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Ich Breche Dich

Thriller

von L.C. Frey (Autor:in) Alex Pohl (Autor:in)
360 Seiten
Reihe: Leipzig-Thriller, Band 2

Zusammenfassung

Der Schriftsteller Jan Chernik wird von verstörenden Visionen heimgesucht, als seine schwangere Freundin bei einem tragischen Unfall stirbt. Er folgt Hinweisen, die ihren Tod mit einer Serie von brutalen Morden in Verbindung bringen, die vor zwanzig Jahren mit dem Tod des sogenannten »Rosenkillers« ein Ende fand — oder etwa doch nicht? Hauptkommissar Karl Sauer und Jan Chernik müssen sich gemeinsam den Dämonen ihrer Vergangenheit stellen, als der neue »Rosenkiller« sie zu einem gnadenlosen Spiel auf Leben und Tod herausfordert. Kommissar Sauer aus DIE SCHULD DER ENGEL ist zurück!

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Bücher von L.C. Frey

TODESZONE: Tatort Malmö

SO KALT DEIN HERZ

TOTGESPIELT

DIE SCHULD DER ENGEL : Sauers erster Fall

ICH BRECHE DICH: Sauers zweiter Fall

Weitere Informationen finden Sie auf der Website des Autors

www.LCFrey.de

Über das Buch

Dieses Schweigen darfst du niemals brechen. Der Schriftsteller Jan Chernik wird von verstörenden Visionen heimgesucht, als seine schwangere Freundin bei einem tragischen Unfall stirbt. Er folgt Hinweisen, die ihren Tod mit einer Serie von brutalen Morden in Verbindung bringen, die vor zwanzig Jahren mit dem Tod des sogenannten »Rosenkillers« ein Ende fand — oder etwa doch nicht?

Hauptkommissar Walter Sauer und Jan Chernik müssen sich gemeinsam den Dämonen ihrer Vergangenheit stellen, als der neue »Rosenkiller« sie zu einem gnadenlosen Spiel auf Leben und Tod herausfordert.

Lektorat: Claudia Heinen, Schreib- und Korrekturservice Heinen

Covergestaltung, Layout und Satz: Ideekarree Leipzig, unter Verwendung von ©kasha_malasha, Fotolia.com, ©anatskwong, Fotolia.com, ©hookmedia, Fotolia.com


Copyright © 2017 by L.C. Frey. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck – auch auszugsweise – nur mit schriftlicher Genehmigung von L.C. Frey. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Alle in diesem Roman beschriebenen Personen sind fiktiv. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Impressum: L. C. Frey, c/o Alexander Pohl, Breitenfelder Str. 66, 04157 Leipzig, E-Mail: autor@lcfrey.de

1

Für immer

Knabe sprach: »Ich breche dich,

Röslein auf der Heiden.«

Röslein sprach: »Ich steche dich,

Dass du ewig denkst an mich,

Und ich will’s nicht leiden.«


– J. W. von Goethe, 1827

»Du musst mir versprechen, dass ich deine beste Freundin bin.«

»Du bist meine allerbeste Freundin auf der Welt.«

»Sag, dass du mich nie wieder allein lässt.«

»Ich lass dich nicht allein. Bestimmt nicht.«

»Versprichst du’s?«

»Ich verspreche es.«

»Für immer?«

»Für immer.«

2

Das Spiel

30. Oktober 1994

Er beobachtet das Haus schon seit über einer Woche. Beinahe jede Nacht ist er hier. Den Wagen parkt er jedes Mal an einer anderen Stelle der Straße.

Dem Mädchen gilt sein besonderes Interesse. Melina. Sie ist ein Einzelkind. Vater, Mutter, Kind wie in dem Sandkastenspiel.

Er sieht auf seine Armbanduhr. Das letzte Licht im Haus ist vor exakt fünfundvierzig Minuten ausgegangen, im Schlafzimmer der Eltern. Aber er wird noch ein bisschen warten. Bis auch sie fest schlafen. Er selbst wird in den kommenden Stunden nicht an Schlaf denken können.

Das vertraute Prickeln klettert an seiner Wirbelsäule empor. Bald nun.

Er schraubt die Thermoskanne auf, die er sich mitgebracht hat, gießt sich den Rest des Kaffees in den Deckel, den er als Trinkbecher benutzt. Er erforscht den Geschmack des lauwarmen Getränks auf seiner Zunge. In dem Zustand, in dem er sich jetzt befindet, gleicht dieses Erlebnis einer regelrechten Geschmacksexplosion. Er leert den Becher und schraubt die Kanne zu, stellt sie behutsam in den Korb auf den Beifahrersitz und verstaut das Ganze dann im Fußraum. Nicht auf der Rückbank, die wird er später noch benötigen.

Von hier kann er die Straße in beide Richtungen überblicken.

Niemand ist mehr unterwegs um diese Uhrzeit. Nicht hier, am Rande der Stadt, wo man in Einfamilienhäusern lebt und jeder einen kleinen Garten vor der Haustür hat. Eine Garage, darin ein Auto oder zwei. Es ist eine VW-Passat-Gegend, ein Idyll des oberen Durchschnitts. Man lebt hier ungestört, ist unter sich, grüßt sich im Vorbeigehen. Ist sorglos.

Er schnappt sich seinen Aktenkoffer, öffnet die Wagentür und steigt aus, dann klinkt er sie lautlos ein. Er huscht in die Schatten zwischen den überhängenden Zweigen einer Weide, die aus jemandes Garten auf die Straße ragt. Er verharrt und lauscht, bis er sich der Stille sicher ist. Dann geht er hinüber zum Haus der Paulsens.

Er schlüpft zwischen den Buchsbaumhecken hindurch, die den gepflasterten Weg zum Hintereingang begrenzen – keine Kiesel, das wäre schlecht: Es ist unmöglich, sich auf einem Kieselweg geräuschlos zu bewegen –, dann zieht er den nachgemachten Schlüssel aus der Tasche.

Es ist ein bisschen, als kehrte man nach getaner Arbeit nach Hause zurück, denkt er. Heute wird ihm dieses Haus gehören, mit allem, was darin ist, aber die Arbeit liegt noch vor ihm.

Er öffnet die Hintertür, zieht sie geräuschlos auf. Sie ist gut geölt, er hat das selbst getan vor zwei Tagen. Dann betritt er das Haus. Bleibt für einen Moment stehen, saugt die Luft tief in seine Lungen. Den Geruch des fremden Lebens, der ihm inzwischen so vertraut ist wie einem Weinkenner das Bouquet seiner bevorzugten Rebsorte.

Er erkennt das Aftershave des Vaters und das Parfum, das die Mutter benutzt. Es ist eine teure Sorte, verführerisch, ohne aufdringlich zu sein.

Am meisten genießt er den Duft des Kindes. Unverfälscht, rein. Köstlich. Er hat ihn in sich aufgesogen, während er sein Gesicht in ihrem kleinen Kissen vergraben hat.

Die Paulsens haben eine Alarmanlage wie die meisten Bewohner dieser Gegend. Und wie die meisten Bewohner haben sie ihre Alarmanlage nicht scharfgeschaltet, weil sie zu oft versehentlich losgegangen ist. Nur, um sicherzugehen, hat er sie trotzdem sabotiert.

Dann geht er nach oben in das Kinderzimmer.

Er muss es in genau dieser Reihenfolge tun, auch wenn es riskant ist. Das Kind ist das Wichtigste, es hat oberste Priorität. Kinder schlafen tief, zumindest Kinder, die in einer wohlbehüteten Umgebung aufwachsen. Kinder wie die Tochter der Paulsens, die bald eine von seinen Töchtern sein wird.

So jung, so hübsch.

Die Vorstellung erregt ihn maßlos. Je näher er dem Zimmer kommt, desto intensiver nimmt er den Geruch ihres Körpers wahr. Wenn sie schlafen, das hat er festgestellt, riechen sie besonders gut.

Er zieht den Lappen und das Fläschchen hervor.

Geräuschlos betritt er das Kinderzimmer, nachdem er eine Weile durch die angelehnte Tür dem gleichmäßigen Atem des Kindes gelauscht hat.

In zwei raschen Schritten ist er bei dem Kinderbett und presst dem Mädchen den chloroformgetränkten Lappen auf Nase und Mund.

Die Kleine ist sofort bewusstlos.

Für einen Moment ist der Drang beinahe übermächtig.

Er steht neben dem Bett und starrt lange hinab auf das wehrlose, betäubte Geschöpf, berauscht von ihrer Schönheit und Hilflosigkeit. Schließlich erlangt er die Kontrolle über seine Gedanken zurück. Später, sagt er sich, später wird er alle Zeit der Welt dafür haben. Alle Zeit, die nötig ist.

Und er wird sich Zeit lassen mit ihr.

Ganz besonders viel Zeit.

Er öffnet seinen Koffer und entnimmt ihm eine Rose aus Papier, die er in das Bettchen zu dem Kind legt. Er wird sie hier zurücklassen, wenn er das Kind später holt.

Er verlässt das Kinderzimmer und geht nach unten. Die Tür zum Schlafzimmer der Eltern ist einen Spalt offen. Vielleicht, damit die Kleine zu ihnen ins Bett kriechen kann, wenn sie einen Albtraum hat. Damit hat er nicht gerechnet. Er nimmt sich vor, künftig seine Beobachtungen auch auf die Nächte auszudehnen. Nur für den Fall.

Er kennt sich auch im Elternschlafzimmer bestens aus und er weiß, dass die Frau stets auf der linken Seite schläft. Ungewöhnlich, bei den meisten Paaren ist es andersherum. Auch in ihrem Bett hat er gelegen und ihren Duft eingeatmet. Sie ist hübsch, sehr sogar. Aber sie ist nicht wie die Kleine oben. Sie ist nicht unberührt. Nicht makellos.

Aber das ist jetzt nicht mehr wichtig, jetzt zählt nur noch das Spiel. Es ist immer das gleiche Spiel, und es geht immer auf dieselbe Weise aus. Aber er findet, er schuldet ihnen das. Ihnen die Möglichkeiten vor Augen zu führen, die sie gehabt hätten. Und die sie dennoch niemals wählen. Niemals.

Die Eltern schlafen immer noch. Als er um das Bett herumgeht, ist er nicht einmal besonders leise.

Dann betätigt er den Schalter an der Nachttischlampe und das Licht flammt auf. Der Mann stöhnt leise und dreht sich auf die Seite, die Frau öffnet die Augen und blinzelt in das Licht.

Dann sieht sie ihn und fährt zusammen.

Ihre Augen sind nussbraun, aber jetzt sind sie sehr viel dunkler, beinahe schwarz. Sie kapiert verblüffend schnell, dass sie nicht mehr träumt, und starrt ihn aus weit aufgerissenen Augen an. Wie ein Reh in das Scheinwerferlicht starrt. Er spürt die Erregung wie eisige Silberfinger über sein Rückgrat gleiten. Bald.

Wortlos formen ihre Lippen den Namen ihrer Tochter, während ihre Augen sich mit Tränen füllen. Eine gute Mutter, denkt er. Vielleicht wird das Spiel ja doch eine neue Wendung erfahren, wer weiß?

Er lächelt und legt einen Finger an die Lippen. Er nickt und deutet nach oben in das Kinderzimmer. Dann auf den Lauf der Pistole in seiner anderen Hand, den er auf sie gerichtet hat. Nur, falls sie die noch nicht mitbekommen hat. Doch das hat sie, natürlich. Er deutet auf den immer noch schlafenden Mann, und schließlich tastet ihre zitternde Hand nach dessen Schulter, rüttelt ihn sanft. Er grunzt im Schlaf, sie rüttelt ihn fester.

Dabei lässt sie ihre Augen nicht vom Lauf seiner Pistole.

Schließlich erwacht auch der Mann und richtet sich langsam auf.

»Was’n los?«, nuschelt er und blinzelt in das Licht.

Die Haare stehen ihm vom Kopf ab. Man kann erste graue Strähnen an den Schläfen sehen. Er ist attraktiv. Ob er sie wohl gelegentlich betrügt?

Dann folgt der Mann dem Blick seiner Frau und schließlich sieht er auch ihn. Dann sieht er die Pistole und schließlich kapiert auch er, was hier passiert. Oder das, von dem er glaubt, dass es gerade passiert.

»Wer …«, die Stimme des Mannes bricht ab, er räuspert sich, »was wollen Sie?«

»Sie sind versichert, oder? Ihre Wertgegenstände?«

Jetzt atmen beide sichtlich auf. Nur ein Einbrecher, denken sie. Das denken sie immer, anfangs.

So beginnt das Spiel.

»Ja«, sagt der Mann. »Kein Problem. Nehmen Sie, was Sie wollen, nur bitte tun Sie uns nichts.«

Es ist seltsam, während die beiden das gewohnte Programm abspulen wie Schauspieler in einem Theaterstück, wirken sie, als glaubten sie, immer noch zu träumen. Ihre Blicke sind schläfrig, als sie sich mit fahrigen Bewegungen aufeinander zubewegen. Aber sie werden nicht lange schläfrig bleiben.

So geht das Spiel weiter.

»Gut«, sagt er, immer noch lächelnd. Die Leute wollen an den Gentleman-Räuber glauben, immer. Sie wollen glauben, dass sie Glück im Unglück hatten. »Dann fesseln Sie sich jetzt bitte gegenseitig. Morgen früh rufen Sie Ihre Versicherung an. Und die Polizei, wenn Sie mögen. Aber für den Moment muss ich darum bitten, dass Sie mir nicht in die Quere kommen.«

»Fesseln?« Die Frau starrt ihn an.

»Damit«, sagt er und wirft ihr ein Seil hinüber. »Machen Sie einen schönen, festen Knoten um seine Handgelenke, ja? Und seien Sie bitte leise dabei. Kein Grund, Melina zu wecken.«

Sie nickt und beginnt, an dem Seil zu fummeln. Er erklärt ihr, wie sie es machen muss. Nach ein paar Versuchen hat sie den Bogen raus.

»Jetzt die Füße.«

Sie tut es. Er überprüft den Sitz der Fesseln, während er die Pistole lässig in ihre Richtung hält und lächelt, immerfort lächelt.

»Jetzt Sie«, sagt er zu der Frau.

Er findet es amüsant, dass seine Opfer der inneren Logik des Geschehens sofort folgen. Sie stellen das Spiel nicht mehr infrage, jetzt ist es zu einer Tatsache geworden, zu ihrer Wirklichkeit.

