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Blutroter Schleier

Thriller

von Karsten Krepinsky (Autor:in) Ingo Krepinsky (Illustrationen)
256 Seiten

Zusammenfassung

Sieben Menschen. Eine Bohrinsel. Und ein düsteres Geheimnis. In ausgelassener Stimmung lässt sich eine Gruppe von Mitarbeitern des Weltkonzerns Global Companion zu einer Yacht im Atlantik fliegen. Ein einwöchiger Luxusurlaub erwartet die Gewinner der Firmenlotterie. Doch es kommt anders als erwartet. Ein schweres Unwetter zwingt den Piloten des Hubschraubers, auf einer verdunkelten Bohrinsel notzulanden. Die Besatzung ist verschwunden. Blutlachen zeugen von schrecklichen Vorkommnissen an Bord. Schon bald gibt es den ersten brutalen Mord. Wer steckt dahinter? Und wer ist das nächste Opfer? Das Einzige, was sicher scheint, ist der Tod, der sich wie ein blutroter Schleier über die künstliche Insel im Atlantik legt … Ein Psychothriller von Karsten Krepinsky

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Zum Buch

 

Blutroter Schleier

 

Sieben Menschen. Eine Bohrinsel. Und ein düsteres Geheimnis.

 

In ausgelassener Stimmung lässt sich eine Gruppe von Mitarbeitern des Weltkonzerns Global Companion zu einer Yacht im Atlantik fliegen. Ein einwöchiger Luxusurlaub erwartet die Gewinner der Firmenlotterie. Doch es kommt anders als erwartet. Ein schweres Unwetter zwingt den Piloten des Hubschraubers, auf einer verdunkelten Bohrinsel notzulanden. Die Besatzung ist verschwunden. Blutlachen zeugen von schrecklichen Vorkommnissen an Bord. Schon bald gibt es den ersten brutalen Mord. Wer steckt dahinter? Und wer ist das nächste Opfer? Das Einzige, was sicher scheint, ist der Tod, der sich wie ein blutroter Schleier über die künstliche Insel im Atlantik legt …

 

Ein Psychothriller von Karsten Krepinsky


IMPRESSUM

KARSTEN KREPINSKY

Blutroter Schleier

 

(c) 2019 Karsten Krepinsky

Originalausgabe, Dezember 2019

Alle Rechte vorbehalten

Nachdruck und Vervielfältigung aller Art (auch in Auszügen) nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors

Umschlaggestaltung: die Typonauten

Lektorat: Ursula und Ingo Krepinsky

Veröffentlicht von Dr. Karsten Krepinsky, Berlin

 

www.nichtdiewelt.de


 

 

 

 

 

 

 

Für alle, die sich gerne überraschen lassen …

 

 

 

 

 

 

 

Prolog

Meine Hände! Oh, meine wunderschönen Hände! Die weißen Baumwollhandschuhe färben sich rot ein. Irgendwann sind die Handschuhe durchtränkt von meinem Blut. So rot, meine wunderschönen Hände! –– Ich hatte schon häufiger diesen Traum gehabt, aber so realistisch hat er sich nie zuvor angefühlt.

Was ist diesmal anders?

Es ist da dieser alte Mann.

Was macht er?

Der alte Mann zieht mich an meinen Händen aus dem Bett. Wissen Sie, ich fühle mich so gut aufgehoben in meinem Bett. Es ist so kuschelig unter der Decke. Doch der alte Mann zerstört die Geborgenheit, die ich empfinde. Er nimmt mir alles.

Was denken Sie, hat das zu bedeuten?

Das weiß ich nicht. Ich hab’ noch nie von diesem alten Mann geträumt. Er trägt einen langen Mantel und Hut. Ich bin kein furchtsamer Mensch, wissen Sie. Da muss ich schon weit zurückblicken, dass ich vor etwas Angst hatte. Als Kind fürchtete ich mich vor dem, was unter meinem Bett passiert. Diese Geschichten mit dem großen Wandschrank, in dem ein Monster lauert. Wer kennt das nicht. Bei mir war es das Bett. Oder besser gesagt, was unter meinem Bett so vor sich geht.

Hatten Sie Alpträume deswegen?

Ja, früher. Häufig.

Und in letzter Zeit?

Niemals. Ich reise oft, komme durch meinem Job viel rum. Manchmal schlafe ich alleine, manchmal liegt ein Mann neben mir. Diesmal habe ich das Bett nur für mich. Ich fühle mich unter der Decke so geborgen. Draußen regnet es, müssen Sie wissen. Es gibt da diesen Sturm. Ich denke, es ist das schwerste Unwetter, das ich je erlebt hab’. Ich bin mit einem Flugzeug abgestürzt. Oder ist es ein Hubschrauber gewesen? Ich bin mir nicht sicher. Alles fühlt sich merkwürdig weit weg an. Jedenfalls bin ich auf einer Insel gestrandet. Na ja, es ist keine Insel im eigentlichen Sinn. Nicht aus Stein und Sand ist die Insel jedenfalls, sondern ganz und gar ... irgendwie ... also ... metallisch. Ja, metallisch, das beschreibt es am besten. Die Insel ist auf jeden Fall von Menschen gemacht.

Und dann kommt dieser alte Mann zu Ihnen?

Unter der Bettdecke ist es doch so kuschelig.

Was macht der alte Mann mit Ihnen?

Schrecklich. Er zieht mich aus dem Bett. Ich schreie, schlage wie wild um mich, doch der alte Mann ist stark. Warum ist er nur so mächtig? Verdammt nochmal, er ist nur ein Greis. Und ich bin eine Frau, die sich zu wehren weiß. Aber er reißt mich mühelos zu Boden. Wie kann das sein? So ein alter Mann mit diesen unglaublichen Kräften?

Was empfinden Sie?

Es ist ein Gefühl der Kälte.

