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Drei Fälle für Maud und Lady Christabel

Sammelband

von C. L. Potter (Autor:in)
780 Seiten

Zusammenfassung

Wochenenden voller Geheimnisse, Lügen und Mord im Jahr 1912 - Cosy Crime at its best! Lady Christabel, begeisterte Krimileserin, plant ein erholsames Wochenende auf dem Land, um ihren Kummer zu vergessen. Doch als sie über die Leiche des jüngsten Sohnes ihrer Gastgeber stolpert, beginnt eine spannende Suche nach dem Täter. Unterstützt von ihrer weltgewandten Zofe Maud muss sie sich in Tod eines Lords durch ein Netz von Motiven und Verdächtigen kämpfen. In Lügen einer Lady wird Lady Christabel von ihrer unkonventionellen Tante Lavinia gebeten, eine gestohlene Halskette wiederzubeschaffen. Doch als Maud den Verdächtigen kennenlernt, geraten sie und Lady Christabel in Lebensgefahr. Im Winter 1912 entdecken Lady Christabel und Maud in Das Geheimnis einer Zofe eine Reihe vergifteter Briefe, die die Atmosphäre auf Carrack Manor vergiften. Als ein Mord geschieht, fühlt sich Lady Christabel herausgefordert, den Täter zu finden - doch ihre Zofe Maud hat ihre eigenen Geheimnisse, die sie einholen. Drei spannende Cosy Crime Roman voller Rätsel, Intrigen und unerwarteter Wendungen - für Fans von Agatha Christie und Downton Abbey.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Das Buch & Die Autorin

Das Buch

England, Frühling 1912. Geplant ist ein erholsames Wochenende auf dem Land, das die junge Lady Christabel von ihrem Kummer ablenken soll. Stattdessen stolpert sie über die Leiche des jüngsten Sohns ihrer Gastgeber.

Unterstützt von ihrer weltklugen Zofe Maud begibt sich die begeisterte Leserin von Detektivgeschichten auf die Suche nach Motiv, Mittel und Gelegenheit.

Doch wie findet man einen Täter, wenn alle Anwesenden gute Gründe haben, das Opfer zu hassen?

Die Autorin

C. L. Potter ist das Pseudonym von Christiane Lind, unter dem sie Landhauskrimis schreibt. Seitdem Christiane das erste Mal nach Südengland reiste, ist sie Herrenhäusern und deren Geheimnissen verfallen.

Figuren

Lentune Hall

Maud Gulliver, Zofe

Christabel Mowgray, Ladyschaft von Maud


Upstairs

Rosalind Mowgray, Countess of Waldeford, Christabels Mutter

Alastair Mowgray, Earl of Waldeford, Christabels Vater

Dahlia Mowgray, Christabels Schwester

Basil Mowgray, Christabels Bruder

Lavinia Mowgray, Christabels unverheiratete Tante

Godfrey Riddington, Christabels Patenonkel


Downstairs

Harold Rowe, Butler

Jessamine Eggerton, Hausdame

Nellie Cramton, Köchin

Rupert Kendall, Chauffeur

Harold Knight, Lakai

Gladys Bannerman, Hausmädchen

Enid Gillinham, Hausmädchen

Lucy-Anne Buxton, Küchenhilfe

Ashburn Abbey

Upstairs

Percy Willmington, Earl of Aylesgrave

Honora Willmington, Countess of Aylesgrave

Dunstan Willmington, ältester Sohn

Georgina Willmington, dessen Ehefrau

Lucian Willmington, jüngerer Sohn

Violet Keat, dessen Verlobte

Unity Willmington, Tochter

Beryl Banfour, deren Freundin


Ernest Pemborough, Gast


Downstairs

Marmaduke Trowbridge, Butler

Eunice Stanhoop, Hausdame

Harriet Pratt, Köchin

Leonard Arnold, Chauffeur

Simon Nott, Lakai

Flossie Hasket, Hausmädchen

Ivy Lovell, Hausmädchen

Dora Mullens, Küchenhilfe

Kapitel Eins

Lady Christabels Mutter wird mir den Hals umdrehen, war der erste Gedanke, der Maud durch den Kopf schoss, als die elegant gekleideten Damen in ihre nicht minder eleganten Handtaschen griffen und Hämmer herausholten. Der Anblick war so überraschend, dass die in Schwarz gekleideten Polizisten ebenso erstarrt verharrten wie Maud. Erschüttert beobachteten sie, wie die Ladys Fenster der piekfeinen Geschäfte an der Bond Street einschlugen. Das Geräusch der klirrenden Scheiben war ohrenbetäubend und übertönte selbst die skandierten »Wahlrecht für Frauen«-Rufe, die die Zerstörung begleiteten. Wie hatte Maud nur in dieses Chaos hineingeraten können?

Ihr Blick irrte von den Ladys hin zu den Bobbys und den Männern am Straßenrand, die nun ihre Chance witterten und mit erhobenen Fäusten auf die Protestierenden zuliefen. Wenn Maud nicht schnell genug wegkäme, würde sie gewiss in eine unerfreuliche Prügelei geraten. Sie drehte den Kopf hin und her, um einen Fluchtweg zu suchen. Dicht an dicht drängten sich die Frauen, wohl, um sich gegen die angreifenden Männer zu wehren.

»Maud? Maud, wo bist du?!«, erklang eine helle Stimme voller Panik, die sie daran erinnerte, warum sie sich hier befand. »Maud, was sollen wir nur machen?«

»Folgen Sie mir.« Maud lief auf die junge Frau zu und ergriff Lady Christabels Arm. »Wir müssen verschwinden. So schnell wie möglich.«

Maud konnte nur hoffen und beten, dass diese Eskapade ihrer Lady nicht zu weitreichenden Konsequenzen führte. Warum gelang es ihr nicht, auf die Vernunft zu hören und sich Lady Christabels Wünschen zu widersetzen? Vor allem, wenn diese vollkommen unvernünftig waren wie heute!

Mehr als einmal hätte sich Maud dafür ohrfeigen können, Lady Christabels Launen nachgegeben zu haben. Wären sie damals nur nicht auf diese vermaledeite Kundgebung der Frauenrechtlerinnen gegangen, dann müssten sie jetzt nicht um ihre Gesundheit und ihr Leben fürchten. Sich für das Wahlrecht einzusetzen, war auch nur eine von vielen Ideen Lady Christabels.

Als gelangweilte Tochter aus gutem Haus suchte und fand sie mit überraschender Regelmäßigkeit etwas Neues, in das sie sich mit immenser Energie stürzte, nur um es nach einem halben Jahr fallen zu lassen. Maud hatte die Malversuche ihrer Lady ebenso überstanden wie deren Begeisterung fürs Gärtnern und die Faszination für das Theater. Daher war Maud davon ausgegangen, auch diese Leidenschaft von Christabel Mowgray wäre ein kurzlebiges Strohfeuer. Als Lady Christabel ihr mit leuchtenden Augen von der Kundgebung dieser sogenannten Suffragetten erzählt hatte, hatte Maud nur mit einem Kopfschütteln geantwortet. Das hatte ihre Ladyschaft tief getroffen.

»Verstehst du nicht, wie wichtig das ist?« Christabel Mowgray stemmte die Hände in die Hüften. Es fehlte nur noch, dass sie wie ein verwöhntes Kind mit dem Fuß aufstampfte. »Ohne Wahlrecht bleiben wir Menschen zweiter Klasse.«

Was weiß jemand wie Sie schon von Armut und Unterdrückung, dachte Maud, aber sie fragte nur: »Wird sich die Welt ändern, wenn Frauen wählen dürfen?«

»Selbstverständlich.« Lady Christabel schüttelte den Kopf über ihre Ignoranz. »Wenn du erst Mrs Pankhurst hast reden hören, wirst du es verstehen.«

Alle weiteren Versuche Mauds, ihre Ladyschaft davon abzubringen, waren ebenso gescheitert. Also hatten sie sich an diesem grauen Novembertag unter einem Vorwand aus dem Stadthaus in Belgravia geschlichen, um Mrs Pankhurst anzuhören und danach an einer Kundgebung teilzuhaben.

Selbst die mit Verve vorgebrachte Rede hatte Maud nicht davon überzeugen können, dass wählende Ladys die Welt verbessern würden. Denn Armut und Elend des Londoner East Ends würde es auch weiterhin geben, wenn Frauen ihre Stimme abgeben durften. Ganz zu schweigen davon, dass viele der Suffragetten das Wahlrecht nur für wohlhabende Damen forderten und arme Frauen weiterhin nicht das Recht bekämen, über ihr Schicksal zu entscheiden.

Trotz dieser Vorbehalte hatte Maud als gute Zofe ihre Lady begleitet und dabei insbesondere die Polizei im Blick gehabt. Sie hatte Übles darüber gehört, wie die Bobbys die Damen behandelten, die für das Frauenwahlrecht kämpften. Wenn die Polizisten schon nicht davor zurückscheuten, ihre Knüppel gegen feine Damen zu schwingen, wie mies würden sie dann erst eine Zofe anpacken?

Also entschied Maud, dass Weglaufen der klügere Teil der Tapferkeit wäre. Als die Ordnungshüter ihre Fassung wiedergewonnen hatten und mit erhobenen Schlagstöcken auf sie zupreschten, zog Maud Lady Christabel hinter sich her und schürzte die Röcke, um davonzurennen. Doch sie hatte nicht mit dem Eigensinn ihrer Ladyschaft gerechnet.

»Kommen Sie, Mylady.« Maud griff Lady Christabels Arm und wollte sie hinter sich her zerren, nur weg von den prügelnden Polizisten und schreienden Frauen. »Wir müssen abhauen, so schnell wir können.«

»Ich lasse meine Schwestern nicht im Stich.« Mit der ihr eigenen Sturheit stemmte Christabel Mowgray die Füße in den Boden und bewegte sich kein Stück. »Ich bin bereit, für meine Überzeugungen ins Gefängnis zu gehen.«

Manchmal kam es Maud vor, als wäre sie zwanzig Jahre älter als ihre Ladyschaft und nicht nur fünf. Womöglich wäre sie auch derart weltfremd, wenn sie mit einem goldenen Löffel im Mund geboren wäre wie Lady Christabel. Maud hatte gelernt, sich mit ihrem Platz in der Welt zu bescheiden, aber an Tagen wie diesen verfluchte sie das Schicksal, das sie nach London geführt hatte. Wenn ihre Ladyschaft in dieser bockigen Stimmung war, half nur eines: ehrliche und deutliche Worte.

»Das sagen Sie nur, weil Sie noch nie einen Knast von innen gesehen haben«, zischte Maud. »Dort stinkt es wie in einer Kloake und es ist eisig kalt. Sie müssen sich mit vielen einen winzigen Raum teilen. Kommen Sie!«

Zu Mauds Erstaunen gab Lady Christabel so plötzlich nach, dass Maud ins Stolpern geriet. Nachdem sie sich gefangen hatte, sah sie hoch und entdeckte einen Ausdruck von Verblüffung, gepaart mit Ekel auf Lady Christabels feinen Zügen. Aus verengten Augen musterte ihre Ladyschaft einen elegant gekleideten Gentleman, der sich weder von den Bobbys noch von den kreischenden Damen einschüchtern ließ. Die Polizisten, die eben noch auf Maud zugelaufen kamen, drehten um, um sich einfachere Opfer zu suchen.

Neugierig betrachtete Maud den Gentleman, den sie auf den ersten Blick unerfreulich fand. Möglicherweise hatte sie zu viele Kriminalromane gelesen, in denen die Bösewichte dunkelhaarige Männer mit eingefallenen Gesichtern waren. Aber nein, das war es nicht allein. Es war der Ausdruck von Arroganz und Langeweile, der auf seinen hageren Gesichtszügen lag. Die Mundwinkel waren spöttisch herabgezogen, als wüsste er mehr als die anderen in seiner Umgebung. Wer war das und was verband ihre Ladyschaft mit ihm?

»Christabel Mowgray. Wie überaus überraschend, Sie hier anzutreffen.« Ein süffisantes Lächeln erschien in seinen Mundwinkeln. »Ich hoffe sehr, Sie haben nichts mit dem Getümmel dort hinten zu schaffen?«

»Lucian Willmington.« Maud bemerkte, wie Lady Christabel ihre Nase rümpfte, als würde man sie mit einem verfaulten Stück Fleisch konfrontieren. »Auch ich habe nicht erwartet, Sie hier zu sehen.«

»Mylady«, drängte Maud, die fürchtete, dass ihnen wenig Zeit für höfliches Geplänkel blieb. »Wir sollten uns sputen.«

Weil sie es gewagt hatte, sich in das Gespräch der Herrschaften einzumischen, warf ihr Mr Willmington einen musternden Blick zu. Seine Mundwinkel zogen sich nach unten, aber er würdigte sie keiner weiteren Beachtung. Stattdessen wandte er sich an Lady Christabel.

»Ich hoffe, wir werden bald eine bessere Gelegenheit zum Plaudern finden.« Spöttisch verneigte er sich. »Normalerweise würde ich anbieten, Ihnen sicheres Geleit zu gewähren, doch ich habe einen wichtigen Termin.«

Bevor eine der beiden Frauen etwas erwidern konnte, hatte er sich schon umgedreht. Elegant schlängelte er sich zwischen den Männern hindurch, die eben noch am Straßenrand gestanden hatten und nun bedrohlich näher kamen.

»Was für ein Geck!«, zischte Lady Christabel. »Dass ich ausgerechnet ihm hier begegnen muss. Er wird es bestimmt meinem Vater erzählen.«

Das fehlt mir noch zu meinem Glück, dachte Maud und unterdrückte ein Aufseufzen. Denn wer wird die Schuld dafür bekommen? Hoffentlich erhalte ich nicht die Kündigung. Ihre Eltern sollten wissen, wie Lady Christabel ist, aber dennoch müsste ich die Angelegenheit ausbaden. Hölle und Hinkebein!

In dem Moment erklang ein schriller Schrei, als ein Bobby auf eine am Boden liegende Frau einschlug, die ihre Arme schützend über den Kopf erhoben hatte. Um sie herum nahm Maud ein wildes Durcheinander wahr und erkannte mit Schrecken, wie nahe ihnen die Ordnungshüter inzwischen erneut gekommen waren. Hätte Lady Christabel sich nur nicht mit dem Gespräch aufgehalten. Die ohnehin schmale Lücke, die ihnen eine Flucht ermöglichte, drohte sich zu schließen.

Als Maud spürte, wie die kämpferische Entschlossenheit ihrer Herrin angesichts des Dramas um sie herum weiter ins Wanken geriet, zog sie Lady Christabel hinter sich her. Mit schmerzenden Lungen raste sie auf die schmale Bresche zu, die ihnen den Weg in die Freiheit zeigte. Genau in diesem Moment kamen zwei Polizisten von links auf sie zu gerannt, die Gesichter unter den hohen schwarzen Kappen kaum erkennbar. Mauds Blick irrte umher, aber es gab kein Entkommen. Entweder standen ihnen weinende Frauen, die in Polizeigewahrsam genommen wurden, oder kämpfende Frauen, die mit ihren Handtaschen auf die Polizisten einschlugen, im Weg. Maud blieb stehen, um sich zu orientieren. Als Lady Christabel, überrascht von dem plötzlichen Halt, in sie hineinkrachte, stolperte Maud und schlug sich das Knie auf dem harten Kopfsteinpflaster Londons an.

»Hierher, schnell!«, erklang eine angenehme Stimme links von ihr. »Sputen Sie sich!«

Als Maud ihren Kopf wandte, erspähte sie einen ihr unbekannten Mann, der sie mit der linken Hand zu sich winkte. Die Tintenflecken an seinen Fingern waren das Erste, was ihr an ihm auffiel. Sie und das Notizbuch, das er eilig in die Tasche seines gut geschnittenen, aber abgetragenen Mantels schob, enttarnten ihn als Journalisten. Kurz verhielt sie und überlegte, ob sie dem Fremden vertrauen sollte. Meinte er es wirklich gut mit ihnen oder würde sie am nächsten Tag ein Foto und den Namen ihrer Ladyschaft in der »Daily Mail« entdecken?

Besser in der Zeitung als in Holloway! Wenn ich zulasse, dass Lady Christabel im Gefängnis landet, bringt ihre Mutter mich um. Nein, dafür ist die Countess of Waldeford zu vornehm, aber sie wird mich ohne Referenzen entlassen.

Diese Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Sie waren so beängstigend, dass Maud sich entschloss, ihr Schicksal dem Schreiberling anzuvertrauen. Mit einem kräftigen Stoß schubste sie ihre Herrin in seine Richtung, schlug einen Haken um den Polizisten, der die Hände nach ihr ausgestreckt hatte, und folgte Lady Christabel. Die hatte dem Mann ihre Hand gegeben, was Maud aufstöhnen ließ. Hoffentlich bemerkte niemand, wie unschicklich sich die junge Dame benahm. Jeder Fehler Lady Christabels würde ihrer Zofe angekreidet werden, das wusste Maud nur zu gut.

Galant hielt er ihre Hand, während er unvermutet die Richtung wechselte, um aus der sich anbahnenden Katastrophe zu entkommen. Der Journalist und Lady Christabel liefen so schnell, dass Maud Mühe hatte, ihnen zu folgen. Endlich verlangsamten sie ihre Schritte und bogen in eine der vielen kleinen Nebenstraßen ein.

Dankbar lehnte Maud sich an die roten Ziegel einer Hauswand und rang nach Atem. Nachdem sie wieder Luft bekam, sah sie sofort zu ihrer Ladyschaft und ihrem Retter. Die beiden standen sich gegenüber und er hielt noch immer ihre Hand. Maud verdrehte die Augen. Das würde gewiss kein gutes Ende nehmen.

»Danke«, hauchte Lady Christabel und senkte den Kopf. Zu Mauds Überraschung liefen die Wangen der jungen Frau rot an. »Sie haben uns gerettet. Wie furchtbar gemein diese Polizisten sind.«

So sanft, beinahe schüchtern, hatte Maud ihre Ladyschaft bisher nicht erlebt. Das war ihr Anlass und Grund, den jungen Mann, der sie gerettet hatte, gründlich zu begutachten. Er sah ansprechend aus, zweifelsohne, mit seinem braunen Haar und den grauen Augen. Eine klassische Nase, ein sinnlicher Mund und ein schmales Gesicht – alles wohlproportioniert, aber kein Grund zu erröten. Das Einzige, was ihn über die Vielzahl anderer gut aussehender Männer erhob, war die linke Augenbraue, die aussah, als hätte er sie fragend hochgezogen. Das gab seinem Gesicht einen pfiffigen Charme, von dem Maud nicht gedacht hätte, dass er Lady Christabel gefallen könnte.

»Es war mir ein Vergnügen.« Als der junge Mann verunsichert zu Boden sah, wünschte Maud sich einmal mehr, sie hätte verhindert, dass ihre Lady heute an der Kundgebung teilnahm. »Mein Name ist Fleeth. Nicholas Fleeth.«

Er schien mehr sagen zu wollen, aber ihm versagte die Stimme. Es war kein Wunder, dachte Maud, dass ihm die Worte fehlten. Selbst derangiert vom Kampf mit den Polizisten und außer Atem war Lady Christabel das Bild einer englischen Rose. Ihre Wangen, die jetzt gerötet waren, waren zart und ohne Makel, ihre großen Augen von einem exquisiten Graublau. Die etwas zu lange, schmale Nase und der etwas zu volle Mund minderten Lady Christabels Schönheit nicht etwa, sondern fügten sich zu einem Gesamtbild zusammen, das bereits mehreren Galanen das Herz gebrochen hatte.

Einzig die Haarfarbe, nicht blond, aber auch nicht braun, passte nicht perfekt. Bisher widersetzten sich die widerspenstigen Locken allen Versuchen Mauds, sie mit Hilfe von Kamillensud, Honig oder Backpulver aufzuhellen.

»Ich bin Christabel Mowgray«, sagte ihre Ladyschaft schließlich, den Blick weiterhin auf den jungen Mann gerichtet, als gäbe es nichts Wichtigeres.

Doch Maud hörte das Klappern genagelter Schuhe auf dem Straßenpflaster und musste erkennen, dass sie noch lange nicht in Sicherheit waren. Also schürzte sie erneut ihre Röcke, holte tief Atem und lief los. Über die Schulter rief sie den beiden Turteltauben zu: »Kommen Sie, sonst landen wir alle in Holloway!«

Kapitel Zwei

Während Christabel den langen Flur entlang zum Frühstückszimmer ging, kreisten ihre Gedanken nur um die Frage, warum sie noch nichts von Nicholas gehört hatte. Vor seiner Abreise hatte er ihr hoch und heilig versprochen, ihr jeden Tag eine Nachricht zu senden. Doch gestern war kein Telegramm gekommen oder aber – und dieser Gedanke bereitete ihr Sorgen – ihre Eltern hatten es abgefangen.

Auf keinen Fall durfte sie sich etwas anmerken lassen. Wenn sie sich durch Worte oder Gesten verriet, stünde ihre Zukunft auf dem Spiel. Niemals würde ihre Familie zulassen, dass Christabel unter ihrem Stand heiratete. Daher gab es nur eins: Sie musste mit ihrem Geliebten durchbrennen, nach Gretna Green vielleicht. Bei dem Gedanken an eine romantische, heimliche Hochzeit stieg ihre Stimmung und frohgemut öffnete sie die Tür zum Frühstückszimmer.

Wie jeden Morgen fiel ihr Blick auf die imposanten Porträts zweier Vorfahren, die in dem mit dunklem Holz verkleideten Raum hingen. Über dem Kamin war ein düster wirkender Herr in schwarzer Kleidung zu sehen, während an der langen Wandseite ein beinahe lebensgroßes Bild eines Mannes in roter Kleidung mit einem Hermelinkragen platziert war. Christabel mochte das Zimmer nicht, sie fühlte sich von diesen grimmig blickenden Vorfahren beobachtet und beurteilt.

Zu ihrer Überraschung frühstückte ihre Mutter heute nicht im Bett, sondern saß neben ihrem Ehemann am Frühstückstisch. Was mochte das nur zu bedeuten haben? Christabel hatte gelernt, jegliche Abweichung von der täglichen Routine als Bedrohung zu betrachten. Denn zumeist ging damit der Versuch ihrer Mutter einher, Christabel einen passenden Ehemann unterzujubeln. Daher wappnete sie sich innerlich, während sie freundlich lächelte.

Nachdem sie ihrer Familie einen guten Morgen gewünscht hatte, suchte sie sich einige Leckerbissen am Büfett. Verführerisch dufteten Würstchen und Speck, die auf Warmhalteplatten brutzelten. Pochierte Eier, Toast und zwei Scheiben Schinken – mehr gönnte Christabel sich nicht, weil sie sonst einen tadelnden Blick ihrer Mutter geerntet hätte.

Sie setzte sich neben Dahlia, ihre jüngere Schwester, und bestrich eine Toastscheibe dünn mit Butter. Warum nur schwiegen die Mitglieder ihrer Familie? Hatten sie etwa von Nicholas erfahren? Christabel ließ das Messer sinken, um das Zittern ihrer Finger zu verbergen.

»Ich habe Dudley Gillet gestern im Klub getroffen«, sagte ihr Vater betont beiläufig. »Er hat sich nach dir erkundigt.«

Alastair Mowgray schenkte seiner ältesten Tochter ein schmallippiges Lächeln. Jeder Zoll ihres Vaters gab ihn als »Landedelmann« zu erkennen. Seine hochgewachsene Gestalt wirkte sportlich und hager wie die eines Mannes, der viel Zeit auf dem Pferderücken zubrachte. Die kräftige Nase hatten glücklicherweise weder Christabel noch Dahlia geerbt. Das braune Haar trug er akkurat kurz geschnitten, das Kinn und die schmalen Wangen waren glatt rasiert. Langsam schlichen sich erste Strähnen von Grau in seine Haare, was ihm ein noch distinguierteres Aussehen verlieh.

Sie seufzte kaum hörbar. Das Manöver ihres Vaters war einfach zu durchsichtig. Warum nur hatte er sich in Fragen ihrer möglichst baldigen Heirat auf die Seite ihrer Mutter geschlagen? Schlimm genug, dass Rosalind Mowgray Christabel jeden Tag zu einem Besuch bei passenden Familien zerrte, damit sie dort begutachtet werden konnte wie eine Zuchtstute. Sicher, es war ungewöhnlich, dass Christabel bisher jeden Heiratsantrag ausgeschlagen hatte, obwohl einige vielversprechende Kandidaten darunter gewesen waren. Aber konnten ihre Eltern nicht begreifen, dass ihr die Liebe wichtiger war als eine gute Partie?

»Dudley ist ein furchtbarer Langweiler.« Christabel hielt den Blick stur auf ihren Teller gerichtet, weil sie fürchtete, dass ihre Miene sie verraten würde. »Er kann sich nur über Pferde und die Jagd unterhalten.«

Nun schaute sie ihren Vater direkt an und lächelte, um ihre Worte abzumildern, aber das half nichts. Als sie ihm Widerworte gab, kniff er die ohnehin schmalen Lippen zusammen, bis sie einen Strich bildeten. Die Falte zwischen seinen Augenbrauen vertiefte sich und er verengte die grauen Augen.

»Der junge Gillet ist eine gute Partie«, mischte sich nun, wie zu erwarten, ihre Mutter ein. Hinter Rosalind Mowgrays Lächeln verbarg sich die schlecht verhüllte Absicht, ihre älteste Tochter endlich angemessen zu verheiraten. Schließlich war Christabel bereits 22 Jahre alt und auf dem besten Weg, als alte Jungfer zu enden. Christabels unpassendes Benehmen verschlechterte die Heiratsaussichten für Dahlia, die in dieser Saison ihr Debüt gegeben hatte und nun, ebenso wie Christabel, jeden Tag zu Besuchen geschleppt wurde. Dahlia allerdings genoss den Heiratszirkus und konnte es kaum erwarten, die Ehe zu schließen. Ihr stellte sich nur die Frage, wen sie heiraten wollte, nicht ob.

»Lieber bleibe ich unverheiratet, als mein Leben in tödlicher Langeweile zu verbringen.« Christabel stieß ein undamenhaftes Schnauben aus. Selbst wenn sie nicht in Nicholas ihre große Liebe gefunden hätte, wäre Dudley niemals infrage gekommen. »Tante Lavinia führt ein viel spannenderes Leben als wir.«

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, was Christabel sehr deutlich machte, wie stark ihre Worte gegen die guten Sitten verstießen. Manchmal hasste sie es unglaublich, eine Angehörige des Adels zu sein, für die Hunderte von Benimmregeln galten. Die meisten von ihnen entstammten dem letzten Jahrhundert und hatten nach Christabels Auffassung nur die Aufgabe, Frauen zu einem langweiligen Leben zu verdammen. Ihre Eltern hingegen sahen darin die Basis des Funktionierens ihrer Gesellschaft, was immer wieder zu Konflikten führte. Weil sie ihre Eltern liebte, bemühte Christabel sich meistens, diese Streitigkeiten zu vermeiden, aber die Vorstellung, mit Dudley Gillet verheiratet zu werden, hatte sie diese Vorsicht vergessen lassen.

»Deine Tante kann sich ihren unkonventionellen Lebensstil nur leisten, weil sie durch das Erbe ihrer Patentante abgesichert ist.« Rosalind kniff die Lippen zusammen. »Wie würdest du dein Leben bestreiten wollen?«

»Wenn ihr mir erlauben würdet zu studieren, fände ich bestimmt etwas, mit dem ich meine Eigenständigkeit sichere.« Obwohl sie dieses Gespräch oder ein ähnliches bestimmt mehr als ein Dutzend Mal geführt hatten, konnte Christabel ihren Mund einfach nicht halten. »Frauen sollten mehr Möglichkeiten haben, als nur zu heiraten.«

Ihre Eltern wechselten einen Blick, wie ihn Christabel nur zu gut kannte. Falls sie nur einen winzigen Funken Hoffnung gehegt hatte, ihre Familie von ihrer Liebe zu Nicholas überzeugen zu können, starb er nun einen schnellen Tod.

»Mit deinen Reden verdirbst du mir jegliche Chance auf eine gute Partie«, mischte sich nun auch noch Dahlia ein. »Du könntest wahrlich etwas rücksichtsvoller sein.«

Wie können wir uns äußerlich nur so ähnlich sehen und uns so sehr unterscheiden, fragte sich Christabel, als die hohe Stimme ihrer Schwester erklang. Dahlia wich niemals vom Pfad der Tugend ab, sondern bemühte sich nach Kräften, das perfekte Bild einer britischen Lady abzugeben. Manchmal kam es Christabel vor, als wollte ihre Schwester ihr auf diesem Weg heimzahlen, dass Christabel eine bessere Fechterin und Reiterin war.

»Du machst unsere Familie noch zum Gespött Londons.« Himmel, musste ihr Bruder ebenfalls seine Meinung kundtun? »Etwas mehr Rücksicht würde dir gut zu Gesicht stehen.«

In diesem selbstgerecht-nasalen Tonfall hatte Basil bereits als Kind gesprochen. Selbst mit gutem Willen konnte man ihn nicht attraktiv nennen. Christabel mit ihrer spitzen Zunge nannte ihren Bruder farblos. Wie seine Schwestern war auch Basil dunkelblond und blauäugig, allerdings wirkten Augen und Haare bei ihm verwaschen oder ausgeblichen. Von seinem Vater hatte er die kräftige Nase geerbt, die sich nach links neigte, als hätte er sie sich bei einer Prügelei gebrochen. Etwas, was ihrem Bruder nicht im Traum einfallen würde. Mit seinem Vater gemeinsam hatte Basil außerdem die schmalen Lippen und die Angewohnheit, diese missbilligend zusammenzukneifen.

Im Unterschied zu Christabel und Dahlia, die das Reiten liebten, scheute ihr Bruder vor Pferden und körperlicher Betätigung zurück. Daher wirkte er trotz seiner zwanzig Jahre schlaksig und ungelenk wie ein Halbwüchsiger.

Christabel, die ohnehin wenig begeistert darüber gewesen war, einen Bruder zu bekommen, hatte es nie geschafft, ihre Abneigung gegen ihn zu überwinden. Wusste er doch immer alles besser und schien seine Bestimmung darin zu finden, Christabel zu tadeln.

»Genug.« Alastair erhob nur leicht die Stimme, aber die Schärfe seines Tons reichte aus, dass die Geschwister sich wieder ihren Mahlzeiten widmeten.

»Wir sind am kommenden Freitag zum Ball bei den Cavenleys eingeladen.« Weder Rosalinds Tonfall noch ihr Gesichtsausdruck ließen vermuten, wie sehr sie sich über die Debatte geärgert hatte. Aber Christabel kannte ihre Mutter gut genug, um zu wissen, wie wenig diese über ihre Ansichten erfreut war. »Christabel, Dahlia, morgen kommt die Schneiderin, um eure Kleider anzupassen.«

Bevor sie antworten konnten, kam ein Lakai herein und flüsterte Alastair Mowgray etwas ins Ohr. Er erbleichte und antwortete dem Bediensteten, bevor er sich erhob. Doch da öffnete sich bereits die Tür und Godfrey Riddington stürmte ins Speisezimmer.

Obwohl Christabels Patenonkel ein erfolgreicher Gutsbesitzer war, erinnerte er sie an einen zerstreuten Professor. Selbst wenn Godfrey sich Mühe gab, fand sich immer ein Makel an seiner Kleidung. Entweder saß die Krawatte schief, sein Ärmel zog einen Faden oder die Tasche war eingerissen, weil er seltsame Fundstücke hineingestopft und sie damit ausgebeult hatte.

Die blauen Augen unter buschigen Brauen blickten ein wenig verwirrt in die Welt, was darüber hinwegtäuschte, was für ein reger Verstand sich hinter ihnen verbarg.

Am auffallendsten war sein Lächeln, das etwas schief geriet, weil der linke Mundwinkel höher war als der rechte.

Christabel war ihren Eltern überaus dankbar, dass sie Godfrey als ihren Patenonkel ausgewählt hatten, weil er ihr wunderbare Geschichten erzählt hatte, als sie klein gewesen war. Später hatte er versucht, sie für die Naturwissenschaften und die Medizin zu begeistern, denen er sich in seiner Freizeit widmete. Aber leider konnte er Christabel nie dafür gewinnen.

Heute jedoch wirkte Godfrey weder fröhlich noch verwirrt, sondern aufgeregt und zutiefst erschrocken.

»Es tut mir leid, euch zu stören.« Ihr Patenonkel schaute in die Runde. Ein winziges Lächeln zog über sein Gesicht, als er Christabel sah, der er zunickte. »Es ist ein furchtbares Unglück geschehen.«

»Godfrey!« Alastairs Stimme klang scharf. »Das ist gewiss kein Thema für die Familie.«

»Sie werden es morgen sowieso erfahren. Die Zeitungen werden keine anderen Schlagzeilen aufweisen.«

Obwohl sie nicht wusste, was ihr Patenonkel Grauenvolles zu berichten hatte, spürte Christabel eine entsetzliche Angst. Ihr Herz schien einen Schlag auszusetzen. Mit einem Klirren fiel die silberne Gabel auf den Teller, was ihr die Aufmerksamkeit aller zuzog.

»Was ist geschehen?«, flüsterte sie. »Onkel Godfrey, du machst mir Angst.«

Ihre ausgeprägte Fantasie gaukelte ihr Bilder von Bränden, Morden oder gar einem Krieg vor. Möglicherweise zogen die Armen des Londoner East Ends rebellierend und plündernd durch die Straßen der Stadt und standen kurz davor, ihr Anwesen zu stürmen.

Alle Blicke richteten sich auf Godfrey Riddington, der sie ebenfalls ansah. Als Christabel entdeckte, wie verdächtig seine Augen glänzten, griff sie an ihre Kehle. Es fühlte sich an, als drückte jemand sie zu.

»Es tut mir leid, den Tag so beginnen zu müssen.« Godfrey holte tief Luft, sein Gesicht zeigte deutliche Anspannung. »Vor wenigen Stunden ist die Titanic gesunken. Das Schiff hat einen Eisberg gerammt und die Kollision nicht überstehen können.«

»Galt sie nicht als unsinkbar?«, hörte Christabel Basil fragen, während ihre Mutter einen Schreckensschrei ausstieß, gefolgt von: »So viele unserer Freunde befinden sich auf dem Schiff«.

Dahlia schluchzte leise, denn zwei ihrer Verehrer hatten auf der Titanic nach New York reisen wollen.

Christabels Gedanken kreisten nur um eins – Nicholas! Ihre zitternden Finger tasteten nach der Tasse, um einen beruhigenden Schluck Tee zu trinken, doch sie konnte das Porzellan nicht halten. Blicklos starrte sie vor sich hin, unfähig, einen anderen Gedanken als den Namen des geliebten Mannes zu fassen.

Erst als ihr Vater fragte: »Wie viele Menschen haben überlebt?«, schöpfte Christabel Hoffnung. Natürlich! Wie hatte sie nur vom Schlimmsten ausgehen können? Die Titanic war das modernste und sicherste Schiff ihrer Zeit. Gewiss hatten alle Passagiere den Zusammenstoß überstanden und befanden sich nun in Sicherheit in New York. Vor Erleichterung kamen ihr die Tränen.

Da ließ sich Godfrey schwer auf einen Stuhl fallen. Auf seinem ausdrucksstarken Gesicht spiegelten sich so viel Schmerz und Elend, dass Christabels Hoffnungen zusammenfielen wie ein Kartenhaus.

»Rowe, bringen Sie eine Tasse und einen Whiskey für Lord Riddington.«

»Es ist entsetzlich. Bisher heißt es, nur etwa ein Drittel der Menschen, die an Bord waren, konnte gerettet werden.«

»Nein! Nein! Nein!« Erst als sie das Wort wieder und wieder hörte, merkte Christabel, dass es ihr Mund war, der diese schrillen Schreie ausstieß. Sie schlug sich mit der Hand vor den Mund, bevor sie in einer gnädigen Ohnmacht versank.

Kapitel Drei

Als sie noch als Hausmädchen gearbeitet hatte, war Maud jedes Mal glücklich gewesen, wenn Mrs Eggerton sie zur Arbeit in der Bibliothek von Lentune Hall eingeteilt hatte. Obwohl Maud damals kaum des Lesens mächtig gewesen war, hatten sie die Holzregale voller in Leder gebundener Bücher beeindruckt. Wenn sie allein in dem taubengrau gestrichenen Raum war, nahm sie sich gern einen Folianten aus dem Regal und fläzte sich auf eines der drei tiefbraunen Ledersofas.

Auch wenn sie damals nur wenig entziffern konnte, liebte sie den Geruch des Papiers und das Gefühl eines Buches in ihren Händen. Wie sehr hatte sie sich als Hausmädchen gewünscht, sie hätte richtig lesen gelernt. Ein Wunsch, den ihr Lady Christabel erfüllt hatte, nachdem Maud ihre Zofe geworden war. Dafür war Maud ihrer Ladyschaft für den Rest ihres Lebens zu Dank verpflichtet. Die Fähigkeit hatte Maud eine völlig neue Welt eröffnet. Sie las alles, was sie in ihre Finger bekam: Detektivgeschichten, die Lady Christabel liebte, aber auch die Groschenromane, mit denen sich die Dienstmädchen ihre Zeit vertrieben. Selbst die landwirtschaftlichen und historischen Fachbücher, die Lord Mowgray gehörten, hatte Maud verschlungen.