Also fesselt er sie und legt dabei die Waffe auf den Nachttisch. Soll sie ruhig versuchen, danach zu greifen, sie ist ohnehin nicht geladen. Aber das machen sie nie, danach greifen. Wie sie auch nie bemerken, dass er den Namen ihres Kindes kennt, den er doch gar nicht kennen dürfte.

Als er mit routinierten Griffen ihre Handgelenke zusammengebunden hat, nimmt er sich die Fußgelenke vor. Ihre Beine unter dem Satinhemdchen sind schlank und lang und offenbar frisch rasiert. Er fesselt sie leicht gespreizt an den äußeren und mittleren Pfosten des Betts, wie er sich das seit Tagen ausgemalt hat. Er bemerkt, dass sich seine Erregung gegen den Stoff seiner Jeans presst. Nicht mehr lang jetzt.

Das Spiel ist fast vorüber.

Er zieht ein Tuch aus der Tasche, ein sauberes weißes Taschentuch. Er achtet immer darauf, dass es sauber ist, wegen des Vertrauens. Das Vertrauen ist alles. Er stopft es der Frau in den Mund, mit einer raschen, aber durchaus sanften Bewegung. Dann lächelt er entschuldigend.

»Nur zur Sicherheit«, sagt er und sie nickt, während er den Knebel mit einem zweiten Tuch um ihren Hinterkopf festzurrt.

Als er es verknotet hat und ihr in die Augen blickt, glaubt er, den leisen Anflug eines Erkennens darin zu sehen. Ist das möglich? Hat sie ihn bereits durchschaut? Egal, jetzt spielt es keine Rolle mehr. Sein Schwanz pulsiert schmerzhaft gegen den Schritt seiner Hose.

Nun endet das Spiel.

Er zieht das Messer aus der Tasche und rammt es dem Mann bis zum Heft in den Hals. Die Bewegung ist so beiläufig, dass zunächst überhaupt niemand reagiert, bis er die Klinge aus dem Kehlkopf reißt und eine sprudelnde Fontäne dunkelroten Blutes aus dem Hals des Mannes schießt.

Dann sticht er noch einmal zu, und noch einmal.

Der Mann bäumt sich unter seinen Fesseln auf, aber seine Frau hat gute Arbeit geleistet. Er kann sich nicht befreien.

Aus seinem Mund dringen gurgelnde und seltsam zischende Laute, während sein Blut überall hinspritzt. Die hellen Bettbezüge mit den Blumenmustern werden von unzähligen großen und kleinen neuen Blumen bedeckt, die aufgehen wie Blüten. Ein Bett aus Rosen, denkt er. Ja. Das ist es.

Die Frau windet sich und brüllt unter ihrem Knebel. Es kommt nur als ersticktes Stöhnen heraus, bestenfalls.

Es ist jetzt zu spät, und sie weiß es. Sie hatte ihre Chance, und wie alle anderen hat sie sie verwirkt.

Niemand wird sie hören, nicht jetzt, da sie ihrem Ehemann beim Sterben zusieht und auch nicht in den folgenden Stunden, in der er ihr seine Aufmerksamkeit zuwenden wird. Seine ganze Aufmerksamkeit.

Sie haben das Spiel verloren, er hat gewonnen.

Wie immer.

Er reißt das blutige Messer aus dem Hals des Toten und wendet sich dann der Frau zu, die aufgehört hat, sich zu wehren. Regungslos liegt sie da und starrt ihn aus aufgerissenen Augen an.

Er sieht in diesen Augen, dass die Frau bereits woanders ist und das Geschehen um sich herum nur noch wie einen Film wahrnimmt, einen Film, den sie durch die blinden Gläser einer gesprungenen Brille betrachtet. Aber das macht nichts.

Er setzt die blutbespritzte Klinge am Ausschnitt ihres Hemdchens an, dann beginnt er zu schneiden, mit der Anmut und Präzision eines erfahrenen Chirurgen.

Das Messer durchtrennt den hauchdünnen Stoff ihres Nachthemds, ohne die darunterliegende Haut auch nur zu ritzen. Die Klinge gleitet über den Körper der Frau, der Stoff löst sich mit einem leisen Rascheln und entblößt kleine, feste Brüste. Makellose Haut, die milchweiß leuchtet im Licht der Nachttischlampe.

Sie wirft ihren Kopf herum, dorthin, wo ihr Mann liegt. Tränen laufen über ihre Wangen, zwei hektische rote Flecken leuchten in ihrem kalkweißen Gesicht.

Dann schließt sie die Augen.

Er lässt die Klinge tiefer gleiten, bis dahin, wo ihr flacher Bauch in den Ansatz ihres Schamhügels übergeht, der in einem einfachen weißen Baumwollslip verschwindet. Er schiebt die Klinge des Messers unter den Stoff und durchtrennt das Kleidungsstück mit einem kräftigen Ruck. Ihr Körper ist nun nackt und ungeschützt und ausgesprochen begehrenswert.

Er steht auf und beginnt, sich auszuziehen.

Er legt seine Kleidung säuberlich zusammen und hängt sie über den Stuhl vor der Frisierkommode. Als er sich ihr zuwendet, starrt sie auf seine pralle Erregung.

Er legt das Messer zu der ungeladenen Pistole auf den Nachttisch.

Dann beginnt er.

Der Mörder bemerkt das Augenpaar nicht, das durch den Türspalt in das Schlafzimmer blickt. Es sind Augen, in denen das blanke Entsetzen steht. Unsägliche Angst ist in diesen Augen, die immer wieder drohen, zuzufallen, obwohl der kleine Körper, zu dem diese Augen gehören, vollgepumpt ist mit Adrenalin.

Als der Mörder mit der Vergewaltigung der Mutter beginnt, schleichen kleine, nackte Füße geräuschlos davon.

3

Erwachen

Heute, noch 33 Tage

Leipzig, Südvorstadt

Als Jan Chernik erwachte, brachte er das Wummern mit aus seinem Traum herüber. Für einen Moment lag er einfach da, die Augen geschlossen, die Finger in das durchgeschwitzte Laken gekrallt und lauschte dem Pochen in seinen Schläfen.

Eine Tür. Etwas hatte gegen diese Tür gewummert, ein eisernes Ungetüm, das meterhoch vor ihm aufzuragen schien. Etwas befand sich hinter dieser Tür, etwas Furchtbares. Und es wummerte.

Dann war er erwacht.

Er presste die Augenlider noch fester aufeinander, während er versuchte, sich an die Reste seines Traumes zu erinnern. Manchmal half das. Eine beinahe morbide Angewohnheit, wenn man die spezielle Natur seiner Träume bedachte. Eine Angewohnheit, die er seinem Beruf hätte zuschreiben können, wenn er denn Horrorschinken oder Krimis geschrieben hätte.

Was er natürlich nicht tat.

Aber vielleicht, dachte er, ist es allmählich Zeit, damit anzufangen. Oder überhaupt mal wieder anzufangen mit einem Buch. Mit irgendeinem.

Jan schlug die Augen auf.

Und machte sie gleich wieder zu.

Die Sonne knallte schadenfroh durch die Glasfront des Lofts. So sehr Jan die Wohnung im Dachgeschoss auch liebte – ein solches Erwachen war ihm in dem Kellerloch erspart geblieben, in dem er die ersten zehn Jahre seiner sogenannten Künstlerkarriere verbracht hatte.

Jan stand auf. Kaum stand er, musste er sich schon wieder hinsetzen. Die Kopfschmerzen verlangten ihren Tribut, das Wummern schoss zurück in seine Schläfen. Dieses stammte nicht aus dem Traum. Es stammte von gestern Nacht.

Er öffnete die Schublade des Nachttischs, ein antik anmutender Klotz aus irgendeinem dieser Hipsterläden. Jan wühlte sich durch benutzte Papiertaschentücher, Kondompackungen und irgendwelchen Krimskrams, bis er schließlich das Notizbuch fand.

Die Träume aufzuschreiben half, zumindest manchmal.

Jan notierte die Sache mit der Metalltür, dann hielt er inne. Manchmal kamen Details aus den Träumen dazu, während er sie aufschrieb. Eine Blume, da war irgendetwas mit einer Blume gewesen, und sie wuchs hinter der Tür. Woher er das wusste? Traumlogik.

Er schrieb das Wort Rose unter seine Traumnotizen, kringelte es ein und malte dann ein Fragezeichen daneben. Dann klappte er das Notizbuch zu und legte es zurück. Abgehakt.

Von unten, wo der Wohnbereich des Lofts lag, stieg Kaffeeduft herauf. Und etwas, das gebratene Eier sein mochten oder aber auch nur Jans Wunschdenken.

Jan ging nach unten, in Boxershorts und T-Shirt. Er trug selten etwas anderes vor Mittag. Einer der Vorteile, wenn man einer Arbeit im Home Office nachging, oder auch gar keiner Arbeit. Er stellte fest, dass er noch immer das Ramones-Shirt trug, das er gestern Abend getragen hatte und offenbar mit irgendeiner hellen Flüssigkeit bekleckert hatte. Die hoffentlich, hoffentlich nicht aus seinem Magen stammte. Das und der Traum, da war Jan sicher, hatten etwas zu bedeuten. Vielleicht versuchte ihm sein Unterbewusstsein zu sagen, dass er weniger trinken sollte. Oder mehr.

Katrina stand in der Küche vor dem geöffneten Panoramafenster und rauchte. Sie hatte ihn nicht gehört, weil sie ihre Kopfhörer trug. Jan sah, dass sich die weißen Kabel unter ihren blonden Haaren hervorschlängelten. Sie wiegte sich sanft im Takt der Musik hin und her, während sie ihm den Rücken zuwandte.

Jan wäre gern hingegangen und hätte die Arme um sie gelegt. Dann hätten sie beide da gestanden und nach draußen geblickt, und er hätte der Musik aus ihren Ohrhörern gelauscht, während sie sich an ihn gelehnt und er den Duft ihres Haars, vermischt mit dem Zigarettenrauch, aufgesogen hätte. Vielleicht würde sie zulassen, dass er seine Hände unter ihren Pulli schob und …

Hätte, hätte, Fahrradkette.

Da war noch ein Rest Kaffee in der Maschine. Aber die Eier waren Einbildung. Und würden es auch bleiben, wenn er sich nicht selbst welche machte.

»Morgen«, krächzte Jan mit belegter Stimme.

Sie drehte sich abrupt um und starrte ihn an, halb erschrocken und halb … etwas Undefinierbares.

Wut? Durchaus möglich.

Wiedersehensfreude war es jedenfalls nicht. Sie ließ die halb gerauchte Zigarette in ihren Kaffeebecher fallen und ging zur Küchenzeile hinüber, wo sie beides abstellte und sich dann die Ohrhörer aus den Ohren pulte.

»Ich geh ins Atelier«, sagte sie, schnappte sich ihre Jacke vom Haken und zog sie über. Dann sah Jan die Tasche, die sie an der Tür abgestellt hatte.

»Wirst du …?«, Jan räusperte sich, »ich meine … wann wirst du zurück sein? Ich …«

Hätte, hätte.

Sie stand an der Tür, die Hand schon auf der Klinke, und drehte sich zu Jan um. Aber sie antwortete nicht, sah ihn nur an. Als er auf sie zuging und die Hand nach ihr ausstreckte, wich sie zurück, als hätte Jan eine ansteckende Krankheit.

»Mann, Katrina, ich meine … es war doch nur …«, stammelte Jan und bereute es sofort, als er den Ausdruck in ihrem Gesicht sah. Halt doch einmal deine dumme Klappe, Chernik, schalt er sich. Und konnte es doch nicht.

»Ich liebe dich, Kat…«

Sie riss die Tür regelrecht auf und rauschte hindurch, die riesige Tasche hinter sich herschleifend. Irgendwie hatte das was von einem kleinen Mädchen, das einen viel zu großen Teddy hinter sich her zog. Dann war sie draußen und stürmte die Treppe nach unten. Ließ Jan zurück in der offenen Tür in seinen Shorts und dem bekleckerten Ramones-Shirt. Auf dem Treppenabsatz wandte sie sich ein letztes Mal zu ihm um.

»Arschloch«, sagte sie, und dann war sie fort.

Noch 30 Tage

Jan kippte den Rest des Kaffees in eine Tasse und ging wieder nach oben. Er warf einen sehnsüchtigen Blick auf das zerwühlte Bett und setzte sich dann im Nebenzimmer an seinen Schreibtisch. Die Kopfschmerzen waren nicht mehr ganz so stechend, aber noch vorhanden.

Er öffnete das Staufach des zerkratzten Ungetüms, das ihm seit den Zeiten im Keller als Schreibtisch diente, indem er seinen Zeigefinger in die Vertiefung zwischen Tür und Rahmen drückte. Einen Griff hatte das Fach nie besessen.

Er langte um eine Reihe zerlesener Bücher herum und ertastete den Hals der Flasche. Er befreite sie aus ihrem dunklen Versteck, schraubte den Verschluss ab und kippte eine gute Handbreit Wodka zu dem lauwarmen Kaffee in seine Tasse. Guten Morgen Schatz, Frühstück ist fertig. Haha.

Dann klappte er sein MacBook auf und tippte den Entsperrcode ein. Während er das tat, spürte er bereits die Angst. Sie kroch seine Wirbelsäule empor wie ein kalter, schleimiger Wurm.

Klick, er öffnete das Schreibprogramm.

Der leere Bildschirm starrte ihn an.

Jan begann zu tippen:

Neues Buch (Arbeitstitel)

von

Jan Chernik

Na großartig. Neues Buch. Das klang eher nach einer To-Do-Liste als einem Titel. Daher: Nicht mal unpassend, vielleicht würde er es so lassen. Jan versuchte ein Lachen. Nahm einen tiefen Schluck von dem Kaffee-Wodka-Gemisch. Versuchte, das Gesicht nicht zu verziehen.

Versuchte, nicht an Katrina zu denken.

Nahm noch einen Schluck.

Dann schrieb er:

Fuckfuckfuckfuckfuck.

Das hätte ihn eigentlich zum Lachen bringen müssen. Ein Schriftstellerwitz. Stephen Kings fiktiver Autor Paul Sheldon hatte das geschrieben, als er von einem verrückten, weiblichen Fan gekidnappt worden war. Die Wahnsinnige hatte ihn gezwungen, eine abscheuliche Schmonzette namens »Misery« fortzusetzen, obwohl Sheldon die Protagonistin gerade um die literarische Ecke gebracht hatte. Jan konnte das gut nachvollziehen.