Sie verspüren keinen Schmerz?

Vielleicht am Anfang. Da hat es ... muss es höllisch weh getan haben, wenn man an das ganze Blut denkt. Aber jetzt schmerzt es nicht mehr. Der alte Mann sieht eigentlich freundlich aus. Trägt einen Bart und lächelt. Aber da ist etwas in seinem Gesicht. Etwas Verstörendes. Furchtbares. Seine Haut. Sie verändert sich. Schwarze Flecken tauchen auf seinem Gesicht auf und verschwinden wieder. Wie dunkle Schatten.

Können Sie sich denken, was das bedeuten soll?

Nein, das ist mir schleierhaft.

Haben Sie diesen alten Mann schon früher gesehen?

Ich weiß es nicht.

Denken Sie nach.

Es könnte sein.

Wann haben Sie ihn gesehen?

In Berlin. Irgendwo da. Ich erinnere mich nicht genau.

Versuchen Sie es.

Warum ist das so wichtig?

Alles ist wichtig.

Hören Sie auf, mich zu quälen. Ich möchte jetzt endlich meine Ruhe haben.

Ich bin nicht dazu da, um Sie zu quälen.

Natürlich nicht. Sie sind mein Therapeut.

Warum denken Sie, dass ich Ihr Therapeut bin?

Wer sollten Sie sonst sein?

Ich bin nicht ihr Therapeut.

Natürlich nicht. Jedenfalls nicht wirklich. Das ist ein Traum. Sie sind der Therapeut, den sich mein Unterbewusstsein ausgedacht hat.

Wie kommen Sie darauf?

Hab’ ich mal in ’nem Artikel gelesen.

Das ist kein Traum.

Kein Traum? Nicht? Sie machen Witze! Was soll das hier sonst sein?

Ihr Schmerz ist zu stark. All die Wunden, die sie haben.

Ich hab’ keine Ahnung, wovon Sie sprechen.

Ich will es Ihnen erklären. Es ist wie bei einem Gnu, das von Löwen gerissen wird.

Ich bin kein Tier.

Das weiß ich auch. Es ist ein Beispiel, damit Sie verstehen, was mit Ihnen passiert.

Gut.

Zuerst wehrt sich das Gnu nach Leibeskräften, will nicht wahrhaben, dass es gefressen wird. Aber irgendwann, wenn die Lebensenergie nicht mehr reicht, gibt das Gnu den Kampf verloren. Endorphine werden ausgeschüttet, um das Leiden zu verringern. Apathisch starrt das Tier vor sich hin. Die letzten Augenblicke seines Lebens ist der Verstand des Tieres losgelöst von den Qualen, die der Körper durchstehen muss.

Ja und? Was hat das mit mir zu tun?

Sie können jetzt aufhören zu kämpfen.

Ich kann aufhören zu kämpfen?

Ja.

Warum zum Teufel sagen Sie das?

Um es ihnen leichter zu machen.

Was leichter zu machen?

Das Sterben.

1

Nordatlantik, 100 km vor der schottischen Küste.

 

Bedrohlich türmte sich die pechschwarze Wolkenfront am Horizont auf. Die Wellen des aufgewühlten Meeres schlugen meterhoch. Mit voller Wucht peitschte Starkregen gegen die Scheiben des CH 53 Sea Stallion. Der Pilot steuerte den Transporthubschrauber geradewegs in das Unwetter hinein. Noch bekamen die Passagiere in der luxuriös ausgestatteten Kabine des CH 53 nicht viel mit von der Naturgewalt, die sich unaufhaltsam näherte. Auf Flachbildschirmen flimmerte ein Werbevideo der Firma Global Companion. Es waren Aufnahmen lächelnder Menschen, die über eine grüne Wiese schlenderten. Beschwingt und sorglos schauten die makellosen Werbemodels in die Kamera. GC kümmerte sich um alles, war die Botschaft des Clips. Es gab nichts, weswegen sich der Kunde Sorgen machen musste. Die Philosophie des Weltunternehmens war, den Menschen durch das Leben zu begleiten, ein treuer Kompagnon in allen Lebenslagen zu sein. Im Laufe der letzten Jahrzehnte hatte der mächtige Mischkonzern tausende andere Industriebetriebe aufgekauft und sich in vielen Ländern der Erde eine Monopolstellung gesichert. Das Firmenlogo prangte auf Bieren, Zahnpasten, Kaffees, Handys, Kühlschränken, Computern und Medikamenten. Global Companion war Stromanbieter, Versicherer, produzierte Elektroautos, baute Häuser und gewährleistete die Sicherheit auf Großveranstaltungen. Kam man ins Krankenhaus, war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass man sich in einem Bett von GC wiederfand und die Infusion in einem GC-eigenen Unternehmen hergestellt wurde. Von der Wiege bis zur Bahre begleitete das Logo von Global Companion den Menschen.

 

Sechs Angestellte des Konzerns saßen auf den gepolsterten Ledersitzen in der Passagierkabine des GC-Hubschraubers. Jeder von ihnen trug ein Namensschild. Da es bei GC üblich war, sich untereinander zu duzen, stand nur der Vorname darauf. Weder die Rolle innerhalb der Firma konnte vom Sticker abgelesen werden, noch war ein Titel angegeben. Drei Männer und drei Frauen waren es, die in der GC-Lotterie gewonnen hatten. Alle, von der Kassiererin im GC-Supermarkt bis zum CEO einer der GC-Investmentbanken, bekamen bei der jährlichen Auslosung die gleiche Chance, aus der digitalen Lostrommel gezogen zu werden. Der Hauptpreis war ein einwöchiger Luxusurlaub auf der Yacht Love One, die vor der Küste Schottlands vor Anker lag.

