Manchmal fiel sein Blick auf die Überreste des Telefons. Er machte sich nicht die Mühe, sie vom Boden aufzuheben. Immer wenn er sie betrachtete, musste er unwillkürlich an Simone denken, was einen neuen Anfall von Arbeitswut auslöste. Und wenn das nicht half, dachte er einfach ein bisschen an Volker Ahrens. Wie lange hatte dieser schleimige Widerling wohl schon was mit Simone gehabt? Ein halbes Jahr? Ein ganzes?

Tim war ihm ein paar Mal in der Bank begegnet, als er wegen eines Kredits für ein Bauvorhaben vorgesprochen hatte. Simone hatte ihn empfohlen, natürlich. Der Volker sei ein wirklich umgänglicher Typ. Oh, und war er das nicht wirklich? Ahrens hatte sich Tims Vorhaben angehört, die schmalen Hände vor seinem nicht zu übersehenden Bauchansatz gefaltet, und hatte gegrinst, die ganze Zeit über. Verständnisvoll, nicht einmal herablassend. Beinahe freundlich. Überaus umgänglich. Wahrscheinlich hatte er sich die ganze Zeit ausgemalt, in welcher Stellung er Simone bei ihrem nächsten Stelldichein in der Kaffeeküche vögeln würde.

Aus dem Kredit war letztlich natürlich auch nichts geworden, Tim hatte sich das Geld privat von ein paar Freunden geliehen. Und jeden einzelnen Cent zurückgezahlt, mit Zinsen.

Ach, scheiß auf dich, Ahrens, dachte er und wandte den Blick vom Telefon. Scheiß auf euch beide.

Tim verpasste dem Nagel vor sich einen wuchtigen Schlag, der diesen halb in den Balken trieb. Holte noch einmal mit dem Hammer aus, um ihn komplett im Holz zu versenken.

Er stieß einen Schmerzensschrei aus, als er statt des Nagels seinen Daumen erwischte.

Der Hammer polterte zu Boden und Tim steckte sich den Daumen in den Mund und lutschte eine gute Minute daran herum, das Gesicht zu einer Grimasse verzerrt.

Der Schlag hatte Wucht gehabt.

Und der Nagel ragte immer noch halb aus dem Holz und schien ihn höhnisch anzugrinsen. Tim hob den Hammer auf, um noch einmal zuzuschlagen. Diesmal vielleicht mit etwas weniger Wut und mehr Konzentration.

Dabei fiel sein Blick auf seinen Daumen. Unter dem Nagel breitete sich eine tiefblaue Fläche aus. Mist, der würde für die nächsten paar Tage nicht zu gebrauchen sein. Tim schloss seine Hand fest um den Stiel des Hammers und schlug den Nagel mit zwei Schlägen ein. Dann legte er das Werkzeug vorsichtig wieder zu Boden und betrachtete das Ergebnis seiner heutigen Arbeit, die nun so ein plötzliches Ende gefunden hatte. Wenn er so weitermachte, würde er vermutlich in einer Woche noch an demselben Balken herumwerkeln. Und sich inzwischen sämtliche Finger zerquetscht haben, wenn er nicht aufhörte, dabei ständig an Ahrens und Simone zu denken.

Zeit, mal wieder in den Baumarkt zu fahren.

Später kehrte Tim zurück, nun stolzer Besitzer einer hydraulischen Nagelpistole und eines Verbands um seinen Daumen, mit dem er sich ein bisschen vorkam wie eine Figur aus einem Roadrunner-Cartoon.

Aber dafür funktionierte das mit der Nagelpistole ganz hervorragend. Statt des Kompressors, der sonst bei dieser Art von Werkzeug die nötige Druckluft erzeugte, hatte Tim sich für ein Modell mit einer Gaskartusche entschieden. Die konnte man in einem Futteral am Bein tragen, ein Schlauch schickte die Druckluft zur Pistole, an deren unterem Ende ein Magazin befestigt war, das einhundert Nägel fasste. Damit war er unabhängig vom Strom und konnte, zumindest tagsüber, sogar auf dem Dachboden arbeiten, und genau damit würde er morgen beginnen.