Vielleicht sollte er auch mal so einen Horrorschinken rauskloppen, wie schwer konnte das schon sein? Auf jeden Fall sollten dabei jede Menge Fußknöchel zermalmt werden, das war ein ungeschriebenes Gesetz. So was kam immer gut an.

Ein anderes ungeschriebenes Gesetz war allerdings, dass ein Autor nicht sein Genre wechselte. Besonders kein einigermaßen erfolgreicher Autor.

Jan Chernik schrieb junge Literatur mit zynisch-bissigem Unterton. Jedenfalls stand das so auf seiner Website. Keine Liebesromane – in Cherniks Büchern wurde, wenn überhaupt, gefickt und nicht geliebt, und anschließend hatten sich die Beteiligten gefälligst von irgendeinem Hochhaus in Berlin-Mitte zu stürzen. Keine Romantik. Schon gar kein frei erfundener Horrorquatsch. Chernik schrieb Dramen. Vom bittersüßen Leben, das einem vor die Füße kotzte. Damit kannte er sich nämlich aus.

Jan löschte das soeben Geschriebene.

Dann schrieb er es noch mal:

Fuckfuckfuckfuckfuck.

Es zündete auch beim zweiten Mal nicht.

Aber die Angst war wieder da, stärker als zuvor. Sie kickte rein wie der Turbo Boost bei einem Rennwagen und Jan blieb nichts anderes übrig, als sich zurückzulehnen und zu versuchen, das Rennen irgendwie zu überleben. Und zu versuchen, dabei nicht an Katrina zu denken, und den riesigen Teddybär, den sie hinter sich hergeschleppt hatte.

Als sie ihn verlassen hatte.

fuckfuckfuckfuckfuck

Leipzig

Sauer beugte sich hinab und küsste seine Frau auf die Stirn. Ein mattes Lächeln auf ihren abwesenden Zügen war die einzige Reaktion. Oxana saß apathisch in ihrem Sessel und hielt das gerahmte Foto in der Hand. Aber sie schaute nicht das Bild an, sondern zum Fenster hinaus. In den Garten, in dem jetzt nichts als Unkraut wuchs.

Wo sie so gern gespielt hatte.

Sauer strich ihr sanft über das lange Haar, dann ging er ins Schlafzimmer, nahm einen Anzug aus dem Schrank und begann, sich hineinzuzwängen.

Dann die Krawatte. Sauer war sicher, dass er irgendwann gewusst hatte, wie man so ein Ding band. Er zog und zerrte an dem Stoffanhängsel, bis es schließlich irgendwie um seinen Hals baumelte. Dann gab er es auf und ging zurück ins Wohnzimmer.

Oxana saß unverändert in ihrem Sessel und starrte milde lächelnd zum Fenster hinaus. Für einen Moment überlegte Sauer, seiner Frau zu sagen, wo er hingehen würde, aber dann ließ er es doch bleiben. Noch nicht.

»Ich liebe dich, Oxana«, sagte er in die Stille des Raumes hinein.

Sie schaute weiter apathisch aus dem Fenster, aber ihre Mundwinkel bewegten sich ein bisschen, schließlich öffnete sie den Mund, als versuchte sie, etwas zu erwidern. Dann nickte sie nur. Sauer genügte es.

»Ich habe dir Brote gemacht«, sagte er. »Im Kühlschrank. Ich hätte dir gern was gekocht, aber …«

Sie drehte den Kopf und bedachte ihn mit einem abwesenden Lächeln. Vermutlich würde sie sowieso nichts davon essen.

Sauer ging in den Flur und warf im Hinausgehen einen letzten Blick in den Spiegel. Hoffnungslos.

Auf dem Südfriedhof war er fast der einzige Besucher, wie immer um diese Uhrzeit. Ein Mütterlein schlurfte, eine Plastikgießkanne in der Hand, vom Brunnen am Hauptweg fort in den hinteren Teil, Sauer ging in die entgegengesetzte Richtung.

Als er sein Ziel an der südlichen Mauer erreicht hatte, ging er in die Hocke und entfernte einen Strauß verwelkter Rosen. Dann legte er einen frischen Strauß auf das Grab und außerdem eine Tafel Schokolade und einen kleinen Plüschhasen. Er sah ein bisschen aus wie der, den sie damals so gern gehabt hatte.

Dann stand er auf und sagte: »Alles Liebe zum Geburtstag, moja saika, wir vermissen dich. Wir …«

Weiter kam er nicht.

Ja, dachte Sauer später, es war gut, dass Oxana nicht mitgekommen war. Es war schwer, den Anblick des Stoffhasen auf dem kleinen Grab zu ertragen. Ihren Namen auf dem kalten Stein zu lesen. Die Jahreszahlen, die so absurd nah beieinanderlagen. Das war vielleicht das Schlimmste.

Sein Telefon klingelte.

Sauer räusperte sich und ging ran.

»Sauer.«

Das Zittern in seiner Stimme war kaum noch zu hören. Zumindest hoffte er das.

Der Befund sei da, sagte der Mann am anderen Ende, und er könne ihn abholen.

Er sei unterwegs, sagte Sauer.

Noch 28 Tage

Inzwischen war die zweite Flasche Wodka leer und Jan Chernik war ein bisschen weiter mit »Neues Buch« (Arbeitstitel). Ein ganzes Stück sogar, um die 40 Seiten. Auch wenn der Großteil dieser 40 Seiten inzwischen im virtuellen Papierkorb seines MacBooks gelandet war. Aller Anfang war bekanntlich schwer.

Aber stimmte das wirklich? Hatte er es damals als schwer empfunden, damals, als er »Herzeland ist abgebrannt« geschrieben hatte (Gott, das war mal ein beschissener Titel)? Als er nicht an Verleger oder Verträge gedacht hatte oder an so etwas wie Stammleser. Als er nur von der Wut befeuert worden war und der Sehnsucht? War es damals nicht förmlich aus ihm rausgesprudelt und hatten damals nicht ein paar Bier und eine Tiefkühlpizza genügt? Hatte es ihn nicht förmlich an den Bildschirm gezogen (kein schickes, neues MacBook damals, sondern ein uralter Laptop, der ständig abstürzte)?

Schon möglich.

Aber mittlerweile hatte sich sein Stil eben raffiniert, seine Schreibe war erwachsener geworden, was immer das bedeuten sollte. Jedenfalls hieß es, dass eben alles etwas länger dauerte. Auch der Kampf mit dem weißen Bildschirm, das ganz besonders. Aber er kam voran. Er kam voran.

Wenn nur Katrina endlich anrufen würde.

Eine SMS.

Irgendwas.

Es kam ohne Vorwarnung. Plötzlich erinnerte er sich an den Traum, den er letzte Nacht gehabt hatte. Einfach so, und er hatte ihn noch nicht einmal notiert. Hatte ihn ganz und gar vergessen geglaubt, doch plötzlich war alles wieder da.

Es hatte wieder vor der Tür gestanden. Aber diesmal hatte er genauer hingesehen, oder die Umgebung hatte sich ihm weiter offenbart wie ein fauliger Schlund, der sich umso mehr öffnete, je weiter man hineinkroch.

Die Eisentür gehörte nicht zu einem Haus.

Da war eine grob behauene Felswand, eine Höhle. Etwas, das man in einem Bergwerk vermuten würde, am Ende eines Stollens. Bloß, wer baute Eisentüren in einen Bergwerksstollen? Traumlogik. Dr. Freud hätte seinen Spaß mit ihm.

Der Tunnel: lichtlos, unterirdisch. Fernab von … allem. Düster, und das hatte nicht nur mit der Abwesenheit von Licht zu tun. Böse, das war das Wort. Böse auf eine gewaltige, erdrückende Weise.

Scheiße, er sollte sich die Sache mit dem Horrorschinken noch mal durch den Kopf gehen lassen. Das hier wäre Material und vielleicht sogar gutes. Er kritzelte

Böse

in sein Notizbuch und kringelte es ein.

Lächerlich. Das Wort nahm sich auf diese Weise selbst den Schrecken, eingekringelt wie ein wichtiger Arzttermin. Aber das würde er später noch hinbiegen. Es gab schließlich immer ein Lektorat.

Weiter mit dem Traum. Da war noch etwas Neues gewesen außer dem Stollen und der Tür.

Etwas war hinter der Tür. Eingesperrt.

Böse?

Und diesmal war er hineingegangen.

Er hatte sich an dem Schloss der schweren Metalltür zu schaffen gemacht und schließlich mit ungeschickten Fingern einen Schlüssel in ein Schloss gefummelt. Irgendwas mit einer Mickymaus, ja. Einer der Schlüssel. Der sah aus wie eine Mickymaus. Verrückte Sache, das.

Plötzlich hatte die Klinke dem Druck seiner Hand nachgegeben. Die Tür hatte sich geöffnet und …

Etwas in Jans Brust zog sich schmerzhaft zusammen.

Die Mädchen.

Zwei Mädchen – schmutzverkrustet kauern sie in einer Ecke, pressen ihre ausgezehrten kleinen Körper aneinander. Sie tragen lange Nachthemden, die so schmutzbedeckt sind wie ihre Gesichter. Die beiden Kinder pressen sich aneinander, halten sich umklammert und starren ihn an – aus ihren dunklen, weit aufgerissenen Augen. Ihre Hände – da ist etwas mit ihren Händen. Schwere Ketten um ihre Handgelenke, die sie am Fortlaufen hindern. Sie sind gefangen, man hat sie angekettet wie tollwütige Hunde.

Aber da ist noch etwas. Etwas, das sie in ihren Händen halten, ihm entgegenstrecken. Etwas kleines rotes weißes …

Dann ist es vorbei.

Plötzlich waren die Kopfschmerzen wieder da, ohne Ankündigung, aber dafür umso heftiger. Der Schmerz explodierte in Jans Kopf. Er presste die Lider aufeinander, massierte seine Nasenwurzel mit Daumen und Zeigefinger seiner Hand, bis es ein wenig erträglicher wurde.

Als er die Finger zurückzog, bemerkte er, dass er geweint hatte. Das hatte er seit Jahren nicht mehr. Nicht einmal, als Katrina ihn verlassen hatte.

Noch 26 Tage

Jan machte sich keine allzu großen Hoffnungen, als er den Rest des Wodkas in die Spüle kippte. Er tat es nicht einmal mit einem besonderen Vorsatz. Nie wieder, sagte der Alkoholiker.

Er tat es einfach, weil es in dem Moment das Richtige zu sein schien. Vielleicht auch, weil er inzwischen zwanzig Seiten tief in »Neues Buch« steckte. Zwanzig richtige Seiten, außer den etwa fünfzig im virtuellen Papierkorb. Zwanzig Seiten, die vielleicht nicht großartig waren, aber doch definitiv Material, vielleicht sogar gutes.

Da war Lisbeth, das verwöhnte Hipstermädchen, das sich selbst Lizzy nannte und einen auf Rebellin machte, indem sie sich das Geld ihrer reichen Eltern in die Venen schoss. Die bekamen das natürlich irgendwann mit und schickten sie auf Entzug. Und zwar in eine dieser schweineteuren Kurkliniken an der Ostsee. Dort trifft Lizzy auf den heruntergekommenen Exrocker und Exkommunisten und Exsonstwas Bernd, der sich passenderweise immer nur »Ex« nennt, weil er das cool findet, und dabei an Deus ex Machina denkt, was außer ihm keiner kapiert. Es ist Herbst, natürlich, und irgendwie war es ein schönes Bild, wie die beiden da so einsam-gemeinsam auf die beschissen graue See hinausstarren und sich gegenseitig Lügen über das Leben erzählen. Gutes Material, wie gesagt. Chernik-Stoff.

Jan lächelte.

Irgendwann im Laufe dieses Morgens war er mit dem Laptop runter in den Wohnbereich gezogen, die letzten Zeilen hatte er am Küchentisch getippt. An Katrinas Platz, wenn sie in der Küche saß und rauchte. Geraucht hatte.

Jan streckte sich und dabei fiel sein Blick auf den Anrufbeantworter.

Die Anzeige blinkte.

Jan blinzelte. Sie blinkte immer noch.

Er stand auf und ging hin und fragte sich, wie es sein konnte, dass er das Telefon nicht hatte läuten hören. Er musste das Ding versehentlich auf lautlos gestellt haben, die einzig mögliche Erklärung. Natürlich hatte er keine Ahnung, wie man diesen Zustand wieder ändern konnte. Katrina hätte es gewusst, sie war der Technikfreak in ihrer Beziehung.

Als er das Mobilteil aus der Schale nahm, zitterte seine Hand. Er widerstand dem plötzlichen Impuls, einfach auf Löschen zu drücken, ohne die Nachricht angehört zu haben. Es offen zu lassen. Nein, dachte er, Leser hassen offene Enden. Jeder tut das. Wenn man nicht erfährt, wie die Sache ausgeht, verspürt man augenblicklich den überwältigenden Drang, sein Geld zurückzufordern und dem Autor eins auf die Fresse zu geben. Zu Recht. Er drückte den Abspielknopf.

»Sie haben eine neue Nachricht. Biep.«

Es war Katrina.

Jan taumelte.

Sie schluchzte.

Jan stellte mit einigem Erschrecken fest, dass er sie sofort erkannt hatte, schon am Schluchzen. Ihre Stimme klang leise, irgendwie weit weg, beinahe unwirklich. Jan hatte Mühe, sie durch das statische Rauschen hindurch überhaupt zu verstehen.

»Es tut mir leid«, sagte sie.

Das war alles.

Noch ein bisschen Rauschen, dann Klack, Biep und aus.

Ihre Stimme hatte gezittert, soweit sich das in dieser Flut von Nebengeräuschen überhaupt sagen ließ. Es klang, als hätte sie in einem Autobahntunnel zur Rushhour gestanden. Und geweint. Eine neue Nachricht, hatte die neutrale weibliche Stimme des Anrufbeantworters gesagt. Kein Datum, keine Uhrzeit. Wann hatte er das eigentlich ausgestellt?

Jan spielte die Nachricht nochmals ab. Eine perfekte Wiederholung. »Es tut mir leid«, Rauschen. Knack. Biep. Schluss.

Noch mal. Dasselbe.