Im Londoner Haus der Familie gab es nur eine kleine Bibliothek, überwiegend leichte Unterhaltungsromane und Zeitschriften, um sich die Zeit zwischen den Besuchen und Bällen zu vertreiben. Dennoch zog sich Maud gern dahin zurück, nachdem die Hausmädchen dort sauber gemacht hatten. Natürlich erst, nachdem sie ihre Arbeiten für Lady Christabel erledigt hatte. Für Maud war die Bibliothek ein Ort des Träumens und der Flucht vor dem Alltag.

Buch an Buch zogen sich hohe Regale aus dunklem Holz an den Wänden entlang. An einem Holzpaneel hingen Scherenschnitte, gruppiert um ein Gemälde, das den dritten Earl of Waldeford darstellte. Wenn man dem Porträt glauben konnte, musste der ein grimmiger Zeitgenosse gewesen sein, mit dem sicher nicht gut Kirschen essen gewesen war. Maud kam es immer vor, als würde er sie kritisch beäugen, weil sie als Zofe es wagte, in seine Bibliothek einzudringen.

Vor den Regalen stand ein runder Tisch mit zwei Sesseln, die förmlich dazu einluden, sich mit einem Buch niederzulassen. Heute jedoch hatte Maud dafür keine Zeit und ihr Interesse galt weniger gewichtiger Lektüre.

Auf dem Tisch landeten die Tageszeitungen »The Daily Telegraph« und »The Times«, nachdem die Herrschaften sie gelesen hatten und bevor sie zum Feueranzünden genutzt wurden. Da Maud wusste, wie sehr sich Lady Christabel nach Informationen über die Katastrophe der Titanic verzehrte, blätterte sie eilig die Zeitungen durch. Noch immer gab es keine Namensliste derjenigen, die das Unglück überlebt hatten. Maud seufzte. Für Lady Christabel war diese Ungewissheit unerträglich.

Vielleicht fanden sich andere Nachrichten, die das Interesse ihrer Ladyschaft weckten und sie von der bangen Frage ablenkten, ob Nicholas Fleeth das Desaster überlebt hatte. Wenn sie Glück hatte, hatte Lady Christabels Lieblingsautorin Winifred Ruteledge einen neuen Roman veröffentlicht. Mauds Blick fiel auf eine winzige Meldung über ein Hausmädchen, das sich mit Rattengift umgebracht hatte. Das arme Ding tat ihr leid und sie fragte sich, wie verzweifelt man sein musste, um so einen schmerzhaften Tod zu wählen?

Das war gewiss keine Nachricht, die Lady Christabel aufheitern würde. Vielleicht könnte Maud sie mit dem Bericht über die neueste Suffragetten-Kundgebung ablenken, obwohl Lady Christabel seit dem November vergangenen Jahres wenig Interesse dafür gezeigt hatte. Die Verliebtheit in Mr Fleeth hatte alle politischen Ambitionen verdrängt.

Nein, ich sollte keinesfalls etwas über Suffragetten berichten, das würde sie nur an das erste Zusammentreffen mit Mr Fleeth erinnern. Maud blätterte weiter. Wenn ich Glück habe, gibt es einen neuen Detektivroman; damit kann ich meiner Lady immer eine Freude machen.

»Hier sind Sie also.« Die dunkle Stimme und vor allem der vorwurfsvolle Tonfall waren Maud nur zu bekannt. Zwischen Harold Rowe, dem Butler, und ihr war es Abneigung auf den ersten Blick gewesen. Maud war sicher, dass er vor drei Jahren hatte verhindern wollen, dass sie die Stelle als Hausmädchen bekam, aber Mrs Eggerton hatte sich durchgesetzt. Dafür war Maud ihr unendlich dankbar.

Rowe schaffte es, die Butlern oft innewohnende Arroganz auf eine neue Stufe zu heben. Seine vollen Lippen waren stets missbilligend gekräuselt, seine engen braunen Augen schienen nur auf der Suche nach Fehlern zu sein. Glücklicherweise war die Natur ihm gegenüber nicht freundlich gewesen: Mr Rowe war sehr klein für einen Mann, Maud überragte ihn um einen Kopf, was er durch eine betont gerade Haltung wettzumachen suchte. Seine Haare hatten sich zurückgezogen, was er durch geschicktes Kämmen zu übertünchen versuchte. Wenn er ihr gegenüber nicht so hochfahrend wäre, hätte Maud ihm Tipps geben können, wie er seinen Haarausfall bekämpfen könnte. So jedoch schwieg sie und wünschte ihm eine baldige Glatze, die sicher schlecht zu seinem herrschaftlichen Auftreten passte.

An dem Tag vor knapp einem Jahr, an dem Lady Christabel Maud zu ihrer Zofe gewählt hatte, war Rowe dunkelrot angelaufen, als würde ihn der Schlag treffen. Auch heute noch ließ er Maud bei jedem gemeinsamen Essen der Dienstboten spüren, dass er sie für eine Hochstaplerin hielt, die es nicht verdiente, zu den oberen Dienstboten zu gehören.

Wenn er wüsste, wie richtig er liegt, würde man sein Triumphgeheul bis Westminster hören, hatte Maud manches Mal gedacht.

»Mr Rowe.« Sie nickte und lächelte süßlich. »Ich bin auf der Suche nach einem Buch für Lady Christabel.«

Kaum hatte sie ausgesprochen, ärgerte sie sich darüber, sich dem Butler gegenüber zu erklären. Sie war ihm keinerlei Rechenschaft schuldig, auch wenn Rowe sich das noch so sehr wünschte.

»Das hat Zeit.« Sein Tonfall wurde noch herablassender. »Lady Mowgray und Lady Dahlia erwarten Sie im Drawing Room auf Sie. Sie sollten die Damen nicht warten lassen.«

»Als ob ich das nicht selbst wüsste«, zischte Maud, allerdings so leise, dass der Butler sie nicht verstehen würde. So gerne sie ihm Widerstand geleistet hätte, war Maud zu klug, noch länger in der Bibliothek zu trödeln. Sie drängelte sich eng an Rowe vorbei, damit er zu ihr aufschauen musste.

Auf dem Weg in den kleinen Salon, den Rowe hochtrabend als »Drawing Room« bezeichnete, überlegte Maud, was Lady Christabels Mutter wohl von ihr wünschte. Hatte Lady Mowgray etwa von der Suffragetten-Kundgebung gehört? Oder, schlimmer noch, wusste sie von den heimlichen Treffen zwischen Lady Christabel und Nicholas Fleeth, bei denen Maud als Alibi und Anstandsdame gedient hatte?

»Myladys.« Maud knickste, nachdem sie die Tür zum Salon geöffnet hatte. Lady Mowgray saß aufrecht auf einem der hohen Sessel mit den gestreiften Bezügen, während ihre Tochter danebenstand, eine Hand auf die Lehne gelegt. Beide wirkten, als stünden sie für jemanden Porträt und nicht, als wollten sie mit einer Bediensteten sprechen.

Der »Drawing Room« bildete eine ansprechende Kulisse für dieses Bild. Auf einem zierlichen dunkelbraunen Tisch mit dünnen, hohen Beinen stand eine Vase mit Lilien, die einen betäubenden Duft verströmten. Daneben lagen polierte Äpfel in einer silbernen Schale. Aus den bodentiefen Fenstern, umrahmt von zartroten Vorhängen, fiel Sonnenlicht auf die beiden Frauen und ließ ihre Haare schimmern.

Wie jedes Mal, wenn sie Lady Dahlia sah, staunte Maud über deren frappierende Ähnlichkeit mit Lady Christabel. Allerdings wirkten Dahlia Mowgrays Gesichtszüge schwächer und zarter, so wie auch Lady Dahlia selbst, die oft kränkelte. Maud hegte den Verdacht, dass die junge Frau die Krankheit nur vortäuschte, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Es brauchte einen Betrüger, um einen Betrüger zu erkennen.

Lady Dahlias Augen waren von einem so sanften Blau, dass sie grau schimmerten. Ihre Lippen waren schön geschwungen, aber schmal. Da sie, wie auch Vater und Bruder, die unangenehme Angewohnheit hatte, die Lippen missbilligend zusammenzupressen, zeigte sich eine leichte Falte am Mundwinkel. Maud brauchte nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, wie die jüngste Mowgray in fünfzehn Jahren aussehen würde: eine hagere, stets pikiert wirkende Dame.

Ebenso wie Lady Christabels Haare waren die von Lady Dahlia von einer Farbe, die zwischen Blond und Braun schwankte, allerdings von dunklerer Tönung als die ihrer Lady. All das nahm Maud in der kurzen Zeit wahr, in der sie auf eine Antwort von den Damen wartete.

Lady Mowgray winkte sie mit einer Handbewegung näher. Es war unübersehbar, von wem die jungen Ladys ihren Liebreiz geerbt hatten. Rosalind Mowgray war immer noch eine auffallend schöne Frau. Die Köchin hatte Maud erzählt, dass einige junge Herren mit Selbstmord gedroht hatten, sollte Rosalind sie nicht erhören. Wenn man Nellie Cramton glauben konnte, war es für alle überraschend gekommen, als Rosalind sich für Alastair Mowgray entschieden hatte. Angeblich hatte sie deutlich reichere Galane und auch weitaus attraktivere Verehrer gehabt.

Einem großartigen Stammbaum, aber gewiss auch teuren Cremes war es zu verdanken, dass Lady Mowgrays alabasterfarbene Haut kaum Falten zeigte. Nur ihr Hals verriet, dass sie die 40 bereits überschritten hatte.

Von Lady Christabel hatte Maud des Öfteren gehört, wie sehr sie es bedauerte, nicht die auffallend hellgrauen Augen und das hellbraune Haar ihrer Mutter geerbt zu haben. Maud hingegen, ganz loyale Zofe, betrachtete Lady Christabel als die schönste der Damen Mowgray.

»Gulliver.« Lady Mowgray sprach Maud immer mit ihrem Nachnamen an, was diese nicht mochte, obwohl es üblich war. »Sie haben erlebt, wie schwer meine sensible Tochter das tragische Unglück der Titanic nimmt.«

Wusste sie von Nicholas Fleeth und das war ein Versuch, Maud auszuhorchen?

»Gewiss, Mylady.« Innerlich wappnete Maud sich gegen die Vorwürfe, die wahrscheinlich auf sie einprasseln würden. Ob es ihr gelänge, sich aus der Bredouille zu reden?

»Heute wurde die Liste der Überlebenden veröffentlicht«, sprach Lady Mowgray mit leiser Stimme weiter. Lady Dahlia legte ihr die Hand auf die Schulter. »Es sind entsetzlich viele Menschen unserer Kreise unter den Opfern.«

»Das tut mir leid.« Maud bemühte sich um einen mitfühlenden Tonfall, aber sie konnte nur an die Zahlen denken, von denen sie gehört hatte. Daran, wie viele Menschen der zweiten und dritten Klasse elendig ertrunken waren, während sich die reichen Passagiere in die wenigen Rettungsboote geflüchtet hatten.

»Was meinen Sie, Gulliver, sollten wir Christabel davon erzählen?«

»Mylady?« Maud sah überrascht auf. Bisher hatte die Dame des Hauses sie noch nie um ihre Meinung gebeten.

»Was meine Mutter meint«, stieß Lady Dahlia ungnädig hervor. »Sie kennen meine Schwester gewiss besser als wir. Bringen Sie ihr die schlimme Nachricht schonend bei.«

»Hier.« Lady Mowgray reichte ihr ein Papier, das offiziell aussah. »Ich werde meine Tochter in einer halben Stunde aufsuchen.«

»Gewiss, Mylady.« Maud knickste noch einmal, bevor sie sich auf den schweren Gang begab.

Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, faltete sie sofort das Schreiben auf und suchte nach dem einen Namen, der für Lady Christabel alles bedeutete. Hölle und Hinkebein! Selbst beim dritten Lesen konnte Maud ihn nicht finden. Wie ärgerlich und feige, dass Lady Mowgray ihr die traurige Aufgabe überlassen hatte. So lange sie auch überlegte, Maud wollte nichts einfallen, wie sie Lady Christabel die Nachricht schonend beibringen konnte.

Langsam, als wäre sie um dreißig Jahre gealtert, schlich sie die braune Holztreppe hoch, die zu den oberen Stockwerken führte. An der Wand hingen dicht an dicht Gemälde, die männliche und weibliche Vorfahren der Mowgrays zeigten. Selbst wenn Sonnenlicht durch die Fenster fiel, wirkten die Bilder dunkel und bedrohlich. Maud kam es immer vor, als würden die Ahnen der Mowgrays sie beurteilen und für unwürdig befinden.

Vor Lady Christabels Tür angekommen, hielt Maud an. Ihrer Erfahrung nach gab es keinen leichten Weg, schlimme Neuigkeiten zu überbringen. Es half nichts, um den heißen Brei herumzureden. Am besten würde es sein, ohne falsche Rücksichtnahme die bittere Wahrheit auszusprechen. Sie konnte nur hoffen, dass Lady Christabel die Botin nicht für die Nachricht verantwortlich machte.

Maud atmete einmal tief durch, bevor sie klopfte und ins Zimmer trat. Wie jedes Mal erfreute sie sich an der sanften Schönheit des Zimmers, das viel freundlicher wirkte als der dunkle Flur. Zarte Blautöne dominierten Lady Christabels Räume, und ihre Fröhlichkeit passte gar nicht zu unglücklichen Nachrichten, die Maud überbringen musste. Die Vorhänge schimmerten wie das Meer an einem sonnigen Vormittag, die Tapete war von einem sanften Himmelblau. Auf die Tagesdecke des mit einem dunklen Holzrahmen umgebenen Bettes waren Hortensien, Vergissmeinnicht und Himmelsschlüssel eingestickt.

Den einzigen Farbklecks bildete ein rot gemusterter Läufer, auf dem der dunkelbraune Frisiertisch stand. Ein Kleiderschrank und eine Kommode aus dem gleichen Holz enthielten Lady Christabels Garderobe. Alles wirkte wie immer – bis auf Lady Christabel, die auf ihrem Bett lag und Maud den Rücken zuwandte. Ihre Schultern bebten vom Schluchzen.

»Sie wissen es schon?« Maud sprach so sanft, wie es ihr möglich war. »Lady Christabel, möchten Sie einen Tee?«

Als sie Mauds Stimme hörte, drehte ihre Ladyschaft sich um und setzte sich auf. Ihre Augen waren rot verquollen, ebenso wie ihre Nase. Die Haare sahen aus, als hätte ein Vogel darin sein Nest gebaut.

»Ich will keinen Tee. Ich will sterben!« Die Stimme von Lady Christabel zitterte. »Er ist dabei. Nicholas gehört zu den …«

Sie konnte die furchtbare Wahrheit nicht aussprechen, aber Maud verstand sie auch so. Lady Christabels geheime Liebe war dem Unglück der »Titanic« zum Opfer gefallen, so wie mehr als 1.700 Menschen. Vor ihr auf dem Ankleidetisch lag »The Times« von heute, in der alle Toten des Schiffsunglücks aufgelistet waren. Daran, die aktuellen Zeitungen zu verbergen, hatte Lady Mowgray nicht gedacht.

Mauds Herz wurde schwer, es erschien ihr unfassbar, dass der so lebendige junge Mann niemals von seiner Reise zurückkehren würde. Wie so viele andere arme Seelen.

»Oh Maud, was soll ich nur machen?« Lady Christabel verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Eine einsame Träne rollte ihre Wange herunter, was sie nicht einmal zu bemerken schien. »Ich kann nicht einfach vorgeben, alles wäre gut. Ich will nicht auf den Ball gehen.«

»Wollen Sie Ihren Eltern etwa von Nicholas erzählen?« Panik schoss in Maud hoch. Bestimmt würden sich der Earl und die Viscountess of Waldeford nach dem ersten Schock fragen, wie es ihrer Tochter gelungen war, einen Journalisten kennenzulernen. Sicher bedurfte es keiner großen Denkleistung, um auf Maud als Schuldige zu kommen.

»Selbstverständlich werde ich darüber schweigen.« Selbst in ihrer Trauer konnte Lady Christabel arrogant klingen. »Ich will mir nicht anhören, was meine Eltern Böses über Nicholas sagen würden.«

»Sie werden darüber hinwegkommen«, sagte Maud weich. »Eines Tages.«

Die Lüge kam ihr glatt über die Lippen. Obwohl sie Patrick vor drei Jahren verloren hatte, kam kein anderer Mann für sie infrage.

»Das verstehst du nicht.« Lady Christabels Blick begegnete Mauds. »Du hast niemals jemanden so sehr geliebt wie ich Nicholas.«

Was wissen Sie schon, dachte Maud. Wie kommt es nur, dass die Herrschaft meint, wir Menschen unten haben kein eigenes Leben? Ich könnte ihr erzählen, was die Liebe aus einem macht, aber sie würde es mir nicht glauben, einfach weil sie sich nicht vorstellen kann, die gute alte Maud hätte ein Leben vor dem Dasein als Zofe gehabt. Ein Leben, von dem ich jeden Tag fürchte, dass es mich einholt.

Kapitel Vier

Verschwinde, Maud, ich will allein sein. Mir geht es nicht gut«, brachte Christabel mit rauer Stimme hervor. Die Tränen hatten sie müde werden lassen und ihrer Stimme einen Klang verliehen, als wäre sie erkältet. Was Christabel nur recht war, denn seit zwei Wochen hütete sie das Bett und gab vor, einen Schwächeanfall erlitten zu haben.

Selbst die Mahlzeiten ließ sie sich ans Bett bringen, um nur ja mit niemandem außer ihrer Zofe reden zu müssen. Ihre Schwester hatte kurz vorbeigeschaut, war allerdings sofort aus dem Zimmer geflüchtet, als Christabel demonstrativ gehustet hatte.

Ihre Mutter kam jeden Tag vorbei und hoffte, Christabel dazu überreden zu können, ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen wieder aufzunehmen. Allerdings schien sie nur mit halbem Herzen bei der Sache zu sein. Selbst wenn ihre Mutter geahnt hatte, dass mehr als das übliche Mitgefühl für die Opfer der Katastrophe ihre Tochter niederdrückte, akzeptierte sie deren Trauerphase.

Nur Maud wollte einfach keine Ruhe geben, sondern zwang Christabel dazu, mit ihr zu reden. So auch heute. Obwohl Christabel die Augen fest geschlossen hielt, spürte sie, wie Licht in ihr Zimmer drang, als die Zofe die Vorhänge aufzog. Daher zog Christabel die Decke über den Kopf und hoffte, Maud damit vertreiben zu können. Das war mehr als deutlich, nicht wahr?

»Maud!«, rief sie empört, nachdem die Decke mit Schwung von ihr heruntergezogen wurde. »Verschwinde! Ich will nicht aufstehen.«

Sie drehte sich zur anderen Seite und wandte ihrer Zofe den Rücken zu. Als sie hörte, wie die Dienstbotin sich räusperte, empfand Christabel ein winziges Triumphgefühl. Zum ersten Mal seit Nicholas’ Tod hatte sie sich gegen Maud durchsetzen können.

»Es ist genug!«

Sofort, als sie die Stimme vernahm, setzte Christabel sich auf und öffnete die Augen. Vor ihr, die Bettdecke in den schmalen, eleganten Händen, stand ihre Mutter, die schönen Gesichtszüge im Ärger verzogen.

»Mutter.« Mehr fiel Christabel nicht ein. Noch nie hatte Christabel erlebt, dass Lady Rosalind Vorhänge öffnete wie ein Hausmädchen. Erschrocken schloss Christabel die Augen wie früher, als sie sich vor der Nanny verstecken wollte, indem sie das Gesicht hinter den Händen verborgen hatte.

»Mein Kind.« Rosalind Mowgray berührte die Schulter ihrer Tochter. »Meine Liebe, hier ist eine Einladung für dich.«

»Ich will es nicht wissen.« Christabel öffnete die Augen, um ihre Mutter mitleidheischend anzusehen. »Mutter, wie kannst du an Vergnügen denken, da viele unserer Freunde und Bekannten einen furchtbaren Tod fanden?«

»Es ist genug!« Rosalinds klare Gesichtszüge verhärteten sich. Sie kniff die Lippen zusammen, ein sicheres Zeichen, wie ernst es ihr war. »Ich habe dir lange genug deine Schwäche durchgehen lassen. Du bist eine Mowgray. Wir weichen nicht im Angesicht von Schicksalsschlägen. Egal, wie tief sie uns treffen.«

Christabel schloss wieder die Augen und drehte sich erneut demonstrativ zur Wand. Ob ihre Mutter ahnte, dass sie um einen besonderen Menschen trauerte? Man konnte Lady Rosalinds Worte als allgemeinen Appell begreifen, aber auch als Ansprache für jemanden, dem die große Liebe genommen worden war. Wenn sie sich Rosalind doch nur anvertrauen könnte. Wenn sie ihrer Mutter nur beichten könnte, was für einen furchtbaren Verlust der Untergang der Titanic für sie mit sich gebracht hatte. Das entsetzliche Unglück hatte Christabels Zukunftspläne von einem Augenblick auf den anderen zerstört.

»Schau mich an!« Der Tonfall ihrer Mutter war schneidend. »Du drehst dich nicht weg von mir.«

Selbst in ihrer dumpfen Traurigkeit wagte Christabel es nicht, sich Lady Rosalind zu widersetzen. Langsam, sehr langsam drehte sie sich um und öffnete die Augen. Ihre Mutter hatte sich den Stuhl der Frisierkommode herangezogen und blickte auf ihre Tochter herab, die sich aufsetzte.

»Ich habe ein Frühstück für dich zubereiten lassen.« Rosalind musterte Christabel durchdringend, als wollte sie deren Geheimnisse durchschauen. »Danach wirst du baden und dich ankleiden. Heute Nachmittag werden wir zu Besuchen aufbrechen.«

»Ich habe keinen Hunger und fühle mich immer noch schwach.«

»Du wirst etwas essen und du wirst mich begleiten.«

Einen Moment lang überlegte Christabel, sich ihrer Mutter anzuvertrauen, aber was würde das nützen? Bestenfalls würde Rosalind sie verstehen und ihr langweilige Besuche ersparen. Allerdings erschien dies Christabel nicht sehr wahrscheinlich.

Schlimmstenfalls – und leider auch viel wahrscheinlicher – würde ihre Mutter sie mit Vorwürfen überschütten, Maud entlassen und Christabel dazu zwingen, möglichst schnell irgendeinen Mann zu heiraten, nur damit sie ihrer Familie ja keinen Skandal brachte. Wie hatte es ihre Mutter hart, aber passend formuliert? Eine Mowgray wusste, was ihre Pflicht war, und handelte demgemäß.

»Gut, Mutter.« Sie seufzte. »In einer Stunde werde ich präsentabel sein.«

Rosalind nickte kurz, erhob sich und ging. Kurze Zeit später öffnete sich die Tür wieder. Maud brachte ein Tablett herein, auf dem sich neben einer Teekanne ein Teller mit Toast, Marmelade, Butter und ein weich gekochtes Ei befanden. Obwohl sie keinen Hunger verspürte, bestrich Christabel mechanisch den Toast mit Butter, bevor sie einen Klecks der Erdbeermarmelade darauf verteilte.

»Geht es Ihnen besser?« Maud öffnete die Fenster, schüttelte die Sofakissen auf und richtete die Bücher auf dem Tischchen neben dem Sofa schnurgerade aus. »Soll ich Ihnen ein Stück Schokoladenkuchen holen? Schokolade tröstet.«

»Nein, nichts kann mich trösten.« Christabel legte den Toast nach einem Bissen zur Seite. Er schmeckte wie Asche. »Lass mich allein. Nein, lass mir erst ein Bad ein.«

»Lady Christabel, schauen Sie. Die Sonne kommt heraus.«

»Das hat keinen Zweck.« Obwohl sie tapfer dagegen ankämpfte, kamen ihr wieder die Tränen. »Ich kann mich an nichts erfreuen, seitdem Nicholas tot ist.«

Konnte ihre Zofe das nicht begreifen? Mit der Titanic war Christabels Zukunft untergegangen. Nie wieder würde sie einen Mann so lieben können wie ihren Nicholas.

»Lady Mowgray hat gesagt, Sie wollen heute Nachmittag Besuche machen.«

»Ich will das nicht, aber meine Mutter ist der Ansicht, ich muss unbedingt unter die Haube.«

»Vielleicht habe ich eine Lösung.« Maud lächelte. »Lady Lavinia hat gestern gefragt, ob Sie sie heute Nachmittag empfangen möchten.«

Ihre Tante Lavinia war für Christabel ein leuchtendes Vorbild, zeigte sie doch, wie glücklich und zufrieden eine unverheiratete Frau sein konnte. Sicher, Tante Lavinia lebte von dem großzügigen Erbe, das ihre Patentante ihr hinterlassen hatte, aber Christabel war sicher, dass ihre Tante einen Weg gefunden hätte, zu Geld zu kommen, sollte das nötig sein.

Ihre Tante war der fröhlichste und zufriedenste Mensch, dem Christabel je begegnet war. Schalk blitzte in den braunen Augen, die vollen Lippen lächelten oft und gern, was zu starken Falten um die Mundwinkel geführt hatte.

»Das sind Zeichen eines langen und fröhlichen Lebens«, pflegte Lavinia zu sagen. »Warum soll man mir das nicht ansehen?«

Obwohl sie fürchtete, Lavinias Fröhlichkeit nicht gewachsen zu sein, wäre der Besuch ihrer Tante gewiss eine wunderbare Ablenkung. Lavinia kannte stets den neuesten Tratsch und fand immer wohlgesetzte Worte, um ihn zu verbreiten.

»Wunderbar.« Christabel stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »So erspare ich mir Besuche gemeinsam mit meiner Mutter. Maud, ich kann den Schmerz nicht ertragen.«

»Es wird weniger. Irgendwann.«

»Woher willst du das wissen?«, zischte Christabel, was ihr gleich darauf furchtbar leidtat. »Entschuldige, das war gemein von mir.«

Manchmal konnte Christabel sich nicht des Eindrucks erwehren, dass sich hinter Mauds dienstbarer Fassade eine überaus spannende Geschichte verbarg. Nicht, dass sich ihre Zofe jemals eine zu große Vertraulichkeit oder gar Frechheit herausgenommen hätte, aber man konnte ihren aufmüpfigen Geist spüren. Christabel redete sich gerne ein, dies sofort erkannt zu haben, weil auch sie diese rebellische Ader besaß.

Manchmal, wenn Maud meinte, von niemandem gesehen zu werden, huschte etwas Dunkles über ihr Gesicht. Nur zu gerne wollte Christabel herausfinden, was dieses Geheimnis war, aber bisher war es ihr nicht gelungen, ihrer Zofe deren Vergangenheit zu entlocken. Obwohl Christabel der Ansicht war, überaus geschickt vorgegangen zu sein. Schließlich hatte sie etliche Detektivromane und verwickelte Geschichten gelesen, die sie zu einer Expertin in Ermittlungen machten. Allerdings hatte Maud diese Romane ebenfalls gelesen und war daher in der Lage, ihr Paroli zu bieten.

Ob Maud wohl jemals jemanden geliebt hat?, fragte sie sich. Schön genug ist sie ja.

Christabel musterte ihre Zofe, während diese ihr konzentriert die Haare aufsteckte. Bernstein war das Wort, mit dem sie Maud beschreiben würde, dunkler Bernstein. Angefangen von den rotbraunen Haaren über die etwas dunkleren Augenbrauen bis hin zu den ungewöhnlichen Augen, die je nach Lichteinfall dunkelbraun bis bernsteinhell schimmerten. Selbst Mauds Sommersprossen, die sie auch im Winter nicht verließen, waren bernsteinfarben. Die Sommersprossen bedeckten die Wangen, die lange, etwas linksgeneigte Nase und verteilten sich um den vollen Mund bis hin zum Kinn.

Erschütternd, wie wenig sie über ihre Zofe wusste. Aber selbst unter Aufbietung ihrer ganzen Fantasie konnte Christabel sich Maud nicht als hoffnungslos Liebende vorstellen. Ihre Dienstbotin stand viel zu sehr mit den Beinen auf dem Boden, als dass sie sich in einer Liebe verlieren würde.

»Was wollen Sie heute anziehen?«, fragte Maud, als hätte Christabel sie nicht gerade eben böse angefaucht. Wo lernte das Personal nur, alles hinzunehmen und zu schlucken, ohne sich zu wehren?

»Maud, ich ertrage es nicht, mein Leben in London weiterzuführen, als wäre nichts geschehen.« Christabel trank einen Schluck Tee, der für sie nach nichts schmeckte. »Vielleicht sollte ich nach Lentune Hall zurückkehren.«

Ja, das erschien ihr eine gute Idee. Christabel hatte sich auf dem Landsitz immer wohler gefühlt als in London. In der vertrauten Umgebung von Lentune Hall würde sie trauern und möglicherweise heilen können. Dort konnte sie ihre Tage auf dem Pferderücken verbringen und bei einsamen Ritten durch die Wälder an ihre verlorene Liebe denken.

»Dort sind nur wenige Dienstboten, die Zimmer sind alle eingedeckt. Es wird sein wie ein Geisterhaus.«

»Ach, Maud. Was soll ich denn sonst machen? In London erinnert mich alles an Nicholas.«

»Allein in der letzten Woche haben Sie drei Einladungen für Landpartys erhalten.« Maud ging zu dem runden Tischchen, auf dem Christabel ihre Korrespondenz aufbewahrte. »Vielleicht sollten Sie eine davon annehmen?«

»Lange Tage mit oberflächlichen Gesprächen, dem Beobachten von Affären und Intrigen.« Christabel rieb sich die Nase. »Ja, das könnte mich ablenken. Wer hat uns geschrieben?«

»Der Earl of Guilwicke lädt nach Greenwood Park ein.«

»Zu weit weg. Da sind wir fast einen Tag für Anreise und Abreise unterwegs.«

»Dann ist hier eine Karte von den Seydons aus Wentworth Castle.«

»Das ist näher, aber beim letzten Besuch ist mir Reginald nicht von der Seite gewichen. Das kann ich jetzt nicht ertragen.« Christabel seufzte. »Aller guten Dinge sind drei.«

»Die Willmingtons bitten Sie, nach Ashburn Abbey zu kommen.«

»Wirklich? Warum weilen sie nicht weiter in London?« Christabel setzte sich auf. »Die Saison ist doch noch nicht vorbei. Ich habe nichts darüber gehört, dass Unity sich verlobt hat.«

Zum ersten Mal seit der schrecklichen Nachricht empfand sie ein anderes Gefühl als Traurigkeit. Langsam wuchs die Neugier, warum sie der Earl und die Countess of Aylesgrave überraschend einluden. Ob es an der Begegnung mit Lucian im vergangenen November lag?

Als sie sich an die Kundgebung der Suffragetten erinnerte, überfiel sie wieder Traurigkeit. Denn neben der unerfreulichen Begegnung mit dem jüngsten Sohn der Willmingtons hatte der Tag ihr Nicholas geschenkt. Als erneut Tränen in ihre Augen traten, suchte Christabel nach etwas, das sie ablenken konnte.

»Ich war noch nie bei ihnen.« Verstohlen wischte sie sich die Träne ab, die ihre Wange hinabkullerte. »Das ist die erste Einladung, die ich von ihnen erhalte.«

Seltsam, dass Christabel bisher niemals eine Landparty auf dem Herrensitz besucht hatte, gehörten die Willmingtons und ihre Familie doch zum Landadel, bei dem gegenseitige Besuche zum guten Ton gehörten.

»Wann sollen wir dort sein?« Christabel griff nach einem weiteren Toast. Mit der Ablenkung kam ihr Hunger. »Habe ich passende Kleidung für einen Aufenthalt auf dem Land?«

»Am kommenden Wochenende.« Maud las die Einladung. »Sie hätten bis gestern eine Antwort erteilen sollen.«

»Da wir nur zu zweit anreisen werden, nehmen sie das hoffentlich nicht eng.« Christabel schwang die Beine aus dem Bett. »Maud, bring mir mein Briefpapier und lass mir dann ein Bad ein.«

Die bange Frage, ob Lucian Willmington sich an den Protestmarsch erinnerte, schob sie erst einmal beiseite. Er würde sie gewiss nicht vor seiner Familie bloßstellen, denn schließlich war sie ein Gast.

Kapitel Fünf

Während ihre Ladyschaft sich nur Gedanken darüber machen musste, was sie auf Ashburn Abbey tragen wollte, oblag es Maud, sich um die Garderobe zu kümmern und die Reise zu planen. Sie würden den Zug nehmen, weil Lord Mowgray das Automobil benötigte. Maud war das nur recht, denn ihr behagte die Vorstellung, Stunden in dem engen Gefährt zu sitzen, beileibe nicht.

Nun blieb ihr nur noch, sich von ihren Freundinnen zu verabschieden, bevor sie sich mit einer überraschend gut gelaunten Lady Christabel auf die Reise begeben würde.

»Mach Lentune Hall keine Schande, Maud.« Jessamine Eggerton, die Hausdame, beugte sich vor, um Maud ins Ohr zu flüstern. »Selbst wenn der Butler dort unseren Mr Rowe in den Schatten stellt, bemühe dich, höflich zu bleiben.«

»Es wird mir schwerfallen.« Maud stieß einen Seufzer aus. »Ich verstehe nicht, wie Sie mit ihm zurechtkommen.«

»Harold hat seine guten Seiten.« Mrs Eggerton lächelte, was ihr kantiges Gesicht weicher werden ließ. Die Hausdame von Lentune Hall war keine klassische Schönheit. Ihr Gesicht war zu kantig, die Nase zu groß, der Mund zu schmallippig und die Augen von einem langweiligen Braun. Ihr eher biederes Äußeres machte sie durch viel Energie und eine überraschend tiefe Stimme wett.

»Maud, lass unsere Lady nicht warten«, mischte sich die Köchin ein. »Sonst überlegt sie es sich noch anders.«

Selbstverständlich hatten die Dienstboten mitbekommen, wie sehr Christabel Mowgray in den vergangenen Wochen gelitten hatte. Maud war sicher, dass sie alle sich ihre Gedanken darüber gemacht hatten, aber sie ihr gegenüber nicht äußerten.

Als Zofe war sie weder Fisch noch Fleisch. Für die Hausmädchen galt sie als obere Dienstbotin und wurde daher nicht in deren Klatsch und Tratsch eingebunden. Für die oberen Dienstboten war sie immer noch ein Hausmädchen, das den Aufstieg geschafft hatte, aber nicht wirklich zu ihnen gehörte. Manchmal fühlte sie sich einsam, obwohl Mrs Eggerton und Mrs Cramton wirklich freundlich zu ihr waren.

»Wenn dir ein neues Gericht unterkommt, vergiss nicht, dir das Rezept geben zu lassen.« Die Köchin drohte Maud spielerisch mit dem Finger. »Ich werde Lady Christabel ebenfalls danach fragen. Also vergiss es bloß nicht.«

Die runde Frau mit den ergrauten Haaren zog Maud in eine Umarmung. Maud konnte den Geruch erschnuppern, der die Köchin stets begleitete: Bratfett, frisch gebackenes Brot und karamellisierter Zucker. Sofort fing ihr Magen an zu knurren, obwohl sie gerade erst gegessen hatte.

»Wehe, dir schmeckt dort etwas besser als hier.« Nellie Cramton verengte die ohnehin kleinen grünen Augen. Tiefe Tränensäcke zeugten von einem Leben voll harter Arbeit. »Das betrachte ich als Verrat.«

»Niemand kann sich mit Ihren Leckereien messen«, antwortete Maud im Brustton der Überzeugung. Als Kind hatte sie Hunger gekannt und wusste daher die regelmäßigen Mahlzeiten zu schätzen. Inzwischen hatte sie auch gelernt, die Kochkunst von Nellie Cramton zu würdigen. »Ich muss los.«

Als sie durch die große Halle eilte, schlug die Standuhr elfmal. Obwohl es den Dienstboten untersagt war, im Haus zu rennen, schürzte Maud ihre Röcke und sprang die breite Treppe hoch. Sie klopfte einmal, bevor sie die Tür zu Lady Christabels Zimmer aufriss.

»Kommen Sie, Mylady.« An ihrem Tonfall merkte man, dass Maud langsam die Geduld verlor. »Wenn wir uns nicht beeilen, verpassen wir den Zug.«

»Meinst du nicht, ich sollte das zitronengelbe Kleid mitnehmen? Es schmeichelt meinem Teint.«

»Aber es lässt Ihre Haare stumpf aussehen«, würgte Maud jegliche weitere Diskussion ab. »Der Chauffeur wartet.«

Endlich schloss ihre Ladyschaft die Schranktür und folgte ihr die Treppe hinab, durch die große Eingangshalle bis zur Tür.

