Gerade, als sie sich am Empfang nach Dr. Stelzig erkundigen wollten, bog ein Endfünfziger in einem weißen Kittel um die Ecke, dessen Äußeres sich nur als pummelig beschreiben ließ. Aus der Brusttasche des Arztes ragte ein Stethoskop. Das muss Stelzig sein, dachte Selina, und nie hat ein Mann einen unpassenderen Namen getragen. Der Kerl erinnerte keinesfalls an einen langbeinigen Vogel, und sein Gang war kaum als Stelzen zu beschreiben, eher als Tapsen. Alles an dem Mann wirkte rundlich, von dem beachtlichen Bauch bis hin zu seinem haarlosen Kopf, der auf — ebenfalls ausgesprochen runden — Schultern ruhte und aus dem sorgenvolle Augen die beiden Polizisten musterten.
»Ah«, sagte er, während er mit kleinen Schritten auf sie zulief, »die Polizei. Wie schön, dass sie noch kommen konnten.« Stelzig sah demonstrativ auf die Uhr an seinem Handgelenk. Selina und Bikowski ignorierten es.
»Schönen guten Tag«, sagte Selina. »Sie müssen demnach Dr. Stelzig sein?«
»Ja, ganz recht. Guten Tag!«
»Es geht also um verschwundene …«
»Bitte«, sagte Stelzig und sah sich hastig um, »nicht hier. Folgen Sie mir doch an den Tatort.«
Selina und Bikowski warfen sich einen amüsierten Blick zu, dann folgten sie Stelzig. Der Arzt führte sie durch endlose Flure, deren abblätternde blassgrüne Wandfarbe vermutlich die Stimmung der Patienten heben sollte, genau wie die scheinbar wahllos aufgehängten Kunstdrucke. HERAUSFORDERUNG, las Selina unter der imposanten Fotografie eines Wasserfalls: Für manche endet der Weg am ersten Hindernis. Für den Erfolgreichen fängt er da erst an. Genau das, was man als Patient vermutlich lesen wollte, besonders den Teil mit den endenden Wegen.
Sieben lehrreiche Kunstdrucke später hatten sie das Treppenhaus erreicht, und von dort ging es abwärts und dann noch ein Stockwerk tiefer.
»Der Keller«, kommentierte Stelzig das Offensichtliche.
Hier unten war es empfindlich kühl, aber Stelzig schien das nichts auszumachen, obwohl er unter seinem Kittel nur ein Unterhemd trug. Bikowski fröstelte. Das heißt, er schüttelte sich wie ein Hund, der aus dem Wasser kam.
Sie bogen in einen weiteren Gang ein, und schließlich blieb Stelzig vor einer Tür in nichtssagendem Beige stehen. Das Schloss der Tür war offenbar vor Kurzem aufgebrochen worden, das Einsteckschloss hing schief und zerbeult im Türblatt. Der Rahmen und die Blende waren mehrfach gesplittert und auch die Zarge war einigermaßen hinüber.
Bikowski pfiff durch die Zähne. »Hier hat’s aber jemand gut gemeint. Saubere Arbeit.«
Selina besah sich das Schloss. Der Täter hatte offenbar ein Stemmeisen benutzt, die typischen, gekerbten Spuren waren deutlich zu erkennen. Zwei Versuche, höchstens drei, dann war er drin gewesen. So etwas schaffte man problemlos in unter fünf Sekunden.
Stelzig drückte die Tür auf und diese schwang mit einem vernehmlichen Knarren nach innen. Dann langte der Arzt um die Ecke und knipste das Licht an, bevor ihn jemand daran hindern konnte.
Schade, dachte Selina. Hätte er das nicht gemacht, hätten wir vielleicht Fingerabdrücke vom Lichtschalter nehmen können.
Sie betraten einen fensterlosen Raum, ein Büro mit einem einfachen Schreibtisch, auf dem ein aufgeschlagenes Buch lag. Selina warf einen Blick darauf. Datumsangaben und Unterschriften, daneben Namen und Mengenangaben. Alles ziemlich unleserlich.