Jan wurde auch beim vierten und fünften Mal nicht schlauer aus der Sache und auch bei den folgenden Versuchen nicht.

Es tat ihr leid, okay. Das war gut, wenn auch unverhofft.

Es war schließlich Jans Schuld gewesen, voll und ganz. Das war nie Gegenstand irgendeiner Diskussion gewesen. Er hatte es verbockt, nicht sie. Es war an ihm, sich zu entschuldigen, und das hätte er getan, wenn sie ihm nur Gelegenheit dazu gegeben hätte. Stattdessen: »Arschloch.« Und weg war sie und das war’s.

Und jetzt tat es ihr leid.

Aber wieso sagte sie dann nicht, wann sie zurückkommen würde aus dem Atelier? Wieso schluchzte sie dann und legte einfach auf, wo war da der Sinn?

Ihn zu bestrafen, auszuziehen, sich von ihm zu trennen und bei all ihren Freundinnen anzuschwärzen, das hätte Sinn ergeben. Wenn das auch nur im Entferntesten ihr Stil gewesen wäre. Wenn sie irgendwelche Freundinnen gehabt hätte.

Jan drückte nochmals auf die Abspieltaste, und während der Anrufbeantworter die mysteriöse Botschaft ein weiteres Mal abspielte, ging er zur Küchenzeile hinüber, um sich einen Kaffee zu machen. All das würde sich klären, sobald er ihren Schlüssel im Schloss hören würde.

Was ihn daran erinnerte, wie sie ihre Riesentasche auf das Parkett gewuchtet und ihn mit diesem Blick angesehen hatte, dieser seltsamen Mischung aus kindlichem Trotz und … Hilflosigkeit?

Nein, das traf es nicht ganz.

Da war Schmerz in ihrem Blick gewesen, das wurde Jan in diesem Moment mit überraschender Deutlichkeit klar. Da war immer ein Schmerz gewesen, und der war nie ganz aus ihren Augen gewichen, nicht für eine Sekunde.

»Ich liebe dich, Katrina«, flüsterte er. »Ich liebe dich so sehr«, und meinte: Komm zurück, komm zurück und geh nie wieder fort, denn ich brauche dich. Mehr als alles andere.

Verflucht, er heulte schon wieder, während er das Pulver in die Maschine kippte und vergaß, der wievielte verdammte Löffel das war. Da saß er, das Telefon in der Hand und erzählte dem Loft geflüsterte Liebesschwüre, und ihm fiel nicht mal auf, wie dämlich das war oder wie nutzlos.

Diese Erkenntnis kam erst viel später.

4

Nachtodyssee

Noch 24 Tage

Jan starrte in seinen Kaffee. Inzwischen schrieb er wieder oben in seinem Zimmer. Er war ein bisschen stolz auf sich, weil er bis jetzt noch keinen Wodka reingetan hatte in den Kaffee, außer dem zum Wachwerden.

Er hatte fast gar nicht an Katrina denken müssen.

Und er war mit dem Buch vorangekommen.

Lizzy hatte inzwischen einen jungen Russen kennengelernt, der in der Klinik als Pfleger arbeitete. Sie ließ sich von ihm Stoff in die Klinik schmuggeln, im Austausch gegen körperliche Zuwendung. Wobei körperlich hier wörtlich zu nehmen war, denn eigentlich war Lizzy lesbisch, schon mal aus Feminismusgründen. Dann war da natürlich noch »Deus Ex« Bernd, den die Russen mal böse vermöbelt hatten und der natürlich auch in Lizzy verschossen war.

Prima.

Jede Menge Drama. Und aus dem Leben gegriffen, denn eine Lizzy, wenn auch unter anderem Namen und in einer anderen Entzugsklinik (und ganz und gar nicht lesbisch) hatte Jan tatsächlich einmal kennengelernt. Auch für sie hatte es nicht gut geendet im echten Leben.

Leichenfledderei mochten die einen sagen. Eine gute Story, sagte Jan. Alle guten Storys waren schließlich aus dem Leben gegriffen. Zumindest die, die zu erzählen es sich lohnte.

Inzwischen gab es sogar einen richtigen Arbeitstitel zu »neues Buch«.

NACHTODYSSEE

Okay, vielleicht noch nicht das Gelbe vom Ei, aber die Richtung stimmte.

Es klingelte.

Jan fuhr herum und war sofort raus. Sprang auf, hüpfte in Rekordzeit die Treppe runter und drosch seinen Daumen auf die Gegensprechanlage.

Katrina.

Sie musste es sein, sie war zurück. Und was immer es kostete, er würde sie nie wieder gehen lassen.

Selbst wenn es bedeutet, dass du niemals …?, fragte die Stimme in seinem Kopf. Ach, halt die Klappe, antwortete Jan und die Stimme gab auf, für den Moment.

Es war nicht Katrina.

Natürlich nicht. Denn Katrina hatte ja den Schlüssel, nicht wahr? Wieso sollte sie klingeln? Verdammter Idiot. Es war auch niemand an der Gegensprechanlage. Das Klingeln kam von oben.

Jan öffnete die Tür.

»Hi«, sagte Ildikó und strahlte ihn an.

»Hey«, antwortete Jan und erschrak ein bisschen, als er bemerkte, wie enttäuscht sich das anhörte.

»Ähm, alles klar?«, fragte Ildikó.

»Klar, ich … na ja, ich war in Gedanken.«

»Oh. Ich hab dich unterbrochen, beim …?«, fragte sie und grinste zweideutig genug, um Jan ein kleines Lächeln zu entlocken.

»Beim Schreiben, ja. Beziehungsweise beim Kaffeetrinken. Auch einen?«

»Nee, ich hab Hunger.«

Jan musste unwillkürlich grinsen. Das war wieder so ein typisches Ildy-Ding. »Okay«, sagte er. »Und?«

»Wollte mir grade einen Auflauf machen. Aber nachdem ich eine Viertelstunde nach der blöden Form gesucht habe, fiel mir ein …«

»Oh Scheiße. Katrina.«

»Jep. Ich habe sie ihr geliehen. Vor zwei Wochen oder so.«

»Verstehe. Und jetzt hält sie sie als Geisel.«

»Sozusagen.«

»Hm. Glaube nicht, dass ich dir da von Nutzen sein kann. Ich benutze die Küche eigentlich nur zum …«

»Kaffeekochen?«

»Hauptsächlich. Willst du reinkommen und selbst danach suchen?«

Ildikó kam rein, und sie suchte. Beziehungsweise ging sie zielgerichtet auf einen Schrank zu, öffnete ihn und zog die Form heraus.

»Na so was. Da ist sie«, sagte Jan.

»Da ist sie. Und schau mal, hier ist ein Zettel drangeklebt, da steht ›Ildikó‹ drauf. Seltsam, oder?«

»Sorry. Muss es wohl irgendwie übersehen haben.«

»Künstler.«

»Kein Grund für Beleidigungen.«

Ildikó klemmte sich die Form unter den Arm und ging zur Tür. Dort drehte sie sich um. »Willst du auch was? Von dem Auflauf, meine ich. Wie ich mich kenne, mache ich eh wieder zu viel.«

»Essen«, murmelte Jan. Gute Idee. Wann hatte er zum letzten Mal etwas anderes als Kaffee (oder Wodka) zu sich genommen?

»Okay. In einer halben Stunde oder so bin ich wieder hier«, sagte Ildikó und ging zurück ins Treppenhaus. »Du besorgst den Wein.«

»Wein? Ist grade mal …« Jan sah sich suchend nach einer Uhr um.

»Beinahe vier«, sagte Ildikó kopfschüttelnd. »Und irgendwo auf dieser Welt ist die Sonne bestimmt längst untergegangen.«

»Vermutlich.«

Eine halbe Stunde später klingelte es erneut. Als Jan die Tür öffnete, schwappte der Duft des Nudelauflaufs förmlich in die Wohnung. Jans Magen zog sich schmerzhaft zusammen.

»Vegan?« Jan rümpfte die Nase.

»Jawohl, Herr Schriftsteller. Wirst schon nicht dran sterben.«

Jan zuckte mit den Schultern und nahm ihr die Form ab, mitsamt den Topflappen, und trug das Ganze in die Küche, wo er den Tisch gedeckt und eine Weinflasche dazugestellt hatte.

»Hatte nur noch Weißen«, sagte er.

»Perfekt.«

Ildikó setzte sich, Jan schenkte ihr und sich von dem Wein ein, dann begann er zu essen.

»Ist gut«, nuschelte Jan mit vollem Mund.

Ildikó nickte lächelnd, während Jan Auflauf in sich hineinschaufelte.

»Okay«, sagte sie dann. »Erzählst du’s freiwillig oder brauche ich die Daumenschrauben?«

Jan blickte von seinem Teller auf. Seine Gabel mit einem Bissen Auflauf hing in der Luft zwischen dem Teller und seinem Mund.

»Sie ist weg«, sagte Ildikó. »Katrina. Seit über einer Woche, stimmt’s? Da habe ich euch gehört und es klang nicht gerade nach trauter Zweisamkeit. Eher nach einem ausgewachsenen Krach. Sorry, aber die Wände sind ziemlich dünn hier oben. Und dann – nichts mehr, seit einer Woche. Nur noch dein Geschlurfe die Treppe rauf und runter. Bis spät in die Nacht.«

»Ich …«, begann Jan, »wir …«

»Und, wenn ich mir das mal erlauben darf, du siehst aus wie ausgekotzt und in den Rinnstein gespuckt.«

»Na danke schön.«

Ildikó nickte. »Also, was ist los? Zumindest habe ich dich keinen zusammengerollten Teppich nach unten tragen sehen, daher nehme ich an, dass sie noch lebt. Also, was ist passiert?«

»Sie ist für ein paar Tage in ihr Atelier gezogen.«

»Shit. So schlimm?«

»So schlimm.«

»Willst du drüber reden?«

»Ich hab schon drüber geredet. Das heißt, ich hab’s versucht. Mit ihr.«

»Böser Fehler.«

»Kann man sagen, ja. Aber …«

»Aber es musste raus, oder?«

»Vermutlich. Muss es wohl immer noch.«

»Dann lass es raus«, sagte Ildikó. »Und reich mir mal die Flasche rüber, Geizkragen.«

Jan reichte ihr die Flasche, und dann begann er zu erzählen.

»Es war wegen der Kinder. Das habe ich mir zumindest eingeredet. Dass das der Grund war für alles. Katrina, also – sie wollte keine. Kinder, meine ich. Unter keinen Umständen, hat sie gesagt. Du weißt ja, wie sie sein kann.

Sie hatte kaum Freunde, ich meine keine richtigen. Hat es sogar geschafft, den Spinnern aus dem Weg zu gehen, mit denen man abhängen muss, um sich in ihrem Geschäft einen Namen zu machen. Du weißt schon, die Kunstszene und all das.

Sie war schon immer zurückgezogen. Keine Freunde – und soweit ich weiß auch keine Familie. Sie hat nie von ihrer Vergangenheit gesprochen, und als ich mal nachgefragt habe, hat sie mich gebeten, das nie wieder zu tun. Schwere Kindheit, nehme ich an. Kenne ich ja selbst ganz gut. Muss ich auch nicht jedem auf die Nase binden, den Scheiß.

Also habe ich das akzeptiert und mich nicht wieder danach erkundigt. Muss jeder selbst mit klarkommen, oder? Kommt mir jetzt natürlich wie der bequeme Spruch eines selbstsüchtigen Arschlochs vor. Vielleicht hätte ich doch nachfragen sollen. Scheiße, ich weiß es nicht.

Andererseits war es vielleicht genau das, warum es damals bei uns Klick gemacht hat. Kaputte Seelen, die an der gleichen Stelle verwundet sind oder so was. Nun hör dir das an, der Schriftsteller gibt wieder mal Lebensweisheiten von sich. Furchtbar.

Sie hat immer gesagt, dass ich gut für sie sei, für ihre Seele. Das hab ich ihr geglaubt. Na ja, inzwischen bin ich mir da nicht mehr so sicher.

Dachte halt, dass es doch gut läuft und alles irgendwie seinen Gang geht. Wir sind beide keine Freunde von Menschenansammlungen, sondern sind halt lieber unter uns. Irgendwann habe ich mir gedacht, dass es doch cool wäre, ein kleines, schreiendes Bündel durchzufüttern, oder sogar zwei. Unseren kleinen Kokon ein bisschen aufzufüllen. Was Sinnvolles in die Welt setzen, weißt du? Was Lebendiges.

Aber von Kindern wollte sie überhaupt nichts wissen. Manchmal hat sie regelrecht panisch reagiert, wenn ich ihr mit dem Thema gekommen bin. Da war kein Weg ran.

Also hab ich auch das irgendwann geschluckt und es nicht mehr aufs Tableau gebracht. Aber wie das so ist. Gedanken, die man zum Schweigen bringt, gären und irgendwann … irgendwann sind sie wieder da. Meistens dann, wenn man das grad gar nicht gebrauchen kann.

Schon möglich, dass ich ihr was vorgespielt habe, als ich sagte: ‚Okay, dann lassen wir das eben mit den Kindern, kein Problem. Wir haben ja uns.‘ Aber ich habe mir auch selbst was vorgemacht. Es gärte, wie gesagt. Wurde regelrecht zur fixen Idee bei mir. Manchmal war ich richtig wütend auf sie, weil sie … na ja, ich meine, das ist doch total untypisch für Frauen, oder? Normalerweise wollen die doch Kinder bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Ach, Scheiße … wie das schon wieder klingt. Na ja, du weißt, wie ich das meine. Grins nicht so blöd, es ist ’ne statistische Tatsache. Hat mit unseren Urinstinkten zu tun.

Und weiter? Weiter war ich letzte Woche im Eck. Nur auf ein Bier oder zwei. Nach der Ausstellungseröffnung im Kunstkreuz. Ihrer Ausstellung. Wo sie diesmal sogar kurz aufgetaucht ist, zur allgemeinen Verwunderung. Aber dann wollte sie plötzlich nach Hause. Zu viele Leute, sagte sie. Na ja, ich hatte mich gerade mit Martin unterhalten, das ist der Galerist da, und sagte, ich käme dann später nach.

Also sind wir dann noch in den Klub, Martin und ich. Plötzlich taucht da dieses Mädchen auf, Matilde. Scheiße. Da war ich dann schon ein wenig über das zweite Bier hinaus. Martin auch, also ist er ab nach Hause. Die Kleine ist mir vorher schon auf der Ausstellung aufgefallen und wie sie da so vor mir steht, begreife ich, dass das kein Zufall war.

