Die letzten Tage hatte Tim hauptsächlich damit verbracht, es sich in einem der kleineren Zimmer im dritten Stock gemütlich zu machen. Es war mit Abstand das wohnlichste von allen, was vor allem bedeutete, dass der Schimmel bislang noch nicht bis hierhin vorgedrungen war.
Tim hatte den größten Teil seines Werkzeugs, eine Matratze und die Campingausrüstung in dieses Zimmer geräumt, das vielleicht einmal ein Kinderzimmer gewesen war, wie passend – immerhin jagte er auch kindischen Träumen nach, nicht wahr? Tim musste grinsen. Und wenn schon. Mehr Luxus brauchte kein Mensch, abgesehen vielleicht von fließendem Wasser. Und einer Heizung.
Beides würde er noch vor dem Wintereinbruch haben, kein Problem. Bis dahin würden es eben der Gaskocher und der Ölradiator tun müssen. Für die anderen Geschäfte, die man üblicherweise in der Nähe fließenden Wassers erledigte, genügte ihm zunächst der Innenhof, den er zunächst fälschlicherweise für einen Garten gehalten hatte. Tim hatte ein Loch hinter den Büschen ausgehoben und es mit einer alten Tür abgedeckt. Er hatte schon schlimmere Sanitäranlagen benutzen müssen. Kein Problem.
Alle ein oder zwei Tage fuhr er mit seinem Pick-up an eine Raststätte in der Nähe, die Duschgelegenheiten für Trucker anbot.
Auch das war kein Problem.
Freilich hätte er auch in seiner alten Wohnung duschen können. Aber das hätte möglicherweise bedeutet, Simone zu begegnen. Kein besonders wahrscheinliches Szenario, aber dennoch nicht ausgeschlossen. Also schied das aus. Dann lieber die Raststätte und das Loch im Innenhof.
Jemand wummerte gegen die Eingangstür unten.
Tim füllte etwas Kaffee in seine Blechtasse und stellte den Gaskocher ab, dann ging er nach unten. Das Treppenhaus hatte er inzwischen einigermaßen vom Grünzeug befreit (und dabei weitere Verheerungen des Mauerwerks freigelegt) und es zog auch nicht mehr so stark, seit er die eingeworfenen Fenster notdürftig mit Brettern abgedichtet hatte.
Was allerdings auch eine gewisse Einschränkung der Lichtverhältnisse mit sich brachte, und das war in diesem Treppenhaus kreuzgefährlich. Nicht nur für Einbrecher oder Vandalen, die das Haus möglicherweise immer noch für unbewohnt hielten, sondern auch für seinen Besitzer. Er notierte im Geiste: Licht ins Treppenhaus, so schnell wie möglich!
Es wummerte erneut.
Tim rief: »Komme!« Und als Nächstes: »Au! Verdammte Sch…!«, als er einen Großteil des Kaffees über seine Arbeitshose kippte.
Von einer der Stufen hatte sich beim Drauftreten ein großer Brocken gelöst, und beinahe hätte er den Rest der Treppe im Kopfsprung bewältigt. Tim ermahnte sich, in Zukunft vorsichtiger zu sein, denn so etwas konnte allzu leicht mit einem gebrochenen Fuß enden. Ein Ausfall des einzigen Arbeiters in dieser Phase des Bauvorhabens wäre fatal. Von einem Genickbruch auf halber Strecke ganz zu schweigen.
Unten kramte er den Schlüssel aus der Tasche und fummelte ihn in das Schloss seiner brandneuen Haustür – ein rohimprägniertes Schmuckstück aus Echtholz und geradezu ein Schnäppchen für die 500 Euro, die sie ihn gekostet hatte.
Auch wenn eine neue Tür vielleicht ein etwas seltsamer Anblick war in dem ansonsten völlig verfallenen Gebäude. Wann immer Tim die Tür betrachtete, fiel ihm ein Spruch aus irgendeinem alten Krimi ein. Fast ein bisschen so, wie eine Leiche zu schminken. Bloß sorgte seine Art der Schminke dafür, dass ab sofort keine jugendlichen Punks mehr in das vermeintlich leerstehende Haus einbrachen und sein Werkzeug klauten. Hoffte er zumindest.
Er öffnete die Tür.