Das Dach war an sich gut in Schuss - oder zumindest einigermaßen dicht - jedenfalls hatte er keine Rückstände von Pfützen entdecken können. Ein paar der Sparren machten ihm allerdings Sorgen, vermutlich würde er sie ersetzen müssen. Und bei dieser Gelegenheit die Außenverkleidung in Augenschein nehmen. Damit das Dach den Winter auch tatsächlich überlebte und ihm der ganze Kasten nicht unter dem Schnee zusammenbrach, falls es welchen geben sollte.

Kein Problem mit dieser wundervollen Nagelpistole. Zufrieden wog Tim sein neues Spielzeug in der Hand, dann machte er sich ans Werk und schaffte es sogar, vor Einbruch der Dunkelheit mit der ersten Wand der ehemaligen Küche fertig zu werden.

Als er sich schließlich ins Bett schleppte, war er innerhalb von Minuten eingeschlafen. Das Telefon hatte er vollkommen vergessen.

Dennoch schlief er auch in dieser Nacht überraschend schlecht. Immer wieder tauchte er aus dem Schlaf auf und kam sich vor wie ein vollgesogenes Stück Treibholz, das gelegentlich durch die Oberfläche eines brackigen Teiches bricht. Hinzu kam der faulige Geschmack in seinem Mund, als ob er verdorbenes Wasser gekostet hätte.

Ein paar Mal schreckte er aus einem wirren Traum hoch und konnte sich dann nicht mehr erinnern, was der Grund dafür gewesen war.

Möglicherweise ein Mädchen in einer ganz bestimmten Badewanne (die in der Realität natürlich vollkommen leer und trocken war, er hatte extra nachgeschaut), auszuschließen war das nicht. Und als er erst einmal begonnen hatte, sich wieder mit dieser unerfreulichen Erinnerung zu beschäftigen, war an Schlaf nicht mehr zu denken gewesen.

Unruhig wälzte er sich von einer Seite auf die andere und blieb schließlich auf dem Rücken liegen. Die dunklen Flecken an der Zimmerdecke fielen ihm ins Auge. Als er gerade überlegte, ob er vielleicht einfach aufstehen und die Nacht durcharbeiten sollte, hörte er wieder das Geräusch vom Dachboden.

Der Riegel an diesem verdammten, antiquierten Dachfenster.

Nur konnte das nicht sein.

Weil er den Riegel ja bekanntlich abgerissen hatte.

Pock, pock.

Kein Klappern diesmal. Eindeutig ein Klopfen, oder vielmehr ein Tappen. Wie von Füßen, die über den Dachboden liefen. Ganz bestimmt handelte es sich nicht um Rattenfüßchen, außerdem waren da jetzt die Fallen aufgestellt, in denen sich bislang rein gar nichts gefangen hatte. Aber es war ein Tappen von Füßen, da war er sich jetzt ganz sicher.

Von Kinderfüßen, zum Beispiel von denen eines toten Mädchens, das in einer Badewanne ertrunken war und das jetzt auf dem Dachboden spukte. Ein Bonus, über den ihn zu informieren die Maklerin leider versäumt hatte.

Bockmist.

Tim schlug die Decke zurück, wütend auf sich selbst. Vielleicht hatte Simone recht gehabt und er würde wirklich nie erwachsen werden. Ein Mann über dreißig und er fürchtete sich vor einem Gespenst aus seinem Traum.

Dann wieder: Tap, tap.

Okay, dachte er. Zwei Möglichkeiten: Entweder ich bin schon verrückt oder ich bin auf dem besten Weg dorthin. Wenn ich aber jetzt nicht sofort herausfinde, wer mir da auf dem Kopf herumtrampelt, werde ich es mit Sicherheit schon sehr bald sein. Dann kann ich in der Klapsmühle darüber nachdenken, den Wärmedurchgangskoeffizienten meiner Gummizelle zu verbessern.

Er schwang die Füße aus dem Bett und suchte im blassen Mondlicht nach seinen Schuhen. Ansonsten trug er nichts als Shorts und T-Shirt. Wenn es also wirklich ein Hausgeist war, der da oben spukte, konnte er ihn auf diese Weise wenigstens auch ein bisschen das Fürchten lehren.

Schließlich schnappte er sich noch das Brecheisen, das neben der Tür stand. Für den Fall, dass es vielleicht doch kein Hausgeist war.