Jung, Studentin vermutlich. Ziemlich hübsch, ein bisschen aufgetakelt, aber so sind sie halt in dem Alter. Blond übrigens. Sie hat mich dann komplett angequatscht und ich dachte wohl irgendwas in die Richtung: Hey, mal jemand ohne Sozialphobie, großartig. Sie war unterhaltsam. Lustig. Hat mir etwas vorgeschwärmt, wie toll sie Katrinas Bilder finde. Und … ach Scheiße, willst du dir diesen ganzen Mist wirklich antun? Ist schlimmer als jede Seifenoper, glaub mir.

Also gut, wir landeten bei ihr, was hast du erwartet? Bei Matilde, meine ich.

Nein, nicht im Bett. Also nicht gleich. Eigentlich überhaupt nicht, wenn du es genau wissen willst. Aber auf der Couch, noch ein bisschen Wein und irgendwann lagen wir auf dem verdammten Küchentisch, irgend so ein klappriges Ding vom Sperrmüll. Nein, ich bin kein Snob, ich sag ja bloß.

Ich erspare uns beiden jetzt mal den Mist von wegen ich wollte das eigentlich nicht. So was ist nie wirklich ein Versehen, egal, wie besoffen man ist. Oder wie frustriert. So was hat immer einen Grund. Das war, weil da was gärte in mir. Weil ich glaubte, das jetzt zu brauchen. Wegen der Kinder, die ich nie haben würde. Ach Scheiße. Was weiß ich.

Die Kleine hat jedenfalls genau gewusst, wie sie meine Fäden ziehen muss, und es kam, wie es kommen musste. Gott, war ich hinüber.

Und was mache ich Idiot? Wecke Katrina, kaum dass ich zu Hause bin, und beichte ihr alles, besoffen und fertig wie ich war.

Aber was hätte ich denn tun sollen?«

»Du hast es ihr gebeichtet?«

»Ja.« Jan starrte düster auf seinen Teller. »War wohl ein Fehler.«

»Das war es. Weil es nicht Katrinas Schuld ist.«

»Natürlich ist es nicht ihre Schuld, aber …«

»Und deswegen ist es irgendwie unfair, dein schlechtes Gewissen auf ihr abzuladen, findest du nicht?«

»Was hätte ich denn tun sollen, es ihr verschweigen?«

»Vielleicht. Du hast Mist gebaut, also musst du damit klarkommen. Du. Nicht sie.«

»Stimmt. Aber … das könnte ich nicht. Sie anlügen, das brächte ich nicht fertig. Sie ist so … ich meine … ich glaube, sie hat sonst überhaupt niemandem, dem sie vertraut. Ich hab’s verbockt. Scheiße.«

»Du hast richtig Mist gebaut.«

Jan nickte. Ildikó stand auf.

»Hat sie sich schon bei dir gemeldet?«

»Gestern. Sie hat was auf dem AB hinterlassen. Dass es ihr leidtue. Ich glaube, sie hat geweint.«

Ildikó lächelte und wuschelte durch Jans schwarze Locken.

»Dann kommt sie zurück. Gib ihr ein paar Tage. Und verbock es nicht noch mal.«

»Bestimmt nicht«, sagte Jan, »ich liebe sie. Darauf kannst du Gift nehmen.«

»Mach ich«, sagte Ildikó lächelnd. »A propos. Wie war der Auflauf?«

»Spitze!«, rief Jan. »Nee, im Ernst, vielen Dank. Das hab ich gebraucht. Was Vernünftiges zu essen.«

»Und jemanden zum Reden.«

»Auch das, ja.«

»Gut.« Ildikó ging zur Tür. »Ich lass dir den Rest da. Kannst du dir in die Mikrowelle stellen heute Abend. Bring mir die Form dann einfach irgendwann zurück.«

»Okay.«

»Aber diesmal nicht erst in zwei Wochen, okay?«, drohte sie mit erhobenem Zeigefinger, und Jan grinste. Dann fiel die Tür hinter ihr ins Schloss.

In diesem Moment klingelte das Telefon.

Jan starrte auf die Basisstation. Sofort war die Panik wieder da. Die rote LED schrie ihn förmlich an. Die Station war leer.

Er musste das Mobilteil mit nach oben genommen haben. Um Katrinas Anruf nicht noch mal zu verpassen, natürlich. Er stürzte die Treppe nach oben, dem Klingeln nach. Als er die Stufen hinaufhastete, knallte er mit der Hüfte gegen das Geländer. Plötzlich durchzuckte ihn etwas, das weit mehr als eine Ahnung war, und nur eine Winzigkeit weniger als eine Gewissheit.

Katrina.

Er rannte weiter.

Als er oben ankam, pochte sein Herz, als hätte er gerade einen Sprint hingelegt. Seine Kehle war wie zugeschnürt, als er sich hektisch nach dem Plastikgehäuse des Telefons umblickte. Es lag auf seinem Schreibtisch. Lag da und quäkte sein schrilles, elektronisches Wimmern durch den Raum. War das Ding schon immer so verdammt laut gewesen?

Etwas war passiert.

Jan spürte, wie ihm etwas die Kehle hinaufkroch, das Angst sein mochte oder auch Ildikós Auflauf, oder beides. Er nahm das Telefon vom Tisch und hätte es beinahe fallen lassen, so sehr zitterte seine Hand dabei.

Etwas Schreckliches.

Reiß dich zusammen, Chernik.

Dann drückte er den Knopf für die Rufannahme.

»Ja?«

Bitte sei Katrina. Um alles in der Welt, sei Katrina.

Sie war es nicht. Eine männliche Stimme meldete sich.

»Herr Chernik?«

»Ja?«

Wenn das einer dieser bescheuerten Werbefritzen war, dann gnade ihm Gott.

Aber es war kein Werbefritze, und auch kein Journalist (die hatten es schon vor einer ganzen Weile aufgegeben), und auch nicht das Statistische Bundesamt oder seine Krankenkasse. Da war kein bisschen aufgesetzte Fröhlichkeit in der sonoren Stimme. Nur professionelle Nüchternheit.

»Herr Chernik, es tut mir leid, dass ich Sie um diese Uhrzeit stören muss, aber …«

Was? Welche Uhrzeit? Wie spät war es eigentlich, er hatte doch gerade noch mit Ildikó am Tisch gesessen und … Jan sah sich nach einer Uhr um, während er den Hörer ans Ohr presste.

Wie spät war es?

Wie spät, verdammt?

»K-kein … kein Problem«, stotterte Jan und spürte, wie seine Kniegelenke weich wurden, unter ihm wegzusacken drohten. Er sank auf den Stuhl.

»Wer sind Sie denn?« Das hatte leichthin klingen sollen, aber der Versuch misslang gründlich.

»Mein Name ist Doktor Löwitsch, Herr Chernik, Uniklinik Leipzig.«

Jan hörte zu, was Doktor Löwitsch zu sagen hatte, ohne ihn ein einziges Mal zu unterbrechen. Als der Mann fertig gesprochen hatte, sagte Jan: »Ja. Ich komme sofort.«

Dann drückte er die rote Auflegen-Taste, bevor seine Beine unter ihm nachgaben. Kraftlos sackte er zusammen und rutschte vom Stuhl. Das Telefon fiel aus seiner Hand und knallte auf den Fußboden. Wie durch ein Wunder blieb es unversehrt.

Was man von Jan Chernik nicht behaupten konnte.

5

Die Rose

30. Oktober 1994

»Meinst du, er steckt in Schwierigkeiten?«, fragt die Frau besorgt.

Der Mann am Steuer des Wagens würdigt sie keiner Antwort. Er hat Mühe, durch die Sturzflut auf den Windschutzscheiben die Fahrbahnmarkierung zu erkennen. Die Scheibenwischer arbeiten auf Hochtouren, aber das genügt kaum, um der Wassermassen Herr zu werden, die auf den Wagen einprasseln. Der Mann kneift die Augen zusammen und drosselt die Geschwindigkeit des Mercedes.

»Sollten wir uns Sorgen machen, Theodor?«, fragt die Frau.

»Das sollten wir nicht«, sagt der Mann. »Es steht zu viel auf dem Spiel.«

»Wie meinst du das?«

»Vor allem sollten wir nicht in Panik verfallen, Schatz. Vielleicht hat er den Termin nur verschwitzt.«

Sie schweigt.

»Das kommt schon mal vor«, sagt er. »Kein Grund gleich die Pferde scheu zu machen. Vielleicht hat er nur Lieferprobleme. Manchmal dauert es eben ein bisschen.«

»Aber er war doch immer so zuverlässig«, sagt die Frau. Ein Anflug von Trotz hat sich in ihre Stimme geschlichen.

»Eben«, sagt der Mann. »Sicher wird er sich morgen bei uns melden oder bei Breuer, und dann wird sich diese ganze Sache aufklären.«

»Meinst du?«

»Ganz bestimmt. Kein Grund zur Sorge, Liebes. Ich bin sicher, er …«

»Theodor!«, kreischt die Frau.

Sie starrt mit weit aufgerissenen Augen durch die Windschutzscheibe. Dann sieht er es auch. Der Mann tritt instinktiv und viel zu stark auf die Bremse. Für einen Moment droht der Wagen auszubrechen, doch dann setzt das ABS ein und der Fahrer bekommt den Wagen wieder unter Kontrolle. Der Mercedes schlittert, dann graben sich seine Reifen in den Schlamm, und er kommt zum Stehen.

Mitten auf der regenüberspülten Fahrbahn steht ein Kind.

Ein Mädchen.

Lange, regennasse Haare kleben ihr im Gesicht und auf den Schultern. Absurderweise trägt sie ein weißes, knöchellanges Kleid. Wie ein Gespenst – oder vielmehr, wie ein Kind sich ein Gespenst vorstellen würde.

Der Mann schaltet die Warnblinker an, in der aberwitzigen Hoffnung, dass nachfolgende Fahrzeuge diese rechtzeitig bemerken werden, um keinen Auffahrunfall zu verursachen. Dann springt er aus dem Auto, hinaus in den strömenden Regen und läuft auf das Kind zu. Als das Mädchen seine Schritte im Schlamm quietschen hört, hebt es den Kopf. Große Augen starren ihn ohne jede Spur von Verständnis aus einem schmutzverkrusteten Gesicht an.

Das muss der Schock sein, denkt er.

Das Mädchen zittert. Große Regentropfen perlen aus seinen verfilzten Haaren. Ihr Nachthemd ist so durchweicht, dass es beinahe durchsichtig ist. Der Mann kann den weißen Baumwollslip erkennen, der sich darunter abzeichnet. Das lange, seltsam altertümliche Kleid ist zerrissen und bis zur Hüfte mit Schlamm bedeckt. Ihre nackten Füße und die Beine sehen aus, als wäre sie stundenlang durch einen Sumpf gewatet.

Der Mann streckt dem Mädchen seine Rechte entgegen, aber sie schaut die dargebotene Hand nur voller Unverständnis an.

»Du musst von der Straße runter«, sagt der Mann. »Komm, ins Auto. Schnell. Hier ist es nicht sicher für dich.«

Das funktioniert aus irgendeinem Grund. Das Mädchen wendet ihren Blick von der ausgestreckten Hand ab und dem Gesicht des Mannes zu. Dann macht sie einen wackligen Schritt auf ihn zu. Bleibt wieder stehen.

Inzwischen hat auch die Frau das Kind erreicht. Sie hat eine Decke aus dem Wagen mitgebracht und legt sie dem zitternden Mädchen um die Schultern. Das Mädchen öffnet seine blau gefrorenen Lippen, als versuchte sie, irgendetwas zu sagen. Das einzige Geräusch, das sie herausbringt, ist das Klappern ihrer Zähne.

Die Frau geht in die Hocke. Sie lächelt. Keine Reaktion.

»Komm schon«, sagte die Frau und greift sanft nach der Hand des Mädchens. »Du musst ins Warme, Kleines, sonst holst du dir noch den Tod.«

Das Mädchen lässt sich ohne Widerstand von der Frau zum Wagen führen. Sie steigen ein, auf der Beifahrerseite, und die Frau nimmt das Mädchen auf den Schoß.

»Du armes Ding«, sagt die Frau und schraubt den Deckel von der Thermoskanne und füllt ihn etwa halb voll. »Hier ist ein bisschen Kaffee. Du wirst ihn vielleicht etwas bitter finden, aber er wärmt schön durch, ja? Wir können ein wenig Zucker reintun, dann ist er nicht so bitter.«

Sie öffnet das Handschuhfach, langt an dem Seil vorbei zu dem kleinen Vorrat mit Zuckerpäckchen. Sie nimmt drei davon, öffnet sie und schüttet den Inhalt in den Becher der Thermoskanne. Dann rührt sie den Kaffee mit ihrem Zeigefinger um. Dabei lächelt sie das Mädchen an, das immer noch auf einen undefinierbaren Punkt jenseits der Windschutzscheibe starrt. Schließlich gelingt es ihr, den Becher in die zitternden Hände des Kindes zu drücken. Vorsichtig legt das Mädchen den Becher an die Lippen und trinkt.

Einen kleinen, vorsichtigen Schluck, dann noch einen.

»Na siehst du«, sagt die Frau und diesmal scheint das Mädchen ihre Stimme gehört zu haben. Die Kleine wendet ihr das schmutzverkrustete Gesicht zu, dann nimmt sie noch einen Schluck, während ihr Kopf bereits auf die Brust der Frau sinkt.

»Oh je«, sagt die Frau leise und streicht dem Mädchen sanft über das verfilzte, klatschnasse Haar. »Du brauchst dringend ein schönes, heißes Vollbad.«

Der Mann startet schweigend den Wagen.

»Du armes Ding«, sagt die Frau, aber das Mädchen ist bereits eingeschlafen. Den leeren Kaffeebecher hält sie umklammert wie einen teuren Schatz, als sie leise zu schnarchen beginnt.

Dann fahren sie weiter.

»Jan!«, rief Ildikó, »verdammt, komm doch erst mal runter. Beruhige dich, Herrgott. Mann, ist das etwa Blut auf deiner Stirn? Oh, verdammt. Komm rein, ich muss dich erst mal verarzten und dann erzählst du mir, was los ist …«

Ein Blick in Jans Augen ließ Ildikó verstummen. Das Blut an seiner Stirn war das eine. Eine kleine Platzwunde, schmerzhaft, aber nichts Schlimmes. Aber seine Augen – Jan öffnete den Mund und stieß ein einzelnes Wort hervor.