»Hier tragen die Ärzte und Schwestern ein, was sie aus dem Schrank genommen haben. Wir …«, Stelzig stockte. »Wir haben eine Kamera mit Bewegungssensor, dort oben.« Er zeigte über die Tür, wo tatsächlich eine Kamera hing. An der eigentlich ein rotes Licht hätte blinken müssen.
»Lassen Sie mich raten«, sagte Selina, »die ist seit Monaten kaputt?«
»Äh, ja. Es gab so viel zu tun, und da muss es wohl irgendwie … durchgerutscht sein«, druckste Stelzig und zog ein überaus betroffenes Gesicht.
»Hm«, sagte Selina und dachte: Wenn ich mal im Krankenhaus liege, sollte ich darauf achten, dass der behandelnde Arzt nicht Stelzig heißt. Dieser Stelzig, so hört man, lässt nämlich ab und zu Dinge durchrutschen.
»Ich sehe hier keinen Schrank«, sagte Selina.
»Ja«, sagte Stelzig, »den haben wir natürlich sofort weggeräumt. Schwester Margit und ich. Gleich, als wir den Diebstahl bemerkt hatten. Er steht im Nebenraum.«
»Und da geht sie hin, unsere zweite Chance auf Fingerabdrücke«, murmelte Bikowski.
»Wie?«, fragte Stelzig und starrte Bikowski verständnislos an. Das heißt, er starrte auf Bikowskis Brust, dann hob er den Kopf und sah ihm tatsächlich ins Gesicht.
»Nur so eine Idee, Dr. Stelzig: Ich schlage vor, dass Sie den Schrank vielleicht nicht mehr anfassen, bis die Spurensicherung hier war. Meinen Sie, das ließe sich machen?«
»Oh.«
»Ja, oh«, sagte Selina, »und wo befindet sich das Schränkchen jetzt?«
»Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.« Als Stelzig auf dem Weg nach draußen wieder nach dem Lichtschalter tasten wollte, kam Bikowski ihm zuvor. Mühelos langte er nach Stelzigs Hand und stoppte sie mitten in der Bewegung, bevor sie die Plastikoberfläche erreichen konnte.
»Nur für den Fall.«, sagte Bikowski.
»Oh«, machte Stelzig erneut, als er es begriff. Dann führte er sie an eine weitere beigefarbene Tür, kramte einen Schlüsselbund aus der Tasche seines Kittels und öffnete mit einem der Schlüssel die Tür. Dann blieb er unentschlossen davor stehen und trat schließlich beiseite. »Vielleicht sollten Sie lieber …«, schlug er vor. Bikowskis Pranke langte um das Türblatt und betätigte den Schalter.
»Ach so«, sagte Stelzig, »stimmt ja. Hier war er ja gar nicht drin.«
»Er?«, fragte Selina.
»Na, der … Täter. Der Einbrecher. Wegen der Fingerabdrücke auf dem Lichtschalter. In diesem Zimmer war er vermutlich gar nicht.«
»Schon klar. Aber wieso sagten Sie gerade ›der Täter‹? Es könnte doch auch eine Frau gewesen sein.«
»Na ja, vermutlich. Aber kommen Sie erstmal. Wir reden drinnen.«
Sie traten in ein Zimmer, das nahezu identisch mit dem vorigen war. Nur gab es hier statt des Tisches einen monströsen Stahlschrank, dessen Tür auch aufgebrochen worden war, vermutlich mit demselben Stemmeisen wie die Tür ein Zimmer weiter. Die Schranktüren wurden von einem massiv aussehenden Vorhängeschloss zusammengehalten, das unversehrt war — der Täter hatte sich stattdessen die Scharniere der linken Schranktür vorgenommen. Damit war es vermutlich wesentlich schneller gegangen.
»Und dieses Ding haben Sie allein mit einer Krankenschwester hier herübergeschleppt, sagen Sie?«, fragte Selina.
»Na ja, Sie kennen Schwester Margit nicht«, sagte Stelzig mit einem verstohlenen Seitenblick auf Bikowski. »Sie ist ziemlich … stark.«
»Keine Frage«, murmelte Selina, zog einen Kugelschreiber aus der Brusttasche ihrer Uniform und schob damit die aufgehebelte Tür auf. Beinahe die komplette linke Seite des Schrankes war ausgeräumt.