 

Kim schlug die Beine übereinander und drehte sich zu Rick um. Der Mittzwanziger war ein äußerst attraktiver Mann mit kantigem Gesicht, leuchtenden blaugrauen Augen, dunklen Haaren und breiten Schultern. Kim seufzte innerlich. Leider war Rick für eine Frau von 1,81 m etwas klein geraten. Und etwa zehn Jahre zu jung. Bei dem Piloten des Hubschraubers, mit dem sie kurz in Glasgow auf dem Rollfeld reden konnte, hingegen stimmte alles. Groß gewachsen, grau meliert, vielleicht Ende dreißig wie sie selbst. Mike war ein Typ wie George Clooney in seinen besten Jahren. Reif, männlich und doch von einer neckischen Verspieltheit, die signalisierte, dass er den Charme der Jugend noch nicht verloren hatte. Leider trugen Mike, Rick und auch die beiden anderen Männer an Bord des Hubschraubers allesamt Bärte. Kim fluchte über dieses unselige Hipstertum, das sich wie eine Seuche ausweitete und ihr Horden von Männern bescherte, die das stachelige Unkraut in ihren Gesichtern wuchern ließen. Kim mochte es am liebsten glattrasiert bei einem Mann, und zwar am ganzen Körper. Nur der Kopf bildete eine Ausnahme, denn den kahlen Jason-Statham-Typen fand sie ebenso unattraktiv. Da sich Mike in der Kanzel des CH53 außer Sichtweite befand, war Rick Kims Favorit – zumindest während des Flugs. Ed und Claas, die ihr gegenübersaßen, zogen Kim in sexueller Hinsicht in keiner Weise an. Claas war ein langer Schlaks mit roten Haaren und androgynen Zügen. Eine unnahbare, nahezu asexuelle Erscheinung. Der perfekte metrosexuelle Gegenentwurf zum vor Kraft strotzenden Piloten Mike. Ed, Mitte vierzig, mit tiefen Stirnfalten und mürrisch dreinblickend, fand Kim von den drei Männern am unattraktivsten. Sie drückte den Rücken durch und räkelte sich lasziv im Ledersitz. Ihre Brüste schoben sich über den Gurt, der nun wie ein Push-up-BH wirkte. Ricks Aufmerksamkeit war erregt. Wie süß er lächelte, registrierte Kim verzückt. Wenn er doch nicht nur zu klein für sie wäre, haderte sie und biss sich auf die Unterlippe. Doch auch Kim war nicht perfekt. Gegenüber ihrem atemberaubenden Körper schien den Männern auf der Straße ihr Gesicht keinen zweiten Blick wert zu sein. Wie oft spürte Kim die Blicke von Verehrern im Rücken. Wie sehr genoss sie es, wenn ihr schlanker Körper im Mini abgetastet wurde. Doch dann registrierte Kim die Enttäuschung in den Augen der Bewunderer just in dem Moment, als sich diese zu ihr umdrehten. Es war das Brechen eines erotischen Versprechens, eine zerstörte Fantasie, die sich in den enttäuschten Gesichtern der Männer spiegelte. Hässlich war Kim nicht, nur nicht von jener Schönheit und Anmut, die einen Mann um den Verstand brachte. Unscheinbare Langeweile, als wäre dem göttlichen Steinmetz bei der Ausarbeitung ihres Antlitzes beim Übergang vom Hals zum Kopf die Leidenschaft und Hingabe abhanden gekommen. Es war nun einmal, wie es war. Kims Zeit kam dann, wenn sie leicht bekleidet flirten konnte. Im Pool oder am Strand, wenn die Blicke der Männer selten höher wanderten als bis zu ihren makellosen Brüsten. Der Körper war Kims Trumpf, Kapital schlug sie aber aus ihren perfekt geformten Händen. Kim zog die Baumwollhandschuhe aus und inspizierte ihre Finger mit kritischem Blick. Die Pflegelotion war vollständig in die Haut eingedrungen. Derzeit arbeitete sie für GC-Fashion als Handmodel. Kim achtete peinlich darauf, dass die Haut ihrer Hände keinen schadhaften Einflüssen ausgesetzt war. Im Sommerurlaub trug sie dünne Handschuhe, um die Zellen vor schädlichen UV-Strahlen zu schützen. Elfenhaft grazil waren ihre Finger. Wenn in Werbebroschüren Hände mit dem Teint einer hellen mitteleuropäischen Haut zu sehen waren, handelte es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um Kims Hände.

 

»Mann, lange halte ich diese Werbescheiße nicht mehr aus«, sagte Ed genervt. »Ich dachte, wir hätten hier das große Los gezogen. Eine Woche auf dieser Luxusyacht. Und jetzt müssen wir uns diese flachbrüstigen Models mit ihrem dümmlichen Grinsen reinziehen.«

Liv, die neben Ed saß, fuhr sich mit der Hand über ihren Dutt. »Betrachte den Transfer mit dem Hubschrauber als Vorspiel. Erst wenn wir auf der Yacht sind, geht es los.«

»Wenn das hier das Vorspiel sein soll«, brummte Ed, »dann kann ich auf den Sex gerne verzichten.«

Der Hubschrauber wurde von einer Böe erfasst und die Insassen wie in einer Achterbahn durchgeschüttelt.