»Katrina …«

Er drohte wieder wegzukippen, aber diesmal hielten ihn der Türrahmen und Ildikó davon ab.

»Was, Jan?«, fragte sie, »was ist mit ihr? Hat sie angerufen? Ist … Ist ihr etwa was passiert?«

»Sie … Ich … Ildikó«, stammelte Jan und dann sackte er doch weg, Türrahmen oder nicht. Dann lag er vor ihr auf den Knien, erbärmlich bis zum Gehtnichtmehr und schaute aus verheulten Augen zu ihr hoch.

Dann kapierte Ildikó endlich, dass es diesmal nicht der Alkohol war oder die Beule an seinem Kopf.

Etwas Furchtbares war passiert.

Institut für Rechtsmedizin, Uniklinikum Leipzig

Dr. Löwitsch begrüßte Jan mit einem festen Händedruck. Professionell wie seine Stimme am Telefon. Ein Teil von Jans Bewusstsein – der verschwindend kleine Teil, der noch zu so etwas wie klaren Gedanken fähig war – fragte sich, wie oft dieser Mann derartige Botschaften wohl schon überbracht hatte. Hunderte Male? Tausend?

»Herr Chernik, mein Beileid«, sagte Löwitsch und warf dann einen fragenden Blick auf Ildikó. »Sind Sie eine …«

»Frau Szekeres«, sagte Jan. »Unsere Nachbarin. Sie … sie hat mich hergefahren. Ich kann … konnte nicht.«

»Verstehe«, sagte Löwitsch und schaffte es, so zu klingen, als täte er das tatsächlich. »Das war sehr vernünftig von Ihnen unter den gegebenen Umständen. Fühlen Sie sich in der Lage, um …?«

Löwitsch ließ das Ende der Frage in der Luft hängen und machte eine vage Handbewegung zu einer Tür im Gang hinter ihm.

»Was …« Jan versuchte ein schiefes Lächeln und sofort schossen ihm die Tränen wieder in die Augen. Der Flur verschwamm zu einem diffusen Farbmatsch. »Was glauben Sie denn, wie ich mich fühle?«, flüsterte er. Mehr als flüstern konnte er nicht mehr.

Löwitsch nickte und wandte sich dann an Ildikó. »Sie sind keine Verwandte von Frau Nowak?«

Ildikó schüttelte den Kopf. »Wir sind nur Nachbarn.«

»Verstehe. In dem Fall, wenn Sie uns bitte kurz entschuldigen würden.«

Löwitsch deutete auf drei chromblitzende Polstersessel. Ildikó setzte sich in den mittleren, nachdem sie Jan ein aufmunterndes Lächeln geschenkt hatte.

»Es wird nicht lange dauern«, sagte Löwitsch.

Dann öffnete er Jan die Tür.

Nein, dachte Jan, während er den weiß gefliesten Raum betrat, es wird nicht lange dauern. Das tut es nie, nicht wahr? Die wirklich wichtigen Dinge passieren immer zwischen zwei Flügelschlägen eines Kolibris. Viel zu schnell, um hinzuschauen. Gerade eben ist man noch da, erschafft sich selbst in einer Illusion, die man Leben nennt, und im nächsten Augenblick – aus und vorbei. Einfach so. Er spürte, wie eine einzelne Träne seine Wange hinabrann, aber er machte sich nicht die Mühe, sie fortzuwischen.

Löwitsch führte ihn zu einem der Tische aus Edelstahl. Zumindest nahm Jan an, dass es sich um Edelstahl handelte, damit man … er spürte, wie etwas in seinem Magen zu revoltieren begann, und konzentrierte sich rasch wieder auf Löwitsch.

Der Tisch, vor dem sie nun standen, war der einzige, der mit einem weißen Laken bedeckt war. Daneben stand ein kleiner Beistelltisch.

»Muss ich …«, fragte Jan.

Löwitsch schüttelte den Kopf.

»Wir haben ein paar persönliche Gegenstände gefunden. Es genügt, denke ich, wenn Sie diese als ihre identifizieren.«

Löwitsch deutete auf den Beistelltisch. Da war ihr iPod. Oder ein beliebiger iPod. Herrgott, es mussten Millionen von den Dingern existieren. Und dann war da der Armreif.

»Herr Chernik?«, fragte Löwitsch, als Jan gegen das Tischchen prallte. Klirrend fielen der iPod und ein paar der anderen Dinge zu Boden.

Der Armreif. Den er ihr geschenkt hatte. Der einzige Schmuck, den sie je getragen hatte.

»Es erinnert mich an dich«, hatte sie gesagt.

Aber es war nicht der richtige Armreif. Konnte nicht der richtige sein. Dieser hier war verbogen, ein Ende war zu einem Klumpen zusammengebacken. Nein, ein völlig anderer Armreif.

Jan rappelte sich auf, wollte den iPod und den Armreif aufheben und zurück auf das Tischchen legen. Die Sache war bloß die: Es war ihm unmöglich, sie anzufassen. Sie anzufassen hätte bedeutet, ihnen Gewicht zu verleihen. Zuzugeben, dass sie echt waren.

Es war ein Scherz. Eine Lehre, die sie ihm erteilen wollte. Grausam, aber verdient. Ja, dachte Jan. Der Anflug eines Lächelns zog seine schmerzenden Mundwinkel nach oben. Ein morbider Scherz, und dieser Löwitsch steckte mit drin. Vielleicht auch Ildikó. Na klar, so musste es sein, und beinahe wäre er drauf reingefallen und … Für den Bruchteil eines Augenblicks kämpfte er gegen den beinahe übermächtigen Drang an, das Laken beiseite zu ziehen. Um sie anzusehen. Sie in seine Arme zu schließen, ihren warmen, geschmeidigen Körper zu spüren und ihr zu sagen, dass er sie liebte. Gar nicht wieder damit aufzuhören, sie nie wieder loszulassen, aber …

Aber das war Bockmist.

Und Jan wusste es.

Sein Verstand weigerte sich noch, diese Tatsache anzuerkennen. Aber er wusste es. Hatte es gewusst, in seinem Herzen, seit das Telefon heute zum ersten Mal geklingelt hatte.

Sie war tot.

Katrina war tot.

Und jetzt, in diesem Moment, wurde ihm mit der Deutlichkeit eines Fausthiebs eine andere Wahrheit bewusst. Er hatte sie ausgesprochen, oft sogar, seit sie ihn das erste Mal verlassen hatte. Aber erst jetzt, im Nachhinein, wurden seine Worte mit Wahrheit erfüllt, mit Gewissheit.

Er hatte Katrina geliebt. Und sie war der einzige Mensch gewesen, auf den das zutraf, sich selbst eingeschlossen.

Bloß hatte er ihr das nie gesagt.

Jan streckte die Hand nach dem Laken aus. Sanft legte sich Dr. Löwitschs Hand auf seinen Unterarm. Stoppte seine Bewegung. Drückte fester zu, bis Jan es mitbekam. Jan drehte sich zu dem Arzt um.

»Wie ist sie …? Ich meine … was ist passiert?«, fragte Jan. Weil man das vermutlich fragen musste.

Löwitsch schenkte ihm einen eindringlichen Blick, dann sagte er: »Ihr Wagen ist gegen einen Pfeiler geprallt, am Fahrbahnrand. Ihr Körper ist komplett … sie erlitt sehr schwere Verbrennungen.«

Jan nickte, aber das, was Löwitsch sagte, drang nur wie durch einen schweren Vorhang zu ihm durch.

»Sie verstarb noch an der Unfallstelle, höchstwahrscheinlich bei dem Aufprall oder kurz danach. Es dauerte schätzungsweise eine halbe Stunde, bis schließlich jemand vorbeikam. Ein älteres Ehepaar. Sie haben die Rauchsäule bemerkt und haben angehalten, um nachzusehen, und dann sofort den Notruf ausgelöst. Frau Nowaks Wagen war die Böschung hinuntergerollt, nachdem es zur Kollision gekommen war, deshalb konnte man ihn nicht so gut von der Straße aus sehen, außerdem war da der Regen. Der Wagen war bereits vollständig ausgebrannt, als die Polizei und die Rettungskräfte vor Ort eintrafen.«

»Ausgebrannt?«, murmelte Jan.

»Ja. Deswegen habe ich Ihnen nur die Gegenstände gezeigt. Ich wollte Ihnen den Anblick nach Möglichkeit … Herr Chernik!«

Jan schaffte es gerade noch, sich eine Hand vor den Mund zu pressen, dann hastete er zum nächsten Spülbecken und übergab sich lautstark, während der Arzt sich in gemurmelten Entschuldigungen erging.

»Es tut mir leid, ich hätte Ihnen das nicht sagen sollen.«

Jan fummelte an dem Wasserhahn über dem Spülbecken herum, aber irgendwie schien er vergessen zu haben, in welche Richtung man das Ding aufdrehte.

»Schon gut«, sagte Löwitsch, »ich mache das später, lassen Sie nur.«

Jan ließ es und lehnte sich mit geschlossenen Augen an die Wand neben dem Spülbecken.

»Herr Chernik?«

Jan schlug die Augen auf und starrte den verschwommenen weißen Fleck an, der vermutlich Löwitschs Gesicht war. Wie lang sollte diese Tortur noch gehen?

»Herr Chernik, ich würde gern noch kurz mit Ihnen sprechen. In meinem Büro.« Überall, dachte Jan, solange es nicht hier ist. Nicht in diesem furchtbaren Raum, in dem die Liebe der Menschen in Brand gesteckt, in Stücke gerissen und in Waagschalen gepackt wird. Überall, bloß nicht hier.

Er nickte.

In dem Moment öffnete sich die Tür zum Flur. Ein älterer Mann in einem irgendwie zerknittert wirkenden Anzug steckte seinen Kopf in den Raum und sagte:

»Oh.«

»Kommissar«, sagte Löwitsch. »Ich bin gleich für Sie da. Geben Sie uns noch fünf Minuten, bitte?«

Der Mann nickte erst in Löwitschs Richtung, dann zu Jan, wohl gleichermaßen ein Gruß wie eine Entschuldigung. Dann zog der Mann sich zurück und schloss leise die Tür zum Gang.

Löwitsch bugsierte Jan auf einen bequemen Sessel in einem pedantisch aufgeräumten Büro. Wortlos öffnete der Arzt ein Fach in seinem Schreibtisch und verharrte dann mitten in der Bewegung.

»Ihre Nachbarin wird Sie auch wieder nach Hause fahren?«

Jan nickte.

»Gut«, sagte Löwitsch und holte eine Flasche und ein Glas aus dem Schreibtischschränkchen. Er stellte beides vor Jan auf den Tisch, öffnete die Flasche und füllte das Glas zwei Fingerbreit.

»Trinken Sie.«

Jan trank. Das war einfach.

»Ich will offen zu Ihnen sein, Herr Chernik. Das heißt, wenn Sie es verkraften. Glauben Sie, dass Sie noch etwas verkraften nach …«, er nickte leicht in Richtung Obduktionssaal, »nach dem da drinnen?«

»Daher der Scotch, wie?« Jan lächelte matt. Der Whisky begann, seine Wirkung zu tun. Eine wohlige Wärme breitete sich in Jans Magen aus, im krassen Gegensatz zur Kälte in seinen Gedanken.

Löwitsch nickte.

»Ich höre Ihnen zu.«

»Wir haben allen Grund zu der Annahme, dass Ihre Freundin Selbstmord begangen hat.«

»Wie bitte?« Jan verschluckte sich an dem Scotch. Hustete, beruhigte sich wieder. Was Löwitsch sagte, drang wie durch einen Wattebausch zu ihm durch. Vermutlich war genau das die Absicht gewesen.

»Ja, die Spuren am Unfallort waren unmissverständlich. Sie ist, äh … ungebremst gegen einen Pfeiler gerast. Der Pfeiler gehört zu einer abgesperrten Brücke, die seit Jahren nicht mehr benutzt wird. Sie steht am Randstreifen einer schnurgerade Straße – sie hat offenbar willentlich drauf zugehalten. Sie hat sich sogar eine wenig befahrene Straße ausgesucht, um niemanden zu gefährden. Zumindest nehmen das die ermittelnden Beamten an.«

»Aber das ist unmöglich.«

Löwitsch nickte. »Ich verstehe Ihre Reaktion.«

»Sie würde niemals …«

Aber genau das würde sie, nicht wahr? Darauf achten, dass sonst niemand gefährdet wird. Wenn sie so etwas tun würde, dachte Jan, und die Kühle seiner Gedanken überraschte ihn, dann auf diese Weise. Das war ganz und gar Katrina.

Löwitsch legte seine Hand auf Jans Arm. »Ich sah keinen Grund, Ihnen das vorzuenthalten. Die Polizei wird sich natürlich noch an Sie wenden, aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass man schlechte Neuigkeiten etwas besser verdaut, wenn man sie auf einen Schlag bekommt, anstatt Stück für Stück und auf mehrere Tage verteilt.«

Vielleicht war es das, was die Sache zur Wirklichkeit werden ließ. Löwitschs Hand auf seinem Arm. Und all das Weiß an den Wänden.

»Sie haben einige Erfahrung darin, wie?«, fragte Jan und spürte, wie die Hitze erneut in seine Wangen schoss.

»Worin?«, fragte Löwitsch leise.

»Im Überbringen schlechter Neuigkeiten.«

Löwitsch dachte nach. »Ja«, sagte er dann, »ich fürchte, das habe ich. Einige.«

»Ich glaube es nicht.«

Löwitsch schwieg.

»Ich glaube einfach nicht, dass sie sich umgebracht hat«, wiederholte Jan. »Wir hatten einen Streit, einen … na ja, eine Auseinandersetzung eben. Sie ist für ein paar Tage in ihr Atelier gezogen. Sie war Künstlerin.«

Löwitsch nickte.

»Aber … sie hat angerufen, erst vor ein paar Tagen. Hat gesagt, dass es ihr leidtue. Ich war sicher, sie würde zurückkommen. Ich war sicher, sie … oh Scheiße.«

Löwitsch sah ihn ernst an.

In dem Moment, da Jan begriff, was er da hervorgestammelt hatte, war es natürlich längst zu spät.