»Das ist ’ne schöne Tür, Tim«, sagte Gernot anerkennend und hielt ihm seine Hand hin. Eine raue Hand voller Schwielen. Die Art von Händen, die den Schmutz nie ganz loswerden, so sehr man sie auch schrubbt. Die Art, unter deren Nägeln sich ständig Schmutzränder befinden. Arbeiterhände. Ehrliche Hände. Tim packte zu und erwiderte den kräftigen Druck.
»Grüß dich, Gernot«, sagte er grinsend, »’nen Kaffee?«
Gernot beugte sich vor, um skeptisch in Tims halbleeren Kaffeebecher zu schauen.
»Nicht im Dienst, danke«, sagte er und schüttelte mit einem schiefen Grinsen den Kopf. Dann trat er ein.
Er sah sich um und pfiff leise durch seine Zähne.
»Ja, ich weiß …«, begann Tim, aber Gernot brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen. Im Gegensatz zu den meisten anderen der wenigen Besucher, die Tim bisher in seiner neuen Heimstatt begrüßt hatte, war Gernot vom Fach. Was bedeutete, dass er in dem Haus vielleicht ein bisschen mehr sah als eine Ruine. Ein Finanzgrab. Eine kindische Spinnerei.
Gernot sah sich ausgiebig um, schließlich schaute er so konzentriert nach oben, als wolle er die Decke mit Blicken durchdringen. Und wer weiß, dachte Tim, vielleicht war er ja tatsächlich dazu in der Lage.
»Die Dachbalken sind noch in Schuss?«, fragte Gernot.
»Klar«, sagte Tim. Zumindest hoffte er das inständig. Im Frühjahr spätestens würde er genau wissen, was der Regen, der durch die offenen Fenster auf der Wetterseite eingedrungen war, noch von der Grundsubstanz übriggelassen hatte. Einer der Schornsteine war in sich zusammengefallen, aber soweit Tim das beurteilen konnte, hatte er die Dachhaut nicht verletzt, sogar die Sparren sahen einigermaßen trocken aus. Die würden den nächsten Winter schon noch überstehen.
Gernot nickte.
»Hast dir ’ne Menge Arbeit aufgehalst«, brummte er dann. Nicht abwertend und auch nicht in dem Tonfall, dass noch ein »… du Idiot« drangepasst hätte. Nur eine simple Feststellung. Viel Arbeit, jede Menge Arbeit. Und Arbeit war etwas, das beide Männer nicht scheuten.
»Ich will mir hier im Erdgeschoss ’ne Werkstatt einrichten«, sagte Tim, »den mittleren Stock will ich vermieten und oben …«
Oben sollte eigentlich das Kinderzimmer hin. Die Kinderzimmer.
»Ist Simone da?«, fragte Gernot. Er machte sich keine Mühe zu verbergen, dass er das nur fragte, um nicht unhöflich zu wirken.
Tim schüttelte den Kopf.
Die paar Gelegenheiten, bei denen die beiden sich im gleichen Raum befunden hatten, waren nicht gerade von spontaner gegenseitiger Sympathie geprägt gewesen. Vielmehr war eine gewisse Unterkühlung zu spüren gewesen. Was übrigens auf die meisten seiner Kumpel und ihr Verhältnis zu Simone zutraf.
Tim stieß die Tür zum Keller auf, und damit war die Sache durch. Es gab genug zu tun. Nein, dachte er, Simone ist nicht da, und für die Zukunft kannst du dir diese Frage sparen.
»Jesses!«, sagte Gernot, als sein Blick auf die ersten Stufen der Holztreppe fiel, die nach unten in die Finsternis führte. »Wenn da unten Scheiße liegt, oder Leichen, vergiss es!« Vermutlich sollte das ein Scherz sein.
»Weder noch«, versprach Tim. »Hab schon nachgeschaut.«
»Hast echt Mut, Großer«, sagte Gernot und ließ offen, ob er damit den finsteren Keller oder den Gesamtzustand des Hauses meinte. Er stellte seine Werkzeugkiste auf dem Treppenabsatz ab und öffnete sie. Nacheinander holte er eine starke Taschenlampe, eine Abisolierzange und einen Schraubendreher daraus hervor. Er knipste die Lampe an und Tim folgte ihm die Stufen hinab in den Keller.