Liv lehnte sich zu Ed hinüber. »Love One ist ein Mythos. Ich bin mir sicher, das wird ein Abenteuer, das wir nie vergessen werden.«

Kim musterte ihre Konkurrentin argwöhnisch. War Liv dazu in der Lage, ihr auf der Yacht die Show zu stehlen? Liv war eine Halbasiatin mittleren Alters. Ihre Haut wirkte jugendlich zart, aber in ihr Gesicht war die Erfahrung eines gut vierzigjährigen Lebens geschrieben. Kluge, wache Augen, die ihre Umwelt abtasteten. Sicher zog Liv einen anderen Männertypus an, war Kim beruhigt: den intellektuellen Denker. Kim lachte in sich hinein. Den Griesgram Ed konnte sie gerne haben. Nun musste sie nur noch eine Konkurrentin an Bord des Hubschraubers ausstechen – und die war von einem anderen Kaliber. Joy war eine rotblonde Frau von Mitte zwanzig mit Porzellanteint und einer Figur, die für den Laufsteg wie geschaffen war. Kim vermutete, dass Joy als Model arbeitete. Die Haare hatte sie mit Hilfe von Haarstäben nach hinten gesteckt, ein wenig untergewichtig und anämisch war Joy, wie es in der Model-Branche üblich war. Kim hoffte darauf, dass Joy wie viele Models Bulimie hatte und der ständige Gang zur Toilette ihre Dates vermieste. Kim versuchte einen Blick auf Joys Zähne zu erhaschen, doch die perfekt geformten, vollen Lippen gaben den Blick auf die Schneidezähne nicht frei. So konnte Kim nicht erkennen, ob Joys Zahnschmelz durch den ständigen Kontakt mit Magensäure angegriffen war.

»Ich frage mich wirklich, was das soll«, sagte Joy. Durch die Seitenscheibe des Hubschraubers betrachtete sie das aufgewühlte Meer. »Gestern war bestes Wetter und da bleiben wir im Hotel. Und heute? Na, seht selbst nach draußen.«

»Die Firma weiß genau, was sie tut«, erwiderte Rick gelassen. »Vielleicht wollen die uns ein wenig Nervenkitzel bieten.«

»Nervenkitzel?«, wunderte sich Joy. »Darauf kann ich verzichten.«

»Reg dich nicht auf.« Rick lächelte Joy an. »Die ziehen das hier nicht von der Woche auf der Yacht ab. Es ist ein Tag bezahlter Urlaub mehr.«

»Als ob das ’ne Rolle spielen würde, wenn wir die ganze Zeit auf der Krankenstation verbringen.«

»Mach dir keine Sorgen. Die paar Turbulenzen hält der Sea Stallion schon aus. Die waren mit den Dingern in Afghanistan und in den Siebzigern sogar in Vietnam. Einer wurde da mal von zwei RPGs getroffen und ist trotzdem weitergeflogen.«

Ed runzelte die Stirn. »RPGs?«

»Rocket-propelled grenades«, sagte Rick lächelnd. »Panzerfäuste.«

Ed klopfte dreimal auf die Lehne seines Sitzes. »Na ja, Taliban gibt es vor der Küste Schottlands wohl eher nicht. Bei Vietcong bin ich mir dagegen nicht so sicher.«

»Hoffentlich gibt es irgendwo Papiertüten für den Notfall«, bemerkte Joy, während sie vergeblich das Magazinfach ihrer Seitenlehne durchstöberte. »Mein Magen reagiert bei so was immer ganz schön empfindlich.«

Kim triumphierte innerlich. Joy war nicht mehr als ein zerbrechliches Porzellanpüppchen. Kim fühlte sich ihr haushoch überlegen, war sie selbst doch athletisch und robust. In fünfzehn Jahren musste Kim kein einziges Foto-Shooting absagen. Und mental war sie ein Monstrum. Den New-York-Marathon vor zwei Jahren hatte Kim mit einem Muskelfaserriss durchgestanden.

»Nimm doch den Champagnerbottich«, schlug Ed vor. »Da wird deine Kotze sogar noch gekühlt.«

»Igitt«, ekelte sich Joy.

Ed lachte auf. Es wunderte ihn, dass Joy mit seinen sarkastischen Bemerkungen nicht umgehen konnte. Sie war ganz offensichtlich eine intelligente Frau. Gleichzeitig amüsierte Ed sich immer, wenn er andere durch seine Kommentierungen aus der Fassung brachte.

Joy schüttelte sich, holte eine Medikamentenpackung aus der Handtasche und drückte eine Ingwertablette aus dem Blister. »Ich wusste, dass es ein Fehler war, die Reise anzutreten«, sagte sie und warf sich die Tablette ein. »Ich hätte das Labor gar nicht verlassen dürfen. Ich hab’ extra ’n wichtiges Experiment unterbrochen. Die Algenkultur muss ich wieder neu anziehen.« Joy spülte die Tablette mit Tomatensaft runter.

»Algen?«, fragte Rick. »Was hast du denn mit Algen zu tun?«

»Es sind meine kleinen grünen Schätze.«

»Schätze?«

»Ich arbeite in ’nem Start-up-Unternehmen. Wir erforschen, wie man aus Algen Bioalkohol gewinnt.«

»Wow!« Rick war beeindruckt. »Dann hast du ja studiert. Ich dachte, du wärst Model oder so.«

»Nur weil ich nicht schlecht aussehe, muss ich doch kein Model sein«, erwiderte Joy schnippisch.

Rick lächelte unschuldig. »Also ich bin Barista.«

»GC-Wissenschaftlerin?«, fragte Ed kopfschüttelnd. »Bestimmt noch promoviert?«

Joy nickte, während sie sich wegdrehte.

»Ein verdammter Doktor an Bord«, sagte Ed. »Bist du nicht noch zu jung dazu?«

Joy verschränkte abweisend die Arme vor der Brust. »26. Da kann so was schon passieren.«

»Doktor? Echt?«, hakte Rick bewundernd nach. »Dann kannst du uns ja verarzten, wenn’s nötig ist.«

»Meine Güte!« Ed räusperte sich. »Du glaubst, dass jeder, der ’nen Doktortitel hat, Arzt ist? Mensch, bist nicht die hellste Kerze auf der Torte, oder?«

Rick grinste. »Die Kerze, die nicht so hell brennt, brennt dafür umso länger.« Rick hatte keine Probleme mit persönlichen Beleidigungen. Seine Intelligenz hatten schon die Lehrer auf dem Gymnasium in Frage gestellt. Es hatte Rick nie gestört, da er bei den Mitschülern umso beliebter wurde, je heftiger ihn die Lehrer angriffen. Vor allem die Mädchen konnten dem gut aussehenden Rebellen nicht widerstehen. Ihre Herzen flogen Rick scharenweise zu.