Dort wartete Rowe, der es sich nicht nehmen ließ, sich von Lady Christabel zu verabschieden und Maud mit einem Blick zu bedenken, in den er seine ganze Abneigung legte.

»Ich wünsche Ihnen eine gute Reise.« Egal, wie sehr er sich um eine saubere Aussprache bemühte, seinen Akzent aus Nordengland konnte Maud erkennen.

»Danke, Rowe. Bitte grüßen Sie meine Eltern.«

Lady und Lord Mowgray hatten gesellschaftliche Verpflichtungen, sodass sie sich bereits gestern von ihrer ältesten Tochter verabschiedet hatten.

»Gewiss.« Rowe verbeugte sich dermaßen steif, dass Maud ihn am liebten geschubst hätte. Der Butler öffnete die Tür. Auf dem breiten Kiesweg wartete bereits der schwarze Wagen.

»Lady Christabel. Maud.« Rupert Kendall, der junge Chauffeur, lächelte sie schüchtern an. »Ausnehmend schönes Wetter heute.«

Maud verkniff sich ein Lächeln. Es war nur allzu deutlich, dass der schlaksige Junge in Lady Christabel verschossen war. Jedes Mal, wenn er das Wort an sie richtete, liefen seine leicht abstehenden Ohren rot an. Da seine Haare einen Rotstich hatten, fiel dies umso mehr auf.

Maud mochte den Jungen, der besser mit Automobilen als mit Menschen zurechtkam. Sie hoffte, dass sich eines der Hausmädchen die Mühe machte, den wunderbaren Mann hinter dem ungelenken Äußeren und den zögerlichen Gesten zu entdecken. Mehrfach hatte Maud schon die Hausmädchen Gladys und Enid auf Ruperts ungewöhnlich schöne grüne Augen aufmerksam gemacht, bisher jedoch ohne den gewünschten Erfolg.

Und Lucy-Anne, die Küchenhilfe, war noch schüchterner und ungelenker als Rupert. Bei ihr brauchte Maud es gar nicht erst zu versuchen.

»Ich … ich wünsche Ihnen eine wunderbare Reise.« Rupert hatte es sich nicht nehmen lassen, ihnen die Koffer bis ins Abteil zu tragen, obwohl Lady Christabel einen Gepäckträger heranwinken wollte.

»Beeil dich, der Zug fährt gleich los,« musste Maud sagen, obwohl er ihr leidtat, wie er Lady Christabel aus hundetreuen Augen anschmachtete.

Auf den bequemen Sitzen der ersten Klasse ließ es sich wunderbar reisen. Maud holte ihr Buch aus der Tasche und lehnte sich zurück, als der Zug ruckelnd anfuhr. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er den Bahnhof verließ. Da stand sie auf und stellte sich ans Fenster, um London langsam an sich vorbeiziehen zu sehen.

»Weck mich, wenn wir angekommen sind.« Lady Christabel schloss die Augen. Auch wenn Maud nicht glaubte, dass sie schlief, genoss sie es, in Ruhe aus dem Fenster zu schauen und die sanften grünen Hügel zu betrachten. Sicher, die Landschaft war hübsch, aber Maud fühlte sich in der Stadt einfach wohler.

Nach einer langen, ereignislosen Fahrt erreichten sie endlich den Bahnhof von Chippenham. Nachdem Maud Lady Christabel geweckt hatte, suchte sie einen Gepäckträger, der ihre Koffer sicher aus dem Abteil bugsierte. Nur wenige Menschen waren mit ihnen ausgestiegen. Maud hielt Ausschau nach einer Kutsche oder einem Automobil, das sie abholen sollte. Zielsicher kam ein Mann, dessen dunkle Uniform und Mütze ihn als Chauffeur auswiesen, auf sie beide zu.

»Myladys.« Er tippte sich an die Mütze und griff nach ihren Koffern. Schwungvoll, als wögen diese gar nichts, pfefferte er sie auf den Wagen. »Leonard Arnold. Ich bin der Chauffeur von Ashburn Abbey.«

Obwohl sein Tonfall beflissen und höflich war, spielte ein freches Grinsen um seinen Mund. Seine dunklen Augen musterten Maud von oben bis unten und das Grinsen vertiefte sich. Was für ein unverschämter Kerl!, dachte sie, fühlte sich allerdings ein wenig geschmeichelt von seiner Aufmerksamkeit.

»Bitte sehr.« Leonard Arnold öffnete die Tür des Wagens. »Stoßen Sie sich nicht den Kopf.«

Lady Christabel kletterte elegant ins Innere und wehrte die Bemühungen des Chauffeurs ab, ihr behilflich zu sein. Maud hingegen nahm die ihr angebotene Hand, die er ein wenig zu lange hielt. Gute Chauffeure gab es wenige, sodass diese Kerle sich gern ein paar Frechheiten erlaubten, bis auf Rupert natürlich. Obwohl sie eigentlich nur bessere Kutscher waren.

Den Willmingtons muss es gut gehen, wenn sie sich ein Automobil leisten können, überlegte Maud. Da Lady Christabel weiterhin schwieg, blieb ihr nichts anderes übrig, als erneut aus dem Fenster zu schauen. Die Felder und Weiden, auf denen schwarzbunte Kühe standen, zogen an ihnen vorüber. Auch wenn Leonard Arnold ein frecher Kerl war, musste Maud ihm zugestehen, dass er das Ungetüm sicher fuhr.

»Wir sind bald da«, unterbrach er das Schweigen. »Ist ein Prachtbau.«

Weder Maud noch ihre Ladyschaft würdigten ihn einer Antwort. Die Auffahrt zum Herrenhaus zog sich endlos lang hin. Ein Sandweg führte leicht bergab, umrahmt von einem schmalen Stück Rasen, das von einer dunkelgrünen Eibenhecke begrenzt wurde. Hinter den sorgsam gestutzten Pflanzen erstreckte sich ein Mischwald aus Laub- und Nadelbäumen.

Endlich kam das Haus in Sicht, ein gewaltiger Klotz aus hellem Sandstein mit Vorsprüngen und Erkern, in dem selbst Lentune Hall zweimal Platz gefunden hätte.

Was wohl Lady Christabel durch den Kopf ging, fragte sich Maud, während sie selbst überlegte, was sie auf Ashburn Abbey erwartete.

Höchstwahrscheinlich bekäme sie es mit einem mürrischen Butler zu tun, der sich für den Stellvertreter des Lords hielt. Wenn sie großes Pech hätte, gäbe es eine ungnädige Hausdame, deren Blick nichts entging. Außerdem rechnete sie mit einer arroganten Zofe, einer übel gelaunten Köchin und natürlich dem wichtigtuerischen Leibdiener des Hausherrn. Dazu würde sich ein Sammelsurium der niederen Dienstboten gesellen: Hausmädchen, Lakaien, Küchenhilfen.

Woher sie das wusste? Weil es in jedem Haus, das Lady Christabel besucht hatte, bisher so gewesen war. Dank ihrer Reisen hatte Maud die Freundlichkeit der Hausdame und der Köchin von Lentune Hall schätzen gelernt. Bisher jedoch hatte sie keinen Butler getroffen, der es mit Rowe aufnehmen konnte.

Als der Chauffeur bremste, konzentrierte Maud ihre Aufmerksamkeit auf das Haus. Eine gewaltige Eichentür, über der das Familienwappen hing, war verschlossen und öffnete sich, nachdem der Chauffeur die Klingel betätigt hatte. Die Tür ging so schnell auf, als hätte der Butler bereits auf ihre Ankunft gewartet. Er sah ihnen gelassen entgegen, während sie aus dem Wagen stiegen.

»Willkommen auf Ashburn Abbey. Mein Name ist Marmaduke Trowbridge.« Er neigte den Kopf. »Falls Sie Fragen haben, stehe ich Ihnen selbstverständlich zur Verfügung.«

Während er Lady Christabel gegenüber äußerst servil schien, musterte er Maud kritisch.

Der Blick genügte Maud, um zu ahnen, dass Trowbridge, der Butler von Ashburn Abbey, und sie wohl keine Freunde werden würden. Er betrachtete sie, als wüsste er von Mauds Vergangenheit, die niemals vermuten ließ, dass sie einmal die Zofe einer Lady einer der ältesten und geachtetsten Familien Englands sein würde.

Butler schauen immer so von oben herab. Ich muss aufhören, mir einzureden, jemand wüsste von Patrick und mir. Maud straffte die Schultern und erwiderte den prüfenden Blick des Butlers, was diesen nur noch kritischer dreinblicken ließ.

Was für ein wichtigtuerisches Wiesel! Bisher war Maud davon ausgegangen, dass es keinen schlimmeren Butler als Howard Rowe geben konnte, nun schien sie eines Besseren belehrt zu werden. Was konnte man schon erwarten von einem Mann, den die Eltern mit dem furchtbaren Namen Marmaduke geschlagen hatten? Wahrscheinlich war er das Gespött seiner Dorfschule gewesen. Bestimmt hatten die anderen Kinder ihn Marmelade oder Ähnliches genannt. Das allerdings gab ihm nicht das Recht, sie dermaßen von oben herab zu behandeln.

»Mylady möchte sich gern frisch machen. Es war eine anstrengende Fahrt hierher.«

Trowbridge zuckte zusammen, als hätte Maud ihm eine Ohrfeige verpasst. Ihre Worte warfen ihm verklausuliert vor, er käme seinen Aufgaben nicht nach und würde das Wohl der Gäste vernachlässigen.

»Selbstverständlich.« Der Butler verbeugte sich steif. Mit einem Fingerzeig winkte er einen Lakaien heran, der Lady Christabels Koffer ergriff. »Simon wird Sie auf Ihr Zimmer bringen.«

Dann wandte er sich Maud zu. »Wenn Sie mir folgen würden. Ich stelle Ihnen die anderen Dienstboten vor.«

Maud sandte einen hilfesuchenden Blick zu ihrer Lady, den diese jedoch nicht bemerkte. Daher konnte Maud nur zusehen, wie Lady Christabel dem jungen Mann die große Treppe hinauffolgte. Mit einem künstlichen Lächeln wandte Maud sich an den Butler. »Ich freue mich, dass Sie mir die Räume Downstairs und meine Kammer zeigen.«

»Ich weiß nicht, wie Sie es auf Lentune Hall halten, aber auf Ashburn Abbey gehört es nicht zu den Aufgaben eines Butlers, einer Zofe ihr Zimmer zu präsentieren.«

Erstick an deinem Pomp, dachte Maud, die Trowbridge aufmerksam beobachtete. Ihrer Erfahrung nach ließen sich bei jedem Menschen Schwächen entdecken. Man musste nur wissen, wann und wie man zu suchen hatte. Bei Männern wie dem Butler ging es meist darum, die Kontrolle zu behalten und jedem in ihrer Umgebung ihren Willen aufzuzwingen. Menschen wie Trowbridge hassten nichts so sehr wie eine Störung ihrer Regeln und Abläufe. Nun, damit würde Maud gewiss arbeiten können.

»Ich stelle Sie der Hausdame vor, die sie in unsere Abläufe einweihen wird. Hier auf Ashburn Abbey haben wir klare Hausregeln.«

»Aha.«

»Es ist Ihnen hoffentlich bewusst, was für eine Ehre es ist, auf Ashburn Abbey zu weilen. Die Willmingtons sind eine der ältesten Familien des Landes.«

In dem Stil redete er den ganzen Weg zum Dienstbotentrakt auf Maud ein, die ab und zu zustimmend brummte. Trowbridges kurze Nase zuckte jedes Mal, wenn er die Worte »Ashburn Abbey« aussprach, was Maud an den Märzhasen aus »Alice im Wunderland« erinnerte.

Wenn man ihm zuhörte, konnte man meinen, man wäre im Paradies angekommen. Allerdings hatte Maud in ihrem Leben eines gewiss gelernt: Je mehr Menschen von etwas schwärmten, desto weniger stimmte es.

Ob der angespannte Mund Marmaduke Trowbridges wohl lächeln könnte?, fragte sie sich, während sie seinem Sermon lauschte. Als spürte der Butler, dass Mauds Gedanken abschweiften, fixierte er sie mit einem strengen Blick aus verengten graublauen Augen. Sie wich ihm aus und starrte auf die Falten an seiner Nasenwurzel.

Endlich hatten sie die Küche erreicht. Wie sie es erwartet hatte, war auch auf Ashburn Abbey hier das Herzstück Downstairs. Erstaunlich, wie sehr sich die Küchen der Herrenhäuser ähnelten. Auch hier gab es hohe, dunkle Decken, die sich über einem gewaltigen Arbeitstisch aus dunklem Holz spannten. Ein enormer Herd, auf dem ein Topf stand, nahm die eine Wand ein, an der anderen befand sich der Spülstein, wo ein mageres Mädchen eine dreckige Pfanne schrubbte. Große gusseiserne Pfannen und Töpfe stapelten sich in einem Holzregal an der dritten Wand. Die Hitze des Herdes schlug Maud entgegen, nachdem sie die Tür zur Küche geöffnet hatte.

»Tür zu«, erklang ein Flüstern. »Sonst fällt mir der Hefeteig zusammen.«

Nie und nimmer ist das eine Köchin, dachte Maud, als Trowbridge ihr Harriet Pratt vorstellte. Die hochgewachsene, schlanke blonde Frau wirkte wie eine Hausdame, die alles überwachte und dafür sorgte, dass der Haushalt reibungslos funktionierte. Köchinnen hatten, jedenfalls nach Mauds Erfahrung und Meinung, rundliche Frauen zu sein, die gern einmal die Stimme erhoben, wenn es nicht nach ihren Wünschen lief.

Harriet Pratts Stimme hingegen war so leise, dass Maud sich anstrengen musste, um zu verstehen, was die Köchin ihr sagte.

»Ihnen wird es hier gefallen«, sagte Mrs Pratt. »Auf jeden Fall müssen Sie sich die Gärten anschauen. Wir haben seltene Pflanzen aus der ganzen Welt hier.«

Ihr Tonfall war so stolz, als hätte sie Büsche und Bäume höchstpersönlich nach Ashburn Abbey geholt.

»Gewiss«, antwortete Maud, deren Begeisterung für Gärten und Pflanzen sich in Grenzen hielt.

»Sie sollten sich auf jeden Fall den violetten Ginster und unseren Rhododendron ansehen.«

»Sie kennen sich aber gut aus.« Maud konnte keinen einzigen Baum mit Namen nennen.

»Mein Ehemann, Gott habe ihn selig, war Gärtner.« Resolut wandte die Köchin sich ab. »Ich muss mich ums Abendessen kümmern. Flossie zeigt Ihnen Ihr Zimmer.«

Kapitel Sechs

Nun war sie also das erste Mal auf Ashburn Abbey, dachte Christabel, während sie dem Lakaien durch das Herrenhaus folgte. Obwohl ihre Familie und die Willmingtons seit Langem miteinander bekannt waren, war Christabel bisher nicht auf den Herrensitz in Wiltshire eingeladen worden.

Die Vorfahren des jetzigen Earl of Aylesgrave hatten ein überaus prächtiges Gebäude erschaffen. Allerdings hatten sie wohl einen Hang zur Großmannssucht gehabt, was sich in der immens langen Auffahrt des imposanten Landsitzes gezeigt hatte.

Die Pracht, die sich von außen zeigte, setzte sich im Inneren fort. Eine dunkle Holztreppe mit durchbrochenem Geländer führte zu einem gewaltigen Fenster, durch das heute Sonnenlicht fiel und die weite Halle in einen goldenen Schimmer tauchte. Das Licht erleuchtete die hohen Bögen aus weißem Marmor und betonte die goldfarbigen Details. Obwohl Christabel in den vergangenen Jahren einige eindrucksvolle Herrenhäuser besucht hatte, musste sie eingestehen, dass Ashburn Abbey überaus spektakulär war.

Ihr Weg führte durch einen langen Gang. Die üblichen Porträts vornehm und leicht blasiert aussehender Ladys und Gentlemen hingen mit geringem Abstand unter einer umlaufenden Stuckverzierung. Christabel fragte sich allerdings, was der Sinn war, Gemälde dermaßen weit über Kopfhöhe aufzuhängen. Möglicherweise wollte man so die Besucher dazu bringen, den Kopf ehrerbietig in den Nacken zu legen, wenn man zu den Vorfahren aufschaute.

»Möchten Sie die ›Long Gallery‹ sehen, Mylady?«, fragte der junge Bedienstete. »Sie ist mehr als 50 Meter lang.«

Stolz klang aus seiner Stimme, als hätte er selbst den Raum gebaut.

»Danke, aber ich möchte mich erst einmal erfrischen.« Um ehrlich zu sein, interessierte Christabel sich nicht sehr für Architektur. Vor allem nicht für solche, die dazu gedacht war, Gäste und die Nachwelt zu beeindrucken.

»Wie Sie wünschen.« Sichtlich enttäuscht führte der Lakai sie durch eine weitere, allerdings kleine Halle bis in einen langen Flur, von dem etliche dunkelbraune Eichentüren abgingen.

»Hier schlafen die Gäste und der junge Mr Willmington, wenn er uns mit seinem Besuch beehrt.«

Christabel ersparte sich eine Antwort und schaute sich stattdessen um. Das dunkle Holz des Bodens glänzte wie frisch poliert. Auch die Wände waren bis zur halben Höhe mit tiefbrauner Eiche getäfelt. Die Tapete darüber musste wohl neu sein, denn sie zeigte ein fröhliches florales Muster, wie es in den letzten Jahren modisch geworden war. Die Blumen wirkten so lebensecht und bunt, dass sie selbst den grimmigen Porträts etwas Freundliches verliehen.

Ich bin gespannt, wie mein Zimmer aussieht. Und ich sollte Mutter vorschlagen, die Tapeten auf Lentune Hall ebenfalls auszutauschen.

Die Ritterrüstung allerdings, die neben einer Tür stand, wirkte sehr martialisch und erinnerte an Kriege, die lange vorbei waren. Eine ungewöhnliche Dekoration für den Gästeflur. Hoffentlich war ihr nicht das Zimmer direkt neben dem metallischen Gesellen zugedacht. Zum Glück ging Simon an dem Ritter vorbei und blieb zwei Türen davon entfernt stehen.

»Hier sind wir.« Der junge Mann stellte ihre Koffer ab, um die Tür zu öffnen. »Ich hoffe, es wird Ihnen zusagen.«

Er lächelte sie an. Der Junge war auf eine schlichte Weise gut aussehend, ohne allerdings einen besonderen Eindruck zu hinterlassen. Vielleicht kam er bei den Hausmädchen mit seinem Landburschen-Charme an, auf Christabel wirkte er überhaupt nicht. Niemals wieder würde sie einen Mann wie Nicholas finden. Traurigkeit drohte sie zu überkommen, aber vor einem Dienstboten wollte Christabel sich nicht gehen lassen.

»Soll ich Ihnen Ihre Zofe schicken?« Der Lakai legte den Kopf fragend schief. »Die Herrschaft und die anderen Gäste werden sich gegen fünf zum Tee im Salon treffen.«

Er hatte die Koffer auf die bunt gemusterte Tagesdecke gelegt, aber selbstverständlich nicht geöffnet. Wo käme man denn hin, wenn ein männlicher Bediensteter die Unterwäsche einer Lady sähe? Christabel senkte den Kopf, weil sie sich bei der Vorstellung eines Lächelns nicht erwehren konnte.

Als sie den Blick hob, wartete der Lakai immer noch regungslos auf ihre Antwort. Das Personal auf Ashburn Abbey schien sorgfältig ausgewählt und geschult zu sein. Sie hatte nichts anderes erwartet, nachdem sie den Butler gesehen hatte. Obwohl sie sich äußerlich unterschieden, ähnelte Trowbridge Rowe, den Christabel seit ihrer Kindheit kannte. Beide Männer führten gewiss den Haushalt mit eiserner Faust und sorgten dafür, dass nichts den reibungslosen Ablauf eines herrschaftlichen Anwesens störte.

»Ja. Danke.« Sie nickte ihm zu und wartete, bis er den Raum verlassen hatte. Nun, wo sie endlich allein war, konnte Christabel sich das Zimmer, das man ihr zur Verfügung gestellt hatte, in Ruhe ansehen. Größe und Ausstattung eines Gästezimmers sagten sehr viel aus über die Wertschätzung, die ein Gast genoss. Gegen ihre Absicht war Christabel beeindruckt.

Sie mochte den Raum sofort.

Als Erstes fiel ihr der breite Kamin ins Auge, der von einer weißen Marmorumrandung eingefasst war. Obwohl es ein warmer Tag war, brannte dort ein Feuer. Christabels Blick glitt weiter, hin zu den bodentiefen Fenstern. Die schweren gelben Vorhänge waren aufgezogen und gewährten einen Blick in die berühmten Gärten von Ashburn Abbey. Der Raum war bis zur halben Höhe mit einem hellen Holz vertäfelt, an das sich hellgelbe Tapeten anschlossen, die mit Blumen übersät waren. Glockenblumen, wie Christabel sofort erkannte. Deren helles Blau fand sich im Bezug der beiden Stühle und des breiten Sessels wieder, der vor dem Kamin stand. Ein schwerer dunkelbrauner Eichenschrank und ein breites Bett, versteckt unter einer Tagesdecke, waren auf Gäste eingerichtet. Eine große Frisierkommode und das Himmelbett mit seinen weiß-gelb gestreiften Vorhängen gab dem Zimmer einen weiblichen Anstrich; es wirkte hell und einladend. Eine weiß gestrichene Tür führte ins Badezimmer. Hier würde sie es aushalten können.

Sie war froh, dass in ihrem Zimmer keine weiteren Porträts ernst dreinblickender Willmingtons hingen, sondern Landschaftsbilder in harmonischen Pastelltönen. Direkt über dem Kamin war ein gewaltiges Gemälde des Herrenhauses angebracht. Seine Patina war dunkel und die Ölfarbe zeigte Risse. Sie nahm sich Zeit, es zu studieren. Obwohl Ashburn Abbey als beeindruckendes Beispiel der Architektur zur Zeit Königin Elisabeths galt, fand Christabel das sandfarbene Gebäude überladen und verschnörkelt. Sie mochte das schlichte Äußere von Lentune Hall deutlich lieber als die vielen Ecken und Erker und Vorbauten, die Ashburn Abbey charakterisierten. Das Herrenhaus erinnerte in seiner gewaltigen Größe und durch die beiden vorspringenden Flügel an eine Kathedrale.

»Alles hier soll Gäste beeindrucken. Ich hätte von den Willmingtons mehr Understatement erwartet«, dachte sie halblaut. »Warum eigentlich? Lucian ist wahrlich kein Beispiel eines englischen Gentlemans.«

Obwohl ihre Eltern sich bemühten, dass Christabel nur wenig Klatsch und Tratsch hörte, ließ es sich nicht vermeiden, während der nachmittäglichen Besuche die neuesten Skandale zu erfahren. Von Lucian Willmington hieß es, er hätte mehreren Frauen die Ehe versprochen, ohne sich an seinen Antrag zu halten. Dunkel erinnerte sie sich außerdem an Gerüchte über einen Wettschwindel beim Pferderennen. Christabel war dem jüngsten Sohn der Familie nur wenige Male begegnet, aber sie hatte nie sein Interesse gefunden. Zu ihrem Glück, wie sie meinte.

Nun hatte sie genug gesehen und wollte sich frisch machen. Wo Maud nur blieb?

Christabel ließ sich auf den Sessel fallen und griff nach einer der Zeitschriften, die auf dem Tisch lagen. Gelangweilt blätterte sie durch die Seiten, ohne deren Inhalt wahrzunehmen. Endlich klopfte es an der Tür und sie sprang auf.

Warum hat so eine Schönheit wie Maud keinen Verehrer? Allzu gern hätte sie Maud gefragt, ob es in deren Leben je einen Mann gegeben hatte, nach dem sie sich verzehrte. Doch Neugier auf das Leben ihrer Zofe schickte sich nicht für eine Lady. Ganz zu schweigen davon, dass Maud sich wahrscheinlich verschließen würde wie eine Auster, sollte Christabel sie jemals etwas Persönliches fragen. Manchmal erschien es Christabel überaus seltsam, wie viel Maud von ihrem Leben wusste, während ihr das Leben der Zofe gänzlich verschlossen war.

So ist es eben. Die Dienstboten leben ihr Leben, wir unseres.

»Wo ist deine Kammer?«, fragte sie Maud stattdessen. »Haben Sie dich unter das Dach verfrachtet?«

Als Zofe hatte Maud ein Anrecht auf ein besseres Zimmer als die Hausmädchen, aber oft behandelte man die Dienstboten der Gäste wie die des Hauses und steckte sie in winzige Kammern unter dem Dach, die im Sommer elend heiß und im Winter eisig kalt waren. Und sie bedeuteten weite Wege für eine Zofe, aber Maud hatte sich niemals beschwert. Daher fragte Christabel nach, denn sie sah es als ihre Aufgabe an, Maud eine angemessene Unterkunft zu sichern.

»Nur drei Türen weiter.« Maud zog eine Grimasse. »Trowbridge hätte mir das gleich zeigen können.«

Mehr musste sie nicht sagen. Wie Christabel befürchtet hatte, hielt Maud wenig von dem Butler Ashburn Abbeys.

»Die Klügere gibt nach«, sagte sie daher und lächelte.

»Deshalb regiert Dummheit die Welt«, antwortete Maud mit dem Bonmot von Marie von Ebner-Eschenbach. »Machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde brav sein.«

Ein letzter Handgriff und Christabel war präsentabel für den Tee. Sie erhob sich und verließ den Raum, in der sicheren Gewissheit, dass Maud sich um alles kümmern würde. Ihre Zofe hatte ihr den Weg zum grünen Salon, in dem der Tee gereicht wurde, beschrieben.

Der Raum weckte in Christabel Erinnerungen an die Pferderennen in Ascot und Epsom: sehr viel Grün und mittendrin prachtvoll gekleidete Menschen. Lindgrüne Tapeten hatten dem Raum wohl seinen Namen gegeben. Warum man allerdings das Sofa und die unbequem wirkenden Stühle mit den hohen Lehnen ebenfalls mit einem grün schimmernden Stoff bezogen hatte, konnte sie nicht verstehen. Selbst die Vasen mit frischen Frühlingsblumen schafften es nicht, dem Zimmer Leben einzuhauchen. Nur zwei Personen waren außer ihr anwesend. Hatte der Lakai nicht gesagt, die Familie und die Gäste würden sie erwarten?

»Lord Willmington.« Christabel nickte dem Mann zu, der neben dem Kamin stand, eine Tasse Tee in den Händen. Bieder und langweilig – das war Christabel durch den Kopf gegangen, als sie Dunstan Willmington das erste Mal auf einem Ball gesehen hatte. Bisher hatte der Erbe von Ashburn Abbey ihr keinen Anlass gegeben, ihre Meinung zu revidieren. Selbst beim besten Willen konnte sie sich nicht daran erinnern, worüber sie sich mit ihm unterhalten hatte.

Sein Äußeres spiegelte dies wider – jedenfalls kam es ihr so vor. Sein Gesicht war dermaßen durchschnittlich, kaum gesehen, schon wieder vergessen. Blonde Haare, blaue Augen, dunkelblonde Brauen, eine unauffällige Nase und ein ebenso bieder wirkender Mund. Nichts, aber auch wirklich nichts in Dunstans Gesicht ließ es hervorstechen. Christabel fühlte sich versucht, ihm zu raten, sich eine Narbe zuzulegen, damit er erinnerungswürdig wurde.

»Lady Christabel. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Anreise.« Er deutete auf die Frau, die auf einem der Stühle saß und mit einer silbernen Gabel ein Kuchenstück zerteilte. »Meine Frau Georgina. Ich glaube, Sie haben sich noch nicht getroffen?«

»Sehr erfreut.« Christabel nickte ihr zu und nahm auf dem Stuhl ihr gegenüber Platz. »Was für ein prachtvolles Anwesen.«

Während sie plauderte, musterte sie unauffällig die Dame des Hauses. Wie war es dem Langweiler Dunstan nur gelungen, die ätherische Schönheit Georgina für sich zu gewinnen? Christabel, in der sicheren Gewissheit ihrer Attraktivität, war in der Lage, neidlos das gute Aussehen anderer Frauen zu würdigen. Und bei Georgina Willmington gab es viel zu würdigen.

Sicherlich war Dunstans Ehefrau keine klassische Schönheit – dafür waren ihre Augen und ihr Mund zu groß, aber sie war auffallend. Georginas Augen glänzten in einem eisigen Blau, das durch ihre brünetten Haare noch betont wurde. Die Wangenknochen stachen hervor und ließen sie zierlich und nahezu mager wirken. Auf jeden Fall war Georgina Willmington eine Frau, die Aufmerksamkeit auf sich zog, was ihr gewiss bewusst war, so hochmütig wie sie dreinschaute. Sie erwiderte Christabels Nicken, aber ging nicht auf ihre Plauderei ein, sondern überließ ihrem Ehemann das Wort.

»Meine Eltern und meine Geschwister lassen sich entschuldigen«, sagte Dunstan Willmington, als das Schweigen unangenehm zu werden begann. »Sie werden erst zum Dinner eintreffen. Haben Sie unsere Gärten schon gesehen?«

Selbstverständlich nicht, ich bin eben erst angekommen, fühlte Christabel sich versucht zu antworten. Aber ein solcher Verstoß gegen die guten Sitten wäre gewiss ihrer Mutter zu Ohren gekommen und den Ärger war es nicht wert.

»Leider nicht. Ich hoffe, nach dem Tee noch etwas Zeit dafür zu finden.« Christabel wählte ein winziges Stück Kuchen und bedauerte, nicht allein zu sein. Alle Gebäckstücke sahen ausnehmend schmackhaft aus, aber als Lady durfte sie nur wenig davon kosten.

»Sie sollten sich beeilen, es soll regnen«, mischte sich Georgina Willmington überraschend ein. Ihr Tonfall klang zornig, was Christabel nur zu gut verstand. Wäre sie mit diesem Ehemann geschlagen, würde sie ähnlich verkniffen schauen wie Georgina.

Kapitel Sieben

Gulliver? Sie sind doch Gulliver?«

Maud blieb stehen, als sie die hohe, etwas krächzende Stimme hörte. Gern hätte sie vorgegeben, die Worte nicht vernommen zu haben, aber dafür war die andere Frau zu nahe. Also blieb Maud nichts übrig, als sich umzudrehen und künstlich zu lächeln.

»Ja, die bin ich. Und Sie sind?« Eigentlich musste sie diese Frage nicht stellen, zu offensichtlich war, wer sie angesprochen hatte. Und da war sie also, die typische Zofe: eine hagere Frau mit verkniffener Miene und wunderbar gelegtem Haar von einem ausgeblichenen Blond. Für Maud sahen die meisten Zofen aus, als hätte der Dienst für ihre Ladys ihnen Jugend und Lebendigkeit entzogen. Auch bei diesem Exemplar einer oberen Dienstbotin wirkten die Mundwinkel, als hätte sie gerade eine Zitrone gelutscht. Wenn diese schlecht gelaunten Damen sich nicht gerade über die niederen Dienstboten echauffierten, dann brüsteten sie sich mit den Vorzügen ihrer Ladys, als wären sie deren Mütter.

»Marjorie Ramsbury. Ich bin die Zofe von Lady Willmington.« Es klang, als wäre sie die Dienstbotin der Königin. »Da Lady Unity und Lady Beryl ohne eigenes Personal angereist sind …«, die Zofe machte eine Pause, mit der sie wohl ihre deutliche Missbilligung über so eine Unverfrorenheit ausdrücken wollte, »… obliegt es uns, den Damen zu Diensten zu sein. Da ich Lady Willmingtons Zofe bin, werde ich mich um Lady Unity kümmern.«

Marjorie Ramsbury hielt sich sehr gerade und war so hochgewachsen, dass es ihr möglich war, auf nahezu alle anderen herabzuschauen, was sie gewiss auch tat. Jedes Mal, wenn sie einer dieser verhärmten Dienstbotinnen begegnete, fragte Maud sich, ob sie in fünf oder zehn Jahren ebenfalls so aussehen würde.

An und für sich war es Maud gleich, welche der Ladys sie betreuen sollte, aber Miss Ramsburys befehlshaberischer Tonfall weckte sofort ihren Eigensinn.

»Ich muss das mit Lady Mowgray besprechen«, antwortete Maud in dem nasalsten Tonfall, der ihr möglich war. »Ich werde später auf Sie zukommen und Ihnen die Entscheidung mitteilen.«

Damit ließ sie Marjorie Ramsbury stehen und sputete sich, zu Lady Christabel zu gelangen, die ihren Tee gewiss beendet hatte.

»Wie gefällt es dir auf Ashburn Abbey, Maud?« Bereits am Tonfall, mit dem Lady Christabel die Frage stellte, konnte Maud erkennen, wie wenig es ihr selbst gefiel. »Hat sich die Reise wenigstens für dich gelohnt?«

»Ist es wirklich so schlimm hier?« Warum sollte sie ihre Ladyschaft damit behelligen, wie seltsam die Dienstboten ihr vorgekommen waren? »Immerhin werden Sie ausreiten können, wenn das Wetter sich hält.«

»Immerhin werde ich Ablenkung von Nicholas bekommen.« Lady Christabels Tonfall klang, als wäre sie dem Weinen nah. Auch ihre Augen glänzten verdächtig.

»Lassen Sie uns den Garten anschauen«, versuchte Maud, sie abzulenken. »Ashburn Abbey ist berühmt für seine exotischen Pflanzen.«

»Warum nicht?« Möglicherweise war Lady Christabels Gartenleidenschaft stärker, als Maud vermutet hatte. »Dann komm, bevor es dunkel wird.«

Eine Steintreppe mit neun Stufen führte auf einen breiten Kiesweg, der sich vor einem gewaltigen Steinbrunnen teilte. Am Ende der Treppe standen zwei in Form geschnittene Bäume. Als Stadtkind wusste Maud nicht, wie die Pflanzen hießen. Weitere von ihnen, ebenso in Form gezwungen, standen auf dem Rasen, den sie hinter dem Brunnen sah. Unendlich weit erstreckte sich die Grünfläche. Langsam schlenderte Maud neben ihrer Ladyschaft den Weg entlang und genoss die Wärme der Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Das Knirschen der Schuhe auf dem Kiesweg war das einzige Geräusch, das die Stille störte. Auf Lentune Hall war es nie so ruhig. Gab es auf Ashburn Abbey kein Nutzvieh?

Hinter dem Brunnen erstreckte sich der Pfad hin zu einer weiteren Treppe. Ob es da wohl noch einen Brunnen gab und noch eine Treppe, die wiederum zu einem Brunnen führte, wie in einem Spiegelkabinett?

»Wir sollten umkehren.« Auch wenn Maud es genoss, einen Nachmittag ohne Arbeit verbringen zu können, hatte sie im Blick, welche Aufgaben auf sie warteten. Denn es war bald Zeit zum Abendessen und Maud musste ihrer Ladyschaft beim Umkleiden helfen.

»Lass uns den Brunnen anschauen.« Lady Christabel ging unbarmherzig weiter. »Er soll auf Entwürfen von Sir Charles Barry basieren.«

»Meinetwegen könnte der König persönlich ihn gestaltet haben«, murmelte Maud, leise genug, dass ihre Herrschaft die Worte nicht verstünde, aber den Protest bemerken musste.

»Ach, stell dich nicht so an. Es ist nicht mehr so weit.«

Maud erkannte, dass sie die Strategie wechseln musste, wollte sie einem weiteren Spaziergang entgehen.

»Was für ein wunderschöner Garten«, heuchelte sie daher Interesse. Sie war nun einmal ein Stadtkind und würde jederzeit den schönsten Garten gegen den Ruß und Gestank Londons eintauschen.

»Wollen wir uns nicht auf eine Bank setzen und den Augenblick genießen?«

»Nein. Ich will zum Brunnen.« Kaum hatte Lady Christabel ausgesprochen, blieb sie stehen, nur um Maud dann in die Büsche zu zerren.

»Vorsicht. Das Gestrüpp hat Dornen«, maulte Maud, nachdem sie sich von der Überraschung erholt hatte. »Ich denke, Sie wollten unbedingt den Brunnen sehen?«

»Sei still« zischte Lady Christabel und ihre Finger krallten sich in Mauds Oberarm. »Da am Brunnen ist Lucian Willmington. Dem will ich nicht begegnen. Es reicht, wenn ich ihn heute Abend ertragen muss.«

»Wenn Sie ihn so hassen, warum sind wir dann hier?«

»Darf ich dich daran erinnern, dass es dein Vorschlag war?«

Bevor Maud antworten konnte, legte Lady Christabel den Finger an die Lippen und beobachtete konzentriert, was Mr Willmington am Brunnen tat. Schließlich winkte sie Maud zu sich heran.

»Ich kann es nicht genau erkennen. Schau du, was er tut.«

Maud beugte sich etwas vor und erspähte, wie der junge Lord die Lippen bewegte.