»Oh mein Gott … was, wenn Sie sich wegen mir … Ich meine, wenn sie sich wirklich umgebracht hat, wegen dieser Sache? Wegen mir?«

Löwitsch schob ihm die Flasche hin und Jan goss sich einen weiteren Whisky ein, schüttete das kostbare Getränk vielmehr achtlos in sein Glas und einen guten Teil daneben. Es fiel ihm nicht mal auf. Dann stürzte er die brennende Flüssigkeit hinunter.

Löwitsch schüttelte den Kopf.

»Nein.«

Mit einer energischen Handbewegung schraubte er die Flasche zu und stellte sie zurück in das Schränkchen. Zauberte von irgendwo ein winziges Läppchen hervor und entfernte den verschütteten Whisky vom Tisch. Winzige Finger, dachte Jan. Wie ein Nagetier. Vermutlich war auch daran der Scotch schuld.

»Nein?«, fragte Jan.

»Nein. Sie hat sich nicht deswegen umgebracht, oder weil sie einen schlechten Tag hatte oder warum auch immer Sie glauben mögen, dass sie sich umgebracht hat.«

Löwitsch steckte den Lappen weg und sah Jan ernst an. »Menschen, die ihrem Leben ein Ende setzen, tragen diesen Entschluss in aller Regel lange mit sich herum. Umstände addieren sich auf, Umstände, die ein gesunder Mensch verarbeiten kann. Mit der Zeit. Ein kranker Mensch kann das nicht. Ein kranker Mensch zerbricht daran.«

»Wollen Sie sagen, Sie war …? Ich weiß nicht, gestört oder so was?«

»Manchen Menschen fehlt die Möglichkeit, Dinge zu verarbeiten. Wie ein verstopftes Ventil. Der Druck wird stärker und immer stärker und dann …«

»Aber das hätte ich doch merken müssen. Ich habe mit ihr zusammengelebt, jeden Tag. Ich habe …«

Ich habe sie geliebt«, murmelte Jan, es klang beinahe kleinlaut.

Löwitsch nickte.

Ja, dachte Jan, ich hätte es bemerken müssen. Ihre Ablehnung, ja beinahe schon Angst vor fremden Leuten, ihre absurde Panik, was Kinder betraf, ihre Gemälde und ihre Stimmungsschwankungen. Die Art, wie sie manchmal minutenlang in ihren Kaffee starrte, ohne einen einzigen Schluck zu trinken, bis er kalt geworden war und sie ihn dann wegschüttete.

Manchmal war er nachts aufgewacht, hatte sie leise weinen hören neben sich im Bett.

Wie oft?

Und wie oft hatte er es nicht gehört, weil sie leise genug geweint hatte, um ihn nicht zu wecken?

Ja. Er hätte es bemerken müssen.

Aber hatte er es auch bemerken wollen?

»Nun«, sagte Löwitsch und erhob sich, »die Herren von der Polizei werden sich sicher noch bei Ihnen melden, wie gesagt. Das ist der Standard.«

Wie in Trance stand Jan auf und ließ sich von dem Arzt zur Tür des Büros geleiten.

»Sie legen sich jetzt am besten ins Bett und versuchen zu schlafen. Es wird hart in den nächsten Tagen. In den nächsten Wochen. Aber Sie packen das, das weiß ich. Irgendwann wird es besser, auch wenn es jetzt vielleicht nicht so aussieht. Und halten Sie sich eins vor Augen: Es gab nichts, das Sie hätten tun können. Überhaupt nichts. Vergessen Sie das nicht.«

Oh, wie könnte ich?, dachte Jan. Sie haben ja so recht, Dr. Löwitsch, es gibt nichts, das ich hätte tun können. Aber ich hätte etwas bleiben lassen können. Etwas, das den Ausschlag gegeben hat. Etwas, das den Druck in ihr unerträglich gemacht hat.

Und wissen Sie was, Dr. Löwitsch? Ich glaube nicht, dass dieses Scheißgefühl irgendwann weggeht oder irgendetwas jemals besser wird. Daran habe ich wirklich ernsthafte Zweifel.

»Ich danke Ihnen«, sagte Löwitsch und streckte Jan seine Hand entgegen. Jan bemerkte sie nicht einmal. Ohne ein weiteres Wort ging er durch die Tür und stakste auf das Ende des Ganges zu, wo Ildikó noch immer in dem mittleren Sessel saß, daneben der Kerl mit dem verrutschten Anzug und den traurigen Augen.

Der Mann trug eine Krawatte, die genauso zerknittert war wie sein Anzug. Sie war derart schief gebunden, dass man annehmen musste, dass der Mann nicht oft eine trug oder allgemein nicht allzu viel Wert auf seine Kleidung legte. Aber er schien ein interessanter Gesprächspartner zu sein. Ildikó und er waren in eine leise, angeregte Unterhaltung vertieft.

Als Jan die Reihe mit den Sesseln erreicht hatte, stand der Zerknautschte auf und ein flüchtiges Lächeln flog über sein Bulldoggengesicht, als er Ildikó zum Abschied zunickte. Dann warf er einen letzten, sorgenvollen Blick auf Jan, öffnete die Tür zum Obduktionssaal und schlüpfte geräuschlos hinein.

Jan ließ sich neben Ildikó in einen der Polstersessel fallen.

Minutenlang saßen sie einfach nur schweigend da, während Jan die gegenüberliegende Wand anstarrte. Weiß, wie alles hier. Weiß wie der Wattebausch um seinen Kopf.

Irgendwann verriet Jan dem menschenleeren Gang: »Es war Selbstmord. Katrina hat sich umgebracht.«

»Was? Oh mein Gott, Jan.« Ildikó nahm ihn in ihre Arme, drückte ihn an sich, strich sanft über sein Haar. »Was sagst du da?«

»Selbstmord«, wiederholte Jan und bemerkte, dass ihn etwas auf den Wangen kitzelte, während seine Sicht wieder verschwamm. Vermutlich heulte er wieder. Da war es gut, dass Ildikó ihn hielt. Ihn hielt, bis dieser Scheiß vorbei war.

Nach einer Weile sagte er:

»Lass uns fahren, ja?«

Und das taten sie.

An der Wohnungstür trennten sich ihre Wege.

»Versprich mir, dass du mich rufst, wenn du … wenn du irgendetwas brauchst, ja?«

Jan versprach es.

»Und …« Ildikó zögerte.

Jan fummelte den Schlüssel in das Schloss seiner Tür. Mit einiger Mühe.

»Und übertreib es nicht mit … na ja, du weißt schon. Ruf mich einfach, wenn du jemanden zum Reden brauchst. Oder sonst was. Geh raus, versuch es zumindest mal, okay?«

»Mach ich«, log Jan und brachte sogar ein kleines Lächeln zustande.

Als die Wohnungstür hinter ihm ins Schloss gefallen war, ging er schnurstracks zu einem bestimmten Schränkchen, um etwas Bestimmtes herauszuholen, und dann noch etwas mehr davon. Er suchte alles zusammen, das er in der Wohnung auftreiben konnte.

Dann schleppte er sich zu seinem Bett, legte sich hin und begann zu saufen, in dem festen Vorsatz, nie wieder aufzustehen.

Aus Jan Cherniks Traumtagebuch

Es ist derselbe Traum wie immer. Ich bin wieder in dem unterirdischen Gang. Inzwischen bin ich einigermaßen sicher, dass es sich um einen Stollen handelt. Überall diese unregelmäßig behauenen Wände. Vielleicht ein Geheimgang unter einer Burg? Oder eine Krypta?

Hier sind Holzbalken, welche die Wände abstützen, schief und krumm, so was kenne ich aus alten Western. Ein paar kleine Lampen sind an der Decke aufgehängt, so Bauleuchten in einem Käfig aus Draht. Ein Kabel verbindet sie. Die meisten sind kaputt, man kann die Hand vor Augen kaum erkennen. Hier muss irgendeine Art von Bergbau betrieben worden sein.

Allerdings sehen diese Balken uralt aus, und so, als würden sie jeden Moment einstürzen. Morsche Fäulnis, danach riecht es hier überall. Seltsam, ich wusste nicht, dass man in einem Traum Geruch wahrnehmen kann.

Ich weiß (aber nicht, woher): Der Gang führt irgendwo hin, wenn man ihm weiter folgt, vermutlich ins Innere des Berges. Da ist eine Höhle? Ein Versteck? Irgendetwas. Etwas, vor dem ich Angst habe, weil es mit dem Tod zu tun hat.

Ich folge dem Gang linker Hand. Da ist die Tür, dieses Riesending aus Eisen. Wenn ich sie öffne, werde ich dahinter die Mädchen finden. Sie so zu sehen, bricht mir das Herz. Wenn es nur etwas gäbe, das ich für sie tun könnte, aber das geht nicht. Man würde mich entdecken. Der böse Mann würde es herausfinden.

Dann stehe ich wieder vor der Tür.

Jetzt ist er nicht hier, der böse Mann, aber ich muss leise sein. Er ist nie weit fort. Etwas Schlimmes wird passieren, gleich. Ich weiß es. Das ist der Grund, aus dem ich immer wieder hierher zurückkehren muss. An diesen düsteren Ort des Leidens (und des Todes?), zurück zu dieser Zeit, die längst vergangen ist. Das spüre ich, es ist alte Zeit, und wenn sie ein Gesicht hätte, wäre es die löchrige Fratze einer Mumie.

Ich erreiche die Tür, natürlich ohne wirklich hingegangen zu sein, ich stehe einfach davor.

Diesmal ist sie offen.

Und das ist – aus irgendeinem seltsamen Grund – der absolute Super-GAU. Mein Herz krampft sich zusammen, solchen Schiss habe ich. Das ist der Teil, an dem ich bisher immer aufgewacht bin. Und jetzt weiß ich auch, wieso. Weil der böse Mann mich erwischen wird.

Und dann sehe ich es: Es ist nur noch ein Mädchen da.

Das arme Ding starrt mich aus seinem schmutzverkrusteten Gesicht an, während es panisch in die hinterste Ecke des Raumes (der Höhle?) kriecht. Die schweren Eisenketten um seine Hand- und Fußgelenke geben ein metallisches Klirren von sich, das mich an diese esoterischen Klangschalen aus Indien denken lässt, völlig unpassend. Dumpf hallt das Geräusch nach. Ketten können nicht so klingen. Ganz besonders nicht diese Ketten.

Ich strecke meine Hand nach ihrem Gesicht aus und sehe, dass sie weint. Ihr kleiner, viel zu dünner Körper wird richtig durchgeschüttelt, während sie schluchzt.

Ich berühre ihre Wange. Sie sieht zu mir auf.

Ich spüre ihre Angst, ich kenne diese Angst, denn sie ist identisch mit meiner eigenen. Ich fühle mich ihr nahe, so als … ich weiß nicht. So als wären wir beinahe eins. Vereint in Leid und Angst. Für einen Augenblick spendet uns diese Verbundenheit etwas, das beinahe an Trost herankommt.

Ich spüre, wie etwas meine Hand berührt, sanft und zerbrechlich. Es ist eine Blume (Rose?), die mir das Mädchen in die Hand drückt. Ja, eine Rose.

Dann die Geräusche. Stimmen, die näher kommen.

Der böse Mann.

Panik überschwemmt jetzt alles, das Bild verschwimmt und plötzlich ist das kleine Mädchen weg, nur noch eine blasse Erinnerung: der schmutzigweiße Fleck ihres Nachthemdchens, die Schwärze ihres verfilzten Haars, das blasse Gesicht mit den viel zu großen, dunklen Augen. Die Tränen.

Ich fliehe den Gang entlang, und dort gleite ich in die Schatten, presse mich in einen Felsspalt, werde eins mit der Dunkelheit und den erdigen Gerüchen, die mich umgeben. Nicht einmal der böse Mann kennt dieses Versteck.

Ich halte den Atem an, die Blume in meiner Hand fest umklammert, während die Schritte in dem Gang näher kommen, und das Licht. Ich werde die Blume nicht loslassen, ich darf sie nicht loslassen. Wenn es sein muss, werde ich für immer in dem Versteck zwischen den Steinplatten bleiben. Wo der böse Mann mich nicht finden kann.

Mich nicht und auch nicht die Rose.

Noch 22 Tage

Die Tür zu Jans Wohnung war nur angelehnt, bemerkte Ildikó, und an der Tür wiederum lehnte ein Paket. Eine einigermaßen seltsame Kombination. Möglicherweise sogar eine beunruhigende. Wer würde den Postboten ins Haus lassen und dann das Paket nicht mit in die Wohnung nehmen? Und in welchem Zustand musste man sein, damit einem so was passierte?

Ildikó betätigte die Klingel.

Natürlich passierte nichts, von dem Klingeln abgesehen. Jenseits der geöffneten Wohnungstür herrschte Stille. Sie klingelte noch einmal. Nichts. Dann griff sie sich das Paket, schob die Tür ganz auf und betrat die Wohnung.

Sie legte das Päckchen auf den Küchentisch und rief:

»Jan?«

Keine Antwort.

Niemand da im Untergeschoss.

Gut, dachte sie, dann kehr jetzt um. Und mach die Tür zu, wenn du gehst. Schließlich war sie schon weit genug in Jans Privatsphäre vorgedrungen und wer konnte sagen, wobei er möglicherweise gerade nicht gestört werden wollte – der arme Mann hatte gerade die Liebe seines Lebens in einem furchtbaren Unfall verloren.

Andererseits war da diese Sache mit der offenen Wohnungstür.

Und der merkwürdig stillen Wohnung. Viel zu still.

Ildikó seufzte und ging nach oben, wo das Schlafzimmer war. Die Tür stand ebenfalls weit offen. Sie ging hinein. Erst als sie einen zweiten Blick auf die zerwühlten Laken warf, bemerkte sie das Büschel dunkler Haare, das darunter hervorlugte. Jan war also da, schlief, und sie stand mitten in dem Zimmer, in dem er mit Katrina … Es war wirklich allerhöchste Zeit zu gehen.

Auf Zehenspitzen schlich sie aus dem Zimmer, war schon fast bei der Tür, da bemerkte sie den essigsauren Geruch. Sie schaute noch mal hin und entdeckte den unappetitlichen See am Fußende des Bettes. Eingetrocknete Speisereste waren zu einer bräunlichen Masse geronnen. Daneben standen zwei Flaschen Wodka. Beide waren leer.