»Ich werd verrückt«, sagte Gernot, nachdem er sich im Keller umgeschaut hatte. »Der ist ja beinahe trocken. Dachte schon, ich brauch ein Schlauchboot, um zum Zähler zu kommen.«
»Witzig«, sagte Tim. »Der Sicherungskasten ist hier drüben.«
Gernot nickte und leuchtete dann in eine andere Ecke des Kellers, wo die Wasserleitungen vom Hauptrohr abzweigten.
»Diese Leitungen, Mannomann. Aus der Steinzeit.«
»Das ist schlecht, oder?«
Gernot schüttelte den Kopf. »Nee. Im Gegenteil. Solide, gute Handwerksarbeit. Aus einer Zeit, als die Leute es sich noch leisten konnten, sorgfältig zu arbeiten. Und noch anständig für ihre Arbeit bezahlt wurden.«
Er warf Tim einen gespielt vorwurfsvollen Blick zu.
»Ja, ja«, entgegnete Tim, »die gute alte Zeit, als du für zehn Pfennig nicht nur ein Brot, sondern den ganzen Bäckerladen leerkaufen konntest.«
»Klugscheißer«, brummte Gernot. »Würde mich aber echt nicht wundern, wenn die noch funktionieren. Ist eben noch deutsche Wertarbeit.«
Er ging zu den Rohren, leuchtete den Hauptwasserzähler an und klopfte dagegen. Dann griff er nach dem Absperrhahn der Hauptleitung. Ächzend drückte er sein Körpergewicht dagegen, und für einen Moment befürchtete Tim, er würde den Hahn und ein gutes Stück der Leitung abbrechen und den bislang beinahe trockenen Keller zu guter Letzt doch noch fluten.
Mit einem vernehmlichen Quietschen bewegte sich der Hahn und kurze Zeit später gab die Leitung gurgelnde Geräusche von sich. Irgendwo oben knallte etwas. Hastig drehte Gernot den Hahn wieder zu.
»Funktioniert noch«, sagte er. »Wenn du die Hähne am Verteiler zusperrst, kannst du es ja mal länger laufen lassen. Und dann Zimmer für Zimmer ausprobieren. Vielleicht hast du Glück und kommst um die Neuverlegung herum.«
»Ich soll diese Uralt-Dinger drinlassen?«
»Hier unten auf jeden Fall, das würde ich dir zumindest raten. Den Rest solltest du mal ordentlich durchpusten lassen, dann kannst du sie bestimmt auch noch verwenden, oder zumindest einen Teil. Gut möglich, dass dich diese Rohre überleben, mein Lieber. Aber da fragst du am besten einen, der sich damit auskennt. Den Harry zum Beispiel, wenn er nicht gerade mit der Messehalle zu tun hat.«
Tim nickte. Das waren doch zur Abwechslung mal gute Nachrichten. Falls die Leitungen sogar im dritten Stock funktionierten, würde er sich einen elektrischen Durchlauferhitzer in eins der Badezimmer stellen und natürlich die freistehende Badewanne, die er noch von dem Bauprojekt für diesen verrückten Architekten Krieger übrig hatte. Und dann bye-bye, Raststättendusche.
»Hm«, sagte Gernot. Er hatte inzwischen den Stromkasten geöffnet und blickte auf einige ziemlich antiquiert wirkende Stromzähler und eine Ansammlung verstaubter Schraubsicherungen. Stirnrunzelnd leuchtete er auf einen der Zähler und klopfte dann dagegen.
»Und?«
»Hmm«, brummte Gernot noch mal.
»Was hmm?«
»Hast du irgendwas am Laufen, Tim?«
»Du kennst mich doch, ich hab immer was am Laufen«, sagte Tim wie aus der Pistole geschossen.
»Blödmann. Ich meine, hast du irgendwelche Geräte in Betrieb da oben?«
»Nee. Ich hab überhaupt keinen Strom da oben. Deswegen hab ich dich ja angerufen. Du erinnerst dich?«
»Hm. Aber irgendwas saugt da jedenfalls. Kann dir allerdings nicht sagen, in welchem Stockwerk. Soweit ich das beurteilen kann, ist hier alles völlig durcheinander eingebaut und natürlich gibt es auch nirgendwo einen Plan oder ’ne Beschriftung.«
»Tja, deswegen bin ich ja so glücklich, dass du hier bist, Meister«, sagte Tim. »Und du sagst, da liegt noch Strom an? Ist doch prima, oder?«
»Kommt drauf an«, sagte Gernot. »Ob das prima ist, werden wir gleich sehen. Geh am besten ein paar Schritte zurück, du Burgbesitzer.«
»Haha«, sagte Tim, wich aber trotzdem vorsichtshalber ein Stück zurück. Strom war nichts, womit er sich anlegen wollte.