»Jetzt werden wir erfahren, ob du wirklich neun Leben hast«, wiederholte sie mit leiser Stimme, was er gesagt hatte. »Was zur Hölle soll das bedeuten?«

»Maud!«, zischte Lady Christabel. »Du sollst nicht fluchen. Und woher weißt du, was er gesagt hat?«

»Ich kann Lippen lesen.« Hoffentlich fragte Lady Christabel nicht nach, sondern konzentrierte sich wieder auf das Geschehen am Brunnen. »Da, sehen Sie.«

Wie erhofft, fragte Lady Christabel nicht weiter, sondern verengte die Augen ein wenig mehr, um herauszufinden, was Mr Willmington vorhatte. Auch Maud beobachtete mit angehaltenem Atem, wie er in die Tasche fasste, etwas herausholte und in den Brunnen warf. Dann drehte er sich um und schlenderte gelassen davon.

»War das wirklich …?« Lady Christabel versagte die Stimme.

»Schnell, wir müssen es retten.« Ohne die Antwort ihrer Ladyschaft abzuwarten, lief Maud los. Sie hob die Röcke, damit sie schneller am Brunnen war. Wenn sie sich nicht getäuscht hatte, kam es auf jede Sekunde an.

Am Rand des Brunnens blieb sie stehen. In der Mitte des Runds plätscherte ein dünnes Rinnsal, was Maud enttäuschte. Bei dem gewaltigen Ausmaß des Brunnens hätte sie eine himmelhohe Fontäne erwartet. Sie verengte die Augen, denn Seerosenblätter bedeckten die Oberfläche, sodass sie kaum etwas anderes sehen konnte.

Da! Sie hatte recht gehabt. Für einen Moment fürchtete sie, zu spät gekommen zu sein. Denn die Wasseroberfläche des Brunnens war glatt, nicht einmal ein leichtes Kräuseln verriet, dass hier etwas hineingeworfen worden war. Erschrocken zog Maud die Hand zum Mund.

In dem Augenblick durchbrach ein pelziger Kopf die Wasseroberfläche. Panisch paddelten winzige Pfoten.

»Keine Angst, Kleines, ich rette dich.«

Maud streckte sich über den steinernen Rand des Brunnens, aber es gelang ihr nicht, das schneeweiße Kätzchen zu erreichen. Da platschte es neben ihr, Wasser schwappte über den Rand und bespritzte Mauds Gesicht und ihre Kleidung.

Lady Christabel watete durch den Brunnen, dessen Wasser ihr bis zur Hüfte ging. Mit sicherer Hand ergriff sie das Kätzchen und reichte es Maud.

»Schnell, trockne es mit deinem Kleid ab.«

Wenig elegant kletterte Lady Christabel aus dem Wasser und schüttelte sich wie ein Hund.

»Wie können Sie so etwas Verrücktes nur tun?« Maud schüttelte den Kopf. »Sie holen sich den Tod. Schnell, wir müssen zum Haus zurück.«

»Lebt das Kleine noch?« Mit den Händen streifte Lady Christabel Wasser aus ihrem Rock, bevor sie ihn auswrang. »Konnte ich es retten?«

»So klein ist er gar nicht.« Inzwischen hatte Maud das Kätzchen abgerubbelt und sich genauer angeschaut. »Es ist ein Kater, wohl um die acht Wochen alt.«

»Woher weißt du das?«

Hölle und Hinkebein! Ich muss aufpassen, nicht zu viel zu verraten.

»Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen. Da gibt es ständig Kätzchen.«

Das war nicht vollkommen gelogen, aber auch nicht ganz die Wahrheit, doch es würde reichen, um Lady Christabels Frage zufriedenstellend zu beantworten.

»Nun kommen Sie schon. Wenn Sie sich eine Erkältung einfangen, wird Ihre Mutter mir das nie verzeihen.« Eine praktische Frage tauchte auf. »Was wird aus dem Kater?«

»Hierlassen können wir ihn nicht. Nicht, solange Lucian da ist. Was für ein Unhold!«

»Ich fürchte, die Willmingtons werden nicht erfreut sein, wenn Sie ihn mit in Ihr Zimmer nehmen.«

Wahrscheinlich hatte der Kater Flöhe. Außerdem hatte Maud bereits drei große Jagdhunde entdeckt, die frei im Haus herumliefen. Für die wäre das Katerchen eine gefundene Beute.

»Du nimmst ihn mit in deine Kammer.« Lady Christabel, die inzwischen vor Kälte zitterte, lächelte. »Ich rede deswegen mit der Hausdame.«

»Das könnte klappen«, sagte Maud nach einem Moment des Nachdenkens. »Dienstboten sind seltsame Wünsche von Gästen gewöhnt.«

Obwohl Maud sich ärgerte, damit Miss Ramsburys Befehl zu folgen, befand sie sich auf dem Weg zu Lady Beryls Zimmer.

»Glaub mir, es ist bestimmt schwieriger, die Tochter des Hauses zufriedenzustellen als deren Freundin, auch wenn ich keine von beiden kenne«, hatte Lady Christabel zu ihr gesagt.

Nachdem sie geklopft hatte, wartete Maud auf die Aufforderung, einzutreten. Neugierig sah sie sich dann in den Räumlichkeiten um. Beryl Banfours Zimmer war deutlich kleiner als das von Lady Christabel und spärlicher möbliert. Sie schien als Gast weniger Bedeutung zu haben als Mauds Ladyschaft.

Allerdings erregte ein Einrichtungsgegenstand sofort Mauds Aufmerksamkeit. Vor dem Bett aus gedrechseltem dunkelbraunem Holz stand eine Truhe in derselben Farbe, auf der zwei schmale Regale jeweils zehn Bücher hielten. Eilig streifte ihr Blick die Titel: Auf der linken Seite entdeckte sie neben der Bibel eine Sammlung von Märchen sowie »Father Brown«-Kurzgeschichten von Gilbert K. Chesterton. Daneben standen leichte Romane zur Unterhaltung für Damen wie »Der kleine Lord« und »Der geheime Garten« von Frances Hodgson Burnett.

Die Auswahl auf der rechten Seite war überraschender: neben »Zuleika Dobson« von Max Beerbohm, das Maud begonnen, aber nicht beendet hatte, und »Ethan Frome« von Edith Wharton stand »Moving the Mountain« von Charlotte Perkins Gilman.

»Haben Sie die Bücher ausgewählt oder hat jemand sie für Sie hingestellt?«, fragte Maud, nachdem sie begonnen hatte, die dunklen Haare der rundlichen Lady zu bürsten.

Ein erstaunter Blick Beryl Banfours traf sie über den Spiegel. Maud lächelte arglos und hätte sich ohrfeigen können, weil sie eine Frage gestellt hatte, die unpassend für eine Zofe erschien.

»Das Zeug links war bereits hier, alle Bücher auf der rechten Seite habe ich mir aus der Bibliothek geholt.«

»Sind Sie zum ersten Mal auf Ashburn Abbey?«, plauderte Maud weiter, wie es sich für eine Zofe schickte.

»Nein, Unity war so freundlich, mich mehrfach einzuladen.« Lady Beryls Ohren liefen rot an. »Kennen Sie die Familie?«

»Wir sind das erste Mal hier. Bisher habe ich nur Mr Willmington einmal gesehen.«

»Ist Lucian nicht ein ausnehmend attraktiver Mann?« Nun waren auch Lady Beryls Wangen gerötet. Was die junge Dame wohl davon halten würde, dass der von ihr verehrte Mann hilflose Kätzchen in Brunnen ertränkte?

Kapitel Acht

Nachdem der Gong zum dritten Mal ertönt war, machte Christabel sich auf den Weg zum grünen Salon, in dem sich die Gäste versammelten, bevor sie gemeinsam in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit zum Dinner gingen. Der Lakai begrüßte sie mit einem höflichen Nicken, bevor er ihr die Tür öffnete.

Christabel wappnete sich, um Lucian Willmington entgegenzutreten. Während sie sich umgezogen hatte, hatte sie sich eine Strategie überlegt, wie sie mit ihm umgehen wollte. Kein Gentleman durfte so eine heimtückische Tat begehen, ohne dafür Rechenschaft ablegen zu müssen. Gewiss, die Jagd gehörte zu den bevorzugten Beschäftigungen der adligen Herren, etwas, das Christabel zwar nicht mochte, aber tolerieren konnte. Doch eine Jagd mit Regeln und Vorschriften war etwas anderes, als ein hilfloses Jungtier zu ertränken.

Ihr Blick glitt durch den Raum. Obwohl sie vor Zorn über Lucians Schandtat innerlich kochte, lächelte Christabel jeden an, der sich im Salon versammelt hatte und auf das Abendessen wartete. Honora Willmington stand bei zwei weiteren Gästen, die wohl erst nachmittags eingetroffen waren. In ihrer Jugend hatte sie sicher reihenweise Verehrer gehabt. Selbst heute war Lady Willmington noch eine überaus bezaubernde Frau. Ihre brünetten Haare zeigten keine Spur von Grau, um die tiefbraunen Augen hatte sie nur winzige Fältchen. Honora Willmington lächelte selten, vielleicht weil sie Falten vorbeugen wollte oder weil es wenig Erfreuliches in ihrer Ehe mit Percy Willmington gab.

Eine der jungen Frauen ähnelte Lady Willmington sehr und war bestimmt deren Tochter. Christabel erinnerte sich dunkel an Unity, die sie bei einigen Besuchen und Festen getroffen hatte. Unity saß elegant auf einem zierlichen Sessel, während die andere Frau danebenstand, als wäre sie ihre Bedienstete. Das versprach ein interessantes Abendessen zu werden. Langsam gewann Christabel wieder etwas Spaß an dem gesellschaftlichen Spiel, dem sie sich in den vergangenen Monaten entzogen hatte. Mit schlechtem Gewissen bemerkte sie, dass sie heute kaum an Nicholas gedacht hatte.

»Lady Christabel, Sie kennen meine Tochter Unity und ihre Freundin Beryl Banfour?« Honora Willmington entpuppte sich als perfekte Gastgeberin, die dafür sorgte, dass Christabel nicht allein und verloren im Zimmer stehen musste. »Die beiden sind passionierte Reiterinnen. Sie auch, wenn ich mich richtig erinnere.«

»Leider finde ich in London während der Saison viel zu wenig Gelegenheit.« Christabel nickte den beiden Frauen zu. »Aber auf unserem Landsitz Lentune Hall sitze ich jeden Tag im Sattel.«

»Dann sollten wir morgen früh gemeinsam ausreiten.« Unity Willmington lächelte Christabel süßlich an. Unity war auffallend attraktiv mit ihren hellbraunen Locken und den großen graublauen Augen. Ihr Teint war einfach perfekt – und das hatte sie wohl einmal zu oft zu hören bekommen, denn immer wieder fuhr sie sich mit der Hand durchs Gesicht, als wollte sie Aufmerksamkeit darauf lenken.

Beryl Banfours Rundlichkeit hingegen entsprach so gar nicht dem Idealbild einer Lady. Christabel hegte den Verdacht, dass Unity sich die unbeholfene, unauffällige Beryl nur aus dem Grund zur Freundin gewählt hatte, damit sie diese mit ihrer Schönheit überstrahlen konnte.

Beryl stand etwas vornübergebeugt, als wollte sie möglichst wenig Platz in Anspruch nehmen. Auf den ersten Blick sah man nur ihr rundliches Gesicht und ihre aus dem Korsett quellenden Formen. Auf den zweiten Blick jedoch – und Christabel pflegte immer genau hinzusehen – bemerkte man die zarte Haut, deren Blässe in auffallendem Kontrast zu den schweren braunen Haaren stand. Beryls tiefbraune Augen waren etwas zu klein und drohten unter den dichten, buschigen Brauen zu verschwinden. Die Stupsnase war so zart, dass sie zu einem anderen Gesicht zu gehören schien. Die vollen Lippen hingegen würden sicher Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sollten sie lächeln. Aber bisher schaute Beryl eher verkrampft, als wäre es ihr unangenehm, unter Fremden zu sein.

»Haben Sie ein eigenes Pferd?«, wandte Christabel sich an das Mädchen, das ihr Mitgefühl hervorrief. »Reiten Sie auch Jagden?«

»Oh nein«, wehrte Beryl ab. Kurz huschte ein Lächeln über ihr Gesicht, das jedoch sofort verschwand, als hätte man sie bei einer Unschicklichkeit ertappt. »Ich springe zwar für mein Leben gern, aber mir tut der arme Fuchs leid.«

»Mir auch.« Christabel lächelte voller Wärme und hätte sich gern länger mit Beryl Banfour unterhalten, doch Unity Willmington konnte das nicht zulassen.

»Füchse müssen gejagt werden. Es sind Schädlinge«, erklärte sie in einem Tonfall, der deutlich machte, dass sie keinen Widerspruch duldete.

Natürlich reizte das Christabel erst recht, obwohl es gegen die guten Sitten verstieß, sich mit seinem Gastgeber zu streiten. Glücklicherweise öffnete sich die Tür und ein älterer Mann trat ein.

»Papa.« Unity Willmington sprang auf und lief zu ihm. »Ich fürchtete schon, du hättest wieder zu viel zu tun.«

»Für meine Tochter und so wunderbare Gäste habe ich immer Zeit.« Er lächelte voller Wärme in die Runde. »Herzlich willkommen auf Ashburn Abbey. Ich hoffe, wir werden eine wunderbare Zeit miteinander verbringen.«

Von seinem Vater hat Lucian die dunklen Haare und die blasse Gesichtsfarbe nicht geerbt, dachte Christabel als Erstes. Lord Percy Willmingtons Haar wurde langsam grau, aber noch war genügend vom ursprünglichen Braun zu sehen. Dunkelblaue Augen prägten sein sonnengebräuntes Gesicht. Die Nase war gerade, die Lippen extrem schmal, die Oberlippe kaum mehr als ein Strich. Das Alter des Herrn von Ashburn Abbey zeigte sich in den tiefen Falten auf der Stirn und um die Mundwinkel sowie an seinem zurückweichenden Haupthaar. Trotzdem war Lord Percy ein anziehender Mann, was den Gerüchten zufolge viele Ladys in London zu schätzen wussten.

Seine Stimme war überraschend sanft, man konnte sich kaum vorstellen, dass er sie je erhob. Trotzdem hatte Christabel den Eindruck, dass er eine natürliche Autorität ausstrahlte.

»Wo sind Dunstan und Lucian?« Obwohl Lord Willmington ruhig wirkte, klang sein Tonfall schärfer und seine Frau zuckte zusammen. »Haben Sie den Gong nicht gehört?«

Christabel fiel auf, dass er Georgina nicht erwähnte, was sie verwunderte. In dem Moment ging die Tür auf und Dunstan und Georgina traten ein.

»Entschuldigung.« Die Spannung zwischen dem Ehepaar war mit den Händen greifbar. Während Dunstans Gesicht dunkel vor Zorn war, sah Georgina aus, als wollte sie gleich in Tränen ausbrechen. Sie rannte förmlich auf die Gruppe um Christabel zu, als wollte sie ihrem Ehemann entkommen.

Neugierig blickte Christabel ihr entgegen, doch Georgina erreichte sie nicht. Denn in diesem Augenblick öffnete sich die Tür erneut und Lucian trat ein. Sofort blieb Dunstans Frau stehen und drehte sich um. Christabel erspähte einen Ausdruck unglaublicher Sehnsucht auf ihrem Gesicht, bevor Georgina ihr den Rücken zudrehte.

Erneut wallte Zorn in Christabel auf, aber sie wollte den richtigen Moment abwarten, um Lucian mit seiner Tat zu konfrontieren. Daher lächelte sie gequält, als er sich zu Beryl Banfour und ihr gesellte.

»Nun, liebe Lady Christabel, ich sehe, Sie sind heute nicht auf dem Kreuzzug für das Frauenwahlrecht.«

Die Unverschämtheit seiner Begrüßung raubte ihr die Sprache. Christabel konnte ihn nur anstarren und wünschte sich, schlagfertiger zu sein. Lucian schien das nicht zu stören, er wandte sich zu Beryl Banfour und seinem Bruder um.

Sein Tonfall klang gelangweilt, häufig antwortete er nur gerade so knapp, wie es die Höflichkeit zuließ. Christabel hielt ihn für einen arroganten Pinsel und war äußerst verwundert gewesen, wie fasziniert die anderen Debütantinnen in London von ihm gewesen waren. Was reizte eine hübsche, einigermaßen kluge Frau bloß an einem Mann, der nur sich selbst lieben konnte?

Vielleicht würde sie hier und heute einer Antwort auf diese Frage näherkommen, denn es war nicht zu übersehen, dass die arme Beryl Banfour in Lucian verliebt war. Christabel war gespannt auf Violet Keat, Lucians Verlobte, die ebenfalls zum Abendessen erwartet wurde. Das hatte Beryl ihr eben erzählt, mit einem traurigen Unterton in der Stimme.

Als sich die Tür ein weiteres Mal öffnete, erwartete Christabel daher Lucians Verlobte zu sehen. Stattdessen platzte ein Mann herein. Christabel war sehr überrascht, ihn auf Ashburn Abbey zu treffen, aber sie lächelte ihm entgegen. »Ernest, was für ein unerwartetes Vergnügen. Wir haben uns entsetzlich lange nicht mehr gesehen.«

Obwohl sie sich wirklich freute, einem ihrer ältesten Freunde zu begegnen, verspürte sie einen Anflug von Ärger. Die Anwesenheit des unverheirateten Ernest erklärte, warum Christabels Eltern sofort damit einverstanden gewesen waren, ihre Tochter nur in Begleitung der Zofe nach Ashburn Abbey reisen zu lassen. Was für ein durchsichtiges Manöver! Was würde ihre Mutter sich wohl als Nächstes einfallen lassen? Würde sie Christabel mit einem Schild »Zu verheiraten« auf die Oxford Street stellen oder sie möglicherweise in der Zeitung inserieren?

»Einen Penny für deine Gedanken.« Ernest beugte sich zu ihr herab. »Man kann dir auf dem Gesicht ablesen, dass es etwas Unverschämtes ist.«

»Als ob ich je etwas dächte, was meine Mutter nicht gutheißen würde.«

»Du weißt, ich wünschte mir, dich besser zu kennen.«

Christabel schätzte Ernest Pemborough als Freund und fand es immer noch irritierend, wenn er versuchte, mit ihr zu flirten. Die Leichtigkeit und das Frivole, das einem guten Flirt innewohnte, passten leider gar nicht zu dem guten Ernest, dessen Art seinem Namen alle Ehre machte. Der schlanke hochgewachsene junge Mann sah immer so aus, als würde er gewichtige Themen wälzen, was er auch tat. Christabels Freundschaft hatte Ernest bei ihrer ersten Begegnung vor drei Jahren gewonnen, als er sie um ihre Meinung zu Shackletons Antarktisexpedition fragte, anstatt mit ihr über die Jagd, Ascot oder die Eröffnung von Selfridges zu sprechen.

In seinem langen, aristokratischen Gesicht zogen die grauen Augen alle Aufmerksamkeit auf sich.

Augen wie ein Nebeltag in London hatte eine von Christabels Freundinnen sie einmal beschrieben, was sie sehr verwundert hatte, erschien ihr diese Beschreibung viel zu romantisch für den guten alten Ernest. Damals hatte sie zum ersten Mal bemerkt, welches Interesse ihr Freund bei den Debütantinnen erregte. Daraufhin versuchte sie, Ernest mit anderen Augen zu sehen, aber es wollte ihr nicht gelingen. Für sie blieb er ein Freund, zu unterschiedlich war seine bedächtige, ruhige Art gegenüber ihrer Impulsivität.

Dabei war er wirklich gut aussehend, auf diese seriöse Weise. Ein hageres Gesicht, eine gerade Nase und ein voller Mund, der nicht so recht zu Ernests Wesen passen wollte. Die braunen Haare blichen im Sommer etwas aus und manchmal verirrten sich vorwitzige Sommersprossen auf seine Wangen.

»Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber mein Magen wird gleich knurren.« Mit jovialer Freundlichkeit forderte der Gastgeber sie auf, sich in das Speisezimmer zu begeben. Dort erwartete sie eine junge Frau, die Honora mit »Liebe Violet« begrüßte.

Violet Keat war ein hübsches Mädchen mit klarer Haut, welligen hellbraunen Haaren und sanften braunen Augen. Ihre Stimme klang melodisch, allerdings sehr leise. Niemals hätte Christabel sich so ein zartes, sanftes Mädchen an Lucian Willmingtons Seite vorgestellt. Was zog den eitlen und hinterhältigen Lucian wohl zu einer jungen Frau, die gänzlich unverdorben und naiv wirkte? Christabel wollte sich nicht vorstellen, was ihn motivierte. Etwas Gutes war es sicher nicht. War es der gesellschaftliche Aufstieg, denn Violet war die Tochter eines Duke?

Wenn man sie gefragt hätte, wie Lucian Willmingtons Verlobte wohl aussähe, hätte sie auf eine ätherische Schönheit wie Georgina getippt.

Das Speisezimmer war, wie alles auf Ashburn Abbey, beeindruckend. Ein großer Kronleuchter hing über der sorgfältig gedeckten Tafel.

Ob die Willmingtons immer so elegant speisten oder ob es das wappengeschmückte Silberbesteck nur für Ernest und sie gab, fragte sich Christabel, nachdem sie ihren Platz eingenommen hatte. Mit kundigem Blick erkannte sie das Tafelgeschirr als Royal Crown Derby. Der schmale Goldrand war unverwechselbar.

Freundlicherweise hatte Honora Willmington ihr Ernest als Tischherrn zugeteilt, sodass Christabel sich gut unterhalten konnte. Allerdings gab es noch etwas, was ihr auf der Seele brannte und was sie ansprechen wollte, auch wenn es sicher kein Thema für eine Konversation beim Abendessen war. Doch Christabel konnte und wollte Lucian Willmington nicht einfach davonkommen lassen.

Während sie wartete, beobachtete sie die Menschen um sich herum. Honora Willmington fing ihren Blick ein und nickte ihr freundlich zu. Christabel gelang ihr einfach nicht, die Herrin des Hauses zu mögen. Möglicherweise lag es daran, wie sehr Honora ihren jüngsten Sohn vergötterte, obwohl Lucian schlicht und ergreifend ein wahres Ekel war. Dunstan und Unity erfuhren bei Tisch nur wenig Aufmerksamkeit von ihrer Mutter, während sie jedes Wort, das Lucian von sich gab, mit einem Lächeln belohnte.

»Nun, mein lieber Ernest«, Lucian erhob sein Glas, »wie überaus erfreulich, dass Sie endlich einmal meiner Einladung nachgekommen sind.«

Täuschte sich Christabel oder verbarg sich etwas Düsteres, Böses hinter den belanglos dahingesagten Worten? Während sie vorgab, den Fisch zu zerteilen, beobachtete sie Lucian aus gesenkten Augenlidern. Ja, ein süffisantes Lächeln umspielte dessen schmale Lippen. Was Christabel jedoch viel mehr verwunderte, war Ernests Reaktion, nachdem Lucian ihn angesprochen hatte. Ihr Tischnachbar umklammerte das Fischmesser so fest, dass es gewiss brechen musste. Sanft legte sie ihm ihre Finger auf den Unterarm. Erst versteifte er sich, dann jedoch wandte er sich ihr zu. Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen, als er ihr dankbar zunickte.

So sehr es sie reizte, Lucian auf das Kätzchen anzusprechen, so sehr erschien es ihr im Augenblick unpassend. Daher flötete sie mit ihrer besten Höhere-Töchter-Stimme: »Wie ungewöhnlich. Auch ich weile das erste Mal hier. Ein überaus prächtiges Haus.«

»Warum spricht es niemand aus?«, fragte Unity Willmington barsch. »Alle wundern sich gewiss, warum wir hier und nicht in London sind.«

»Unity!« Den Tonfall von Lady Willmington kannte Christabel nur zu gut von ihrer Mutter. Rosalind Mowgray nutzte diese Stimmlage, wenn sie ihre Tochter zur Ordnung rufen wollte. »Wir sind bei Tisch.«

»Deshalb darf niemand erfahren, dass Lord Howards-Copper unsere Verlobung gelöst hat?« Klirrend warf Unity ihr Besteck auf den Teller. Mit so viel Wut, dass der Fisch auf das weiß gestärkte Tischtuch spritzte. »Dass mein Bruder mir die Chance auf eine wunderbare Verbindung verdorben hat. Ihr seid alle solche Heuchler.«

Mit diesen Worten sprang sie auf und stürmte aus dem Raum. Die Zurückbleibenden schwiegen einen Moment betreten, bevor Beryl Banfour und Violet Keat gleichzeitig etwas über das milde Wetter sagten. Dankbar griff Lady Willmington das Thema auf und sprach über die blühenden Bäume und Sträucher ihres Gartens.

»Weißt du mehr darüber?«, flüsterte Christabel Ernest zu. In London hatte sie weder davon erfahren, dass Unity Willmington sich verlobt hatte, noch davon, dass diese Verlobung gelöst worden war.

Ernest schüttelte den Kopf. Aber er schien nicht bei der Sache, sondern starrte Lucian Willmington hasserfüllt an, was dieser mit einem bissigen Lächeln quittierte. Man musste nicht sensibel oder medial begabt sein, um zu bemerken, wie viel unterschwellige Spannung bei diesem Abendessen herrschte. Christabel fröstelte, obwohl eine behagliche Wärme von dem Kaminfeuer ausging. War jetzt wirklich der richtige Moment, das Kätzchen anzusprechen? Nein, entschied sie. Es gehörte sich nicht, Öl ins Feuer zu gießen. Andererseits wollte sie nichts lieber, als Lucian Willmington dieses arrogante Lächeln aus dem Gesicht zu wischen.

»Was haben Sie heute unternommen, Lady Christabel?« Honora Willmington widmete ihr einen Moment ihrer Aufmerksamkeit. »Hatten Sie schon Gelegenheit, einen Spaziergang in unserem Garten zu machen? Ich muss eingestehen, ich bin sehr stolz auf das, was unsere Gärtner dort leisten.«

»Meine Zofe und ich waren heute beim Brunnen spazieren.« Lady Christabel bemühte sich um einen fröhlichen Plauderton. Lucian sollte keinen Verdacht schöpfen, bevor sie ihn mit seiner Tat konfrontierte. »Dort wurden wir Zeugen von etwas sehr Unangenehmen.«

Lucian hob den Kopf. Sie hätte erwartet, dass er ertappt oder erschrocken schauen würde, stattdessen grinste er sie siegesgewiss an. Als wüsste er etwas, von dem sie nichts ahnte.

»Lucian, warum hast du das Kätzchen in den Brunnen geschleudert?« Christabels klare Stimme übertönte alle Gespräche, die schlagartig verstummten. Alle Gesichter wandten sich ihr zu und dann Lucian, der weiterhin lächelte.

»Lucian hat sicher gemeint, das Beste für das Tier zu tun«, ergriff Honora Willmington für ihn Partei. »Ohne Mutter würde es nur elend verhungern.«

Wie konnte die Frau nur dermaßen verblendet sein? Christabel biss sich auf die Lippe, um nicht vor Zorn herauszuplatzen. Man musste sich nur Lucians hämisches Grinsen ansehen und konnte sofort erkennen, dass es ihm gewiss nicht um das Wohl des Kätzchens gegangen war.

»Es tut mir leid.« Christabel erhob sich. »Mich plagen furchtbare Kopfschmerzen.«

Mit diesen Menschen wollte sie nicht länger an einem Tisch sitzen. Möglicherweise hatte Nicholas, der wütende Pamphlete gegen die Sattheit der Landhausbesitzer geschrieben hatte, einen stärkeren Einfluss auf sie, als sie gedacht hatte. Heute kamen ihr die Regeln und Sitten verlogen vor. Sie dienten nur dazu, Ignoranz und Boshaftigkeit zu übertünchen.

Kapitel Neun

Selbst nach den Jahren als Dienstbotin hatte sich Maud nicht an das alberne Ritual des Essens der Dienerschaft gewöhnen können. Ihr kam es vor, als versuchten die Dienstboten, die Mahlzeiten ihrer Herrschaften nachzuahmen. Wie Kinder, die sich als Erwachsene verkleideten. Selbstverständlich legte Trowbridge großen Wert darauf, dass die Rangordnung eingehalten wurde, wenn sie vom Speiseraum in das Dienstbotenzimmer gingen, in dem Käse und Dessert serviert wurden. Ebenso selbstverständlich fühlte Maud sich versucht, seine Ordnung zu stören, einfach, weil der Butler so borniert und engstirnig war. Doch brav nahm sie den ihr zugewiesenen Platz ein, weil sie Lady Christabel keinen Ärger machen wollte.

Außerdem fand sie die Hausdame, Eunice Stanhoop, angenehmer als befürchtet, obwohl sie so gar nicht Mauds Vorstellungen einer Hausdame entsprach. Bisher hatte sie auch in keinem der Haushalte, die Lady Christabel und sie besucht hatten, eine dermaßen junge und auffallend schöne Frau getroffen, die dem Haushalt vorstand.

Selbst das langweilige schwarze Kleid konnte nicht verbergen, wie wohlgerundet Mrs Stanhoop war. Obwohl ihr Gesicht zu breit und die Oberlippe sehr schmal war, zog ihr Gesicht sofort die Aufmerksamkeit auf sich. Es waren die hellgrauen Augen, die äußerst kritisch, aber auch lebendig blickten. Lange, dunkle Wimpern gaben ihnen den passenden Rahmen.

»Wir werden in den kommenden Tagen gemeinsam Hand in Hand arbeiten müssen, um unsere Gäste zu versorgen.« Eunice Stanhoops Stimme klang dunkel und angenehm. »Ich verlasse mich darauf, dass alles reibungslos läuft.«

»Selbstverständlich«, »Gewiss« und ähnliche Antworten machten deutlich, dass ihr Wort Gewicht hatte.

Während sie sich ihrem Essen widmete, ließ Maud ihren Blick unauffällig wandern bis zum Platz ganz unten am Tisch. Hier saß Dora Mullens, die Küchenhilfe, die gewiss eine interessante Geschichte zu erzählen hatte.

Bestimmt kam es oft vor, dass Lieferanten oder Gäste wie sie Dora Mullens für die Köchin hielten. Die Küchenhilfe war eigentlich viel zu alt für diese Tätigkeit. Dora war wohl Mitte vierzig, eine rundliche Frau mit erdbeerblonden Haaren und kräftigen Händen, die gut zupacken konnten.

Ihre kleinen Augen von einem verwaschenen Braun versanken in dem runden Gesicht. Zwei tiefe Falten zogen sich von der Nase an den Mundwinkeln entlang, als hätte die Küchenhilfe großen Kummer erfahren.

Neugierig fragte sich Maud, warum Dora es nicht zu einer höheren Stellung gebracht hatte. Zuerst hatte Maud gedacht, die Küchenhilfe wäre ein einfaches Gemüt, weil sie sich aus den Gesprächen bei Tisch gänzlich fernhielt. Aber je mehr sie Dora beobachtete, desto sicherer wurde sie, dass diese ein dunkles Geheimnis verbarg.

»Vielen Dank für das wunderbare Essen.« Maud erhob sich, nachdem Trowbridge die Mahlzeit für beendet erklärt hatte. »Gute Nacht.«

Nachdem sie das erste Abendessen auf Ashburn Abbey eingenommen hatte, musste Maud zugeben, dass Mrs Pratt zwar nicht wie eine Köchin aussah, aber ähnlich schmackhaft kochte wie Nellie Cramton. Ein Gedanke, der Maud vorkam wie ein Sakrileg.

Die Reise und der anstrengende Tag forderten ihren Tribut und sie unterdrückte ein Gähnen. Nicht zu vergessen den Kater, der in ihrem Zimmer wartete und sich hoffentlich gut benommen hatte.

»Ich weiß schon von dem Tier«, hatte Mrs Stanhoop mit einem Lächeln gesagt. »Harriet weiß auch Bescheid und wird etwas Futter für die Katze zusammenpacken.«

Mit einem Tablett, auf dem eine Schale voll gutem Schabefleisch stand, begab sich Maud in ihr Zimmer. Der schneeweiße Kater stürzte sich auf das Fleisch, als wäre er verhungert.

»Langsam, Kleiner. Sonst brichst du es nur wieder aus.« Während Maud darauf wartete, dass Lady Christabel sie zu sich rief, spielte sie mit dem Kater. Der Kleine schien das unfreiwillige Bad gesund überstanden zu haben.

Früher als erwartet, schrillte die Klingel und rief Maud zu ihrer Ladyschaft.

»Ich habe Kopfschmerzen und will nicht über den Abend reden.« Mit diesen Worten empfing Lady Christabel ihre Zofe. »Hilf mir beim Auskleiden. Ich gehe gleich ins Bett.«

Wenn ihre Ladyschaft in dieser Stimmung war, würde Maud kein Wort aus ihr herausbringen, auch wenn es sie noch so sehr reizte zu erfahren, was deren Unmut hervorgerufen hatte.

»Geht es dem Kater gut?«, fragte Lady Christabel nach einer langen Zeit des Schweigens. »Ich habe mit der Hausdame gesprochen.«

»Es ist eine Katze«, musste Maud eingestehen. »Ich habe mich geirrt.«

»Sie braucht einen Namen, aber das hat Zeit bis morgen.« Abrupt stand Lady Christabel auf und ging zu ihrem Bett.

»Soll ich Ihnen einen Tee oder ein Glas Kakao bringen?«

»Nein, ich möchte nur schlafen. Gute Nacht.«

Da Lady Christabel sich früh zurückgezogen hatte, blieb Maud Zeit, sich den Büchern zu widmen, die sie nach Ashburn Abbey mitgebracht hatte. Denn es war nicht sicher gewesen, ob ihr als Dienstbotin Zugang zur Bibliothek gewährt worden wäre. Und sie hatte nicht wissen können, ob sie auf Ashburn Abbey die Bücher finden würde, die sie bevorzugte. Ihrer Erfahrung nach sagten die Bücher, die Menschen lasen, viel über deren Charakter aus. So wie Lady Christabel, die Detektivgeschichten verschlang, um der Langeweile ihres Lebens wenigstens für kurze Zeit entkommen zu können.

»Was sagt meine Wahl über mich aus?«, murmelte Maud, als sie versuchte, eine Entscheidung zwischen »Peter Pan« und »Dr. Jekyll und Mr Hyde« zu treffen. »Ich verliere mich gern in fantastischen Geschichten.«

Obwohl Dr. Jekylls Geschichte sie mehr reizte als die des Jungen, der nicht erwachsen werden wollte, entschied sie sich für »Peter Pan«. Die erste Nacht in einem fremden Haus wollte sie auf keinen Fall von einem Arzt träumen, dessen Persönlichkeit sich spaltete, auch wenn Lady Christabel ihr die Geschichte sehr ans Herz gelegt hatte. Obwohl Maud ihrer Ladyschaft auf ewig dankbar sein würde, weil diese ihr das Lesen beigebracht hatte, teilte sie nicht deren Vorlieben. Lady Christabel verschlang Detektiv- und Kriminalgeschichten, mit denen Maud wenig anfangen konnte. Möglicherweise hatte sie bereits zu viel Elend und Verbrechen gesehen, sodass sie sich beim Lesen lieber in fantastische Welten flüchtete.

Außerdem empfand Maud Sherlock Holmes als einen arroganten Pinsel, der den armen Dr. Watson herablassend belehrte. So aufmerksam, wie der große Detektiv dargestellt wurde, konnte ein Mensch gar nicht sein. Das wusste Maud aus eigener Erfahrung. Da widmete sie ihre Zeit doch lieber Feen und Elfen und Piraten.

Ihre Augen brannten vor Müdigkeit und es fiel ihr immer schwerer, im flackernden Licht der Lampe die Buchstaben zu erkennen, aber die Geschichte fesselte sie so sehr, dass sie immer wieder eine Seite umblätterte.

»Morgen mehr.« Maud gähnte ausgiebig. Mit einem Seufzen legte sie das Buch zur Seite auf den Nachttisch, bevor sie das Licht löschte. Das Bett war viel härter als das, in dem sie auf Lentune Hall schlief. Außerdem war es schmaler: Ihre Knie und Ellenbogen standen über den Holzrahmen hinaus. Maud drehte sich von einer Seite auf die andere, ohne eine angenehme Schlafposition zu finden. Ein leises Geräusch sagte ihr, dass die Katze zu ihr aufs Bett gesprungen war und sich neben ihrem Knie einkuschelte.

Wie immer in einem neuen Haus konnte Maud nicht in den Schlaf finden. Die Ruhe auf dem Land sagte ihr nicht zu. Sie vermisste die Geräusche der Stadt: das Wiehern der Kutschpferde, übertönt von den Motoren der Automobile und Busse, die die Kutschen zu verdrängen schienen. Die Stille hier kam ihr unnatürlich vor, man wagte es selbst kaum, etwas zu sagen, um die Ruhe nicht zu stören.