»War der voll?«
»Nahezu. Wir hatten gerade neue Lieferung bekommen.«
»Wissen Sie schon, was genau fehlt?«
»Schwester Margit macht gerade eine komplette Liste. Aber vor allem fehlen Midazolam und Scopolamin. Und, äh … Kokain.«
»Wie bitte?«, fragte Selina.
»Cocainhydrochloridlösung, genaugenommen. Wir verwenden es manchmal zur Betäubung bei Eingriffen im Hals- oder Kopfbereich.«
»Kokain«, stellte Selina noch einmal kopfschüttelnd fest, »in einem unbewachten Schrank im Keller. Fantastisch. Und der Rest, wozu verwenden Sie den so?«
»Na ja, Midazolam ist ein Angstlöser, ein Beruhigungsmittel, und man verwendet es ebenfalls in der Anästhesie. Von dem Scopolamin hatten wir Augentropfen da, zur Pupillenweitung. Sie kennen vielleicht Atropin? Es ist ein ähnlicher Wirkstoff.«
»Engelstrompete«, sagte Selina dumpf.
»Ja, daraus kann man es gewinnen«, bestätigte Stelzig, »in gewissen Dosen kann es allerdings auch, äh, Rauschzustände hervorrufen.« Der Arzt betrachtete interessiert die Spitzen seiner Wildlederschuhe und fügte dann kleinlaut hinzu: »Besonders, wenn man alle drei in Kombination einnimmt.«
»Na, sieh mal einer an. Und ist sowas denn wertvoll, das Kokain und der Rest?«
»Auf dem Schwarzmarkt, meinen Sie?«
»Zum Beispiel.«
»Naja, mit dem, was hier fehlt, können Sie sich sicher nicht auf die Cayman Islands absetzen, um Ihren Lebensabend zu feiern, aber ein Stück weit kämen Sie schon, vermutlich.« Stelzig räusperte sich. »Aber natürlich kenne ich die Schwarzmarktpreise dieser Medikamente nicht.«
»Natürlich nicht, Dr. Stelzig.« Selina schenkte Bikowski einen vielsagenden Blick. »Na gut. Wir werden die Spurensicherung vorbeischicken. Die wird Fingerabdrücke nehmen. Und das mit der Kamera, Dr. Stelzig …«
»Ja?«
»Das war nicht so besonders clever. Das war sogar ziemlich fahrlässig, wenn Sie meine persönliche Meinung dazu hören wollen. Um ein Nachspiel werden Sie da wohl nicht herumkommen.«
Stelzig ließ den Kopf hängen. Eine perfekte, blank polierte Billardkugel aus Selinas Perspektive. Dann hob er ihn ruckartig. »Würde es helfen, wenn ich Ihnen sage, wer der Täter gewesen sein könnte?«
»Ach, nee. Sie haben einen Verdacht, Dr. Stelzig?«
»Nun ja«, begann Stelzig. »Einer unserer Ärzte, Dr. Schwanbeck, er … Er ist unser Chirurg — unser einziger, nebenbei bemerkt, unsere finanzielle Situation erlaubt uns keine allzu großen Sprünge. Jedenfalls ist er am Donnerstag nicht zum Dienst erschienen. Also vielmehr habe ich ihn Mittwochnachmittag nach Hause geschickt. Er war … nun ja, er schien zu kränkeln. Er sah blass aus und wirkte unkonzentriert, war nicht richtig bei der Sache …«
»Moment«, sagte Selina. »Donnerstag? Sie vermissen Ihren Chirurgen seit vier Tagen und kommen erst jetzt auf den Gedanken, die Polizei zu rufen?«
»Na ja, damals habe ich mir noch keine großen Gedanken darüber gemacht, und am Wochenende hatte er nur Bereitschaft, und es war ziemlich ruhig, wir haben ihn nicht gebraucht. Ich dachte, er spannt etwas aus, und würde sich vielleicht sogar krankmelden.«
»Aber das hat er nicht«, vermutete Selina.