»Auch wieder wahr.« Ed verstand, dass er die Frohnatur Rick nicht so leicht reizen konnte. Er füllte zwei Gläser mit Champagner, reichte eins davon Rick und prostete ihm zu. »Na, dann lasst uns zusammen Spaß haben.«

Rick leerte sein Glas in einem Zug. »Was auf Love One passiert, bleibt auf Love One. Das ist nicht umsonst das Motto unseres Urlaubs. Meine Freunde, so eine Gelegenheit bietet sich nur einmal im Leben.«

 

Kim schloss die Augen. Ihre Gedanken kreisten nur noch um Joy. Wie konnte sie dieses Porzellanpüppchen ausstechen, das nicht nur blendend aussah, sondern auch noch ein verdammtes Genie war, das sich anschickte, die Welt zu retten? Joys Zickigkeit bot eine geeignete Angriffsfläche, glaubte sie. Das war in Kims Augen definitiv ein Plus bei der kommenden Auseinandersetzung. Und die Halbasiatin Liv? Ihre andere Konkurrentin war an den Männern in der Passagierkabine offenbar nicht interessiert. Oder war Rick längst Livs Favorit, und sie sparte ihre Energie? Weder Liv noch Joy würde sie Mike kampflos überlassen. Denn wer blieb da noch übrig? Die Aussicht, mit einem der anderen Männer an Bord flirten zu müssen, ließ Kims Stimmung ins Bodenlose fallen. Ed, der mürrische Intellektuelle, Rick, der Kaffeekocher für Hipster – gutaussehend, aber unterprivilegiert – und Claas, der Schweigsame mit der von ihr gehassten roten Haarfarbe. Kim hoffte inständig darauf, dass es einen attraktiven Personal Trainer auf der Yacht gab. Aber darauf konnte sie sich nicht verlassen.

»Hier ist Mike aus dem Cockpit«, meldete sich der Pilot über die Lautsprecher. »Eine Unwetterfront liegt vor uns. Es wird heftige Turbulenzen geben. Bitte bleiben Sie angeschnallt und suchen Sie das Bad nicht mehr auf. Wir werden in wenigen Minuten Love One erreichen.«

Kim seufzte innerlich. Was für eine tiefe, männliche Stimme. Sie musste Mike unbedingt bekommen.

»Na, unser George Clooney ist ja wirklich auf Zack«, machte sich Ed lustig. »Das Unwetter kann ja wahrlich nur ein Avionik-Experte erkennen.«

Ein heller Lichtblitz zuckte am rechten Seitenfenster vorbei. »Wow, was war das?«, fragte Liv. Beunruhigt blickte sie sich um. Für einen Moment dachte sie, dass die Maschine Feuer fangen würde.

»Ein Blitz ist eingeschlagen«, sagte Claas in belehrendem Tonfall. »Aber macht euch keine Sorgen. Wir sind hier sicher. Der Hubschrauber ist wie ein Faradayscher Käfig.«

Die anderen drehten sich zu Claas um, der während des ganzen Flugs noch nicht geredet hatte. Sie alle schienen für einen Moment über Claas’ plötzliche Wortmeldung mehr überrascht zu sein als über die Urgewalt, die durch das Unwetter entfacht wurde. Mit voller Wucht wurde jetzt die Maschine wie ein Spielball hin- und hergeworfen. Die Innenverkleidung knarzte so laut, als würde der Hubschrauber jeden Augenblick zerbrechen.

»Nur keine Panik«, versuchte Rick die anderen zu beruhigen. »Für den Sea Stallion ist das kein Ding.«

Ed sah nachdenklich aus dem Fenster. Zum ersten Mal verschwand das zynische Lächeln in seinem Gesicht. All die souveräne Distanziertheit, mit der er normalerweise seine Umgebung betrachtete, war von einem Augenblick zum anderen verschwunden. Angst machte sich in ihm breit. Er stellte das Glas ab, ohne den Champagner ausgetrunken zu haben. Die Lichter flackerten mehrere Sekunden lang, bevor sie erloschen. Die Notbeleuchtung, die den Weg zu den beiden Exit-Türen wies, tauchte die Gesichter der Passagiere in ein grünes Licht.

Claas musterte Rick verblüfft. »Du scheinst überhaupt keine Angst zu haben?«

»Die Firma hat immer ’nen Plan«, erwiderte Rick. »Das könnte alles ’n Test sein.«

»Test?« Claas hob die Augenbrauen. »Was meinst du damit? Dass GC den Urlaub als Assessment-Center nutzt, um unsere Fähigkeiten besser einschätzen zu können?«

Eds Gesichtsfarbe wechselte ins Graue. »Na, das wird ja immer besser.« Joy bot ihm eine Pille gegen Reisekrankheit an. Ed schluckte die Tablette und zerkaute sie, ohne Flüssigkeit zu sich zu nehmen. »Kein Vorspiel, sondern ’n verdammtes Assessment-Center.«

»Hier ist wieder Mike aus dem Cockpit. Bitte ziehen Sie die Schwimmwesten an, die Sie unter ihren Sesseln finden. Dies ist eine reine Vorsichtsmaßnahme.«

»Jetzt werd’ ich aber auch unruhig«, gab Liv zu. »Schwimmweste? Die musste ich noch nie anziehen, obwohl ich seit Jahrzehnten Vielfliegerin bin.«

»Scheiße!« Claas blickte durch die Scheibe nach draußen. »Wir gehen runter! Aber weit und breit ist keine verdammte Yacht zu sehen!«

»Gibt es eigentlich ’n Copiloten?«, kam es Rick in den Sinn.