Trotzdem dämmerte sie langsam in den Schlaf, aus dem sie unsanft geweckt wurde, als ein markerschütternder Schrei ertönte. In ihrer Panik tastete Maud nach Patrick. Enttäuschung durchfuhr sie, nachdem sie wach genug war, um zu erkennen, dass sie allein war. Seit Jahren schon. Obwohl viel Zeit vergangen war, konnte sie ihren Ehemann einfach nicht vergessen. Manchmal wünschte sie, sie könnte Lady Christabel davon erzählen, könnte sie davor warnen, wie viel Leid die Liebe mit sich brachte.

Aber natürlich schickte es sich für eine Zofe nicht, ihre Lady mit diesen Gedanken zu behelligen. Maud seufzte und versuchte zu ergründen, woher der Schrei gekommen war, als sie einen weiteren vernahm. Ihre Finger tasteten nach dem Gaslicht, während ihre Gedanken sich überschlugen. War es das Kätzchen? Hatte das kleine Tier Schmerzen? Nein, der Schrei hatte menschlich geklungen. War Lady Christabel etwas geschehen? Auf diesem Flur schliefen nur wenige Gäste. Mauds Finger zitterten, aber endlich gelang es ihr, die Kammer zu erleuchten. Das Licht spiegelte sich in den großen Augen des Kätzchens, das sie anschaute und gähnte. Obwohl Mauds Herz raste, musste sie lächeln. Sie strich dem Tierchen über den Kopf, bevor sie ihren Morgenmantel überwarf. Es war ein edles Stück aus dunkelblauer Seide, das Lady Christabel ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. Maud schlang einen Knoten in den Gürtel, richtete ihre Haare und trat vor die Tür ihres Zimmers.

Dort wartete bereits eine Gestalt auf dem dunklen Flur, der durch Lampen nur schwach erhellt wurde. Maud zuckte zusammen. Auf den zweiten Blick erkannte sie Lady Christabel, die von einem Bein aufs andere trat. Ihr Haar war aufgelöst, der Morgenmantel nur halb geschlossen, als hätte sie es sehr eilig gehabt, aufzubrechen.

»Lady Christabel. Zum Glück ist Ihnen nichts passiert.«

»Da bist du endlich. Allein wollte ich dort nicht hin.«

»Wie sehen Sie nur aus, Mylady?« Maud schüttelte den Kopf, während sie den Morgenmantel richtete. »Haben Sie den Schrei auch gehört?«

»Selbstverständlich.« Lady Christabel schauderte sichtlich. »Wo kam das her? Was hat das nur zu bedeuten?«

Fast, als sollte es eine Antwort auf ihre Frage sein, erklang der Schrei erneut. Maud und ihre Lady wechselten einen Blick, bevor sie in Richtung des panischen Rufs eilten. Sie waren nicht die Ersten, die reagiert hatten, denn vor der Tür eines Zimmers stand bereits Lord Pemborough. Trowbridge eilte von der anderen Seite herbei, die Haare zerzaust, der gesteppte Morgenmantel saß schief.

Als sie aufeinandertrafen, nickten sie einander zu und verharrten einen Augenblick, unschlüssig, was zu tun war. Da ertönte wieder das Kreischen, hoch und voller Panik.

»Öffnen Sie!«, Lord Pemborough schlug die Faust gegen das Holz. »Um Himmels willen, öffnen Sie!«

Auch wenn die Tür verschlossen blieb, verstummte immerhin der Schrei. Während sie gemeinsam warteten, kam es Maud vor, als hielten sie alle den Atem an. Langsam, sehr langsam drehte sich ein Schlüssel im Schloss. Noch bedächtiger öffnete sich die Tür einen Spalt. Beinahe erwartete Maud, dass ein kreischendes Quietschen ertönen würde, der Düsternis der Lage angemessen. Stattdessen steckte eine bleiche Frau ihren Kopf heraus, die Augen geweitet und voller Tränen, die zarten Gesichtszüge von Angst gezeichnet. Erst auf den zweiten Blick erkannte Maud sie als die Verlobte von Mr Willmington.

Was macht sie hier? Ich bin mir sicher, sie wohnt in dem Zimmer zwischen Miss Banfour und Lady Christabel. Kaum hatte sie den Gedanken gefasst, schüttelte Maud innerlich den Kopf. Es musste an der Müdigkeit liegen, dass sie dermaßen begriffsstutzig war. Schließlich war es nicht ihr erstes Wochenende auf dem Land. Auch auf Lentune Hall hatten die Dienstboten gern darüber getratscht, welcher Gast nachts wessen Zimmer aufgesucht hatte.

»Lucian«, stieß Lady Violet schluchzend hervor und öffnete die Tür etwas weiter. »Er … er ist tot.«

Sie verdrehte die Augen und sank in sich zusammen. Hätte Lord Pemborough nicht einen schnellen Schritt nach vorn gemacht, um die junge Frau aufzufangen, wäre sie sicher ohnmächtig zu Boden gesunken. All das nahm Maud aus dem Augenwinkel wahr, während sie in einer Mischung aus Faszination und Grauen auf das Bett starrte.

Woran immer auch Mr Willmington gestorben war, es war kein leichter Tod gewesen. Seine eleganten Gesichtszüge waren in Agonie verzerrt, in seinem Todeskampf hatte er die schwere Bettdecke zu Boden geworfen, was einen Blick auf seinen verkrampften Körper ermöglichte. Blicklos starrten seine Augen zur Decke.

Maud wandte sich von ihm ab und schaute sich im Zimmer um. Es sah aus, als hätte ein Berserker darin gewütet. Ein Stuhl war umgeworfen, mehrere Bücher lagen auf dem Boden verstreut. Eines von ihnen hatte den Rücken gebrochen. Auf dem Nachttisch stand ein Glas, in dem sich ein Rest einer dunklen Flüssigkeit befand.

Das müssen wir aufheben und untersuchen lassen. Falls Mr Willmington vergiftet wurde, kann das der wichtige Beweis sein. Hölle und Hinkebein, ich klinge bereits wie ein Held aus Lady Christabels Geschichten.

Bevor sie handeln konnte, spürte Maud einen scharfen Schmerz in ihrem Unterarm und sah dorthin. Lady Christabel hatte ihre Hand auf Mauds Arm gelegt und krallte sich nun hinein. Ihre Augen waren vor Panik geweitet, ihr Mund halb offen, als hätte sie etwas sagen wollen, was ihr nun entfallen war.

»Kommen Sie, Mylady.« Sanft löste Maud die Umklammerung. »Ich bringe Sie zurück in Ihr Zimmer.«

»Bitte bleiben Sie hier, Gulliver. Du bitte auch, Christabel«, sagte Lord Pemborough, der bleich, aber gefasst aussah. »Wir müssen Lady Violet beistehen.«

Etwas hilflos starrte er auf das regungslose Bündel in seinen Armen. Auch auf Lady Christabels Gesicht lag ein Ausdruck von Entsetzen. Sie blickte Maud an, als wüsste diese, was man in einer derartigen Lage zu tun hätte.

Bevor Maud irgendetwas unternehmen konnte, drängte sich Trowbridge an ihr vorbei. Der muskatartige Geruch eines Haaröls stieg Maud in die Nase.

»Mylord, bitte setzen Sie Lady Violet hier hin.« Mit befehlsgewohnter Stimme zeigte der Butler, dass er wohl schon mehrere Krisen überstanden hatte. Er hob einen Stuhl mit bunt gemusterter Sitzfläche auf und stellte ihn vor Lord Pemborough. »Vorsichtig.«

Maud empfand fast etwas wie widerwillige Bewunderung für den Butler, der die Maßnahmen ergriff, die nötig waren. Nur an die Beweissicherung dachte er gewiss nicht. Also versuchte Maud, sich an Lady Keat vorbeizuschieben, um an das Glas zu gelangen. Doch Trowbridge stand ihr im Weg. Der Butler schluckte einmal, bevor er die Bettdecke vom Boden hob und über den Leichnam warf. Dabei stieß er mit der Hüfte gegen den kleinen Nachtschrank. So heftig, dass das Wasserglas, das darauf gestanden hatte, zu Boden fiel. Die braune Flüssigkeit ergoss sich auf den schweren roten Teppich, in dem sie versickerte.

Ob noch etwas zu retten ist?, ging Maud durch den Kopf. Das werden die Hausmädchen hassen, war ihr zweiter Gedanke. Nur zu gut erinnerte sie sich daran, wie oft sie auf Händen und Knien versucht hatte, Flecken aus Teppichen zu schrubben. Wie oft sie die Ladys und Gentlemen für ihre Unachtsamkeit verflucht hatte, die so viel Arbeit für die Dienstboten mit sich brachte.

Der Butler hingegen widmete dem Glas nicht einmal einen Blick, sondern wandte sich zur Tür.

»Wir … wir müssen … ich muss es Seiner Lordschaft sagen. Und den Doktor holen lassen«, flüsterte er schließlich. Trowbridges Gesicht hatte einen ungesunden Grünton angenommen, seine Stimme klang rau. »Jemand muss Miss Ramsbury wecken, damit sie Lady Willmington …«

Anscheinend fielen ihm keine passenden Worte ein, was Maud nur zu gut verstehen konnte. Wie sollte man einer Mutter mitteilen, dass ihr Sohn vor ihr gestorben war?

Auf dem Flur zog er seinen Morgenmantel gerade und strich sich mit den Händen die Haare glatt. Er wollte wohl seiner Lordschaft nicht unordentlich gegenübertreten. Auch wenn sie Trowbridge nicht mochte, beneidete Maud ihn nicht um die Aufgabe, seinem Dienstherrn etwas dermaßen Entsetzliches mitteilen zu müssen.

Ein leiser Klagelaut, der beinahe klang wie ein Miauen, lenkte ihre Aufmerksamkeit auf Lady Violet. Inzwischen hatte die junge Frau ihr Bewusstsein wiedergewonnen. Orientierungslos sah sie sich im Zimmer um, bis ihr Blick auf das Bett fiel. Erneut stieß sie einen entsetzlichen Schrei aus und sprang auf. Doch ihre Beine trugen sie nicht und sie fiel wieder zurück auf den Stuhl.

Kapitel Zehn

Auf den ersten Blick hatte Christabel erkannt, was in diesem Raum geschehen war und ebenso, was hier hatte vonstattengehen sollen. Violet Keat hatte den Besuch auf Ashburn Abbey für ein Stelldichein mit ihrem Verlobten nutzen wollen und sich im Schutz der Nacht in sein Zimmer geschlichen. Allerdings war das Rendezvous nicht mit Liebe zu Ende gegangen, sondern mit dem Tod von Lucian.

Kein Wunder, dass Violets Schreie alle aufgeweckt hatten, deren Schlafräume sich in diesem Teil des Hauses befanden. Auch der Schrei, den die junge Frau eben ausgestoßen hatte, war markerschütternd gewesen. Nun allerdings herrschte Stille, was beinahe noch erschreckender war als die Schreie.

Immer wieder hatte Christabel von drückendem Schweigen gelesen, aber hier und heute erlebte sie das erste Mal, wie furchtbar sich Lautlosigkeit anfühlte. Sie zog ihren Morgenmantel enger um sich und fröstelte. Daher traf sie das nächste Geschehen vollkommen unerwartet.

»Oh, meine liebe Christabel!« Mit einem Schluchzer sprang Violet Keat auf und warf sich ihr plötzlich in die Arme, als wären sie beste Freundinnen und sich nicht erst heute zum ersten Mal begegnet. »Lucian ist tot.«

Christabel, überrascht von einer derartigen Zurschaustellung von Gefühlen, sah Maud hilfesuchend an. Ihre Zofe zuckte mit den Schultern und blickte sich im Raum um, als wollte sie sich alles einprägen. Also musste Christabel allein mit der Situation fertig werden. Sanft strich sie Violet Keat, die sich schluchzend an sie klammerte, über die Schulter.

»Oh nein, dort liegt die Liebe meines Lebens.« Violet Keats Tränen tropften auf Christabels Schulter. »Ich will auch sterben.«

Fieberhaft überlegte Christabel, was sie tun könnte. Als Erstes erschien es ihr angebracht, Lucians Verlobte zu beruhigen. Daher drehte Christabel die schluchzende Frau etwas zur Seite, damit sie nicht weiter auf das Bett mit der Leiche starren musste. So redegewandt Christabel sonst war, ihr wollten keine tröstenden Worte einfallen. Mit Plattitüden wie »Alles wird gut« wagte sie der weinenden Violet nicht zu kommen.

Ihr Blick fiel auf Ernest Pemborough, der ihn erwiderte, bevor er hilflos die Hände hob. Sein Verhalten enttäuschte sie, sie hatte erwartet, dass er – ähnlich wie der Butler – das Heft in die Hand nähme und alles regelte. Stattdessen starrte er nur erschüttert vor sich hin.

Während sie unbeholfen Violet Keats Schulter tätschelte, suchte Christabel nach Anzeichen, die verrieten, was im Einzelnen hier geschehen war. Jemand, der so jung und aktiv gewesen war wie Lucian Willmington, starb nicht plötzlich an einem Herzschlag oder etwas Ähnlichem. Christabel ging im Kopf durch, was sie über Lucian und seine Familie wusste. Bisher war niemand von ihnen jung verstorben, eher das Gegenteil war der Fall: Die Willmingtons wurden legendär alt, falls sie nicht durch Unfälle oder Kriege den Tod fanden.

Konnte es ein Unfall gewesen sein? Könnte er vielleicht betrunken gestürzt sein? Immerhin hatte er beim Abendessen dem Wein sehr stark zugesprochen.

Nein, auf keinen Fall. Denn Lucian lag in seinem Bett, die Decke war verrutscht, als hätte er versucht, aufzustehen, und einen schrecklichen Todeskampf geführt. Obwohl sie es nicht wollte, wanderte ihr Blick immer wieder in Richtung des Bettes. Dankenswerterweise hatte Trowbridge die Decke über Lucians Körper gezogen, was den entsetzlichen Anblick etwas abmilderte.

Moment, dachte sie, einen Tatort sollte man nicht verändern. Aber dafür ist es nun zu spät. Trotzdem sollte ich versuchen, mir möglichst viel einzuprägen.

Nun musste Christabel dafür sorgen, dass die Ermittlungen nicht weiter erschwert würden und sie konnte mit der einzigen Zeugin sprechen. Denn genau das tat man in den Detektivgeschichten, die sie so liebte.

»War Lucian bereits tot, als Sie ihn gefunden haben?« Als Christabel die direkte Frage stellte, sah Ernest sie erschüttert an. Wahrscheinlich erwartete er, dass sie weinte oder in Ohnmacht fiel, nicht jedoch etwas so Delikates ansprach.

Violet Keats Hals und Wangen liefen rot an. Sie blickte zu Boden und hörte auf zu schluchzen.

»Bitte sagen Sie uns die Wahrheit.« Christabel strich ihr erneut sanft über den Rücken. »Wir alle verstehen, dass Sie und Lucian etwas Zeit für sich haben wollten.«

Die Lüge ging ihr glatt über die Lippen. Beim besten Willen konnte sie weder nachvollziehen, was die junge Frau an Lucian Willmington gefunden hatte, noch, warum sie ihren guten Ruf riskierte, indem sie sich ihm vor der Hochzeit hingab.

»Lucian …« Violet Keat leckte sich die Lippen. »Ihm … es ging ihm nicht gut. Er klagte über Leibschmerzen.«

»Und?«, flüsterte Christabel mit drängender Stimme. Hoffentlich hielt Ernest den Mund und spielte sich nicht als Ritter auf, der die Jungfrau in Nöten beschützen wollte. »Seien Sie stark. Für Lucian.«

Ernest räusperte sich, woraufhin Christabel ihm einen bösen Blick sandte. Zu seinem und ihrem Glück schwieg er.

»Auf einmal redete Lucian ohne Punkt und Komma, dann warf er mit den Büchern.« Violet Keats klare Gesichtszüge verzerrten sich bei der Erinnerung. »Er antwortete nicht auf meine Frage, ob es ihm gut gehe.«

Nun brach sie wieder in Tränen aus. Auch wenn Christabel sich wünschte, der jungen Frau ihre Trauer zu lassen, musste sie erst die Wahrheit erfahren.

»Hat er etwas gegessen oder getrunken?«

Erneut errötete Violet Keat.

»Wein beim Abendessen. Sehr viel Wein.« Sie schniefte. Ritterlich reichte Ernest ihr ein Taschentuch. »Ich dachte, seine schlechte Stimmung ließe sich darauf zurückführen. Bis er plötzlich das Bewusstsein verlor.«

Erneut starrte sie vor sich hin, was in Christabel den Wunsch weckte, ihr etwas Tröstendes zu sagen. Aber sie wusste aus bitterer, eigener Erfahrung, dass es nichts gab, was die Trauer mildern konnte.

»Ich … ich hätte gleich Hilfe holen müssen.« Violet Keat stieß einen Schrei aus, voller Schmerz und Schuld. »Vielleicht hätte man ihn retten können.«

»Wir sollten hier nichts mehr verändern«, sagte Christabel, nachdem sie durch kräftiges Räuspern ihre Stimme wiedergefunden hatte. »Noch wissen wir nicht, was geschehen ist.«

»Was meinen Sie?« Violets Stimme klang hoch und nahezu hysterisch. Sie löste sich aus Christabels Armen. »Mein geliebter Lucian ist tot. Mehr muss man nicht wissen.«

»Leider doch.« Christabel überlegte, wie sie freundliche Worte finden konnte, aber ihr wollte nichts einfallen. »Lucian ist zu jung für einen natürlichen Tod.«

»Du denkst doch nicht …?« Ernest warf ihr einen Blick zu, eine Mischung aus Entsetzen und langsamem Begreifen. »Nein, das kann nicht sein.«

»Was soll das bedeuten?« Violet Keat sah von ihr zu Ernest, sichtliches Unverständnis zeichnete sich auf ihrem hübschen Gesicht ab. »Was soll das heißen? Sagen Sie es endlich.«

Wie zu erwarten war, stahl Ernest sich auch jetzt aus der Verantwortung und überließ den unangenehmen Teil Christabel. Sie funkelte ihn wütend an, was er nicht zu bemerken schien.

»Es tut mir leid.« Christabel holte tief Luft. »Aber ich fürchte, Lucian ist ermordet worden.«

»Wie können Sie so etwas sagen?«, kreischte Violet Keat mit einer Stimme, um die eine Banshee sie beneidet hätte. »Alle Menschen lieben Lucian. Niemand wünscht seinen Tod.«

Meinte sie das wirklich ernst? Hatte Lucians Verlobte beim Abendessen nicht mitbekommen, wie viel Spannung unter den Anwesenden geherrscht hatte? Dachte sie ernsthaft, jemand, der hilflose Kätzchen ertränkte, war ein guter Mensch?

Im Angesicht einer derartigen Naivität drohte Christabel die Fassung zu verlieren. Sie biss sich auf die Lippen, damit sie nicht etwas sagte, was sie später bereuen würde. Nachdem sie leise bis zehn gezählt hatte, sagte sie schließlich: »Das mag sein, aber wir müssen vom Schlimmsten ausgehen.«

»Und wir sollten das Zimmer verlassen.« Wie immer bewahrte Maud einen kühlen Kopf. »Falls es ein Mord war, müssen wir alles hinterlassen, wie es ist. Für Scotland Yard.«

»Die Polizei?« Ernests Gesicht wurde noch blasser. »Das wird nicht nötig sein.«

Christabel sah ihm förmlich an, wie er sich den Skandal ausmalte, der Ashburn Abbey heimsuchen würde. Und Ernest würde in die Affäre einbezogen werden, nur weil er das Pech hatte, zur falschen Zeit hier zu weilen. Für jemanden wie ihn, der politische Ambitionen hegte, wäre jede Verbindung mit einem Mord und der Polizei eine furchtbare Schädigung seines guten Namens.

Denn die Presse würde Scotland Yard folgen und alle Geheimnisse ans Licht zerren. Tiefe Traurigkeit überfiel Christabel, der Gedanke an die schreibende Zunft rief ihr sofort das Bild Nicholas’ vor Augen. Für ihn wäre es sicher ein gefundenes Fressen gewesen: ein junger Landadeliger, seine Verlobte, ein geheimnisumwitterter Tod.

Ihr kamen die Tränen, was ihr einen mitfühlenden Blick von Ernest einbrachte. Er hob die Hand, als wollte er ihre Schulter berühren, doch verharrte mitten in der Bewegung. Das war ihr nur recht, denn Mitgefühl hätte sie nicht ertragen. Christabel schloss für einen Moment die Augen, bevor sie die Tränen zurückdrängte und Befehle erteilte.

»Maud hat recht. Wir müssen den Raum verlassen«, brachte sie schließlich hervor. Wenn sie sich auf das konzentrierte, was vor ihrer Nase geschah, konnte sie Nicholas vielleicht für kurze Zeit wieder vergessen. »Solange wir nicht wissen, was geschehen ist, müssen wir mit dem Schlimmsten rechnen.«

»Nein!«, heulte Violet auf. »Ich werde Lucian nicht verlassen. Ich liebe ihn.«

»Kommen Sie.« Sanft schob Christabel die junge Frau zurück, um sie dann ebenso vorsichtig am Oberarm aus dem Zimmer zu führen. Niemals hätte sie damit gerechnet, dass Violet sich losreißen würde. Mit einem lauten Schrei stürzte sie zurück in das Zimmer und warf sich über die verhüllte Leiche Lucians auf das Bett. Eine Geste, die Christabel als melodramatisch empfand, obwohl sie das Leid der jungen Frau nachempfinden konnte.

Erneut sandte Christabel einen hilfesuchenden Blick zu Ernest, den dieser wieder mit einem Schulterzucken beantwortete.

»Tu etwas!«, formulierte sie stumm, aber er gab vor, ihren Befehl nicht verstanden zu haben. Also blieb es an Christabel, Violet vorsichtig an den Schultern zu berühren und sie mit sanfter Gewalt von Lucian zu lösen.

»Nein! Lassen Sie mich! Ich will bei ihm bleiben«, schrie die junge Frau unter Schluchzen. »Er ist mein Leben.«

»Mäßigen Sie sich!« Obwohl mit leiser Stimme gesprochen, verfehlten die Worte ihre Wirkung nicht. Lord Willmingtons Autorität verlieh ihm die Kraft, auch mit dieser furchtbaren Situation fertigzuwerden. »Was ist geschehen?«

»Wir hörten Lady Violets Schreie«, erklärte Trowbridge, der im Schatten seines Dienstherrn stand. »Master Lucian war bereits tot.«

»Hat jemand es meiner Frau mitgeteilt?« Christabel konnte nicht sagen, welche Gefühle den Earl of Aylesgrave bewegten. Zu stark war dessen Contenance. »Ist der Arzt benachrichtigt?«

Sie war unschlüssig, ob sie Lord Willmington für seinen kühlen Kopf und die vernünftigen Fragen bewundern oder ob sie über seine Gefühlskälte erschrecken sollte. Bevor sie eine Entscheidung treffen konnte, erklang ein verhaltener Schrei, gefolgt von einem wütenden: »Lassen Sie mich los, Sie dummes Weib. Ich will zu meinem Sohn.«

Lord Willmington zuckte zusammen, als bereitete ihm die offensichtliche Trauerbekundung seiner Frau körperliche Schmerzen. Auch Christabel war überrascht davon, wie sehr sich Lady Willmington gehen ließ. Ihre Haare hingen wirr um ihren Kopf und schienen ein Eigenleben zu führen. Im Licht der Lampe warfen sie einen Schatten, der Christabel an die Medusa erinnerte. Sie schüttelte sich, um ihre Gedanken wieder auf die aktuelle Situation zu richten.

Inzwischen war Lucians Mutter ans Bett getreten und stieß Violet Keat grob zur Seite. Dann verhielten ihre Finger einen Moment über der Decke, unter der sich der Körper abzeichnete, bevor sie darüberstrich. Bevor jemand reagieren konnte, krallte sie ihre Hände in den Stoff, um ihn vom Kopf ihres Sohnes zu ziehen.

»Honora, bitte.« Lord Willmington flüsterte die Worte, aber sie waren deutlich zu verstehen. Er nahm seine Frau an den Schultern und zerrte sie vom Bett weg. »Komm mit mir. Behalte unseren Sohn in Erinnerung, wie du ihn zuletzt gesehen hast.«

»Was verstehst du davon?« Zorn und Bitterkeit ließen ihre Stimme rau klingen. »Ich muss mich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass mein geliebtes Kind nicht mehr unter uns weilt.«

Christabel spürte, wie sich ihre Schulterblätter verkrampften. Wie immer, wenn ihr etwas äußerst unangenehm war. Unschlüssig trat sie von einem Bein auf das andere. Sollte sie den Willmingtons in ihrer Trauer beistehen oder die Familie lieber allein Abschied nehmen lassen?

Lord Willmington nahm ihr die Entscheidung ab. »Ramsbury!«, rief er. »Herrgott noch mal, wo steckt das Weib?«

»Mylord?« Lady Willmingtons Zofe trat ins Zimmer, als hätte sie nur darauf gewartet, dass jemand sie herbeizitierte. »Womit kann ich zu Diensten sein?«

»Kümmern Sie sich um meine Frau.« Er drehte sich zu Christabel, Maud, Violet und Ernest um. »Bitte lassen Sie uns allein.«

Auch wenn Christabels gute Erziehung ihr anriet, den Mund zu halten, konnte sie nicht schweigen.

»Mylord, verzeihen Sie, aber wir müssen Scotland Yard benachrichtigen.«

»Was?« Lord Willmingtons Gesicht lief rot an. »Ich dulde keine Polizisten aus London in meinem Haus. Wenn etwas zu klären ist, kann das unser Dorfpolizist tun.«

Lass es. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt für diese Diskussion, versuchte Christabel sich zur Vernunft zu rufen, aber die Worte ließen sich nicht zurückhalten.

»Wenn … falls es ein Mord war, brauchen wir den Yard.«

»Wer sollte meinen wunderbaren Jungen töten?«, heulte Lady Willmington auf.

»Was reden Sie für einen Blödsinn?« Nun verlor Lord Willmington die Contenance. »Ich schiebe Ihre Überspanntheit auf das furchtbare Ereignis.«

»Ich bin nicht …«, begann Christabel, aber dann spürte sie Mauds Hand auf ihrem Arm. Ihre Zofe schüttelte den Kopf, bevor sie Christabel zu sich heranzog.

»Nun verlassen Sie bitte das Zimmer.« Lord Willmington presste die Lippen zusammen. »Ich werde es abschließen, bis … bis der Arzt die Todesursache meines Sohnes geklärt hat.«

»Nein! Nein! Ich will bei Lucian bleiben«, hörte Christabel Lady Willmington mit sich überschlagender Stimme schreien, als sie gemeinsam mit Maud das Zimmer verließ. Vor der Tür stand Violet Keat und sah entsetzlich verloren aus.

»Ramsbury, bitte bringen Sie Lady Violet auf ihr Zimmer und bleiben bei ihr, bis sie eingeschlafen ist.« Wenn sie sonst schon nichts tun konnte, wollte Christabel wenigstens Lucians Verlobter helfen. Die Familie schien sich keinen Deut um Violet Keat zu scheren.

Kapitel Elf

Obwohl Maud viele trauernde Menschen erlebt hatte, war sie erschüttert von der Intensität, mit der Lady Willmington um ihren toten Sohn klagte. Anscheinend hatte sie ihre ganze Mutterliebe auf den Jüngsten konzentriert, sodass sein Tod sie entsetzlich mitnahm.

»Die arme Lady Honora leidet schrecklich«, flüsterte Lady Christabel schließlich. »Ich … ich fühle mich scheußlich, weil es mir um Lucian nicht leidtut.«

»Man soll über Tote nichts Schlechtes sagen«, antwortete Maud ebenso leise, denn man konnte nicht wissen, ob es nicht heimliche Lauscher gab, »doch Mr Willmington war kein guter Mensch.«

»Aber war er dermaßen schlecht, dass jemand seinen Tod wollte?« Lady Christabel blieb stehen. Sie zitterte am ganzen Körper. »Maud, dann leben wir mit einem Mörder unter einem Dach.«

»Lassen Sie uns abwarten, was der Doktor sagt«, versuchte Maud, ihre Herrschaft zu beruhigen, obwohl ihr bei diesem Gedanken auch mulmig wurde. »Vielleicht war Mr Willmington krank und wir wissen das nicht.«

»Was kann so ein Landarzt schon herausfinden?« Lady Christabel kräuselte die Lippen voller Verachtung. »Außerdem wird er nur das auf den Totenschein schreiben, was Lord Willmington verlangt.«

»Warten Sie es ab.« Obwohl Maud ihrer Ladyschaft zustimmte, wollte sie kein Öl ins Feuer gießen. Wer konnte schon sagen, was Lady Christabel anstellen würde? »Morgen wissen wir mehr.«

Dafür werde ich sorgen. Aber das muss ich allein unternehmen. Sie würde dabei nur stören.

»Lord Willmington wird sich weigern, Scotland Yard zu holen.« Lady Christabel schob die Unterlippe vor. »Alles nur wegen seines guten Rufs. Man darf keinen Mörder davonkommen lassen.«

»Die Familie wird wissen wollen, was Mr Willmington geschehen ist«, wiegelte Maud ab, obwohl sie keineswegs davon überzeugt war.

»Von Ernest bin ich enttäuscht.« Dieser plötzliche Themen- und Stimmungswandel war so typisch für Lady Christabel, dass Maud nicht einmal aufhorchte. »Trowbridge hat die Situation besser im Griff gehabt als er.«

Das erinnerte Maud an das Glas, dessen Inhalt leider in den Teppich versickert war. Zu ärgerlich, dass sie es nicht rechtzeitig hatte retten können.

»Die wenigsten Menschen können mit dem Tod gut umgehen«, antwortete Maud in dem salbungsvollen Ton, der ihr früher gute Dienste geleistet hatte. »Lord Pemborough wirkte sehr aufgewühlt.«

Warum hat ihn der Tod von Mr Willmington so mitgenommen?, überlegte sie. Schließlich kannten die beiden Gentlemen einander kaum, oder? Das war eine Frage, der sie nachgehen würde.

»Wahrscheinlich hast du recht. Meinst du, ich könnte einen heißen Kakao bekommen?« Lady Christabel blieb vor ihrer Zimmertür stehen. »Oder ist das unangemessen?«

»Die Dienerschaft würde Ihnen sicher ein Getränk bringen …«

»Ich habe es verstanden. Es ist unangemessen.« Ein kleines Lächeln zeigte sich auf Lady Christabels Gesicht. »Gute Nacht, Maud.«

Trotz ihres vorgeblichen Muts war Lady Christabel weiß wie eine Wand und ihre Hand zitterte, als sie nach der Türklinke griff.

»Soll ich Ihnen noch etwas Gesellschaft leisten?«, fragte Maud. »Wahrscheinlich sind Sie zu aufgeregt, um gleich wieder einzuschlafen.«

»Ja, nein, danke.« Lady Christabel atmete tief ein. »Ich möchte lieber allein sein.«

»Falls etwas ist, ich bin noch wach.«

Maud wartete, bis Lady Christabel ihre Zimmertür hinter sich geschlossen hatte, bevor sie sich auf den Weg zu ihrer Kammer machte. Je näher sie dem Raum kam, desto zögernder wurden ihre Schritte. Obwohl sie selbst es vorgeschlagen hatte, brachte Maud es nicht über sich, das Zimmer des Toten verschlossen zu lassen. Zu vieles erschien ihr verdächtig, zu sehr teilte sie Lady Christabels Befürchtungen, dass die Familie versuchen würde, alles zu vertuschen.

Ihr Misstrauen hatte begonnen, nachdem Trowbridge seinen Stolperer vorgetäuscht hatte, um absichtlich das Glas umzustoßen.

Das habe ich genau gesehen. Es braucht einen Trickser, um diese Tricks zu erkennen. Was war in dem Glas, das niemand entdecken soll? Woher wusste Trowbridge davon?

Obwohl sie sich Zeit gelassen hatte, war sie bereits vor ihrer Zimmertür angekommen. Dort zählte sie langsam bis 30, bevor sie sich zurück zu Lucian Willmingtons Zimmer schlich. Hoffentlich hatte die Familie sich im Salon versammelt und wartete nicht in Mr Willmingtons Schlafzimmer auf das Eintreffen des Doktors.

Hölle und Hinkebein! Den Arzt hatte sie beinahe vergessen. Wenn sie etwas herausfinden wollte, musste sie sich beeilen. Sie konnte nur in dem Zimmer herumschnüffeln, bis der Doktor auf Ashburn Abbey ankam. Allzu lange würde es gewiss nicht dauern, aus dem kleinen Ort hierher zu kommen. Andererseits musste erst ein Lakai ins Dorf geschickt werden, der Doktor musste geweckt werden und sich auf den Weg begeben. Ein wenig Zeit blieb ihr also.

Bin ich wahnsinnig? Warum kann ich mich nicht aus der ganzen Sache raushalten? Mr Willmington war wirklich kein Mensch, um den es schade ist.

Obwohl sie sich das mehrfach gesagt hatte, konnte Maud einfach nicht anders. Noch immer verfolgte sie das Gefühl, für ihre Vergangenheit büßen und für Gerechtigkeit sorgen zu müssen. Seitdem sie Patrick aus ihrem Leben verbannt hatte, hatte sie alles getan, um vergangenes Unrecht wiedergutzumachen. Und ein größeres Unrecht als Mord gab es gewiss nicht.

An der Tür von Mr Willmingtons Zimmer angekommen, schlich sie sich in eine Ecke, die im Schatten lag. Hier lauschte sie und beobachtete den Flur, obwohl ihr die Zeit auf den Nägeln brannte. Doch eines hatte sie in ihrem früheren Leben gelernt: Ungeduld war ein schlechter Ratgeber.

Nachdem sie sich sicher sein konnte, auf niemanden zu treffen, ging sie vor dem Türschloss in die Knie. Es gab sofort nach, nachdem sie ein wenig mit einer Haarnadel darin herumgestochert hatte. Bevor sie die Tür öffnete, lauschte sie aufmerksam. Das einzige Geräusch, das zu hören war, war der Schlag ihres Herzens. Ihr war nur zu bewusst, was geschehen würde, sollte jemand sie ertappen. Selbst mit viel Fantasie gab es keine glaubwürdige Erklärung, warum sie sich im Zimmer des Toten befand.

Mauds Hand verhielt über der Türklinke. Noch konnte sie zurück, aber ihr Gerechtigkeitssinn ließ ihr keine Ruhe. Ebenso wie Lady Christabel konnte sie es nicht ertragen, sollte hier eine böse Tat vertuscht werden. Und es sah ganz danach aus. So, wie Lord Willmington sich verhalten hatte, würde er alles tun, um den guten Namen der Familie zu schützen. Selbst, wenn dadurch ein Mörder davonkäme. Das konnte Maud nicht zulassen.

Nachdem sie durch die Tür geschlüpft war, entzündete Maud die Öllampe. Im Schein ihres flackernden Lichts wirkte der Tote bedrohlich, obwohl jemand wieder die Decke über sein Gesicht und seinen Körper gelegt hatte. Auch wenn sie sich vor Toten nicht fürchtete, spürte Maud einen Schauder, der ihr über den Rücken lief. In ihrem Leben hatte sie viele Leichen gesehen, aber Lucian Willmington war der Erste, der voraussichtlich ermordet worden war. Nun musste sie nur den Beweis dafür finden.

Möglicherweise habe ich zu viele von Lady Christabels Detektivgeschichten gelesen. Maud runzelte die Stirn. Und nun spüre ich überall ein Verbrechen, auch wenn es keines gibt. Nur weil Trowbridge ein Glas umgestoßen hat, erwarte ich einen heimtückischen Mord. Genug. Nachgrübeln kann ich, nachdem ich das Zimmer durchsucht habe.

Ihr blieb sicher nicht mehr viel Zeit vergönnt, bis jemand aus dem Dorf kam, um sich des Toten anzunehmen. Daher schob sie alle Fragen und Zweifel beiseite und überlegte, welche Hinweise sich für einen Mord finden ließen. Als Erstes nahm sie das Glas vom Nachttisch, das der Butler heruntergestoßen und dann leer wieder dort abgestellt hatte. Möglicherweise ließen sich hier Spuren eines Gifts finden. Falls Mr Willmington vergiftet worden war. Allerdings hatte Maud keine Vorstellung, wie diese Untersuchung durchzuführen war und wer dies unternehmen würde. Aber das würde sich finden. Jetzt galt es, alle Beweise zu sichern.

Was immer auch in dem Glas gewesen war, es musste sich vorher in einer Flasche befunden haben. Und die musste sie entdecken. Vorsichtig öffnete Maud den Nachttisch. Das Quietschen klang entsetzlich laut in ihren Ohren und sie hätte schwören können, dass es das ganze Haus aufweckte. Tss, tss, wenn das Trowbridge wüsste. In einem gut geführten Haus müssten die Scharniere geölt sein. Auf Lentune Hall gäbe es das nicht.