Ildikó warf einen flüchtigen Blick auf die widerwärtige Masse, die das Parkett bedeckte. Zumindest waren keine Pillen darin zu sehen, und das war vermutlich ein Segen. Dann zog sie die Bettdecke beiseite.

»Oh, Scheiße …«

Jans Körper hatte eine gräuliche Färbung angenommen und glänzte von kaltem Schweiß. Offenbar war die Lache vor dem Bett nicht die einzige Spur seiner Exzesse. Sein Kopf war auf die Seite gedreht, und das war ein Glück, denn sein Gesicht lag in noch mehr Erbrochenem. Ildikó öffnete seinen Mund und holte heraus, was darin war. Nicht allzu viel, Gott sei Dank. Dann drehte sie den Körper ganz auf die Seite und presste ihre Finger an Jans Hals. Da war ein Puls, wenn auch schwach und langsam.

Aber da war ein Puls.

Er wachte nach der dritten Ohrfeige auf, die sie ihm verpasste, zumindest einigermaßen. Mit einer schwachen Handbewegung versuchte er, sie wegzuscheuchen, lallte irgendetwas Unverständliches. Sein Kopf rollte auf kraftlosen Schultern herum, als er versuchte, sich aufzurichten. Es misslang gründlich, trotz Ildikós Hilfe. Sie stopfte ihm ein Kissen unter den Rücken, auf das er sich ebenfalls großflächig erbrochen hatte, und dann noch eins, das daneben lag. Katrinas Kissen vermutlich. Dann saß er, einigermaßen.

»Jan?«, fragte Ildikó, »verstehst du mich? Du musst jetzt wachbleiben, okay? Auf keinen Fall darfst du wieder einschlafen.«

»Keinfalleischaaafen«, lallte Jan und öffnete seine Augen einen Spalt weit.

»Du dämlicher …«, begann Ildikó und spürte, wie die Hitze in ihre Wangen stieg, als sie ihn in die Arme schloss, um etwas Wärme in seinen kalten Körper zu reiben. Und so streichelte sie ihn zurück ins Leben und wusste, das war etwas, an das er sich nachher nicht erinnern würde. Aber immerhin würde es für ihn ein nachher geben. Wäre sie ein paar Minuten später hier gewesen …

»Okay«, sagte sie, »du musst jetzt mit mir nach unten kommen.«

»Willschaaafen«, murmelte Jan.

»Na klar. Und ich will eine Lohnerhöhung und dass kleine Feen das Chaos in meiner Küche aufräumen. Und jetzt gehen wir diese Treppe da runter und du versprichst mir, dir dabei nicht das Genick zu brechen, okay?«

»Machich«, nuschelte Jan. »Pfaaahhfinnerehrnwort.«

»Dann halt dich jetzt an mir fest, Pfadfinder«, sagte sie und hievte ihn aus dem Bett.

Später hievte sie ihn in seinem Badezimmer in die Wanne, gegen seinen schwachen Protest, und als er drin lag, zog sie ihn aus und schrubbte ihn, bis er wieder ansprechbar war und in der Lage, sich in die Kloschüssel zu übergeben. Was er auch mit Wonne tat. Und sie blieb bei ihm, die ganze Zeit.

Irgendwann war Jan wieder weit genug auf der Höhe, um in kleinen Schlucken an einer Gemüsebrühe zu nippen, die sie ihm gekocht hatte. Er verzog das Gesicht bei jedem Schluck, aber er behielt die Suppe drin. Und er entschuldigte sich und versprach, nie wieder zu versuchen, sich zu Tode zu saufen.

»Na ja, zumindest nicht so eine halb gare Nummer. Das Aufwachen ist einfach zu grausam. Oh Mann, könntest du wohl ein paar von diesen Lampen ausmachen? Mein Schädel explodiert gleich.«

»Okay, du Witzbold«, sagte Ildikó, »sehr witzig. Aber du hältst dich jetzt besser an dein Versprechen. Nächstes Mal lasse ich dich nämlich einfach liegen, verstanden? Und bilde dir nicht ein, dass ich die Sauerei da oben für dich wegmache.«

Aber natürlich hatte sie das längst. Und seine Bettwäsche hing gewaschen auf dem Wäscheständer.

»Ildikó, ich weiß nicht, was ich sagen soll, ich …«

»Dann sag gar nichts. Thema abgeschlossen. E-N-D-E, okay?«

»Okay. Danke, Ildikó. Wirklich.«

Sie nickte und nahm einen Schluck von dem Kaffee, den sie sich gemacht hatte. Jan nippte an seiner Brühe und verzog das Gesicht.

»Eins noch«, sagte sie nach einer Weile, »schlag das nächste Mal nicht um dich, wenn eine Frau versucht, dich auszuziehen. Ich hab jetzt ein paar blaue Flecke als Andenken.«

»Habe ich das? Oh, Mist«, sagte Jan und lächelte sie an, was ihm unsägliche Schmerzen bereiten musste. »Tut mir leid. War nicht persönlich gemeint.«

Wenn man ihn so lächeln sah, dachte Ildikó, sah er aus wie ein kleiner Junge, und wer konnte schon einem kleinen Jungen böse sein? Wenn er so lächelte, konnte man ihm eine Menge verzeihen. Vielleicht sogar einen Ausrutscher mit dieser Studentin mit ausgeprägtem Vaterkomplex.

»Ildy, mein Schutzengel«, sagte Jan.

Dann lächelten sie beide ein bisschen.

»Willst du mir verraten, warum?«, fragte Ildikó. »Ich meine, diese beiden Flaschen sahen schon irgendwie aus, als …«

»Als hätte ich damit etwas Endgültiges geplant?«

»Hm. Vielleicht. Ein bisschen.«

»Ich war in ihrem Atelier gestern Abend«, sagte Jan.

»Oh. Und?«

Jan schob die Tasse mit der Brühe von sich. »Ich denke, dafür brauche ich was Stärkeres.«

»Wie bitte? Du machst wohl Witze.«

»Ich meinte den Muntermacher«, sagte Jan, kippte den Rest der Brühe hinunter und hielt ihr die leere Tasse hin. Ildikó schenkte ihm Kaffee ein, und dann begann Jan zu erzählen.

»Ewig her, seit ich das letzte Mal in ihrem Atelier gewesen bin. Es ist nicht so, dass ich mich nicht für ihre Kunst interessiert hätte, denn das habe ich. Wirklich. Bloß bin ich niemand, der wirklich was davon versteht. Von der Kunst, im Allgemeinen. Herrgott, ich bin nur ein Schriftsteller.

Ich hätte nicht mal sagen können, ob sie nun abstrakt malt oder doch eher hyperrealistisch oder ob die Auswahl ihrer Farben als versteckte Kapitalismuskritik aufzufassen ist. Keine Ahnung.

Mir haben ihre Bilder jedenfalls immer gefallen. Mir gefallen sie, weil sie eine Aussage haben. Eine, die ich begreife, auch wenn ich es nicht erklären kann. Und wenn nur ich das so sehe, ist mir das auch egal. Was ich gesehen habe, war die Welt, wenn du so willst, durch eine spezielle Brille. Ihre Brille.

In dieser Hinsicht war sie … na ja, du weißt ja, dass sie immer so zurückgezogen war in ihrem Schneckenhaus. Und während sie malte, dann war es manchmal, als wäre sie gar nicht da. So als ob sie in ihr eigenes Gemälde gegangen wäre und dort lebte, bis es fertig ist. Ich hätte neben ihr an der Staffelei stehen können, und doch wäre ich für sie meilenweit entfernt gewesen, in einem anderen Universum.

Ja, das war schon ein bisschen gruselig.

Nimm zum Beispiel das Bild hier. Es ist nur eine Straße, an einem Morgen, und ein bisschen Papier, das durch die Gegend weht. Auf den ersten Blick zumindest. Aber irgendwie ist da auch diese Begeisterung für all diese scheinbaren Nebensächlichkeiten, für das Alltägliche. Die Art, wie das Licht so schräg durch dieses verfallene Dach da fällt, zum Beispiel. Es sieht marode aus, gammelig. Aber da ist diese Ruhe in diesen Bildern – na ja vielleicht liegt das auch nur daran, dass auf keinem Gemälde Menschen zu sehen sind – und man hat das Gefühl, noch nie eine alte Straße und ein Abbruchhaus auf diese Weise gesehen zu haben. Und dass auch die Papierschnipsel irgendwas bedeuten. Stücke von einem Brief vielleicht, der irgendwem vor langer Zeit mal irgendwas bedeutet hat. Nun hör mich an, jeder Kritiker würde sich totlachen.

Aber vielleicht ging es ihr genau darum. Nichts als selbstverständlich hinzunehmen. Zu zeigen, dass alles eine Bedeutung hat, einen Wert, auch Dinge, die wir für banal und nutzlos oder hässlich halten.

Warum sie sich ein Atelier am anderen Ende der Stadt gemietet hat? Um allein zu sein, natürlich. Wenn ich auch sonst nichts verstehe, aber so viel begreife ich. Wenn du etwas aus dem Nichts erschaffen willst, dann musst du tief in dich gehen. Deine Seele ausgraben, sie in Stücke schneiden und an der Leinwand zum Trocknen aufhängen. Dabei will man keine Zuschauer haben.

Und deshalb musste ich da hingehen. Warum? Ich weiß nicht. Ihre Seele suchen, vielleicht. Schauen, ob noch ein Stück davon … oh Scheiße, jetzt flenne ich schon wieder.

Danke, Ildy.

Also bin ich hingegangen.

Sie hatte gemalt.

Oh ja.

Tag und Nacht, wie es aussah, ohne Unterlass. Ich weiß, dass fast alle ihrer älteren Bilder noch in der Galerie hängen. Diese waren alle neu, man konnte die Farbe noch riechen.

Dutzende davon, in allen Größen, auf Staffeleien, an den Wänden, auf dem Boden. Und als ihr die Leinwände ausgegangen sind, hat sie auf den Wänden weitergemalt.

Es war beeindruckend, richtig ehrfurchtgebietend.

Und es hat mir eine Scheißangst eingejagt.

Dabei hatte sie einfach immer wieder dasselbe gemalt. Nicht nur dasselbe Motiv, nein. Auch immer die gleiche Perspektive. Eine Rose, nichts weiter, roter Kopf und weißer Stiel mit weißen Blättern. Was seltsam ist, denn normalerweise sind die Blätter natürlich grün und nicht weiß. Nichts im Hintergrund, kein Zusammenhang, nur diese rot-weiße Rose.

Sie hat es wohl nicht richtig hinbekommen, denn ein paar der Bilder waren unvollständig. Abgebrochen. Manche Leinwände hat sie regelrecht zerfetzt, so stark hat sie mit dem Pinsel drauf rumgedroschen. Als ob sie ihr Bild mit Gewalt in die Leinwand prügeln wollte. Das waren nicht mehr ihre üblichen Bilder. Es fehlte dieser Blick, weißt du, die Aussage. Das Besondere im Einfachen. Das hier sah aus, als hätte sich ein Drogensüchtiger im Vollrausch ausgetobt.

Und immer nur diese Rose.

Nachdem ich mir dieses Gruselkabinett lange genug angeschaut habe, wollte ich wieder gehen. Und nicht so bald wiederkommen, glaube ich. Da hab ich ihre Handtasche neben einer Staffelei am Ausgang liegen sehen. Diesen ollen Lederbeutel, den sie ständig mit sich herumtrug.

Also hob ich das Ding auf und warf einen Blick hinein, und dann hab ich sie ausgeschüttet. Keine Ahnung, wieso. Oder was ich da zu finden hoffte. Eine Erklärung, möglicherweise.

In der Tasche fehlte, soweit ich es einschätzen konnte, lediglich ihr Autoschlüssel. Sogar das Handy lag noch drin. Seltsam, wenn man drüber nachdenkt. Oder auch nicht. Warum sollte man auch sein Telefon mitnehmen, wenn man plant … also, wenn man vorhat, sich … Ach, verdammt.

Ich hab mich also durch den ganzen Kram gewühlt und irgendwann fiel mir dieses Ding in die Hand. Zuerst dachte ich, es wäre ein Stift. Ich wollte ihn schon zur Seite tun, aber dann merkte ich, dass es irgendwie zu groß war für einen Kuli und so ein kleines Fenster an der Seite hatte. Da hab ich es immer noch nicht kapiert, oder wahrhaben wollen. Also hab ich ihr Portemonnaie durchwühlt, um sicherzugehen. Da fand ich dann einen dieser Terminzettel von einem Frauenarzt. Sie hatte einen Termin an dem Tag, als sie …

Sie war schwanger, Ildikó. Das war der Stift, ein Schwangerschaftstest.

Und dann ist sie mit dem Kind im Bauch gegen diesen beschissenen Pfeiler gefahren.

Mit meinem Kind im Bauch.«

Ildikó schüttelte energisch den Kopf. »Nein, Jan. Nein.«

»Nein?«

»Es war nicht deine Schuld. Hör auf, dir das einzureden.«

»Ich habe ihr Vertrauen missbraucht, Ildy. Ich hab’s mit einer anderen getrieben, verdammt. Obwohl sie von mir schwanger war. Obwohl sie die Pille abgesetzt hat. Das hat sie nur für mich getan, weißt du?«

»Eben. Ja, du hast Mist gebaut. Das tun wir alle, ist ein Fakt. Aber sie hätte es dir sagen müssen. Ich meine, was soll das? Diese Geheimniskrämerei?«

»Ach, Ildy.«

»Und den Rest hat sie ganz allein gemacht, ohne dein Zutun. Okay? Das war ihre Weise, damit umzugehen. Sie ist in ein Auto gestiegen und hat sich aus dem Staub gemacht. Ihre Entscheidung, nicht deine.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739408118
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Januar)
Schlagworte
spannung psychopath krimi grausam entführung thriller psychothriller Krimi Thriller Spannung Ermittler

Autoren

  • L.C. Frey (Autor:in)

  • Alex Pohl (Autor:in)

„Die ersten Plätze in den Bestsellerlisten ist er gewohnt, in den Kategorien Suspense und Psychothriller rangiert er meistens auf Platz 1. Viele Auszeichnungen schmücken seine Vita. Bestseller-Autor L.C. Frey ist […] sehr bekannt für seine Krimis und Horrorthriller.“ – Angela Baur, Tolino Media Blog
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Titel: Ich Breche Dich