Gernot umfasste den gummierten Griff seines Schraubendrehers und knipste den größten Schalter an, dann drehte er, eine nach der anderen, die restlichen Sicherungen hinein. Von weiter oben war ein lautes Klirren zu hören und irgendetwas zerbarst, dann schlug der Hauptschalter wieder um.
»Ein Kurzer«, kommentierte Gernot. »Ich vermute mal, im zweiten Stock. Okay, noch mal.«
Er schaltete den Hauptschalter wieder ein und fuhr dann mit den anderen Sicherungen fort. Die, bei der es geknallt hatte, ließ er ausgeschaltet. Es gab keine weiteren Zwischenfälle. Als er die letzte Sicherung hineindrehte, fiel ein matter Lichtschimmer vom Flur in den Keller.
»Na bitte«, sagte er und deutete dann mit dem Schraubendreher auf die Sicherung, die den Kurzschluss verursacht hatte.
»Die ist hinüber. Ich geh gleich mal hoch und schau mir das an. Vielleicht ist es ja nur irgendein vergammeltes Kabel.«
»Okay«, sagte Tim, »danke dir. Jetzt habe ich Strom. Wahnsinn!«
»Ja, Wahnsinn«, brummte Gernot, aber er lächelte auch ein bisschen. »In welchem Stock wohnst du?«
»Dritter. Der ist noch am besten in Schuss.«
Gernot sah auf seine Armbanduhr. »Das sollte zu schaffen sein. Ich schau mir die Kabel an und repariere sie, sollte das nötig sein. Die anderen Sicherungen lässt du besser draußen, bis jemand die komplette Elektrik erneuert hat. Und nur zur Sicherheit: Ich würde an deiner Stelle den Hauptschalter jedes Mal ausschalten, wenn ich das Haus verlasse. Es sei denn, du hast eine Versicherung auf den alten Kasten abgeschlossen, die auch selbstgelegte Brände mit einschließt.«
»Verstehe«, sagte Tim. »Danke dir, Gernot, wirklich. Das werde ich dir nicht vergessen.«
»Schon gut«, sagte Gernot und deutete dann auf den Stromzähler, der vorhin gelaufen war. Jetzt stand er still. »Und das würde ich auch im Auge behalten.«
»Lief der denn schon die ganze Zeit?«, fragte Tim.
Gernot zuckte mit den Schultern. »Möglich. Sind vielleicht Kriechströme. Irgendein Kabel, bei dem die Isolierung durchgegammelt ist, hinter einer Wand vermutlich. Verdammt gefährlich, so was kann dir das ganze Haus in Brand stecken.«
»Oh, und nun?«, fragte Tim.
»Ich hab den Kreis erst mal abgeschaltet. Keine Ahnung, was da Strom gezogen hat, und es war auch nicht viel. Ganz bestimmt war’s aber nicht im dritten Stock und auch nicht im Treppenhaus, das können wir ausschließen. Wie du siehst.« Er deutete auf den matten Schimmer von jenseits der Kellertreppe.
»Gut.«
»Okay, dann schau ich mir jetzt mal den dritten Stock an. Wenn der FI in den nächsten Tagen wieder rausfliegt, lässt du ihn draußen und rufst mich an, klar? Dann muss ich mal sehen, ob ich dir jemanden vorbeischicken kann. Ich muss allerdings nächste Woche auf Montage und …«
»Es wird schon gehen«, versprach Tim. »Hauptsache, ich bin diese Kriechströme los. Das klingt ja richtig unheimlich.«
»Ist es auch«, sagte Gernot und schaute Tim ernst an. Dann knipste er die Taschenlampe aus, ließ sie in der Tasche seiner Arbeitshose verschwinden und fragte: »Und wo kriege ich jetzt einen richtigen Kaffee her?«