Sie kniete sich vor den Nachttisch und leuchtete hinein. Er war leer! Das hätte sie sich denken können, nachdem das Quietschen ertönt war. Wenn der junge Lord etwas in dem Möbel verstaut hätte, hätte er sich gewiss beim Butler über das Geräusch beschwert. Unter dem Bett entdeckte sie etwas Helles und krabbelte darauf zu. Es war ein Teller, den Lucian Willmington wohl während seines Todeskampfes heruntergestoßen hatte. Ein paar Kekskrümel klebten daran, was Maud lächeln ließ. Es war gang und gäbe unter den hohen Herrschaften, einen Teller mit Keksen vor die Tür zu stellen, wenn man sich nächtlichen Besuch erhoffte.

Genug davon. Sie musste sich sputen, wenn sie etwas finden wollte. Wo aber sollte sie suchen?

Allzu viele Gedanken durfte sie nicht auf die Frage verschwenden. Schnell öffnete sie den Schrank, in dem sie nur Kleidungsstücke fand. Anzüge von auserlesener Qualität, gewiss von den besten Schneidern der Savile Row in London. Obwohl sie sich sputen wollte, musste Maud ihre Hände über die wundervollen Stoffe gleiten lassen. Ihre Finger tanzten über Wolle, weich wie Seide, und schoben elegante Jacken zur Seite, aber in dem Schrank fand sich tatsächlich außer Kleidung und Hüten nichts.

Auch der nussbaumfarbene Sekretär brachte ihr nicht das gewünschte Ergebnis. Zwar fand sie einige Briefe, aber von einer Flasche oder einer Tinktur war nichts zu sehen. Da sie es nicht wagte, die Schreiben einzustecken, blätterte Maud sie flüchtig durch. Es waren sechs Liebesbriefe auf edlem Papier, die nach einem schweren Parfüm dufteten. Die Lady, die sie geschrieben hatte, verzehrte sich in Sehnsucht nach Lucian Willmington. Leider hatte sie ihren Namen nicht unter ihre Liebesschwüre gesetzt.

Auch der siebte Brief war nur mit einem unleserlichen Kürzel unterzeichnet. Das Schreiben enthielt so viel Wut und Hass, dass es Maud mulmig wurde. Allerdings hatte der Verfasser darauf verzichtet, die Ursache seines Zorns zu benennen.

Wie ärgerlich. Jemand, der so hasserfüllte Briefe schreibt, ist sicher auch eines Mordes fähig. Was hat Mr Willmington nur angestellt, um jemanden derart zu verärgern? Das werde ich wohl nie erfahren.

Maud stieß ein Seufzen aus: Sollte alles umsonst gewesen sein? Sah sie ein Verbrechen, wo es keines gab? Wenn sie weiter so trödelte, gäbe es bald nur einen Skandal: nämlich den, die Zofe von Lady Christabel beim Schnüffeln im Zimmer eines Toten erwischt zu haben. Gewiss würde man ihr unterstellen, etwas stehlen zu wollen. Niemals würde man ihr glauben, dass sie einen Mord aufdecken wollte.

Nein, das stimmte nicht: Lady Christabel würde ihr möglicherweise glauben, aber das würde Maud nicht retten.

Blieb ihr noch Zeit, um sich im Bad umzusehen? Ein wenig scheute Maud davor zurück, in das Privateste eines Menschen einzudringen, aber Mr Willmington würde es ohnehin nicht mehr stören. Im Schein der Lampe wirkten die alltäglichen Gegenstände bedrohlich. Die Löwentatzen der Badewanne sahen aus, als wollten sie gleich auf Maud zuspringen. Plötzlich sah sie sich einer Gestalt gegenüber. Mühsam unterdrückte sie einen Schrei. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie, sich vor ihrem Spiegelbild gefürchtet zu haben.

Noch fünf Minuten, dann verschwinde ich, bevor ich vor Schreck tot umfalle.

Auch im Bad fand sich nichts Besonderes, nur die üblichen Utensilien, die ein Gentleman benötigte, um sich zu pflegen.

Gerade, als sie enttäuscht die Suche aufgeben und zurück in ihr Zimmer eilen wollte, fiel Mauds Blick auf eine unauffällige braune Flasche, ein Apothekerbehältnis. Welche Krankheit mochte den jungen Mann geplagt haben, der ausgesehen hatte wie das Urbild eines sportlichen, gesunden Landedelmannes? Jedenfalls bis zu seinem überraschenden Tod.

Sie hob das Glas und drehte es, damit sie das Etikett erkennen konnte. Obwohl es pietätlos war, musste Maud kichern. »Spanische Fliege« – war Lucian Willmington nicht zu jung für ein Mittel, das die Männlichkeit stärken sollte? Ob seine Verlobte geahnt hatte, was sie in dieser Nacht erwartet hätte, wäre er nicht überraschend verstorben?

»Hölle und Hinkebein! Wie kann ich nur so dumm sein?«, stieß sie einen kurzen Fluch aus. Ihr Herz raste, ihre Gedanken überschlugen sich. Eilig steckte sie das Fläschchen in ihre Tasche und schlich sich aus dem Raum.

Immer wieder blieb sie stehen und lauschte, weil sie meinte, Schritte hinter sich gehört zu haben. Doch es war wohl nur die Angst davor, ertappt zu werden, die ihr einen Streich spielte. Wo blieben denn der Arzt und der Dorfpolizist?

Endlich hatte sie ihr Zimmer erreicht, glücklicherweise unentdeckt. Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, atmete Maud tief aus. Nun, da sie sich in Sicherheit fühlte, begann ihr Herz zu rasen und ihre Finger zu zittern. Nicht auszudenken, wenn man sie entdeckt hätte. Sie konnte nur hoffen, dass ihre Funde es wirklich wert waren. Vorsichtig stellte sie beides auf den runden Holztisch, der Wasserflecken und Schrammen aufwies.

»Mau?« Das namenlose Kätzchen streckte sich und hüpfte auf den Tisch. Neugierig schnupperte es am Glas und an der Flasche, bis Maud es aufnahm und auf den Boden setzte.

»Lass das lieber. Beides könnte dich gewiss umbringen.«

Kapitel Zwölf

Christabel kam es vor, als hätte sie kein Auge zugetan. Nachdem sie aus Lucians Zimmer zurückgekehrt war, hatte sie vor Aufregung gezittert. Um sich zu beruhigen, hatte sie ihr Journal aus der Hutschachtel geholt, in der sie es vor den neugierigen Augen ihrer Schwester versteckte. Selbst wenn sie ohne Dahlia verreiste, behielt Christabel diese Angewohnheit bei. Ausnahmsweise half es ihr nicht, sich ihre Sorgen und Überlegungen von der Seele zu schreiben. Lesen wollte sie ebenfalls nicht. Sich von einem fiktiven Mord unterhalten zu lassen, erschien ihr pietätlos angesichts eines realen Verbrechens. Daher hatte sie sich ins Bett gelegt, ins Dunkel gestarrt und ihre Gedanken wandern lassen.

Als ein Klopfen sie auffahren ließ, erkannte Christabel, dass sie irgendwann zwischen Mitternacht und Morgengrauen eingeschlafen sein musste. Sie fühlte sich wie gerädert und hoffte, dass Maud ihr das Frühstück ans Bett brachte. Die Vorstellung, möglicherweise mit einem Mörder zu frühstücken, erschien ihr absurd.

Doch statt einer Mahlzeit brachte ihre Zofe Aufregung und Hektik mit sich. Maud lief förmlich durchs Zimmer und zerrte mit so viel Kraft an den Vorhängen, dass Christabel fürchtete, diese würden zu Boden fallen.

»Maud!«, sagte sie scharf, was sicher der Übermüdung geschuldet war. »Warum bist du nur so zappelig?«

»Mylady. Ich muss Ihnen etwas sagen. Etwas Unglaubliches.«

Bisher hatte Christabel ihre Zofe nie so aufgeregt erlebt. Maud, die sonst tadellos gekleidet und frisiert war, sah aus, als wäre sie direkt aus dem Bett gefallen. Lange Strähnen ihres rotbraunen Haares hatten sich aus der Frisur gelöst und umrahmten ihr Gesicht. Das Kleid saß schief und war falsch geknöpft. Was konnte Maud nur in so eine heillose Kopflosigkeit gebracht haben?

»Mach es nicht so spannend. Und kleide dich erst einmal ordentlich.« Normalerweise legte Christabel weniger Wert auf Etikette und Äußerlichkeiten, aber in einem Trauerhaus erschien es ihr unangemessen, sich derart gehen zu lassen. »Wie sehen deine Kleidung und deine Frisur aus? Du hast Ringe unter den Augen, als hättest du nicht geschlafen.«

»Das habe ich auch nicht. Ich habe etwas Unfassbares in Mr Willmingtons Zimmer entdeckt.«

»In Lucians Zimmer?« Sie musste sich verhört haben. Das würde Maud doch nicht wagen, oder? »Wann? Wie?«

Ihre Zofe senkte den Blick. Die Hände spielten an den Knöpfen des Tageskleids. Endlich sah sie auf.

»Ich bin gestern Nacht dorthin zurückgekehrt.«

»Lord Willmington hatte die Zimmertür verschlossen.«

»Das olle Schloss. So eins kann man mit einer Haarnadel öffnen.«

»Woher weißt du so etwas?« Sie sollte wirklich herausfinden, was es mit der Vergangenheit ihrer Zofe auf sich hatte. »Himmel, Maud. Wie bist du auf die Idee gekommen, Lucians Zimmer zu durchsuchen?«

Maud zuckte nur mit den Achseln. »Etwas an seinem Tod erschien mir seltsam.«

»Wenn dich jemand entdeckt hätte!«

»Ich war vorsichtig.«

»Nun rück mit der Sprache heraus.« Christabel verdrehte die Augen, damit Maud endlich auf den Punkt kam.

»Mr Willmingtons Tod war kein Mord, sondern ein Unfall.« Maud nickte bestätigend, als hätte sie etwas Unglaubliches entdeckt.

»Willst du andeuten, Lucian habe aus Versehen Gift getrunken?«, lautete Christabels sarkastisch gemeinte Entgegnung. »Er hat es wohl mit Whiskey verwechselt.«

»Nein.« Ein breites Grinsen, etwas unangemessen angesichts der Situation, erschien auf Mauds Gesicht. Dann senkte sie den Blick. »Er hat zu viel Spanische Fliege benutzt.«

»Spanische Fliege?« Auch wenn ihre Eltern meinten, Christabel wüsste wenig vom Leben, las sie genug, um die Bedeutung des Mittels zu kennen. »Woher willst du das wissen?«

»Hier.« Triumphierend griff Maud in ihre Tasche und holte ein tiefbraunes Fläschchen hervor, das sie Christabel in die Hand drückte.

»Lucian Willmington. Dass er so etwas braucht, habe ich nicht erwartet.« Christabel schüttelte den Kopf. Dann jedoch wurde sie sich der Ernsthaftigkeit des Fundes bewusst. »Um Himmels willen. Ich muss mich bei der Familie für meine Anschuldigung entschuldigen.«

Wie entsetzlich peinlich. Da hatte Christabel von Mord gesprochen, während es sich nur um eine überaus delikate Überdosis gehandelt hatte. Wie sollte sie den Willmingtons diesen Fauxpas erklären? Oh, wie sollte sie der Familie von Mauds Fundstück berichten?

»Maud, da hast du uns etwas eingebrockt.« Christabel überlegte fieberhaft. »Wenn wir das Fläschchen jemandem zeigen, müssen wir zugeben, was du getan hast. Sollten wir es verschweigen, gilt Lucians Tod womöglich als Mord.«

Maud schaute zu Boden, sie wirkte wie das Bild einer gekränkten Unschuld, die sie gewiss nicht war.

»Ich hatte Sorge, dass Trowbridge alle Beweise vernichtet.«

»Wie kommst du darauf? Als Butler will er bestimmt nicht die Polizei im Haus haben.«

Undenkbar, was für ein Skandal damit verbunden wäre. Nicht nur für die Willmingtons, auch für alle Gäste, die das Pech hatten, am Todestag hier zu weilen. Ihre Eltern würden Christabel nie verzeihen, sollte sie Teil eines derartigen Eklats werden. Allerdings würden sie es ihr ebenfalls übel nehmen, sollte herauskommen, was ihre Zofe angestellt hatte. Was war das Vernünftigste, was sie tun konnte? Als wäre sie je von Vernunft geleitet worden.

»Trowbridge hat das Glas absichtlich heruntergestoßen«, beharrte Maud. »Ich habe es gesehen.«

»Warum sollte er das tun? Er ist gestolpert, als er Lucians Leiche zudecken wollte.«

»Warum er das getan hat, weiß ich nicht. Aber ich erkenne ein gefälschtes Stolpern, wenn ich es sehe.« Maud schob das Kinn trotzig vor. »Das Glas habe ich auch mitgenommen. Zur Sicherheit.«

»War darin noch Flüssigkeit enthalten?«

»Leider nein.« Maud schüttelte den Kopf. »Vielleicht hat es auch nichts zu bedeuten. Vielleicht ist nur Spanische Fliege darin.«

»Oder es gab doch einen Mord.« Musste sie sich schämen, weil sie darauf beharrte? »Maud, verpacke das Glas bruchsicher und sende es an meinen Onkel. Ich werde schnell einen Brief aufsetzen.«

»Gewiss, Mylady.«

»Solange ich schreibe, hol mir bitte Tee und Toast.«

»Gewiss, Mylady.«

Obwohl Maud lächelte, war Christabel sich nicht sicher, ob ihre Zofe sie nicht verspottete. Bis gestern war sie überzeugt gewesen, ihre Zofe gut zu kennen. Niemals hätte sie Maud für eine findige Einbrecherin gehalten. Was dieser Besuch wohl noch für Überraschungen mit sich bringen würde?


Lieber Onkel Godfrey,

unter dem Siegel der Verschwiegenheit sende ich Dir dieses Glas mit der Bitte, seinen verbliebenen Inhalt auf Gifte zu untersuchen.

Bitte frage mich nicht, weshalb, sondern vertraue mir.

Deine Patentochter

Christabel


Sie knickte das Papier in der Mitte, schob es in einen Umschlag, den sie sorgfältig versiegelte. Wo Maud nur blieb? Christabel wippte mit dem Fuß und spielte mit dem Brief. Je mehr Zeit verstrich, desto unsicherer wurde sie. Machte sie nicht nur die Pferde scheu mit ihrem kryptischen Schreiben an ihren Patenonkel? Neugierig, wie Godfrey Riddington war, würde er sich gewiss nicht mit ihrer Bitte zufriedengeben, Stillschweigen zu bewahren.

Am klügsten wäre es, den Brief zu zerreißen, die Spanische Fliege irgendwie an die Familie zu übergeben und nach London zurückzukehren. Aber wann hatte Christabel sich schon für die vernünftigste Lösung entschieden?

Glücklicherweise klopfte es in diesem Augenblick an der Tür und sie musste ihre Zeit nicht weiter mit Grübeleien vergeuden.

»Was machen wir jetzt?« Maud stellte ein Tablett mit dem ersten Frühstück, bestehend aus Tee, Toast, Butter und Marmelade auf den Tisch. »Wir können meinen Fund nicht verschweigen.«

»Vielleicht hättest du dir das vorher überlegen sollen.« Oh nein, jetzt hörte sich Christabel an wie ihre Mutter. »Erst einmal verpackst du das Glas und schickst es an Sir Godfrey.«

Vorsichtig reichte Christabel ihrer Zofe das Beweisstück. Maud ergriff es mit einem Taschentuch und steckte es ein.

»Wir müssen es der Familie sagen«, überlegte Christabel laut. »Aber wir brauchen eine Ausrede, wie wir an das Fläschchen gekommen sind.«

Nun war es passiert: Sie empfand sich als Mauds Komplizin. Auch wenn es bitter war, sich das einzugestehen, so lebendig wie heute hatte Christabel sich lange nicht mehr gefühlt. Die seltsamen Umstände des Sterbens von Lucian Willmington verdrängten selbst Nicholas’ Tod aus ihren Gedanken. Hatte sie ihn überhaupt geliebt, wenn sie ihn so schnell vergaß? Dieser Frage würde sie sich später stellen, jetzt galt es, eine Lösung für das aktuelle Dilemma zu finden.

»Wir sollten mit Trowbridge reden«, entschied Christabel. »Ihn geht es nichts an, wie wir an die Flasche kamen, und er kann es der Familie besser beibringen als wir.«

Zugegeben, es fühlte sich ein wenig an wie eine Ausrede oder eine Flucht, aber das erschien ihr der beste Kompromiss. Ein Dienstbote, selbst wenn er der Butler war, würde es niemals wagen, einer Lady indiskrete Fragen zu stellen.

»Das wird bestimmt lustig.« Maud kicherte. »Der aufgeblasene Kerl wird sich winden wie ein Aal.«

»Maud!«, rief Christabel sie zur Ordnung, bevor sie nach dem Hausmädchen klingelte, das kurze Zeit darauf ins Zimmer trat.

»Mylady.« Das Mädchen knickste. »Sie wünschen.«

»Bitte senden Sie mir den Butler. Ich habe etwas mit ihm zu besprechen.«

Nachdem das Mädchen die Tür hinter sich geschlossen hatte, wandte Christabel sich an ihre Zofe.

»Am besten überlässt du mir das Gespräch mit Trowbridge.« Christabel streckte die Hand aus. »Bitte gib mir die Flasche.«

Maud zögerte einen Moment, bevor sie Christabel das dunkelbraune Behältnis überreichte.

»Wo Sie so viele Detektivgeschichten lesen, sollten Sie wissen, was für ein wichtiger Beweis das ist.«

»Beweise benötigt man nur, wenn ein Verbrechen geschehen ist.« Himmel, sie hörte sich wirklich herablassend an. »Obwohl dein Weg der falsche war, hast du etwas Wichtiges herausgefunden.«

»Der Zweck heiligt die Mittel, nicht wahr?« Maud grinste verschmitzt. Manchmal fürchtete Christabel, dass sie ihrer Zofe zu viel durchgehen ließ. Aber dafür war Maud unterhaltsamer und loyaler als die Zofe, die ihre Mutter Christabel ursprünglich zugedacht hatte.

Als ein Klopfen an der Tür erklang, schraken Maud und Christabel zusammen. Dann lachten sie gemeinsam, ein leises Verschwörerinnenlachen.

»Herein.«

»Mylady.« Trowbridge ließ sich nicht anmerken, ob es ihn verwunderte, dass Christabel ihn zu sich gerufen hatte. »Flossie hat mir gesagt, Sie wollten mich sehen.«

»Trowbridge, es handelt sich um eine heikle Angelegenheit, die Sie mit gebührender Diskretion behandeln werden.«

»Selbstverständlich. Sie können sich darauf verlassen, dass ich stets im Sinne von Ashburn Abbey handele.«

Aus dem Augenwinkel sah Christabel, wie Maud die Augen verdrehte.

»Ich habe etwas entdeckt.« Christabel stockte. Wie sollte sie die delikate Angelegenheit nur in Worte kleiden? »Es tut mir leid, dass ich Sie in diese unappetitliche Angelegenheit hineinziehen muss, aber …«

Ach, was. Warum weiter um das Thema herumtanzen. Christabel drehte sich zu ihrer Zofe um und überraschte sie damit, ihr das Fläschchen in die Hand zu drücken.

»Meine Zofe kann Ihnen die Details erklären.«

Maud zog die Hand vor den Mund und gab ein ersticktes Geräusch von sich, das Christabel als unterdrücktes Lachen identifizierte.

»Mr Willmington ist an einer Überdosis hiervon gestorben.« Mit einem vollkommen neutralen Gesichtsausdruck überreichte Maud dem Butler das Gefäß. »Falls Sie nicht wissen, was das ist. Man nennt es Spanische Fliege.«

Wangen und Hals des Butlers liefen kirschrot an. Er öffnete den Mund, aber fand keine Worte. Stattdessen ertönte draußen ein Geräusch wie ein Husten oder ein unterdrücktes Lachen.

Mit zwei schnellen Schritten war Maud an der Tür und riss sie schwungvoll auf. So überraschend, dass das Dienstmädchen, was dort gestanden hatte, ins Zimmer stolperte.

»Flossie!« Trowbridges Hals lief erneut tiefrot an. »Hast du etwa gelauscht?«

»Nein, nein«, wehrte das Mädchen ab, aber die Röte ihrer Wangen und ihr ausweichender Blick straften ihre Worte Lügen. »Mrs Stanhoop hat mich geschickt. Der Bestatter ist angekommen.«

»Verschwinde und wehe, du sagst zu irgendjemandem ein Wort.«

Kapitel Dreizehn

Obwohl Maud liebend gern mit Lady Christabel über den sich windenden Trowbridge getratscht hätte, musste sie in die Küche gehen, um dort ein ausgiebiges Frühstück für ihre Ladyschaft zu bestellen. Sicher, für eine unverheiratete Dame schickte es sich nicht, das Frühstück im Bett einzunehmen. Aber angesichts des gestrigen Todesfalls würde sich wohl niemand beschweren.

Als Maud durch den schmalen Gang zur Küche spazierte, hörte sie eine Frauenstimme, die sie als die von Flossie Hasket erkannte.

»Du wirst nicht glauben, was Trowbridge und die junge Lady besprochen haben.«

Maud blieb stehen. Sicher, es gehörte sich nicht, die Gespräche anderer zu belauschen, aber ihre Neugier war größer als ihre Skrupel. Nicht, dass die besonders groß gewesen wären. Außerdem war Flossie gerade von Trowbridge beim Lauschen ertappt worden. Obwohl sie diese gute Ausrede hatte, sah Maud über ihre Schulter. Doch sie war allein auf dem Flur. Geschickt drückte sie sich in eine Nische, um etwas näher an das Gespräch heranzukommen.

»Was denn?« Obwohl Ivy Lovell aussah wie eine Dame, war sie klatschsüchtig wie jedes gute Hausmädchen. »Hast du wieder dein Ohr an der Tür gehabt?«

»Wenn so etwas Schlimmes passiert und uns keiner etwas sagt …« Flossie klang ganz nach gekränkter Unschuld. »Aber wenn du es nicht wissen willst.«

»Hab dich nicht so. Was hatten die beiden zu bereden?«

»Der Tod vom jungen Mr Willmington soll ein Unfall gewesen sein.«

»Ein Unfall? Ist er aus dem Bett gefallen? Getrunken hat er immer reichlich.«

»Viel besser.« Flossie kicherte. Sie genoss es hörbar, eine spannende Geschichte zu erzählen zu haben. »Der junge Lord hat es zu gut gemeint. Mit Spanischer Fliege.«

»Niemals.« Ivy Lovell stieß ein Lachen aus, das eher an ein Schnauben erinnerte. »Wer’s glaubt.«

»Doch, doch«, beharrte Flossie. »Lady Christabel hat dafür einen Beweis gefunden.«

»Das gibt einen saftigen Skandal. Für die armen Eltern tut es mir leid.« Wieder erklang das schnaubende Lachen. »Aber …«

»Was? Was weißt du?«

»Nie und nimmer hat er zu viel davon genommen.« Ivys Stimme senkte sich zu einem verschwörerischen Flüstern. »Sein Tod war gewiss kein Unfall.«

Einen Moment haderte Maud mit sich: Sollte sie abwarten, was die Frauen noch zu sagen hatten, oder sollte sie näher treten und sie geradeheraus fragen, was sie meinten? Schritte, die sich näherten, nahmen ihr die Entscheidung ab.

»Warum ist sein Tod kein Unfall?«, fragte sie mit schneidender Stimme. »Was meint ihr damit?«

Maud reckte sich, so hoch sie konnte, damit sie auf die beiden Hausmädchen herabsah. Glücklicherweise zuckten die sofort zusammen. Als untere Dienstboten hatten sie selbstverständlich einen Heidenrespekt vor einer Zofe.

»Nichts. Wir haben nur geredet«, versuchte Flossie, sich aus der Affäre zu ziehen. »Wie man halt so spricht, um sich die Zeit zu vertreiben.«

Auch wenn Maud den leichten Stich eines schlechten Gewissens verspürte, konnte sie nicht umhin, sich zu wundern. Nie zuvor hatte sie einen Haushalt besucht, in dem die Hausmädchen so unattraktiv waren. Sicher, als Teil des unsichtbaren Personals der unteren Dienstboten kam es nicht auf das Aussehen der Hausmädchen an. Aber es fiel einfach auf, dass sie auf Ashburn Abbey deutlich älter waren und anscheinend überhaupt kein Wert auf ihr Äußeres gelegt wurde. Flossie Hasket, das Erste Hausmädchen, erinnerte Maud an ein erstauntes Pferd. Im lang gezogenen Gesicht der Frau fiel besonders ihr Mund auf, einfach weil die arme Flossie einen extremen Überbiss hatte. Es sah aus, als hätte die Oberlippe die Unterlippe gefressen.

Als reichte das allein nicht bereits aus, standen Flossies braune Augen leicht hervor, was ihr einen Ausdruck der ewigen Verwunderung verlieh.

»Wenn ihr mir nicht sofort die Wahrheit sagt, hole ich Trowbridge.« Maud kreuzte verstohlen Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand. Hoffentlich waren die Dienstmädchen nicht klug genug, sich daran zu erinnern, wie schlecht sie mit dem Butler auskam. »Den Ärger würde ich euch gern ersparen.«

Sie horchte, aber glücklicherweise waren die Schritte verstummt.

»Das geht Sie nichts an«, antwortete Ivy in frechem Tonfall, aber Maud konnte erkennen, dass es nur ein Scheingefecht war, um ihre Ehre zu retten, bevor sie alles ausplauderte.

Was ist deine Geschichte?, fragte sich Maud, nachdem sie Ivy Lovell kennengelernt hatte. Inzwischen wunderte Maud sich nicht mehr, ein Hausmädchen zu treffen, das sowohl vom Alter als auch von der Wirkung her sehr gut die Hausdame oder eine Zofe hätte sein können. Ivy war etwa fünf Jahre älter als Maud, wirkte jedoch zehn Jahre älter. So würde ich auch ausschauen, wenn Lady Christabel mich nicht aus dem Dasein als untere Dienstbotin gerettet hätte. So sieht man aus, wenn man tagein, tagaus in aller Herrgottsfrühe aufstehen muss, um den Dreck anderer Leute wegzuräumen.

Erneut überkam Maud tiefe Dankbarkeit, dass ihr dieses Schicksal erspart geblieben war. Ein Leben als Zofe war deutlich angenehmer als das eines Hausmädchens.

Obwohl Ivy untersetzt und kleiner war als Maud, wirkte sie größer, weil sie sich übertrieben gerade hielt. Ihre klaren Gesichtszüge waren von Müdigkeit gezeichnet, aber deuteten an, dass die Frau früher ein anderes, ein besseres Leben gehabt hatte.

»Wenn der Tod kein Unfall war, geht es uns alle an.« Nun benutzte Maud ihre Bühnenstimme, mit der sie Umstehende zum Verstummen und Zuhören brachte. »Ich verspreche euch, Trowbridge oder Mrs Stanhoop nichts zu erzählen.«

Die beiden musterten sie skeptisch. Wahrscheinlich waren sie es gewohnt, den oberen Dienstboten nicht über den Weg zu trauen. Schließlich durften sie bei Tisch nicht einmal reden, wenn einer der oberen sie nicht ansprach. Maud setzte ihr bestes Lächeln auf, mit dem sie früher jegliche Skepsis vertrieben hatte. Ihr könnt mir glauben, sagte dieses Lächeln. Ich sage die Wahrheit.

Nachdem die Hausmädchen einen Blick gewechselt hatten, öffnete Flossie schließlich den Mund.

»Einen Unfall hat nur, wer sich mit so was nicht auskennt.« Das Dienstmädchen reckte das Kinn vor, als wollte sie Maud herausfordern. »Und das kann man von Mr Willmington wirklich nicht behaupten.«

»Was? Wieso? Woher willst du das wissen?« Noch nie zuvor war Maud sich so begriffsstutzig vorgekommen. Was wollte Ivy ihr sagen? »Lasst euch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen.«

»Ich hab’s nur gehört«, verteidigte Ivy sich. »Haben Sie sich nicht gewundert über die Dienstmädchen hier?«

Sicher hatte Maud sich gefragt, warum so ausnehmend unattraktive junge Frauen auf Ashburn Abbey arbeiteten. Üblicherweise wählte der Butler Lakaien und Dienstmädchen nach deren gefälligem Äußeren aus, denn hübsches Personal schmückte das Haus. Aber das konnte sie Flossie und Ivy nicht sagen, ohne die beiden zu beleidigen.

»Ich … also …«, versuchte sie, sich um eine Antwort zu mogeln. »Mir ist aufgefallen, dass ihr alle älter seid als in anderen Häusern.«

»Mrs Stanhoop hat uns erzählt, dass alle schönen Mädchen vor uns Mr Willmington zum Opfer gefallen sind.« Flossie nickte eifrig zu Ivys Worten. »Sadie habe ich noch kennengelernt, bis sie …«

»Sprich.« Maud ließ die Schultern sinken, ebenso ihre Stimme, alles, um das Vertrauen der beiden zu gewinnen. »Eure Geheimnisse sind bei mir sicher.«

»Sadie hat etwas mit Mr Willmington angefangen.« Ivys Ohren liefen rot an. »Sie hat mir nachts erzählt, was er alles mit ihr anstellt.«

Maud und Flossie beugten sich beide neugierig vor.

»Das kann ich nicht aussprechen, das ist zu übel.« Nun waren auch Ivys Wangen gerötet, was sie erstaunlicherweise jünger wirken ließ. »Aber ich erinnere mich noch, wie sie von der Spanischen Fliege erzählte. Weil ich erst dachte, das wär so was wie ’ne Mücke.«

Maud sah zu Boden, um sich das Lachen zu verkneifen. Nun gut, woher sollte ein Mädchen vom Land auch derartige Substanzen kennen.

»Sadie hat mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählt, wie gut der junge Lord sich damit und mit anderen Mittelchen auskannte.«

Die Frau hatte Talent als Geschichtenerzählerin, das musste Maud neidlos eingestehen. Das Beste kam zum Schluss, gefolgt von Schweigen.

»Was ist aus Sadie geworden?«, fragte Maud schließlich, denn etwas anderes würde sie von Ivy wohl nicht erfahren.

»Mr Willmington hat behauptet, sie hätte ihm eine Krawattennadel gestohlen.« Empörung klang aus Ivys Tonfall. »Das hätte Sadie niemals gemacht. Er wollte sie nur loswerden.«

Ja, das konnte Maud sich sehr gut vorstellen. Wenn ein Herr ein Dienstmädchen des Diebstahls anklagte, gab es keine weitreichenden Untersuchungen. Ihm wurde geglaubt und das Mädchen wurde entlassen, ohne Referenzen und damit ohne Zukunft. Zorn wallte in ihr hoch, auf Mr Willmington, aber auch auf eine Welt, in der es so ungerecht zuging.

»Ich hab nie wieder von ihr gehört.« Ivy senkte den Kopf.

»Was er mit Jean gemacht hat, ist viel schlimmer«, mischte sich Flossie ein, die wohl auch etwas beitragen wollte. Ihre Worte brachten ihr ein Zischen und einen bösen Blick von Ivy ein.

»Wir müssen jetzt weiterarbeiten, sonst gibt’s Ärger.« Ivy stieß dem anderen Dienstmädchen den Ellenbogen in die Seite.

»Einen Moment noch.« Maud richtete ihren Blick auf Flossie, die ihr auswich. »Wer ist Jean?«

»Das geht uns nichts an. Da müssen Sie Dora Mullens fragen«, stieß Ivy hervor, griff nach Flossies Arm und zog sie davon.

Maud blieb verwirrter zurück als zuvor. Was hatte die Küchenhilfe mit der ganzen Sache zu tun? In ihrem Hinterkopf tauchte eine Erinnerung auf, die ihr wichtig vorkam, sich jedoch weigerte, nach vorn zu treten. Maud trommelte mit Zeige- und Mittelfinger gegen ihre Wange, während sie überlegte. Es war wichtig, das wusste sie, und es hatte mit Dora Mullens zu tun. Sie wollte erst mit der Küchenhilfe reden, wenn ihr das Wissen wieder eingefallen war.

Noch immer gegen ihre Wange trommelnd, spazierte sie im Gang auf und ab. Bewegung half beim Denken, das behauptete jedenfalls Lady Christabel.

Worüber habe ich mit Dora gesprochen? Wir haben nur wenige Worte miteinander gewechselt. Hölle und Hinkebein, ich habe einfach zu viele kurze Gespräche in den vergangenen Stunden geführt, um mich an alle zu erinnern.

Gerade, als sie aufgeben wollte, fiel es ihr wieder ein. Sie sah Dora vor sich, mit traurigen Augen und verhärmten Zügen.

»Nach dem Tod meiner Tochter hat mir Harriet die Stelle hier gegeben. Sonst wäre ich verhungert.«

»Das tut mir leid.« Warum hatte Maud auch fragen müssen, weshalb eine Frau in Doras Alter als Küchenmädchen arbeitete? Ihr fiel nichts ein, mit dem sie den hörbaren Schmerz der anderen Frau hätte lindern können.

Bevor sie sich hatte entschuldigen können, hatte Mrs Stanhoop Dora zu sich gerufen.

Ashburn Abbey kam ihr vor wie eine dieser russischen Puppen: Sobald man sie öffnete, kam eine neue heraus, die wieder eine enthielt. Ob sie je herausfinden würde, welches Geheimnis die letzte verbarg?

Kapitel Vierzehn

Laut trommelte Regen gegen das Fenster und zerstörte Christabels Plan, den Nachmittag mit einem Ausritt zu verbringen. Allerdings war sie unsicher gewesen, ob es schicklich war, in einem Trauerhaus auszureiten. Obwohl ihre Mutter so viel Wert auf Etikette legte, hatte sie ihrer Tochter für derartige Entscheidungen kein Rüstzeug mitgegeben.

Mit einem Seufzer legte Christabel »Der Fall Leavenworth« zur Seite. Obwohl sie die Detektivgeschichte von Anna Katharine Green liebte und schon mehrfach gelesen hatte, wollte es Inspektor Gryce heute nicht gelingen, ihre Aufmerksamkeit zu fesseln. Christabel stand auf und ging ans Fenster. Durch den Regen sah alles grau und trist aus, genauso, wie sie sich in diesem Moment selbst fühlte. Der Tod von Lucian hatte die Erinnerung an Nicholas aufleben lassen. Warum hatte sie nicht den Mut gehabt, gemeinsam mit ihm auf der Titanic zu reisen?

Möglicherweise hätte sie ihn retten können oder sie wäre heldenhaft gemeinsam mit ihrem Geliebten in den Tod gegangen.

»Nein, das wäre ich nicht«, sagte sie halblaut. »Ich fürchte, ich hätte ein Rettungsboot bestiegen und ihn zurückgelassen. Macht mich das zu einem schlechten Menschen?«

Maud würde bestimmt sagen, dass es vernünftig gewesen wäre. So sehr ich sie schätze, sie wird niemals ermessen können, was wahre Liebe ist und welche Opfer man dafür bringt.

Als hätten ihre Gedanken sie herbeigerufen, stand Maud plötzlich im Zimmer. Christabel schrak zusammen.

»Ich habe dreimal geklopft«, rechtfertigte ihre Zofe sich, bevor Christabel etwas sagen konnte. »Möchten Sie sich zum Tee umkleiden?«

»Ich mag eigentlich keinen Tee mit den anderen einnehmen.« Christabel seufzte. »Aber es muss wohl sein.«

Wie sollte sie der Familie nur gegenübertreten, nachdem sie gestern Nacht furchtbare Anschuldigungen erhoben hatte, die sich im Licht des Tages als Ausgeburt ihrer Fantasie erwiesen?

Christabel setzte sich vor den Spiegel und wartete, dass Maud ihre Haare frisierte. Ihre Zofe war immer noch unkonzentriert. Bereits zweimal hatte sich die Bürste in Christabels Haaren verfangen, was schmerzhaft ziepte.

»Autsch. Was ist mit dir los, Maud? So unaufmerksam bist du sonst nicht.«

»Mylady, Sie haben viel mehr Detektivgeschichten gelesen als ich. Könnte es sein, dass Mr Willmington an etwas anderem gestorben ist als an der Spanischen Fliege?«

»Das werden wir erst erfahren, wenn die Untersuchung des Glases vorliegt.« Christabel versuchte, über den Spiegel den Blick ihrer Zofe einzufangen, aber die gab vor, sich ganz aufs Frisieren zu konzentrieren. »Aber wieso kommst du ausgerechnet jetzt auf die Idee?«

Maud stieß einen Seufzer aus und schaute auf.

»Ich habe ein Gespräch der Dienstmädchen belauscht. Die waren sich sicher, Mr Willmington kannte die richtige Dosis.«

Es brauchte einen Moment, bis die Konsequenzen von Mauds Worten in Christabels Verstand drangen. Erschrocken hielt sie die Hand vor den Mund. Ihr Blick fand den von Maud, die ihr zunickte.