»Na ja, nein. Und das ist so gar nicht seine Art, wissen Sie? Als er auch heute Morgen nicht zur Frühschicht auftauchte, habe ich ihn angerufen. Aber es ging niemand ran. Weder auf dem Handy, noch bei ihm daheim. Und da habe ich …«
» … haben Sie Polizeirat Wagner angerufen.«
Stelzig nickte und betrachtete weiter den Boden zwischen seinen Füßen.
»Hm«, machte Selina. »Nur, damit ich das richtig verstehe. Erst verschwindet Ihr einziger Chirurg spurlos und dann auch noch die Hälfte Ihres Medikamentenvorrats. Sagen Sie, wann genau ist Ihnen eigentlich aufgefallen, dass jemand sich aus Ihren Vorräten bedient hat?«
»Nun, äh … «, Stelzig räusperte sich. »Das muss dann wohl am Freitag gewesen sein«, sagte er kleinlaut.
»Aaalter!«, entfuhr es Bikowski. Selina warf ihm einen halb amüsierten Blick zu.
»Also, seit Freitag fehlt Ihnen eine Wagenladung Betäubungsmittel und seitdem steht hier alles offen? Sind Sie eigentlich noch bei … Ich meine, Ihnen ist schon bewusst, dass Sie so etwas sofort zu melden haben?«
»Na ja, ich hatte gehofft, dass unser Chirurg vielleicht doch noch auftaucht … «
»Klar. Mit einem Sack Medikamente über der Schulter, vermutlich. ›Ey, sorry, Leute. War ein Versehen! Hier habt ihr euren Kram zurück!‹ — so ungefähr?«
Der rundliche Doktor starrte den Selina fassungslos an. Dann senkte er niedergeschlagen den Blick.
»Ja, das war vermutlich ziemlich dumm. Deswegen habe ich ja auch gleich heute Morgen Dietmar Wagner angerufen. Er sagte, er könne vielleicht …«
»Gleich heute Morgen, guter Mann! Vier Tage später! Haben Sie im Ernst geglaubt, das merkt keiner?«, fragte Selina, »Und wenn Ihr feiner Doktor heute wieder aufgekreuzt wäre, hätten Sie es ihm einfach durchgehen lassen?«
»Ich hätte ihn natürlich ermahnt. Aber ich konnte die Sache nicht breittreten, weil …« flüsterte Stelzig. Der Arzt hatte sich in ein rundliches Häuflein Elend verwandelt. Jetzt schien er tatsächlich den Tränen nahe.
»Weil sonst das mit Ihrer Kamera aufgeflogen wäre, stimmt’s? Sie hatten ernsthaft vor, den Diebstahl von Betäubungsmitteln zu unterschlagen, Dr. Stelzig! Das ist strafbar!«
»Also, ich …« flüsterte Stelzig. »Es war ja nur … Dietmar sagte. Also er meinte … Ich hatte gehofft, wir würden vielleicht zu einer Lösung kommen, die für alle …«
»Ein Rat«, unterbrach ihn Selina, »Bevor Ihnen jetzt noch etwas herausrutscht, das mein Kollege und ich als Bestechungsversuch verstehen könnten, halten Sie lieber die Klappe.«
Stelzig hielt sie.
»Und jetzt hören Sie zu.«
Stelzig tat auch das.
»Dietmar Wagner wird von mir einen korrekten Bericht bekommen, wie von jedem anderen Fall auch. Was dann passiert, liegt allein bei ihm und dem Staatsanwalt. Und vielleicht, unter sehr günstigen Umständen, haben Sie ja Glück, sofern die Medikamente ganz schnell wieder auftauchen. Aber …« Selina warf einen Blick auf den zerstörten Schrank, »ich würde mir an Ihrer Stelle keine allzu großen Hoffnungen machen, ehrlich gesagt. Ich würde mir stattdessen lieber einen Anwalt suchen, und zwar einen guten.«
»Ja«, hauchte Stelzig. Er war nun ungefähr so weiß wie sein gestärkter Kittel. Mit einem erfrischenden Schuss Blassgrün drin, wie die Wände hinter ihm.
»Und nun«, sagte Selina, »erzählen Sie mir von Ihrem verschwundenen Chirurgen.«