Vorsichtig öffnete er die Tür seines provisorischen Schlafzimmers. Auf dem letzten Drittel würde sie zu quietschen beginnen, weil er sie sträflicherweise noch nicht geölt hatte, also öffnete er sie nur einen Spalt, der gerade weit genug war, um geräuschlos hindurchzuschlüpfen.

Die Stufen zum Dachboden waren da schon eine andere Herausforderung. Die quietschten ebenfalls, und zwar jede einzelne von ihnen. Also ging er in Zeitlupe hoch. Auch eine Art, sich die Nacht um die Ohren zu schlagen, aber irgendetwas sagte ihm, dass er nie herausfinden würde, was das Trappeln zu bedeuten hatte, wenn er jetzt nicht sehr, sehr behutsam vorging.

Schließlich erreichte er den Dachboden. Der Mond schien durch die schrägen Dachfenster. Nicht besonders hell, nicht der Vollmond, den Tim noch ein paar Nächte zuvor gesehen hatte (und gottlob auch nicht der gespenstische Riesenmond aus seinem Traum), aber ausreichend, um die Umgebung in ein fahles Licht zu tauchen.

Tim lugte durch die offene Tür hinein, halb in der Erwartung, ein grinsendes Skelett zu entdecken, das im Mondlicht tanzte. Er stellte fest, dass es Situationen gab, in denen selbst diese Vorstellung viel von ihrem Unterhaltungswert einbüßte. Jetzt war so eine Situation.

Tims Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt. Zumindest gut genug, um zu erkennen, dass er vollkommen allein war. Also betrat er den Dachboden, wobei er vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte. Er konnte sogar ein paar der Graffiti ausmachen. Die Silberfarbe glitzerte im Mondlicht.

Das war aber auch schon alles. Nichts weiter, kein Trappeln mehr und auch sonst kein Geräusch. Kein tanzendes Gespenst. Er warf einen Blick auf eine der Rattenfallen. Unberührt, wie immer.

Als er die Stimme hörte, hätte er um ein Haar das Brecheisen fallen lassen.

Er stand im Dunkel des Dachbodens, die Hand um den Stahl gekrampft, und plötzlich, als hätte jemand in seinem Inneren einen Schalter umgelegt, spürte er die Kälte. Sie kroch an seinen Beinen hinauf, breitete sich unter seinem T-Shirt aus und griff mit zitternden Spinnenfingern nach seiner Wirbelsäule.

Hieß es nicht, dass Räume, in denen Geister hausen, immer ungewöhnlich kalt sind?

Tim schüttelte den Kopf. Ja, so sagte man vielleicht. Andererseits waren Nächte auf einem uralten Dachboden generell eine recht kühle Angelegenheit, auch ohne Geister und andere Hirngespinste.

Reiß dich zusammen!

Da hörte er die Stimme wieder, und diesmal wurde länger gesprochen. Es war kaum mehr als ein Wispern oder Murmeln. Viel zu leise, um einzelne Worte zu verstehen, zumindest von Tims Warte aus, aber die Stimme war eindeutig menschlichen Ursprungs.

Er machte ein paar vorsichtige Schritte in die Tiefe des Dachbodens hinein. Das Wispern verstummte, Tim blieb stehen. Er verharrte reglos. Nach ein paar Sekunden begann er ernsthaft zu frösteln. Eisiger Wind strich über seine Haut. Warum hatte er nicht wenigstens seine Arbeitsjacke übergestreift?

Das Murmeln setzte wieder ein, verstummte, begann erneut. Und nun war Tim nah genug, um beinahe so etwas wie Worte ausmachen zu können. Er ging noch ein bisschen näher heran, nun eher neugierig als furchtsam, dann machte er einen weiteren Schritt und dann …

Es knallte vernehmlich, als er mit der Spitze seines rechten Schuhs gegen einen Ziegelhaufen stieß. Das war nicht schmerzhaft, weil die Schuhe Stahlkappen besaßen, aber es war verdammt laut gewesen.

Shit!

Tim erstarrte. Blödmann, schalt er sich, hast die Ziegel ja selbst da hingelegt. Reste des völlig verrotteten Schornsteins, die er vom Dach geholt hatte, bevor sie dort noch ernsthaften Schaden anrichten oder gar jemandem auf den Kopf fallen konnten.

Er stand gute zehn Minuten bei dem Ziegelhaufen, einigermaßen überzeugt davon, dass er den verborgenen Wisperer mit seinem Lärm nun endgültig verschreckt hatte. Als er gerade umkehren und wieder nach unten gehen wollte, setzte die Stimme erneut ein. Kurz, abgehackt, wispernd.