»Dann wäre es wirklich und wahrhaftig Mord.« Christabel verschlug es fast die Sprache. Es war etwas anderes, gemütlich in einem Sessel zu sitzen und über einen Mord zu lesen, als sich plötzlich einem in der Wirklichkeit gegenüber zu sehen. »Wir müssen Scotland Yard nach Ashburn Abbey holen.«

»Und wenn Flossie und Ivy sich geirrt haben?«

Ein gutes Argument. Sollten die Dienstmädchen etwas falsch verstanden haben und Christabel würde erneut »Mord« rufen, nachdem sie gerade erst »peinlicher Unfall« konstatiert hatte, dann würde sie gesellschaftlichen Selbstmord begehen. Die Willmingtons würden ihr den Skandal nie verzeihen, Christabels Familie ebenso wenig.

Aber sie konnte nicht zulassen, dass die Tat ungesühnt blieb, falls es wirklich ein Verbrechen gab. Das widersprach ihrem Naturell. Es musste Gerechtigkeit herrschen.

»Ich werde das nicht mit den Willmingtons besprechen.« Christabels Stimme klang gelassener, als sie sich fühlte. »Sie machen ohnehin schlimme Zeiten durch.«

»Aber wir können nicht nichts tun.« Erneut fuhr ihr Maud so heftig durch die Haare, dass es ziepte. »Entschuldigung.«

Ja, sie hat recht. Wir sind die Einzigen, denen ich vertraue. Ernest hat mich gestern enttäuscht und die Familie …

»Dann müssen wir das in die Hände nehmen und uns als Detektive betätigen.« Ja, das klang nach einer vernünftigen Idee. »Du hörst dich unter den Dienstboten um, ich befrage die anderen Gäste und die Familie. Sehr umsichtig und höflich, natürlich.«

»Viel Zeit bleibt uns nicht.«

Wieder hatte Maud recht. Die Gäste würden bald abreisen, um die Familie in Zeiten der Trauer nicht zu stören. Wahrscheinlich wären alle so höflich wie Christabel und würden die Beerdigung abwarten, bevor sie Ashburn Abbey verließen. Aber sofort danach würden sie ihre Koffer packen und das Weite suchen.

»Wir sollten sofort anfangen, aber …« Erneut sah sie ihre Zofe im Spiegel an. »Trotzdem sollten wir vorsichtig sein. Jemand, der ein Leben nimmt, hegt sicher keine Skrupel, einen weiteren Mord zu begehen.«

Maud nickte nur, scheinbar konzentriert auf die Arbeit des Frisierens.

»Üblicherweise«, dozierte Christabel, »überlegt man, wer Mittel, Gelegenheit und Motiv hat.«

»Und wer ein Alibi hat«, gab Maud zum Besten, denn sie hatte nicht umsonst etliche Kriminalgeschichten gelesen, die ihre Herrschaft ihr ans Herz gelegt hatte. »Allerdings könnte das bei einem Giftmord schwierig werden.«

»Weshalb?« Kaum hatte sie ausgesprochen, fiel Christabel die Antwort ein. »Weil zwischen der Einnahme des Giftes und seiner Wirkung Stunden vergehen können. Also müssen wir uns auf das Motiv konzentrieren.«

»Wen halten Sie eines Mordes für fähig?«, fragte Maud und unterbrach Christabels Nachdenken. »Haben Sie eine Idee, wer ein Motiv haben könnte?«

»Da muss ich intensiver nachdenken.« Christabel griff sich an die Kehle, die sich plötzlich eng anfühlte. Die Vorstellung, dass sie mit einem Mörder an einem Tisch gesessen hatte, versetzte sie in mehr Angst, als sie erwartet hatte. »Lass mich allein.«

Maud nickte nur. Sie steckte die letzte Haarklammer fest, half Christabel, das Kleid anzuziehen, und verließ wortlos den Raum. Allzu gern hätte Christabel gewusst, was ihrer Zofe im Kopf herumging und sich mit Maud weiter über den Mord unterhalten, aber das schickte sich nicht. Warum eigentlich nicht? Ihre Zofe kannte Christabel besser als ihre Mutter. Mit Maud teilte sie Geheimnisse und Wünsche, während sie ihrer Mutter gegenüber immer die brave Tochter spielte.

Ich muss mir einen Plan erstellen, wie ich an die Informationen gelange, die mir bei der Lösung des Falles helfen.

Die drängende Frage, wie ihre Eltern reagieren würden, sollte es Christabel gelingen, den Mordfall zu lösen, schob sie einfach beiseite. Damit würde sie sich beschäftigen, wenn die Zeit gekommen war.

Wo und wie sollte sie beginnen? Eigentlich müsste sie als passionierte Kriminalgeschichtenleserin sich freuen, in einem Mordfall ermitteln zu können. Doch in den Romanen war selten die Rede von trauernden Angehörigen oder von dem Gefühl, das sie nun überfiel: eine entsetzliche Panik. Im Kopf ging sie die Familie und die Gäste durch und weigerte sich, einen von ihnen als Mörder zu verdächtigen. Selbst mit viel Fantasie konnte sie sich Dunstan Willmington oder Beryl Banfour nicht als heimtückische Giftmischer vorstellen.

Wenn ich auf diese Art weitermache, werde ich sehr schnell zu einer Lösung kommen. Jeder ist unschuldig. Allerdings werde ich den Mord an Lucian nicht aufklären. Aber wenn ich ihn aufkläre, könnte ich noch mehr Unglück über die Familie bringen.

Obwohl sie diese Gedanken plagten, holte Christabel ihr Journal heraus. Auf eine der hinteren Seiten schrieb sie eine Tabelle, in der sie alle Anwesenden auflistete. In die weiteren Spalten schrieb sie »Motiv«, »Gelegenheit« und »Alibi«. Sie zögerte einen Augenblick, ob sie wirklich die Namen der Familienangehörigen aufnehmen sollte, denn alles in ihr weigerte sich, daran zu glauben, dass Lord Willmington seinen jüngsten Sohn umgebracht hätte. Ungeachtet der Verfehlungen, die sich Lucian Willmington hatte zuschulden kommen lassen.

»Nein, ich muss wirklich alle auflisten, schließlich handelt es sich um ein Kapitalverbrechen. Da darf ich mich nicht von meinen Gefühlen leiten lassen«, flüsterte sie, während die Feder über das schwere Papier ihres Tagebuchs kratzte. Endlich hatte sie die acht Namen untereinandergeschrieben. Das war einfach, aber nun galt es, Motive zu finden, die so stark waren, dass sie in einem Mord gipfelten. Vor ihrem geistigen Auge ließ Christabel das Abendessen Revue passieren, an dem sie alle anwesend gewesen waren. Nur zu gut erinnerte sie sich an die Blicke, die ihr aufgefallen waren, an all die unterschwelligen Spannungen, die das Dinner zu einer äußerst unerfreulichen Angelegenheit gemacht hatten. Nachdem sie eine Weile gegrübelt hatte, ergänzte sie die Namen um ein paar Bemerkungen.


  • Lord Percy Willmington, welchen Grund hätte er, sein Kind zu töten?
  • Lady Honora Willmington, liebt ihren Sohn abgöttisch und lässt ihm alles durchgehen.
  • Dunstan Willmington, scheint Lucian nicht zu schätzen.
  • Georgina Willmington, hat Lucian böse Blicke zugeworfen, aber ihn auch voller Sehnsucht angeschaut.
  • Violet Keat, hat den Toten gefunden und scheint am Boden zerstört zu sein.
  • Unity Willmington, interessiert sich nur für sich selbst.
  • Beryl Banfour, hat Lucian heimlich verliebte Blicke zugeworfen.
  • Ernest Pemborough, hatte einen kurzen Wortwechsel mit Lucian.

Als Nächstes sollte ich herausfinden, wer die Gelegenheit hatte, Lucian zu vergiften. Ich kann doch nicht die Gäste und die Familie fragen, wo sie sich zu dessen Todeszeitpunkt aufgehalten haben.

Christabel runzelte die Stirn. So kompliziert hatte sie sich die Ermittlungen nicht vorgestellt. Vielleicht sollte sie die Detektivarbeit doch besser Scotland Yard überlassen. Ihr drehte sich der Magen um bei dem Gedanken, jemandem so nahetreten zu müssen. Kein Wunder, dass die Polizei einen derart schlechten Ruf hatte, denn ihre Arbeit lag darin, tief im Dreck zu wühlen, den man verbergen wollte.

Auf einmal fröstelte es sie, obwohl ihr Zimmer gut geheizt war. Christabel starrte auf die Liste, während ihr immer stärker ins Bewusstsein drang, dass sie Ashburn Abbey mit einem Mörder teilte. Ihre Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an.

In ihren geliebten Romanen hatte Christabel nie etwas darüber gelesen, was ein unverhoffter Tod für Folgen nach sich zog. Sollte sie wirklich zum Tee gehen, als wäre nichts geschehen? Die Vorstellung, dort auf jemanden zu treffen, der einem anderen Menschen skrupellos das Leben nahm, behagte ihr nicht. Als ein Knacken ertönte, zuckte sie zusammen.

In ihrem Zimmer allein zu bleiben, erschien ihr ebenfalls keine Alternative. Hier wäre sie hilflos einem Angreifer ausgeliefert.

Christabel sprang auf. Auch wenn sie sich fürchtete, hatte sie sich Maud gegenüber verpflichtet, Nachforschungen anzustellen. Also raffte sie ihren Mut zusammen, streckte den Rücken durch und begab sich zu dem Salon, in dem der Tee gereicht wurde.

Vor der Tür atmete sie tief durch und nickte dem Lakaien zu, der ihren Gruß erwiderte. Zu Christabels Überraschung befand sich noch niemand im Salon, obwohl Sandwiches und Kuchen bereits angerichtet waren und verführerisch dufteten. Christabel klingelte nach einem Hausmädchen und bestellte Tee. Dann fiel ihr Blick auf die alkoholischen Getränke, die auf einem Barwagen standen.

Ja, das wäre das Richtige, um ihre angespannten Nerven zu beruhigen. Ihre Mutter wäre sicher zutiefst erschüttert, sollte sie je erfahren, dass Christabel Sherry zum Tee trank.

»Eine gute Idee.« Beryl Banfour streckte ihren Kopf zur Tür herein. Leise wie ein Geist schlich sie in den Salon. »Gießen Sie mir einen Amontillado ein, bitte? Das Ganze ist ein einziger Albtraum.«

Kapitel Fünfzehn

Nachdem sie Lady Christabel verlassen hatte, begab sich Maud in die Küche. Sie wollte mit Dora Mullens sprechen, um das Geheimnis zu lüften, das Flossie und Ivy angedeutet hatten. Der Geruch frisch gebackenen Brots stieg ihr in die Nase, so verführerisch, dass ihr Magen knurrte. Ob sie sich wohl ein Stück davon stibitzen konnte?

Leider entdeckte sie Mrs Pratt, die bis zu den Ellenbogen in einem Teig versunken war. Die Porzellanschüssel stand auf dem großen Holztisch, dessen Arbeitsfläche mit Mehl bedeckt war. Anscheinend plante die Köchin, eine große Anzahl von Broten zu backen. Außer ihr war niemand in der Küche. Mrs Pratt walkte und knetete, als hinge ihr Leben davon ab.

»Wo ist Dora?«, fragte Maud. Sie hätte Wetten darauf abgeschlossen, dass jemand von der Herrschaft den jungen Mr Willmington auf dem Gewissen hatte, aber sie hatte Lady Christabel versprochen, auch bei den Dienstboten nachzuforschen. »Ich habe sie heute noch nicht gesehen.«

»Ich habe ihr frei gegeben, damit sie eine kranke Tante besuchen kann.« Mrs Pratt schaute kurz von ihrer Arbeit auf, bevor sie weiter den Teig quälte. Erneut wunderte sich Maud, wie eine Köchin nur so hager sein konnte. »Das kann ein paar Tage dauern.«

Maud sog scharf die Luft ein, aber sie bemühte sich um einen Gesichtsausdruck, der nicht verriet, was ihr durch den Kopf ging. Hölle und Hinkebein, wenn das nicht aussieht, als wollte man eine Schuldige aus dem Weg schaffen, dann weiß ich es nicht. Aber warum sollte eine Küchenhilfe einen Adligen töten? Und wie sollte sie ihm ein Gift verabreichen? Gibt es eine abgestandenere Ausrede als eine kranke Verwandte?

»Lebt die Tante weit von hier?«

»Warum wollen Sie das wissen? Wollen Sie einen Krankenbesuch machen?«

Auf direktem Weg kam Maud nicht weiter. Bevor sie die Köchin ausfragte, musste sie erst deren Vertrauen gewinnen.

»Das Brot duftet verführerisch.« Maud lächelte, um ihr Lob zu unterstreichen. »Mrs Cramton, die Köchin auf Lentune Hall, hat mir aufgetragen, Sie nach Rezepten zu fragen.«

»Eine Küchenmeisterin sollte wissen, wie unhöflich es ist, die Geheimnisse einer anderen erfahren zu wollen.« Mrs Pratt versetzte dem unschuldigen Teig einen heftigen Schlag.

Es würde nicht leicht werden, dieser schlecht gelaunten Frau ein Geheimnis oder ein Lächeln zu entlocken. Wie gut, dass Mrs Cramton ein ganz anderes Kaliber war.

»Oh, ich dachte, es wäre ein Kompliment, wenn man nach Rezepten gefragt wird.«

»Selbst exakt beschriebene Anweisungen sind nur die Hälfte eines gelungenen Mahls.« Mrs Pratt sah Maud an, die Mundwinkel hingen herab. »Erfahrung und Herzblut sind wichtiger als die besten Rezepte. Wenn Ihre Köchin das nicht weiß, kann ich ihr nicht helfen.«

»Darf ich mir eine Scheibe Brot abschneiden? Frisch schmeckt es immer am besten.«

»Wenn es sein muss.« Mrs Pratt deutete mit dem spitzen Kinn nach rechts. »Teller finden sie dort. Butter und Marmelade in der Kammer.«

»Danke.« War es Wunschdenken oder war der Tonfall der Köchin wirklich etwas freundlicher? Maud schnitt sich eine dicke Scheibe des warmen Brotes ab, die sie mit Butter und Orangenmarmelade bestrich. Himmlisch!

»Wissen Sie, was mit Jean geschehen ist?«, fragte sie die Köchin in plauderndem Ton, beobachtete diese aber ganz genau.

»Woher wissen Sie von Doras Tochter?« Mrs Pratt walkte den Teig stärker durch. Die Frau hatte mehr Kraft in ihren sehnigen Armen, als man auf den ersten Blick vermutete.

Maud musste an sich halten, um ihre Überraschung nicht zu verraten. Die Jean, von der Flossie gesprochen hatte, war also die verstorbene Tochter des Küchenmädchens. Wenn das nicht verdächtig war!

»Wer hat Ihnen von ihr erzählt?« Mrs Pratt sandte Maud einen durchdringenden Blick zu, als wollte sie ihre Gedanken lesen. Mit einem lauten Knall prallte der Teig auf die Arbeitsfläche. Die Köchin nahm ein Nudelholz, das ebenfalls mit Mehl bestäubt war, und begann, den Teig auszuwalzen.

»Der Name ist beim Essen gefallen, glaube ich.« An Mrs Pratts Anspannung konnte Maud ablesen, dass sie nicht mehr erfahren, sondern nur Misstrauen säen und unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde. »Was bin ich nur für ein gedankenloses Huhn. Eigentlich wollte ich Sie bitten, mir einen Tee und etwas Gebäck für Lady Christabel zu geben.«

»Tee wird im Salon serviert.«

»Lady Christabel fühlt sich nicht wohl und wünscht daher, ihren Tee in ihrem Zimmer einzunehmen.« Wenn sie wollte, beherrschte Maud die herrschaftliche Sprache. Imitation war schon immer ihre Stärke gewesen. »Ich gedenke nicht, die Wünsche meiner Herrschaft mit Ihnen zu diskutieren.«

»Fragen Sie eins der Hausmädchen«, beschied die Köchin sie barsch. Sie schlug den ausgewalzten Teig übereinander und bearbeitete ihn erneut mit den Fäusten. »Sie sehen doch, wie beschäftigt ich bin.«

»Selbstverständlich«, antwortete Maud, aber innerlich streckte sie der unfreundlichen Frau die Zunge heraus. »Wo finde ich Flossie oder Ivy?«

»Wäsche aufhängen.«

Obwohl Maud sich über Mrs Pratts Unfreundlichkeit ärgerte, freute sie sich andererseits, weil sie nun wohl auf eine vielversprechende Spur gestoßen war. Eilig verließ sie die Küche, um eines der Dienstmädchen zu suchen.

Flossie und Ivy saßen draußen auf einer hölzernen Bank und genossen die Sonnenstrahlen. Als sie bemerkten, wie Maud sich ihnen näherte, sprangen sie auf und hängten Wäsche auf.

»Ich will nicht eure Arbeit kontrollieren«, sagte Maud mit einem kleinen Lächeln. Wieder machte sie sich schmaler, als sie war, um ungefährlich zu wirken. »Lady Christabel hat um Tee und Gebäck gebeten.«

»Jetzt?« Auf Flossies langem Gesicht zeichnete sich Unverständnis für die Launen der Herrschaft ab. »Wir haben schon Sandwiches und Kuchen in den grünen Salon gebracht.«

»Ihr wisst doch, wie Ladys sind.« Maud hob die Schultern und zwinkerte den Mädchen verschwörerisch zu. »Wenn Ihnen etwas in den Kopf kommt, muss unsereins laufen.«

Ein Seufzer und ein kleines Lächeln bestätigten die Gültigkeit ihrer Worte. Obwohl Maud zu den oberen Dienstboten gehörte, war auch sie letztlich vom Wohl ihrer Lady und deren Gutdünken abhängig. So wie die unteren Dienstboten, die ihr Tagewerk zumeist unsichtbar für die Herrschaft verrichteten.

»Flossie, geh du mit ihr. Ich hänge die Wäsche auf.« Ivy beugte sich und hob ein weißes Laken hoch, das sie mühsam über die Wäscheleine warf.

»Kommen Sie.« Flossie eilte voran, als könnte sie es nicht erwarten, der körperlich schweren Arbeit zu entkommen. »Wollen Sie Scones zum Tee oder lieber Erdbeerküchlein?«

»Ähm.« Die Frage traf Maud unvermutet. Sie hätte sich mehr Gedanken über ihre Lüge machen sollen. So nachlässig wäre sie früher nicht gewesen. »Erdbeere wäre wunderbar. Du hattest von Jean Mullens gesprochen. Erzähl mir mehr.«

Flossie blieb so abrupt stehen, dass Maud ihr in die Hacken lief. Daraufhin trat das Hausmädchen einen Schritt nach vorn und wandte sich zu Maud um. Vor Aufregung oder Angst hatte sie ihre Oberlippe hochgezogen, was ihr das Aussehen eines erschreckten Bibers verlieh.

»Mrs Stanhoop hat uns verboten, über Jean zu reden. Weder miteinander und erst recht nicht mit Fremden wie Ihnen.« Abwehrend hob Flossie die Hände. »Ich hätte nicht davon anfangen sollen.«

»Von mir wird sie nichts erfahren. Das verspreche ich dir.«

»Nein, ich darf es nicht. Ich will keinen Ärger.«

Flossie blickte sich suchend um, als erwartete sie die Hausdame hinter der nächsten Ecke. Auf dem Gesicht des Hausmädchens konnte Maud deutlich deren widersprüchliche Gefühle ablesen. Einerseits wirkte Flossie wie jemand, der gern tratschte; andererseits war es für ein Dienstmädchen natürlich immens schwierig, sich über einen Befehl der Hausdame hinwegzusetzen.

Maud überlegte, welchen Anreiz sie Flossie geben konnte, damit sie über ihren Schatten sprang. Bevor sie allerdings eine Idee gewonnen hatte, erklang Trowbridges helle Stimme: »Flossie, solltest du nicht Wäsche aufhängen, anstatt hier herumzustehen und zu tratschen?«

Das arme Zimmermädchen lief rot an wie eine Erdbeere. Maud wünschte sich, dem herrischen Butler ein paar passende Worte zu entgegnen, aber das hätte ihre Nachforschungen erschwert. Also biss sie sich auf die Zunge und formulierte eine viel zu höfliche Antwort.

»Ich habe Flossie um einen Tee für Lady Christabel gebeten«, griff Maud ein und zog die Schuld auf sich. Ihr gegenüber würde der Butler es nicht wagen, so harsch aufzutreten. »Mrs Pratt hatte keine Zeit, weil sie Brot buk.«

»Ich habe Lady Christabel gerade einen Tee in den grünen Salon gebracht.« Trowbridges ohnehin arrogante Miene zeigte eine tiefe Befriedigung darüber, Maud bei einer Pflichtverletzung ertappt zu haben. »Flossie, geh wieder an deine Arbeit.«

»Ja, Mr Trowbridge.« Sie knickste, warf Maud einen entschuldigenden Blick zu und eilte zurück in den Garten.

Maud nahm sich vor, ihr sofort zu folgen, sobald der Butler endlich verschwunden war. Obwohl das Hausmädchen sich geziert hatte, sein Geheimnis zu verraten, war Maud sich sicher, mehr erfahren zu können. Menschen wie Flossie genossen es einfach zu sehr, zu tratschen. Man musste ihnen nur eine Entschuldigung liefern, damit sie guten Gewissens Klatsch verbreiten konnten.

Leider gab es ein Hindernis, das Maud davon abhielt, das Hausmädchen weiter zu befragen. Trowbridge wollte einfach nicht gehen. Gab es auf Ashburn Abbey nicht genug Aufgaben für einen Butler, sodass er seine Zeit damit verbringen konnte, sie von ihren Nachforschungen abzuhalten?

Er sagte kein Wort, sondern musterte sie nur, als wüsste er, was Maud vorhatte. Dieses Spiel konnten zwei spielen. Sie erwiderte seinen Blick und schwieg. Nach einer Weile wurde es ihr allerdings zu dumm und sie überlegte sich eine neue Strategie, wie sie den Butler loswerden konnte.

»Ich werde im Salon schauen, ob Lady Christabel etwas benötigt.« Maud blieb freundlich, obwohl sie dem hochnäsigen Pinsel am liebsten das Lächeln aus dem Gesicht gewischt hätte. »Danke, dass Sie mir Bescheid gegeben haben.«

»Ich begleite Sie.« Der Butler verzog seine schmalen Lippen zur Andeutung eines Lächelns. »Wir wollen doch nicht, dass Sie sich verlaufen.«

Maud erkannte es, wenn sie geschlagen war, und gab nach. Schweigend folgte sie Trowbridge durch die grüne Tür, die den Dienstbotenbereich von dem der Herrschaft trennte. Auch wenn es so aussah, als hätte der Butler gewonnen, schwor sich Maud, dass er sie nur in diesem Scharmützel besiegt hatte. Sie würde einen Weg finden, das Geheimnis um Jean Mullens zu lüften. Jetzt erst recht.

Kapitel Sechzehn

Ernest.« Mit einem Nicken begrüßte Christabel ihren Freund, der sich zum Tee zu ihr und Beryl Banfour in den Salon gesellte. Wegen der zugezogenen Vorhänge wirkte der Raum düster und ungemütlich.

»Ich habe auch schon überlegt, etwas Licht ins Zimmer zu lassen«, sprach Ernest ihre Gedanken aus, was Christabel überraschte. Konnte man ihr wirklich alles vom Gesicht ablesen? »Aber wir müssen die Trauer respektieren.«

»Ich wünschte, ich könnte abreisen«, stieß Beryl Banfour mit überraschender Verve hervor. Ihre Augen glitzerten verdächtig. »Es ist so furchtbar und traurig und entsetzlich.«

Meine Mutter würde der Schlag treffen, sollte ich jemals meine Gefühle dermaßen offen zur Schau stellen. Ich konnte nicht einmal um Nicholas trauern.

Sofort schämte sie sich ihrer bitteren Gedanken und ging zu Beryl. Irgendwie wirkte die junge Frau verändert. Christabel musterte sie aufmerksam. Neben dem Schrecken, dessen Ursache der plötzliche Tod Lucians war, zeichnete sich etwas anderes auf ihrem runden Gesicht ab. Auch wenn es ihr seltsam vorkam, Christabel hätte schwören können, es war Triumph.

»Möchten Sie einen Tee und etwas Gebäck?« Ernest biss herzhaft in einen kleinen Kuchen. »Die Scones sind wirklich hervorragend.«

»Ich habe keinen Hunger«, maulte Beryl Banfour, aber beäugte dennoch den Teller mit appetitlich angerichteten Scones, Erdbeertörtchen und Sandwiches.

Christabel nahm sich Tee und eines der warmen Gebäckstückchen. Als sie es aufschnitt, duftete es verführerisch nach Zucker und warmer Butter. Nachdem sie es mit Clotted Cream und Erdbeermarmelade bestrichen hatte, gönnte sie sich einen Bissen. Genießerisch schloss sie die Augen und spürte die Süße des Scones, die säuerliche Milde der Cream und die frische Frucht der Marmelade. Für einen Augenblick konnte sie alles andere vergessen.

Jedenfalls bis zu dem Moment, in dem sich die Tür öffnete und Dunstan und Georgina Willmington sich zu ihnen gesellten. Christabel verschluckte sich an ihrem Bissen und musste eine Serviette vor den Mund führen, die ihr Husten verbarg. Sie hatte erwartet, dass die Familie sich in der Trauer zurückzog. Wenn sie sich allerdings Dunstans eher ausdruckslose Miene betrachtete, schien Lucians Bruder dessen Tod nicht besonders leidzutun. Georgina hingegen sah aus, als hätte sie in der vergangenen Nacht kein Auge zugemacht. Dunkle Ringe betonten ihre ohnehin großen Augen. Christabel kam es vor, als ob Dunstans Frau lange geweint und ihre Fassung nur mühsam wiedergewonnen hatte.

»Möchten Sie etwas Tee?«, fragte sie daher und hob die Teekanne.

»Haben wir dafür keine Dienstboten?«, entgegnete Dunstan Willmington heftig auf ihr freundlich gemeintes Angebot. »Herrgott, mein Bruder ist gestorben und sofort geht alles vor die Hunde.«

Christabel wechselte einen Blick mit Ernest, der sichtlich schockiert auf diesen Ausbruch reagierte. Georgina hingegen schien nicht einmal zu bemerken, wie sehr ihr Ehemann sich danebenbenommen hatte.

»Also ich bin manchmal froh, wenn keine Dienstboten dabei sind«, flocht Beryl Banfour mit einem nervösen Kichern ein, »dann kann man sich unbeobachtet unterhalten.«

Die junge Frau wirkte noch unsicherer als am Tag ihrer Ankunft. Immer wieder zupfte sie sich die Haut an ihren Fingernägeln ab. Es kam Christabel vor, als würde Dunstan Willmington sie entsetzlich nervös machen.

»Obwohl man manchmal vergisst, dass sie überhaupt da sind, weil wir so an ihre Gegenwart gewöhnt sind«, ging Ernest auf die Ablenkung ein. »Ich nehme gern noch eine Tasse Tee.«

Dunstan Willmington reagierte mit düsterem Schweigen, so dumpf und drückend, dass Christabel es nicht wagte, einfach über Belanglosigkeiten zu plaudern. Ernest hob die Schultern, als sie ihn ansah. Bevor jemand etwas sagen konnte, um die Situation zu entspannen, stürmte Unity Willmington herein.

»Ich halte das nicht mehr aus.« Elegant platzierte sie sich auf das grüne Sofa. »Irgendjemand anders muss sich um Violet kümmern. Ich ertrage ihre Heulerei nicht mehr.«

Obwohl auch sie Violet Keat als melodramatisch empfunden hatte, war Christabel erschrocken über diese rüden Worte. So etwas konnte man denken, sprach es aber niemals laut aus.

»Einen Tee, meine Liebe?« Eilfertig reichte Beryl ihr eine Tasse. »Oder möchtest du lieber etwas Stärkeres?«

»Schenk mir bitte einen Sherry ein.« Unity nahm den Tee, um ihn zur Seite zu stellen. »Beryl-Schatz, ich stünde ewig in deiner Schuld, wenn du dich um Violet kümmertest. Es muss auch nicht lange sein.«

»Das kann ich gern übernehmen.« Christabel nutzte die Gelegenheit, den Menschen allein zu sprechen, der Lucian Willmington gewiss am besten von ihnen gekannt hatte. »Falls es Ihnen recht ist, selbstverständlich.«

»Ehrlich, mir ist es völlig egal, solange nicht ich es bin.« Nachdem sie diese herben Worte ausgesprochen hatte, schaute Unity sich um, wie die Anwesenden wohl reagierten. Auch Christabel ließ ihren Blick schweifen. Ernest wirkte immer noch erschüttert, was sie nicht anders erwartet hatte. Für jemanden wie ihn, der Konventionen und Regeln über alles schätzte, musste das ein wahrlich furchtbarer Besuch sein.

Dunstan schaute kurz auf, bevor er weiter vor sich hin brütete. Beryl wirkte ebenso betroffen wie Ernest, während Georgina Unity einen Blick voller Hass zuwarf. Vielleicht war Christabels Angebot etwas vorschnell gewesen, denn es sah aus, als würden hier gleich einige Dinge aufs Tapet gebracht, die ihr bei ihren Ermittlungen sicher helfen würden.

Ärgerlicherweise trat in dem Augenblick der Butler ein, um frischen Tee zu bringen. Was immer auch hätte gesagt werden wollen, es blieb ungesagt. Daher stand Christabel auf, bevor Unity oder Beryl Einwände erheben konnten.

»Trowbridge, lassen Sie bitte eine kleine Mahlzeit auf Lady Violets Zimmer bringen.« Christabel nickte dem Butler zu. »Ich nehme an, das hast du noch nicht veranlasst, Unity?«

»Sie wollte nichts«, verteidigte sich die junge Frau, obwohl Christabel sie nicht hatte angreifen wollen. »Violet flennt die ganze Zeit.«

Ernest und Beryl sandten Unity einen erschütterten Blick zu. Auch Christabel war erschrocken über die Kälte, mit der sie über das Leid von Violet sprach. Unity Willmington ließ sich nicht anmerken, dass sie über den Tod ihres Bruders betroffen war.

Was für eine seltsame Familie das ist, dachte Christabel. Unter den Geschwistern scheint nicht viel Liebe zu herrschen. Ob Lord und Lady Willmington ebenso wenig unter dem Tod ihres Sohns leiden?

Auch wenn Dahlia und sie sich oft stritten, wäre Christabel am Boden zerstört, sollte ihre Schwester überraschend sterben. Sie schauderte, als sie durch den einsamen Flur zu Violets Zimmer ging. Als sie an einem mit schwarzem Stoff verhängten Spiegel vorbeikam, zuckte Christabel zusammen. Mit den Händen rieb sie sich über die Oberarme, aber die Kälte ließ sich nicht vertreiben.

Ein unerwarteter Todesfall war schon schlimm genug. Aber die Vorstellung, dass einer von ihnen ein Mörder war, jagte Christabel mehr Angst ein, als sie sich eingestehen wollte. In ihren geliebten Romanen glich die Aufklärung eines Mordes eher einer Denksportaufgabe als einem Ereignis, das einen in den Grundfesten erschütterte.

Möglicherweise tauge ich nicht zur Detektivin. Aber wenn ich nicht ermittle, wer dann?

Da sie nun Violets Zimmer erreicht hatte, blieb ihr keine Zeit mehr, diesen Gedanken nachzuhängen. Christabel holte tief Luft, bevor sie an die Tür klopfte. Sie wartete, aber von innen erklang keine Aufforderung, den Raum zu betreten.

Christabel klopfte erneut und lauschte, aber wieder zeigte sich keine Reaktion. Violet würde sich doch nicht etwas angetan haben? Der Gedanke brachte ihr Herz zum Rasen.

»Violet?« Nun hämmerte Christabel gegen die Tür. Was scherten sie die guten Sitten, wenn es um Leben und Tod ging? »Violet. Öffnen Sie die Tür.«

»Warten Sie, Mylady.« Die Stimme erklang so unvermutet, dass Christabel, die sich für unerschrocken hielt, einen spitzen Schrei ausstieß. »Entschuldigung, Mylady.«

Das Hausmädchen, ein unattraktives, mageres Ding, stellte das Tablett mit Tee, Toast und Marmelade auf den Fußboden, bevor es einen Schlüsselbund aus der Tasche seiner Schürze holte.

»Den hat mir Mrs Stanhoop gegeben«, sagte das Mädchen, als es Christabels fragenden Blick bemerkte. »Sie ahnte wohl, dass die junge Lady nicht öffnen würde.«

Ja, das passte zur Hausdame. Christabel hatte zwar nur wenige Worte mit Mrs Stanhoop gewechselt, aber das hatte gereicht, ihr den Eindruck von Effizienz und Intelligenz zu vermitteln.

Kurz bevor das Hausmädchen den Schlüssel ins Schloss stecken konnte, öffnete sich die Tür und Lady Violet schaute heraus. Die Szene erinnerte Christabel so sehr an den gestrigen Abend, dass sie am liebsten geflüchtet wäre.

»Was wünschen Sie?« Violet Keats Stimme klang tränenerstickt, ihre Nase und ihre Augen waren rot und verquollen. »Lassen Sie mich allein. Hunger habe ich sowieso nicht.«

»Ich kann Sie verstehen«, antwortete Christabel mit sanfter Stimme und schob Violet etwas zur Seite, damit sie in das Zimmer gelangen konnte. »Stellen Sie das Tablett auf den kleinen Tisch.«

Wie zu erwarten war, waren Violets Räume deutlich größer und eleganter als das Zimmer von Christabel. Schließlich war sie Lucians Verlobte und, wichtiger noch, die Tochter eines Duke. Schwere rote Vorhänge hingen vor den bodentiefen Fenstern und ließen kein Licht von draußen herein. Die Wände waren bis zur Hälfte mit einem tiefbraunen Holz getäfelt. Seine Dunkelheit wurde durch lindgrüne Tapeten abgemildert, auf denen sich bunte Paradiesblumen und Pfauen tummelten. Das Himmelbett war ebenfalls aus dunkelbraunem Holz und mit Intarsien und Schnitzereien reich verziert. Vor dem Fenster stand ein zierliches Sofa, dessen Stoff die Farbe der Vorhänge aufnahm, sie jedoch durch weiße Streifen sanfter wirken ließ.

Im Kamin brannte flackernd ein Feuer und malte Schatten auf die beiden Frauenfiguren, die den Sims zu tragen schienen.

»Entschuldigung.« Erst als das Hausmädchen sich an ihr vorbei drängelte, bemerkte Christabel, wie unhöflich sie gewesen war, gefangen von der Pracht des Raums.

Das Hausmädchen hatte es anscheinend eilig, der Situation zu entkommen, sodass die Tasse leise klirrte, als die Bedienstete das Tablett niedersetzte. Das Hausmädchen knickste und eilte davon, als wäre Violets Schmerz ansteckend.

»Kommen Sie, meine Liebe.« Noch immer bemühte sich Christabel um einen weichen Tonfall und hoffte, auf diesem Weg zu der jungen Frau durchzudringen. »Trinken Sie wenigstens einen Tee.«

»Glauben Sie, Lord oder Lady Willmington wären hier gewesen?«, sagte Violet mit anklagender Stimme. »Sicher, wir waren nur verlobt, aber ich bin Teil dieser Familie, oder etwa nicht?«

»Selbstverständlich.« Gab es nichts Wichtigeres als diese Frage? Sicher waren Lucians Eltern in ihrer Trauer gefangen und mussten außerdem noch seine Beerdigung vorbereiten. Das musste auch seine Verlobte einsehen.

»Ich hatte immer das Gefühl, sie wollten mich nicht in der Familie haben. Dabei ist mein Vater der Duke of Macclesville.«

»Ich bin sicher, Lord und Lady Willmington waren sehr erfreut über die Verlobung.« Inzwischen schlich sich Ungeduld in ihre Stimme ein. Christabel wollte gewiss nicht über die Heiratspolitik diskutieren. »Hier, nehmen Sie einen Tee.«

Sie sandte einen stummen Dank an das Hausmädchen oder die Köchin, die so klug gewesen war, zwei Tassen auf das Tablett zu stellen.

»Er ist bestimmt nicht eines natürlichen Todes gestorben«, konstatierte Violet Keat mit erstaunlich gelassener Stimme, nachdem sie von dem Tee gekostet hatte. »Lucian war hervorragend in Form.«

Beinahe hätte sie den Schluck Tee wieder ausgespuckt. Nur unter Aufbietung aller Contenance gelang es Christabel, sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen. Sie wollte sich nicht vorstellen, wo und wie die zarte junge Frau herausgefunden hatte, wie gut ihr Verlobter in Form gewesen war. Noch weniger wollte sie darüber nachgrübeln, warum dieses unbedarft aussehende Mädchen zur gleichen Schlussfolgerung gekommen war wie sie.

»Was meinen Sie?«, tastete sich Christabel an die schwierige Frage heran. »War es möglicherweise ein Unfall?«

Violet starrte sie an, als hätte sie ihr ein unpassendes Angebot gemacht. Ihre Augen weiteten sich und begannen zu glänzen. Christabel suchte nach einem Taschentuch, das sie Lucians Verlobter reichen wollte. Deren Worte überraschten sie so sehr, dass sie das Stoffstück fallen ließ.