»Woher soll der kommen?«, brummte Ed. »Etwa unterwegs eingestiegen? Und Stewardessen gibt’s auch keine. Die Firma hat an alles gedacht? Am Arsch!«

»Seht!«, rief Rick, während er sein Gesicht gegen die Scheibe presste. »Da unten, da ... da hab’ ich was blinken sehen!«

»Hier ist Mike«, dröhnte es aus den Lautsprechern. »Wir gehen jetzt runter. Bereiten Sie sich auf eine raue Landung vor!«

»Soll das ’n Witz sein?«, regte sich Joy auf. »Davon war eben aber nicht die Rede.« Sie kramte nach dem Handy in ihrer Tasche. »Verflucht nochmal … ich muss ... ich kann ... es ist doch ... das geht doch nicht ... sterben? Einfach so? Wer kümmert sich denn jetzt um meine Algen?«

»Haltet euch fest!«, schrie Claas. Wie die anderen hatte er seine Schwimmweste aus der Ablage gezogen. Krampfhaft hielt er den orangefarbenen Lebensretter in seinen schwitzigen Händen fest. Das Adrenalin ließ seinen Körper erstarren. Eine Böe nach der nächsten riss an der Maschine. Das Geräusch der Rotoren wurde lauter, um dann vollständig zu verstummen. Einige Sekunden herrschte Totenstille.

»Fertig machen für den Impact!«, meldete sich die Stimme aus dem Cockpit. »Alles festhalten!«

»Oh, mein Gott«, flüsterte Ed.

Kim bekreuzigte sich, obwohl sie seit Jahren nicht mehr in die Kirche gegangen war.

»Das ist ’n kontrollierter Absturz!«, rief Rick. Seine Augen leuchteten, als hätte er ein Leben lang auf diesen einen Moment gewartet, sich auszeichnen zu können. Heldenhaft dem Tod gegenüberzutreten. »Wenn die Maschine ins Wasser knallt, reiß ich sofort die Tür auf. Macht euch keine Sorgen. Ich hol’ alle raus!«

»Wie kalt ist der Atlantik um diese Jahreszeit?«, murmelte Kim vor sich hin. »8°C?« Niemand überlebte länger als zehn Minuten in dieser Kälte. Selbst sie nicht, die den New-York-Marathon mit einem Muskelfaserriss durchgestanden hatte.

»Da unten ist Licht! Da blitzt doch was!« Eds Kehle schnürte sich zu. Inmitten des tosenden Meeres meinte er, für eine Sekunde lang eine Insel mit einem hohen Turm erkannt zu haben. War es real oder halluzinierte er im Angesicht des Todes? Ed zog sich die Schwimmweste über den Kopf, legte den Gurt um die Hüfte und ließ die Schnalle einrasten. Vor dreißig Jahren war er dem Tod schon einmal von der Schippe gesprungen. Geborgte Zeit, wie ihm jetzt schien. Der Tod stand ein zweites Mal vor der Tür. Ed steckte die Pfeife in den Mund, mit der man auf sich aufmerksam machte, wenn man im Wasser trieb. Sein Ende hatte er nun deutlich vor Augen. Vielleicht gab es bei der Rettungsmannschaft einen wie ihn, der beim Anblick einer steif gefrorenen Leiche, der eine lächerliche Trillerpfeife zwischen den Zähnen klemmte, seinen Spaß hatte. Wie auch immer es sein mochte, zweifellos ging der letzte Scherz auf seine Kosten.


2

Auf einer Hubschrauber-Landeplattform irgendwo im Nordatlantik ...

 

»Wo sind wir?« Auf dem Boden kriechend versuchte sich Joy zu orientieren. Die Passagierkabine des Sea Stallion war voller Rauch. Joy hustete. Sie zog am Seil ihrer Schwimmweste, die sich innerhalb von Sekunden selbsttätig aufblies. »Raus hier! Raus!«, hörte sie jemanden rufen. Wie eine Ameise, die sich an der Duftspur ihrer Geschwister orientierte, kroch sie entlang eines grün beleuchteten Bodenstreifens zum Exit.

»Wo bleibst du denn?« Rick ergriff Joys Arm und zog sie aus dem Hubschrauber. Seine Lederjacke war vollkommen durchnässt, die langen Haarsträhnen klebten an der Stirn. »Was hast du so lang gemacht?«

Joy warf einen Blick in die verrauchte Passagierkabine zurück. »Meine Tasche ... ich brauch’ doch meine Schlüssel … und auch meinen … Glücksbringer.«

»Bist du OK?«

Benommen fasste sich Joy an die Stirn. Sie schmeckte das Salz des Meerwassers auf ihrer Zunge. »Wo … wo ist das Meer?«

»Das Meer? Na, unter uns.«

»Unter uns?«, wiederholte Joy wie in Trance, ohne zu wissen, was sie da sagte.

Rick musterte Joy nun besorgt. »Ich glaub’, du hast ’nen Schock.«

Blut rann aus Joys Mund, vermischte sich mit Regentropfen und lief an ihrem Kinn herunter. »Meine Lippen … ich denk, ich hab’ mir auf die Lippen gebissen.«

»Kannst du noch?«

Joy nickte.

»Na, dann los!«

»Einen Moment.« Joy zog ihre hochhackigen Schuhe aus und nahm sie in die Hand. »So ist’s besser.«

»Jetzt aber schnell! Der Hubschrauber kann jederzeit von der Plattform rutschen!«

»Wie ...? Was ist das hier?«

»Ist doch egal, Hauptsache was Festes unter den Füßen.«

Der Sturm peitschte den Regen auf eine Landeplattform, die hell erleuchtet war. Obwohl die Sonne noch nicht untergegangen sein konnte, war der Himmel pechschwarz. Der Sea Stallion hatte auf den Stahlplatten tiefe Schrammen hinterlassen. Durch die Härte des Aufpralls waren die Reifen geplatzt. Gut dreißig Meter weit war der Hubschrauber gerutscht, ehe die Seile des Fangnetzes ihn stoppten. Joy spürte die Anwesenheit des Meeres, auch wenn sie es in der Dunkelheit nicht sehen konnte. In ihren Ohren verfing sich ein dumpfes, allumfassendes Dröhnen. Ungezügelt und wild rangen die entfesselten Wassermassen mit der Plattform, als wäre diese nur ein unbedeutender Fremdkörper, den es zu verschlingen galt.