Nun konnte Tim sogar verstehen, was sie sagte.

»Ja«, verstand er, »… müssen wir tun, auf jeden Fall.« Oder zumindest etwas, das so ähnlich klang. Unmöglich zu unterscheiden, ob es sich um die Stimme eines Mannes oder einer Frau handelte. Oder um die eines kleinen Mädchens?

Ach, leck mich, dachte Tim, dann schlich er weiter, in einem großen Bogen um den Ziegelhaufen herum. Vor ihm lag nun nichts mehr als das südseitige Ende des Dachbodens. Wenn der Besitzer der Stimme wirklich nicht nur in seiner Einbildung existierte, musste er demzufolge auf dem Dach sitzen, denn sonst gab es nichts, wo …

Da schimmerte etwas zwischen den Brettern.

Nur ein winziger Lichtpunkt. Vor ihm. Dort, wo der Dachboden zu Ende war. Unmöglich. Das Einzige, was da draußen schimmern konnte, waren die Sterne, und die befanden sich hinter einer massiven Ziegelwand, die das Haus vom Nachbargebäude abtrennte, Tim hatte das eingehend inspiziert. Da war das Spitzdach, von dem er die Reste seines Schornsteins gekratzt hatte, dann diese seltsame Ziegelwand – vielleicht ein Überbleibsel eines Hauses, das im Krieg weggebombt worden war – dann folgte das nächste Haus, beinahe so verfallen wie seines, aber noch von mindestens zwei Parteien bewohnt. Hartnäckige Rentner vermutlich, die es um jeden Preis darauf anlegten, in den vier Wänden zu sterben, in denen sie geboren worden waren.

Und dennoch schimmerte da etwas.

Tim schlich darauf zu, bis er vor der Wand aus Brettern stand. Fasste sie an. Die Wand war echt, aus Holz, was hatte er erwartet? Hinter dem Holz befand sich die Mauer. Und diese Mauer war massiv. Lichtundurchlässig. Aus fest verfugten Ziegelsteinen mit uraltem Mörtel dazwischen. Er presste sein Ohr gegen die Bretter der Holzwand.

»Ja, ich weiß«, sagte die Stimme, »aber das Risiko müssen wir wohl eingehen.«

Und diesmal war sich Tim sicher. Es war eindeutig eine weibliche Stimme. Und sie kam eindeutig von jenseits der Bretterwand.

Kurzentschlossen schob er die Spitze des Brecheisens zwischen zwei Bretter. Es glitt widerstandslos dazwischen, beinahe schon zu leicht. Dann drückte er das Eisen nach vorn und begann zu hebeln. Mit einem vernehmlichen Quietschen lösten sich die Nägel, mit denen das Brett befestigt war. In dem Moment, als es ihm vor die Füße fiel, wusste Tim, dass er sich geirrt hatte.

Dies war keine Außenwand, und schon gar keine aus Ziegeln. Es waren lediglich ein paar Bretter, die den Eindruck erwecken sollten, dass der Dachboden hier zu Ende sei, und dahinter war ein Durchgang.

Die Ziegelwand hatte ein Loch.

Tims Brecheisen blieb an etwas hängen und mit einem kräftigen Ruck zerrte er es heraus. Dicker schwarzer Wollstoff hatte sich darin verfangen. Als er durch das so entstandene Loch schaute, sah er das Mädchen.

Sie saß an einem improvisierten Tisch aus Gemüsekisten, auf dem ein halbes Dutzend Stumpenkerzen brannten. Vor ihr lag ein aufgeschlagenes Buch, in das sie gerade noch geschrieben haben musste, denn sie hielt einen Stift in ihrer Rechten. Das Mädchen war dünn, beinahe dürr, und in ein weites Gewand aus grobem Stoff gehüllt, das sie um ihre knochigen Schultern geschlungen hatte. Sie starrte ihn aus tiefliegenden Augen an.

Einst, schoss es Tim durch den Kopf, war sie vielleicht hübsch gewesen. Vielleicht sogar schön. Bevor sie in einer Badewanne ihrem grausamen Schicksal begegnet und gestorben war.

Und jetzt ist sie ein Geist.