»Natürlich nicht. Jemand hat ihn ermordet. Und ich weiß auch wer!«, sagte Violet mit erstaunlich fester Stimme. »Helfen Sie mir, für Gerechtigkeit zu sorgen.«

Kapitel Siebzehn

Das Tagewerk war für die meisten Dienstboten getan, sodass sie sich in der Küche trafen, ein Schwätzchen hielten und mit den Vorbereitungen für das Dinner der Herrschaften begannen. Eine bessere Gelegenheit für ihre Nachforschungen konnte Maud sich kaum vorstellen. Doch leider beobachtete Trowbridge sie mit Argusaugen.

Punkt sechs Uhr fand das alberne Ritual des Abendessens für die Dienerschaft statt. Während sie in der schmackhaften Mahlzeit herumstocherte, kam es Maud vor, als summte die Luft vor ungelösten Geheimnissen und unausgesprochenen Fragen. Flossie und Ivy wichen ihrem Blick aus, während Trowbridge und Mrs Stanhoop sie beobachteten, als warteten sie nur auf ein Fehlverhalten von Maud.

Schweigen herrschte, denn der Butler hatte sich zu einer Rede aufgeschwungen, nachdem alle sich gesetzt hatten.

»Angesichts des tragischen Todes eines der Mitglieder unseres Haushalts«, hier verzogen die Hausmädchen ihre Gesichter, »möchte ich heute Abend weder Tratsch noch Klatsch hören. Wir sind in Trauer.«

Maud musste sich im wahrsten Sinne des Wortes auf die Lippen beißen, um nicht mit einer passenden Antwort herauszuplatzen.

»Miss Ramsbury wird bis auf Weiteres nicht mit uns speisen, sondern gemeinsam mit Lady Willmington in deren Räumen«, erklärte die Hausdame. »Flossie, bitte räume ihr Gedeck ab.«

Die Atmosphäre war so bedrückend, dass Maud es kaum erwarten konnte, ihr Besteck zur Seite zu legen und aus dem Raum zu flüchten. Doch sie zwang sich, sitzen zu bleiben, bis die Hausmädchen aufstanden, denn Maud plante, die beiden nach dem Abendessen auszuhorchen. Obwohl sie nicht aufgeben wollte und tagsüber noch drei Versuche unternommen hatte, mit Flossie oder Ivy zu reden, hatte sie einfach keinen Erfolg gehabt. Beinahe erschien es ihr, als beobachteten der Butler und die Hausdame die Zimmermädchen, um zu verhindern, dass sie mit Maud redeten. Wahrscheinlich bildete sie sich das nur ein, misstrauisch geworden durch den mutmaßlichen Mord, den sie entdeckt hatte.

Doch auch jetzt war ihr kein Glück beschieden, als sie unauffällig zu den Hausmädchen schlenderte.

»Flossie! Ivy!«, erklang die leise Stimme von Mrs Pratt. »Solange Dora nicht da ist, helft ihr mir in der Küche.«

So ein Ärger! Damit schlug erneut einer von Mauds wunderbar ausgetüftelten Plänen fehl. Maud konnte es kaum erwarten, Lady Christabel beim Umkleiden für das Abendessen zu helfen. Ihre Neugier, ob die Lady bei ihren Nachforschungen erfolgreicher als sie gewesen war, ließ ihr keine Ruhe. Auch wenn sie Neugier plagte, blieb Maud noch Zeit, bis sie ihrer Ladyschaft beim Ankleiden helfen musste. Daher ging sie zurück in ihr Zimmer, um mit dem Kätzchen zu spielen, das Lady Christabel »Amelia Butterworth« getauft hatte, nach der Heldin aus »That Affair Next Door« von Anna Katherine Green. Maud hingegen nannte das Tierchen »Kitty«, denn Amelia Butterworth erschien ihr übertrieben für so ein winziges Geschöpf.

»Na, du bist mir keine große Hilfe«, neckte sie das Kätzchen, das mitten im Spiel eingeschlafen war. Um sich die Zeit zu vertreiben, setzte Maud sich an den Tisch, nahm ein Briefpapier mit dem Wappen der Willmingtons und schrieb ihre Mutmaßungen auf. Sie listete die Dienstboten auf, die sich ihrer Meinung nach verdächtig verhalten hatten.


  • Trowbridge – hat gewiss das Glas absichtlich umgestoßen und verhindert, dass ich mit den Hausmädchen rede.
  • Mrs Stanhoop – hat kein Motiv.
  • Mrs Pratt – ist übellaunig, aber hat kein Motiv.
  • Flossie – tratscht gern, ist aber unverdächtig.
  • Ivy – ebenso.
  • Dora Mullens – ihre Tochter ist tot und ich weiß nicht, warum. Außerdem ist sie etwas zu passend abgereist.

Nun, viel war es nicht, was sie zusammengetragen hatte. Möglicherweise ging sie es falsch an. Wie wäre es, die ganze Sache einmal von der Seite des Opfers zu betrachten?


  • Lucian Willmington – hat Hausmädchen verführt und dafür gesorgt, dass sie ohne Referenzen entlassen werden.

Wenn ihr das passiert wäre, würde sie ihn gewiss hassen und sich an ihm rächen wollen. Wie hieß das Mädchen, das er des Diebstahls beschuldigt hatte?


  • Sadie – was ist aus ihr geworden?

Langsam begann Maud, sich für die Fragen zu erwärmen. Da schrillte die Klingel, die sie zu Lady Christabel rief. Inzwischen hatte Maud sich so sehr daran gewöhnt, bei dem durchdringenden Ton sofort aufzuspringen, dass sie fast vergessen hatte, wie es war, ohne ihn zu leben. Nur manchmal, wenn sie aus Träumen von Patrick erwachte, sehnte sie sich nach der Freiheit zurück, die sie früher besessen hatte. Gleichzeitig war ihr nur zu bewusst, was der Preis für diese Freiheit gewesen war: Hunger, Armut und Betrug.

Genug davon. Sie wollte nicht an die Vergangenheit denken. Vor drei Jahren hatte sie dieses Leben hinter sich gelassen, als sie an der Hintertür des Sommerhauses der Familie Mowgray demütig um eine Arbeit gebeten hatte. Die gefälschten Referenzen waren die letzte Erinnerung an ihr altes Leben gewesen, eine Notwendigkeit mit bitterem Beigeschmack.

Sie spürte eine sanfte Berührung an der Hand. Das Kätzchen, wohl durch die Klingel geweckt, rieb sich an ihr und maunzte auffordernd.

»Du bist verfressen«, schalt sie es im Spaß, gab ihm aber etwas von dem Gehackten mit Ei, das Mrs Pratt ihr heute für das Tierchen zubereitet hatte.

Als die Klingel erneut schrillte, schrak Maud auf. Wie hatte sie nur so in ihren Gedanken versinken können? Auch wenn Lady Christabel sie überaus freundlich behandelte und deutlich weniger Allüren besaß als andere Ladys, die Maud erlebt hatte, blieb sie doch Mauds Herrschaft. Und damit besaß sie die Macht, Maud jederzeit auf die Straße zu setzen, wenn ihr etwas nicht passte.

Also sprang sie auf, warf einen schnellen Blick in den Spiegel und prüfte, ob sie präsentabel aussah. Das Kätzchen hatte Strähnen aus ihrer Frisur gelöst, die Maud eilig zurücksteckte.

»Maud, da bist du endlich.« Lady Christabel stand in einer eleganten, fließenden Bewegung auf, nachdem Maud eingetreten war. Sie kam auf Maud zu, aber dann drehte sie sich wieder um und ging zum Fenster. Dort setzte sie sich auf den bequem wirkenden Sessel, der mit nachtblauem Samt bezogen war. »Ich platze beinahe vor Aufregung.«

»Also haben Sie etwas herausgefunden.«

Maud konnte förmlich sehen, wie ihre Ladyschaft überlegte, ob sie die Spannung steigern oder lieber mit ihren Erkenntnissen herausplatzen sollte. Ich wette zehn zu eins, sie kann nicht schweigen. Lady Christabel hat einfach nicht genug Geduld, um die Spannung einer Geschichte aufzubauen.

»Ich habe länger mit Violet Keat gesprochen.« Auf Lady Christabels hübschem Gesicht lag ein zufriedener Ausdruck wie der einer Katze, die den Topf Sahne gefunden hatte. »Sie ist sich sicher, dass Lucian umgebracht wurde.«

Schweigend schaute ihre Herrschaft sie an, die Augen glitzerten vor Vergnügen darüber, mehr zu wissen als Maud.

»Ja?« Am liebsten hätte Maud ihre Ladyschaft geschüttelt, aber dann hätte sie gewiss ihre angenehme Stellung verloren. Also musste sie sich in Geduld fassen. »Hegt sie einen Verdacht, wer der Mörder sein könnte?«

»Mach mir die Haare, während wir reden.« Lady Christabel erhob sich und setzte sich an den Frisiertisch. »Heute nur etwas Einfaches.«

»Gewiss.« Maud öffnete die Haarnadeln und begann, die Haare ihrer Ladyschaft zu bürsten. »Wen hat Lady Keat im Verdacht?«

»Du wirst es nicht glauben.« Vor Aufregung bekam Lady Christabel Schluckauf, sodass Maud ihr ein Glas Wasser eingoss. Nachdem sie einen Schluck getrunken hatte, konnte ihre Herrschaft endlich weitersprechen. »Violet ist sicher, Georgina hat Lucian vergiftet.«

»Die junge Lady Willmington?« Beim besten Willen konnte sich Maud nicht vorstellen, wie diese ätherisch anmutende Frau den Willen aufbrachte, jemanden zu ermorden. Da erschien ihr ihre Spur eindeutig vielversprechender. »Dora Mullens ist verschwunden.«

Nachdem sie im Spiegel den verwirrten Ausdruck auf Lady Christabels Gesicht sah, bereute sie es, mit der Information herausgeplatzt zu sein. Selbstverständlich hatte diese Nachricht für ihre Herrschaft keine Bedeutung, einfach, weil Ladys und Gentlemen niemals die Existenz einer Küchenhilfe wahrnahmen. Höchstens an Weihnachten bekamen die hohen Herrschaften die unsichtbaren Dienstboten zu Gesicht. Wahrscheinlich vergaßen sie deren Namen und Gesichtszüge sofort wieder.

»Wer ist Dora Mullens?« Lady Christabels Worte bestätigten Mauds Gedanken. »Ich kann mich an niemanden mit diesem Namen erinnern.«

»Das Küchenmädchen. Ich habe Ihnen von ihr erzählt.« Wie hatte sie nur erwarten können, dass ihre Lady sich an jemanden so Unwichtiges wie eine Küchenhilfe erinnerte. »Die Hausmädchen sprachen von einem Geheimnis, das mit Doras Tochter zusammenhängt.«

Für Maud war diese Information so wichtig gewesen, dass sie ihr den ganzen Nachmittag nachgespürt und ihre eigentliche Arbeit vernachlässigt hatte. Für ihre Lady war Dora Mullens hingegen so unbedeutend, dass sie sich nicht einmal mehr an sie erinnerte. Einen Moment lang gab Maud sich der Vorstellung hin, wie es umgekehrt wäre. Nur zu gern hätte sie Lady Christabels Gesicht gesehen, sollte Maud sagen: »Georgina Willmington? Müsste ich sie kennen?«

»Ach, Maud.« Lady Christabel schüttelte den Kopf. Ihr Tonfall klang, als kanzelte sie ein naives Kind ab. »Wie sollte ein Spülmädchen in das Zimmer von Mr Willmington gelangen? Georgina erscheint mir eine weitaus bessere Verdächtige.«

»Und was wäre ihr Motiv?« Maud war nicht bereit, so einfach aufzugeben. Ihr Instinkt sagte ihr, dass Downstairs eindeutig etwas faul war. Allerdings sagte er ihr nicht, ob es mit dem Mord am Sohn des Hauses zu tun hatte. Vielleicht war es nur etwas weniger Bedeutendes wie Diebstahl von Lebensmitteln oder eine Affäre zwischen Hausdame und Butler. Bei dem Gedanken daran verzog Maud das Gesicht. Niemals würde eine elegante Frau wie Mrs Stanhoop auf einen Pinsel wie Marmaduke Trowbridge hereinfallen, nicht wahr?

»Georgina hatte gehofft, Lucian würde sie zur Ehefrau nehmen.« Nun trug Lady Christabel den Gesichtsausdruck einer Katze, die den Sahnetopf ausgeschleckt hatte. »Angeblich hat er ihr die Ehe versprochen und sie fallen lassen, nachdem sie ihm zu Willen war.«

Maud war so überrascht, dass sie aus Versehen die Haarnadel etwas zu fest in die Frisur einpikste. Sicher wusste sie von den Affären, die sich die hohen Damen und Herren leisteten, aber ein gebrochenes Eheversprechen gehörte nicht zu den Vorkommnissen, über die die gute Gesellschaft stillschweigend hinwegsah.

»Was für ein Ekel. Entschuldigung. Ich weiß, man soll über Tote nur Gutes reden, aber …«

»Ja, Lucian Willmington war kein Mensch, um den es sich zu trauern lohnt.« Lady Christabel wirkte ehrlich erschüttert. »Je mehr ich über ihn erfahre, desto mehr könnte ich verstehen, wenn ihn jemand umgebracht hätte.«

»Aber …«, begann Maud, während sie sich auf die Haarnadeln konzentrierte, »inzwischen ist Ms Georgina doch Lady Willmington. Lord Willmington ist eine viel bessere Partie als sein jüngerer Bruder.«

»Und ein entsetzlich biederer Mann. Blutleer könnte man sagen.«

»Ist das in Ihren Kreisen von Bedeutung?« Maud zwinkerte ihrer Lady zu. »Wenn der Ehemann ein Langweiler ist, hat man die Wochenenden auf dem Land fürs Vergnügen.«

»Maud!«, schimpfte Lady Christabel spielerisch. »Davon solltest du nichts wissen.«

»Mylady. Was meinen Sie, worüber wir Dienstboten reden, in der langen Wartezeit, bis die Herrschaften ins Bett zu gehen geruhen.«

»Maud! Übertreibe es nicht. Normalerweise müsste ich dich für solche Frechheiten entlassen.«

»Zum Glück sind Sie keine der normalen, langweiligen Herrschaften.« Maud wusste genau, wie weit sie gehen konnte und wie sie Lady Christabel dazu brachte, ihr zu verzeihen. »Warum also sollte Lady Georgina ihren Schwager ermorden?«

Eine letzte Haarnadel, und die Frisur saß perfekt. Maud trat einen Schritt zurück, um ihr Werk zu begutachten.

»Aus gekränkter Eitelkeit.«

»Aber die Kränkung muss doch schon vor langer Zeit stattgefunden haben«, beharrte Maud. »Hätte sie ihn in diesem Fall nicht schon damals umbringen sollen?«

Man konnte auf Lady Christabels ausdrucksstarkem Gesicht ablesen, wie enttäuscht sie war, dass sich ihre wundervolle Theorie gerade in Wohlgefallen auflöste. Maud schwankte zwischen schlechtem Gewissen, weil sie ihre Lady enttäuscht hatte, und Triumph, weil ihre Spur die bessere zu sein schien. Da hellten sich Lady Christabels Züge auf.

»Wahrscheinlich war sie damals am Boden zerstört«, überlegte sie laut. »Nun, da Lucian plante, ein Gänschen wie Violet Keat zu heiraten, ist die Wut wieder hochgekocht.«

Lady Violet so zu bezeichnen, war zwar nicht freundlich, aber Maud musste ihrer Lady zustimmen. Gegenüber Georgina, die aussah wie ein Engel, wirkte Violet wie eine Landpomeranze, die sie auch war. Ich sollte herausfinden, was man Downstairs über die Verlobung denkt, machte sie sich eine gedankliche Notiz.

»Unity Willmingtons Verlobung ist in die Brüche gegangen, wegen Lucian«, dachte Christabel halblaut. »Ist das ein Motiv für einen Mord? Kannst du herausfinden, was geschehen ist?«

»Ich kann es versuchen, aber Trowbridge und Mrs Stanhoop halten mich von den Hausmädchen fern.«

»Würdest du Beryl Banfour von der Liste der Verdächtigen streichen?«

»Die Hölle kennt keinen Zorn wie den einer verschmähten Frau.«

»Muss Congreves Zitat immer herhalten, wenn es um einseitige Liebe geht?« Lady Christabel runzelte die Stirn. »Ich kann sie mir nicht als eiskalte Giftmörderin vorstellen. Andererseits habe ich sie nur bei einem offiziellen Essen erlebt, bei dem sich jeder verstellt.«

»Ich mag sie, die junge Miss Banfour.« Maud faltete ein Kleidungsstück zusammen. »Aber sie verbirgt mehr, als man auf den ersten Blick meint.«

»Und das wäre?« Lady Christabel zog die Unterlippe zwischen die Zähne, eine Angewohnheit, die ihre Mutter zur Weißglut trieb. »Obwohl, mir kam sie heute verändert vor.«

»Sie ist klüger, als sie sich gibt.« Maud hielt kurz inne. »Sie liest anspruchsvolle Bücher.«

»Meinst du, der Butler hat Lucian umgebracht?« Wie so oft hörte Lady Christabel ihr nur mit halbem Ohr zu und sprang zur nächsten Frage.

»Trowbridge?« Maud überlegte ernsthaft. Sie konnte den pompösen Lackaffen zwar nicht leiden, aber einen Mord – nein, den traute sie ihm nicht zu. »Warum sollte er seinen Herrn so hassen?«

»Aber warum hat er das Glas umgeschüttet? Mit Absicht, wie du meinst.«

Maud kratzte sich am Kopf, während sie nach einer Antwort suchte.

»Wahrscheinlich hat er es aus Loyalität zur Familie gemacht. Um einem Skandal zuvorzukommen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Bei dem fließt Tinte statt Blut durch die Adern. Ich kann mir nicht vorstellen, wie er fähig wäre, einen Mord zu begehen.«

»Auch wenn es mir schwerfällt«, Christabel verzog den Mund, »so muss ich wohl eingestehen, dass der Mörder Upstairs zu finden ist. Da obliegt mir der Hauptteil der Nachforschungen.«

»Wie Sie sehr wohl wissen«, Mauds Grinsen vertiefte sich, »weiß niemand so viel über die Herrschaft wie die Dienerschaft.«

Kapitel Achtzehn

Nachdem sie dreimal aus düstersten Albträumen erwacht war, in denen sie Nicholas an Stelle von Lucian Willmington ermordet gesehen hatte, fühlte Christabel sich am Morgen zerschlagen und müde.

»Wäre es vermessen, wenn ich heute noch einmal das große Frühstück im Bett einnehme?«, fragte sie Maud, als ihre Zofe ihr das Tablett mit Tee und Toast brachte. »Ich möchte niemanden sehen. Mich gruselt es bei der Vorstellung, einer von ihnen könnte ein Mörder sein.«

In ihren geliebten Romanen hatte Christabel nie etwas darüber gelesen, was ein unverhoffter Tod für Folgen nach sich zog. Seitdem sich der Verdacht verfestigt hatte, dass Lucian Willmington ermordet worden war, ertrug sie es nicht, allein in ihrem Zimmer zu sein. Aber ebenso wenig hielt sie die Anwesenheit der anderen Gäste aus. Maud war die einzige Person auf Ashburn Abbey, der sie vertraute.

»Sicher können Sie im Bett frühstücken, Mylady.« Maud zuckte mit den Schultern. »Das wird Ihnen niemand krummnehmen außer mir.«

»Außer dir?« Obwohl sie ihre Zofe rügen sollte, musste Christabel lachen. »Dann kann ich mir die Nachlässigkeit selbstverständlich nicht erlauben.«

»Es geht mir nicht um die guten Sitten.« Maud schüttelte den Kopf. »Wenn Sie keinen der anderen sprechen, erfahren wir nichts über ein mögliches Mordmotiv.«

Sofort sank Christabels Stimmung wieder, denn Maud hatte sie daran erinnert, dass sie eben in keinem Roman lebten, sondern es mit wirklichen Menschen und deren Leid zu tun hatten.

»Hast du keine Sorgen, was passieren kann, wenn wir dem Mörder zu nahe kommen?«

»Er oder auch sie wird nicht noch zwei weitere Menschen umbringen. Das ist zu verdächtig. Meinen Sie nicht?«

»Wahrscheinlich hast du recht.« Christabel schaute sich im Spiegel an. Obwohl sie schlecht geschlafen hatte, sah sie dank Mauds Künsten frisch aus wie der neue Morgen. »Was planst du für heute?«

»Ich werde mir Flossie oder Ivy schnappen, um endlich herauszufinden, was es mit Jean Mullens auf sich hat.«

»Viel Erfolg.« Verschwörerisch lächelten sie einander zu, bevor Christabel ihr Zimmer verließ, das Maud nun in Ordnung bringen würde.

»Guten Morgen. Wie geht es Ihnen?« Das Glück war Christabel hold, denn bisher saß nur Georgina Willmington im Frühstückszimmer. Vor sich auf dem Teller hatte sie eine Scheibe Toast, so dünn mit Butter bestrichen, man konnte förmlich hindurchsehen. Kein Wunder, dass sie durchscheinend wirkte, sollte sie immer derart mager essen.

»Danke. Den Umständen entsprechend.« Georgina zerteilte den Toast in winzige, sehr symmetrische Quadrate, die sie auf dem Teller hin und her schob, anstatt sie sich in den Mund zu stecken. »Wie lange werden Sie noch bleiben?«

Obwohl die Frage an sich berechtigt war, klang ihr Tonfall dermaßen unfreundlich, dass Christabel sich fragte, womit sie die Frau verärgert hatte.

»Es erscheint mir angemessen, an der Beerdigung teilzuhaben. Ich betrachte Lucian als einen guten Freund.«

Das war eine dreiste Lüge, aber sie hoffte, mit ihren Worten ihr Gegenüber aus der Reserve zu locken. Das funktionierte deutlich besser als erwartet. Georgina riss den Kopf hoch wie ein durchgehendes Pferd. Ihre ohnehin riesigen Augen weiteten sich, bis sie Christabel zu verschlingen schienen. Ihr wurde etwas mulmig, allein in dem Zimmer mit einer mutmaßlichen Mörderin. Beim nächsten Mal denke ich etwas länger über meine Pläne nach, bevor ich sie in die Tat umsetze.

»Ich kann mich nicht erinnern, dass Lucian viel von Ihnen gesprochen hat«, sagte Georgina schließlich, nachdem sie ihre Fassung wiedergewonnen hatte. Das Lächeln, das ihre Worte begleitete, wirkte allerdings eher wie ein Zähnefletschen. »Und wenn, dann hatte er wenig Gutes zu sagen.«

»So war er halt, unser lieber Lucian.« Langsam vergaß Christabel ihre Angst und genoss es, die Rolle eines oberflächlichen Hohlkopfs zu spielen. »Immer zu einem Scherz bereit. Möglicherweise haben Sie ihn nicht so gut gekannt, wie Sie meinen.«

Das war wahrlich ein Treffer. Georgina umklammerte das silberne Messer, als wollte sie es Christabel ins Herz stoßen. Glücklicherweise öffnete sich die Tür und der Lakai brachte eine weitere silberne Platte, die er auf dem Büfett anrichtete. Als er den Deckel hob, wehte der Duft gebratener Würstchen zu Christabel herüber. Sie wartete, bis der Dienstbote das Zimmer verlassen hatte, bevor sie sich von den Köstlichkeiten auflud. Dabei fühlte sie Georginas Blicke wie Dolche in ihrem Rücken.

Christabel setzte sich der anderen Frau genau gegenüber, um sie im Blick zu haben, sollten ihr weitere Spitzen gegen Lucian gelingen. Hinter Georgina hing das Porträt eines übel gelaunt schauenden älteren Mannes, der Christabel geradewegs anzublicken schien. Voller Vorwürfe, meinte sie.

Da Georgina schweigend auf ihren Toast starrte, unternahm Christabel einen zweiten Versuch, sie zum Reden zu bringen. Sanfter und freundlicher dieses Mal, vielleicht käme sie damit weiter als mit ihren Angriffen.

»Selbstverständlich kannten Sie Lucian besser als ich.«

»Was wollen Sie damit andeuten?«

Himmel! Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Christabel hatte versucht, etwas möglichst Harmloses zu sagen, woraufhin Georgina reagierte wie ein Terrier, der eine Ratte witterte.

»Nun, als seine Schwägerin haben Sie gewiss mehr Zeit mit ihm verbracht als ich, die ihn nur bei gesellschaftlichen Anlässen getroffen hat.« Christabel stieß ein gekünsteltes Lachen aus. »Sie wissen selbst, worüber man da redet. Die Jagd, die Saison, nichts von großer Bedeutung.«

Aufmerksam beobachtete sie unter gesenkten Lidern, wie Georgina sich sichtlich entspannte.

»Lucian und ich teilten eine Seelenverwandtschaft, die ein einfacher Geist wie Sie nicht begreifen wird.«

Anscheinend hatte die Unterbrechung Georgina geholfen, sich zu sammeln und ihrerseits einen Angriff auf Christabel zu beginnen. Obwohl es ihrer eigentlich gutherzigen Natur widersprach, entschloss Christabel sich zu einem gemeinen Gegenschlag.

»Das überrascht mich«, antwortete sie mit einem feinen Lächeln. »Das letzte Mal, als ich Lucian traf, erzählte er von der langweiligen Frau, die sein ebenso langweiliger Bruder geheiratet hatte.«

Als sie Tränen in Georginas Augen glitzern sah, bereute Christabel ihre bösen Worte. Ich habe einen Mord aufzuklären, da kann ich keine Rücksicht auf die Gefühle der Verdächtigen nehmen, versuchte sie, sich zu beruhigen, aber das üble Gefühl blieb.

»Das hätte er niemals gesagt.« Georgina presste die Lippen zusammen. Als sie die Teetasse zum Mund führte, zitterte ihre Hand. »Er hat mich geliebt.«

Christabel entschloss sich zu einem erneuten Wechsel ihrer Taktik. Irgendwo in ihrem Hinterkopf fragte sie sich, was für ein Mensch sie war, dass sie über ein Repertoire von Strategien verfügte, um andere Menschen zum Reden zu bringen.

»Wahrscheinlich hat Lucian das nur behauptet, weil er es nicht verwinden konnte, dass Sie sich für Dunstan entschieden haben.« Christabel bemühte sich, ihrer Stimme einen mitfühlenden Klang zu geben. »Starke Männer wie Lucian reagieren oft beleidigt wie kleine Kinder bei Abweisungen.«

Das konnte Christabel mit reinem Herzen erklären, denn sie hatte allzu oft diese Erfahrung machen müssen. Gentlemen, von denen man annehmen sollte, dass sie sich an die Grundregeln der Konventionen hielten, hatten wie verzogene Kinder darauf beharrt, dass Christabel ihre Gefühle erwidern müsste.

Nun schoss Georgina ihr einen waidwunden Blick zu. Hoffentlich rückte sie bald mit der Sprache heraus, bevor noch jemand anderes zum Frühstück kam. Aber Christabel durfte sie nicht zu sehr drängen, weil sie fürchtete, dass Lady Willmington sich verschließen würde wie eine Auster.

»Sie haben recht.« Ein winziges Lächeln erhellte Georginas Züge. »Lucian nahm es mir äußerst übel, als ich seinem Werben nicht nachgab. Er war ein interessanter Mann, aber heiraten wollte ich ihn nie.«

Na, da habe ich aber etwas anderes gehört.

»Ich bewundere Sie dafür, die Vernunft siegen zu lassen.« Christabel senkte die Stimme und beugte sich verschwörerisch vor. »Allerdings frage ich mich, was er an Violet Keat gefunden hat. Sicher, sie ist die Tochter eines Duke, aber reicht das wirklich aus?«

Als Georgina die Augen verengte, wusste Christabel, dass sie sich dem Geheimnis näherte. Sie beugte sich noch ein wenig weiter vor und musste an sich halten, Georgina nicht zu drängen, endlich zu antworten.

Gerade, als Georgina den Mund öffnete, ging die Tür zum Frühstückszimmer auf. Christabel wandte sich um und sah Ernest, der ihr freundlich zulächelte.

»Guten Morgen. Sie beide sind ja früh auf.« Seine Stimme klang zufrieden. »Es ist ein prächtiger Tag, den ich schon für einen Ausritt genutzt habe.«

Christabel schoss Ernest einen wütenden Blick zu, den er erstaunt erwiderte. Er schien nicht zu begreifen, was sie ihm zu verstehen geben wollte. Anstatt das Frühstückszimmer zu verlassen, schlenderte Ernest zum Büfett, hob die Deckel von Pfannen und Platten und schnupperte genießerisch. »Ah, Kedgeree. Meine Mutter hasst es, daher freue ich mich immer, es woanders essen zu können.«

Er schaufelte sich eine große Portion des Gerichts aus Fisch, Reis, Porridge, Butter und Eiern auf den Teller, bevor er Christabel gegenüber Platz nahm.

»Wie kannst du dich dermaßen über ein Reisgericht freuen, wenn der arme Lucian noch nicht unter der Erde ist?«, fauchte sie ihn an. Ja, sie war ungerecht, aber Ernest war wirklich im unpassendsten Augenblick erschienen.

»Entschuldigung.« Sein Blick war der eines treuen Jagdhundes, der gescholten wurde, obwohl er den Fasan wohlbehalten apportiert hatte. »Wie geht es Ihnen, Lady Willmington?«

Auch wenn es eine harmlose Frage war, schob Georgina ihren Stuhl so heftig zurück, dass er laut polternd umfiel. Mit einem lauten Aufschluchzen lief sie aus dem Zimmer. Nun saß der arme Ernest da wie ein begossener Pudel, den Löffel voller Kedgeree auf halbem Weg zum Mund erstarrt.

»Was habe ich falsch gemacht?«, wandte er sich hilfesuchend an Christabel. »War meine Begeisterung für das Frühstück wirklich dermaßen unpassend?«

»Vielleicht ein wenig übertrieben, so wie meine Rüge«, antwortete sie mit einem entschuldigenden Lächeln. »Ich habe den Eindruck, Georgina hat der Tod Lucians schwerer getroffen, als man es von einer Schwägerin erwartet.«

Sie musterte Ernest. Ob er wohl mehr über die Verwicklungen und Geheimnisse der Familie wusste als sie? Ihr war es vorgekommen, als gehörte Ernest zu den wohlgeschätzten Gästen.

»Wie kommt es eigentlich, dass du dich während der Saison aus London herauswagst?« Ihr Freund hegte politische Ambitionen und nutzte daher die Bälle, Pferderennen und Picknicks, um mit den richtigen und wichtigen Gentlemen – und auch einigen Ladys – zu sprechen.

»Ich wusste, dass ich dich hier treffen würde.« Ernest beugte sich etwas näher zu ihr. »Diese Gelegenheit konnte ich mir nicht entgehen lassen.«

»Wie gut kennst du die Willmingtons?«, versuchte sie ihn von dem Thema abzulenken, das ihr so gar nicht behagte. Sie wollte Ernest als Freund nicht verlieren, konnte aber seinem Werben nicht nachgeben. »Ich habe dieses Mal erstmals eine Einladung erhalten.«

Bevor er antworten konnte, öffnete sich die Tür und Lord Willmington sah herein. Christabel erschrak darüber, wie müde und erschöpft ihr Gastgeber aussah. Seit Lucians Tod hatte sie ihn nicht mehr gesehen und es erschien ihr, als wäre er um Jahre gealtert. Er nickte ihr knapp zu und wandte sich an Ernest: »Lord Pemborough, gewähren Sie mir eine Minute.«

»Sicherlich.« Ernest sprang auf, nicht ohne dem Reisgericht einen sehnsüchtigen Blick zuzuwerfen, und folgte Lord Willmington.

Für Christabel war es keine Frage, dass sie ihnen nachspionieren musste. Etwas an der Art, wie Ernest sofort aufgesprungen war, hatte ihren Verdacht erregt. Ohne zu zögern, schob sie ihren Stuhl zurück und folgte den beiden Männern. Vor der Tür verharrte sie. Wohin sollte sie sich wenden? Nach rechts zum Salon oder nach links in die Bibliothek?

Das Glück war ihr gewogen, denn sie hörte leise Stimmen durch die nur halb geschlossene Tür der Bibliothek. Auf Zehenspitzen schlich sie näher.

»Ich bin hierhergekommen, um die Schulden zu begleichen.« Ernests Tonfall klang noch seriöser als üblicherweise. »Auch wenn ich weiterhin die Ansicht vertrete, dass …«

Was für Schulden hatte Ernest gemacht? Als Erstes fielen ihr Spielschulden ein, die Ehrenschulden für einen Gentleman waren. Allerdings konnte sie sich selbst unter Aufbietung all ihrer Fantasie nicht vorstellen, wie Ernest sich um Hab und Gut zockte. Das passte überhaupt nicht zu seiner Persönlichkeit.

»Auch wenn man über Tote nur Gutes sagen soll, können Sie über Lucian ruhig die Wahrheit sagen.« Lord Percy Willmington seufzte vernehmlich auf. »Im Unterschied zu seiner Mutter bin ich nicht blind für die Fehler meines Sohnes.«

»Ich hatte gehofft, an das Ehrgefühl von Lucian appellieren zu können.« Ernests Stimme wurde so leise, dass Christabel den Atem anhielt, um seine Worte verstehen zu können. »Ich bin mir sicher, er hat falsch gespielt.«

Christabel riss die Hand vor den Mund, weil ihr beinahe ein Laut der Überraschung entkommen wäre. Also doch – Ernest hatte sich im Spiel bei Lucian verschuldet. Es musste sich um eine immense Geldsumme handeln, wenn er dafür nach Ashburn Abbey reiste. Ein derart hoher Betrag, dass er ein Motiv für einen Mord böte. Vor Schreck drohte ihr Herz einen Schlag auszusetzen. Ihr Atem ging schneller und sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Aber die Neugier war stärker. Sehr, sehr vorsichtig legte sie ihre Hand an das dunkle Holz der schweren Tür und schob sie ein winziges Stück auf, um nur kein Wort zu verpassen.

»Seien Sie versichert, dass ich Sie aus den Schulden entlassen werde.« Lord Willmingtons Stimme klang gepresst. »Wenn Sie mit diesem … Dilemma zu mir gekommen wären, hätte ich dafür gesorgt, dass alles seine Richtigkeit bekommt.«

Kann er nicht einfach sagen, wie hoch Ernests Schulden sind? Dieses Herumreden um den heißen Brei ist unerträglich.

Am liebsten wäre Christabel in den Raum gestürzt, hätte beide Männer an ihren gestärkten Krägen gepackt und geschüttelt. Das Bild zeichnete sich so deutlich vor ihrem inneren Auge ab, dass sie beinahe gekichert hätte.

Wahrscheinlich bin ich überspannt, weil ich mir Ernest als jemanden, der von Lucians Tod profitiert, nicht vorstellen will und kann. Aber kann ich es einfach ignorieren, dass er ein tragfähiges Motiv hat? Nein! Ernest hat selbst gesagt, er wollte die Schulden bezahlen. Damit kann ich ihn von der Liste der Verdächtigen streichen.

»Ich danke Ihnen.« Ernest stieß einen Seufzer aus. Christabel konnte nur ein Stück seines Rückens sehen, aber selbst daran ließ sich eine immense Anspannung ablesen. »Lucian wollte die Schulden meines Bruders öffentlich machen.«

Erneut seufzte er, während Christabel Erleichterung verspürte. Also hatte nicht ihr guter Freund gespielt, sondern sein jüngerer Bruder. Theophile war immer das schwarze Schaf der Familie Pemborough gewesen. Dunkel erinnerte sich Christabel an einen Skandal, der mit seinem Namen in Verbindung gebracht worden war. Falls Theophile wirklich seine Spielschulden nicht bezahlt hatte, hätte das für ihn die gesellschaftliche Ächtung bedeutet. Man verzieh einem Gentleman, wenn er über die Stränge schlug, aber niemals sollte er Ehrenschulden nicht einlösen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752143171
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
Sammelband Bundle England Cosy Crime Cornwall Krimi Amateur-Detektivinnen Lord und Ladys Historisch Krimi

Autor

  • C. L. Potter (Autor:in)

C. L. Potter ist ein Pseudonym für Christiane Lind, unter dem ich Menschen ermorde. C. L. ist die Abkürzung meines Namen, aber woher kommt Potter? Da mich Familiengeschichte(n) sehr interessiert, sollte mein neuer Name damit zu tun habe. Mütterlicherseits ist der Name der Großeltern zu kompliziert, väterlicherseits würde ich Müller heißen. Also bin ich eine weitere Generation zurückgegangen und auf den Namen "Pötter" gestoßen. Um ihn internationaler zu machen, habe ich ihn eingeenglischt. :-)
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Titel: Drei Fälle für Maud und Lady Christabel