»Hier lang! Kommt!« Claas stand am anderen Ende der Plattform und winkte ihnen aufgeregt zu. Einander eingehakt, kämpften Joy und Rick gegen die Gewalt des Sturms an.

»Gleich seid ihr in Sicherheit!« Claas deutete auf eine Treppe, die nach unten führte. »Da sind Schutzräume!«

»Der Sturm wird immer stärker!« Rick wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, um besser sehen zu können.

»Die anderen sind schon unten!«, rief Claas. »Wo ist Mike? Wo ist unser Pilot?«

Rick deutete auf den Sea Stallion. »Der ist noch in der Kanzel. Er hat mir gesagt, dass er noch ’nen Notruf absetzen will.«

»Was hast du gesagt?«, schrie Claas.

»Notruf! Er will noch ’nen Notruf absetzen!«, brüllte Rick.

»Runter jetzt! Dieser scheiß Sturm fegt uns sonst noch ins Meer!«

»Wo sind wir hier nur?«, fragte Joy, an Rick geklammert. Die Landeplattform war nicht mehr als ein einsam strahlendes Lichtfeld, umgeben vom Nichts der Dunkelheit.

»Wir sind am Leben. Das ist alles, was im Moment zählt.«


3

In einer Aufenthaltslounge ...

 

»Es sieht aus wie ’ne Bohrinsel.« Mike hielt seinen Pilotenhelm in der Hand. Regenwasser tropfte von seinem durchnässten Overall auf den Teppichboden.

»Bohrinsel?«, wunderte sich Claas. »Ist da etwa was in den Karten eingezeichnet?«

»Nein«, erwiderte Mike.

»Woher willst du dann wissen, dass es ’ne Bohrinsel ist?«

»Wir wären fast gegen den Bohrturm geknallt. Es war haarscharf. In letzter Sekunde hab’ ich das Steuer rumgerissen.«

Kim wickelte eine Haarsträhne um ihren Zeigefinger und sah Mike verträumt an. Wie sehr genoss sie es, dass sich Ihre Brustwarzen wie damals beim Wet-T-Shirt-Contest in Miami durch die nasse Bluse drückten. »Danke, dass du uns heil runtergebracht hast«, himmelte sie Mike an.

Ed saß an der Theke und nippte an dem Longdrink, den er sich gerade aus Whiskey und Cola gemischt hatte. »Ja, Mike, ganz toll. Erwartest du jetzt von uns Applaus für deine grandiose Leistung oder was?«

»Ich erwarte nichts«, erwiderte Mike. »Ich bin froh, dass alle heil sind.«

»Nein, nein, Ehre, wem Ehre gebührt.« Ed lächelte abschätzig. »Vielen Dank, dass du uns mitten ins Unwetter geflogen hast und wir abgestürzt sind. Das ist sicher ’ne Meisterleistung, die höchstes fliegerisches Talent erfordert.«

»Meinst du, du kannst mich reizen?« Wütend schleuderte Mike seinen Helm auf den Boden. »Meinst du, das gelingt dir? So Arschlöcher wie dich kenne ich zur Genüge. Hörst du? Große Klappe und nichts dahinter. Immer ’nen zynischen Spruch auf Lager, aber wenn’s ernst wird, zieht ihr den Schwanz ein.«

Ed drehte sich auf seinem Barhocker um und sah Mike scheinbar gelangweilt an. »Zumindest fliege ich keine ahnungslosen Leute mitten in ein Unwetter biblischen Ausmaßes. Wie blöd kann man eigentlich sein?«

Claas gestikulierte beschwichtigend mit den Händen. »Ruhig Blut! Seien wir doch froh, dass wir noch leben.«

Rick betrachtete Ed, der mit seinem Longdrink immer noch nicht zufrieden schien und einen Schuss Single Malt nachgoss. »Also wenn wir noch in Schottland wären, würden sie dich dafür lynchen, Malt Whiskey mit Cola zu mischen.«

»Du glaubst doch nicht, dass mich das nach so ’ner Notlandung juckt«, erwiderte Ed. »Außerdem ist das Biocola.«

»Sind wir wegen des Blitzes abgestürzt?«, fragte Joy, während sie ihre Jeansjacke über einem Waschbecken der Bar auswrang.

»Ich weiß auch nicht genau, wie es passiert ist«, erwiderte Mike nachdenklich. »Das Unwetter war zwar heftig, aber das ist überhaupt kein Problem für den Hubschrauber. Dann war da plötzlich, wie aus dem Nichts, dieses Leuchten unter uns.«

»Leuchten?« Joy runzelte die Stirn.

Mike fuhr sich mit der Hand über den Bart. »Ich kann nur sagen, dass ohne Vorwarnung der Motor des Hubschraubers ausgefallen ist und ich runtergehen musste. Als wäre die Bohrinsel ... nun … wie soll ich sagen ... als wäre die Bohrinsel für den Ausfall der Maschine verantwortlich.«

»Was?« Joy wurde hellhörig »Wie soll das gehen?«

»Ich weiß auch nicht. Ich sag’ nur, wie ich es empfunden hab’.«

»Ein Pilot mit ‚Empfindungen’.« Ed zog die Augenbrauen hoch. »Das kann ja nicht gutgehen.«

»Was ist eigentlich mit dem Notruf?«, fragte Claas und ging zu einem Billardtisch in der Mitte der Lounge. »Hast du jemanden erreichen können?« Claas ließ beiläufig eine Kugel in ein Loch rollen.