Das Brecheisen fiel aus seinen kraftlosen Händen und polterte zu Boden, während er ungläubig auf das Mädchen jenseits der Wand starrte. Tim hatte seinen Hausgeist gefunden, das tote Mädchen aus der Badewanne. Sein Traum hatte ihm die Wahrheit gezeigt, eine grausige Vision, und jetzt würde sie …

Das Mädchen öffnete den Mund und sagte: »Du musst der Idiot sein, der den Strom abgestellt hat.«

7 HAUSGEIST

Sie war nicht das ertrunkene Kind aus Tims Traum. Sie war überhaupt kein Kind mehr, sondern schon eine junge Frau. Ihre aufgerissenen Augen mochten ihm im ersten Moment etwas anderes vorgegaukelt haben, aber der überraschte Ausdruck war jetzt wieder von ihrem Gesicht verschwunden. Sie mochte Anfang zwanzig sein, schätzte Tim, und sie war alles andere als tot.

»Was soll das, Mann?«, fuhr sie ihn an, als er begann, die restlichen Bretter wegzuhebeln. (Ein Kinderspiel, wenn man sie erst mal als das erkannt hatte, was sie waren: reine Fassade.) Als er drei weitere Bretter entfernt hatte, wurde ihm das Prinzip klar. Besagte Ziegelmauer, welche den eigentlichen Abschluss des Hauses darstellte, besaß einen Durchgang in der Mitte, eine niedrige Tür, durch die man gebückt hindurchgehen konnte, um in einen dahinterliegenden Raum zu gelangen. Aber jemand hatte sich alle Mühe gegeben, dieses Geheimnis zu verbergen. Der dicke Moltonstoff, in dem sich sein Brecheisen verfangen hatte, hatte verhindern sollen, dass Licht und Wärme durch die Ritzen drangen. Ziemlich clever.

»Hab eine Ewigkeit gebraucht, die Dinger hier hochzuschleppen« fuhr das Mädchen fort und deutete auf die zerbrochenen Bretter, sichtlich erzürnt über sein forsches Eindringen in ihr Reich. Das, wie Tim zugeben musste, durchaus nicht einer gewissen Gemütlichkeit entbehrte, aber vielleicht lag das auch bloß an dem Kerzenlicht. Neben dem Tisch aus Apfelkisten befand sich eine Matratze, auf der eine dicke Wolldecke lag, halb zurückgeschlagen.

Neben der Matratze stand ein Rucksack, aus dem eine angerissene Großpackung Schokoriegel ragte. Der Raum besaß eine Tür (jetzt besaß er zwei) und ein Dachfenster. Eins von diesen alten Dingern mit den klapprigen Riegeln, von denen Tim erst unlängst einen erledigt hatte. Diese hier war mit einem Stück Draht so am Rahmen befestigt, dass es nicht klappern konnte. Auch eine Möglichkeit.

Auf dem Tisch stand ein Fernglas, außerdem lag das knallbunte Packpapier von einem guten Dutzend Schokoriegeln verstreut herum.

Tim sah sich weiter um. Als er die Wände betrachtete, wurde ihm klar, was das hier einst gewesen war. Ein Taubenhaus, man konnte sogar noch ein paar der Einfluglöcher erkennen. Diese waren ebenfalls mit Brettern vernagelt worden, vermutlich, weil die jetzige Bewohnerin wenig Lust verspürte, ihr provisorisches Bett mit einer Horde Vögel zu teilen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739405827
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Dezember)
Schlagworte
Psychothriller Thriller Serienmörder Entführung Verbrechen Kindesmisshandlung Mörder Krimi Spannung

Autoren

  • L.C. Frey (Autor:in)

  • Alex Pohl (Autor:in)

Mit über 1.5 Millionen verkauften Büchern ist Alex Pohl alias L.C. Frey einer der meistgelesenen Autoren Deutschlands. Er ist außerdem eine Hälfte des erfolgreichen Bestseller-Autorenduos Oliver Moros, sowie Co-Autor des Nr.1-SPIEGEL-Bestsellers “Abgefackelt” von Michael Tsokos. L.C. Freys Schreibratgeber ‘STORY TURBO: Besser schreiben mit System‘ gilt als das deutschsprachige Standardwerk für moderne Autorinnen und Autoren. Der Autor lebt und arbeitet in Leipzig.
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Titel: So Kalt Dein Herz