»Ich hoffe schon.«

»Du hoffst?«

»Ich hab’ mehrmals SOS gefunkt, aber keine Antwort bekommen.«

»Welche Ölbohrinsel soll denn so weit draußen im Atlantik sein?«, fragte Claas und warf einen Blick auf sein Handy. Das Display zeigte an, dass es kein Netz gab.

»Fast wie die Lobby in einem Hotel.« Verwundert betrachtete Joy die hochwertige Ausstattung der Lounge. Eine Bar mit einer exklusiven Spirituosenauswahl gab es, mehrere Sitzgruppen mit Lederbezügen, dazu einen Billardtisch und einen Großbildfernseher, auf dem ein digitales Kaminfeuer prasselte. »Für eine Bohrinsel ist dieser Luxus hier aber ungewöhnlich. Arbeiten hier nicht nur … na ja … die harten Jungs?«

»Mhm, das passt wirklich nicht zusammen.« Claas fielen mehrere geöffnete Bierflaschen auf, die auf den Tischen standen. »Und wo zum Teufel ist die Besatzung überhaupt?«

Schritte waren zu hören. Joy hielt den Atem an, und auch die anderen starrten zur Tür, die ins Innere des Wohnkomplexes führte.

»Hey«, sagte Liv beim Hereinkommen. Sie rubbelte sich mit einem Handtuch die Haare trocken. »Was ist? Ihr guckt so, als würdet ihr ’nen Geist sehen.«

»Ach, du bist’s!« Kim hatte sich in der Aufregung an Mikes Arm geklammert. »Gott sei Dank.«

Auch Joy atmete erleichtert durch. »Wo zum Teufel warst du?«

»Ich hab’ mich umgesehen«, erklärte Liv. »Es gibt tolle Schlafkabinen hier. Etwas klein, aber immerhin haben die ’ne gute Ausstattung.«

»Zweierkabinen?« Rick lächelte verschmitzt.

»Na, dann ist die Aufteilung ja klar«, sagte Mike mit diebischer Freude. »Kim und ich, Claas und Liv, Rick und Joy. Nur der kleine Eddie hat ’ne Suite für sich alleine.«

Ed zeigte dem Piloten den Mittelfinger. »Du kannst mich mal, du Proll. Und nenn mich nie wieder Eddie, sonst lernst du mich mal von ’ner anderen Seite kennen.«

»Oh, ich hab’ ja solche Angst vor dir.« Mike stellte sich breitbeinig hin und riss die Augen theatralisch weit auf, als fürchtete er sich. Er wusste, dass er den anderen körperlich überlegen war. Der Einzige, der ihm das Wasser reichen konnte, war der um einen Kopf kleinere, aber durchtrainierte Rick.

»Hört ihr jetzt vielleicht mal auf damit«, schritt Joy ein. »Unsere Lage ist schon schlimm genug, da brauchen wir keine Hahnenkämpfe.«

»Ihr könnt eure Männerfantasien ohnehin einmotten«, sagte Liv mit einem Lächeln. »Die haben hier nur Einzelkabinen. Es wird für uns alle also eine keusche Nacht werden.«

»Verdammte Scheiße«, knurrte Ed. »Wieso überlebt man eigentlich ’n Hubschrauberabsturz, wenn man die Nacht dann wie ’n Mönch verbringen muss?«

Kim sagte nichts, aber zum ersten Mal musste sie dem Griesgram Ed zustimmen.

4

Am nächsten Morgen.

Auf einer Bohrinsel irgendwo im Nordatlantik …

 

»Kein Schiff, kein Land, nur Wasser«, stellte Claas nüchtern fest. Zusammen mit Joy und Rick stand er an einem Fenster in der Lounge der Bohrinsel und starrte auf den Atlantik. Die Morgensonne wurde von einem spiegelglatten Meer reflektiert. Nichts erinnerte mehr an den Sturm vom gestrigen Tag. »Wir sind weit draußen. Verdammt weit weg von der Küste.«

»Es ist auch keine Yacht zu sehen.« Joy seufzte.

»Bestimmt suchen die aber nach uns«, vermutete Rick.

»Dich kann wohl nichts aus der Ruhe bringen. Hast du eigentlich niemals schlechte Laune?«

»Welchen Grund hätt’ ich dazu? Ich hab’nen Hubschrauberabsturz überlebt und sehe mir zusammen mit einer bezaubernden Frau den Sonnenaufgang an.«

Joys Wangen wurden rot. Ihre Sommersprossen traten nun deutlich hervor. Joy hatte sich nicht geschminkt, und die Haare standen wild ab. »Mit so Komplimenten kommst du bei mir nicht weit.« Verlegen drehte sich Joy weg.

»Die Frage ist nur«, sagte Claas und strich sich nachdenklich übers Kinn. »Die Frage ist nur, welchen Preis wir dafür bezahlen müssen.«

»Preis?« Joy gähnte. Die Nacht war kurz gewesen. Die ganze Zeit hatte sie sich im Bett von einer Seite auf die andere gewälzt. »Haben wir nicht in der Lotterie gewonnen?«

In Claas’ Gesicht huschte ein flüchtiges Lächeln. Dann verfinsterte sich seine Miene von einem Augenblick zum anderen. »Irgendetwas ist hier oberfaul. Wo zum Teufel ist die Mannschaft nur abgeblieben?«

Rick drückte seine Stirn gegen die Scheibe und blickte nach unten. »Was schätzt ihr, wie hoch wir hier sind?«

»Gut 70 Meter über der Grundplatte der Bohrinsel«, sagte Claas.

»Die Wohnanlage, in der wir sind, ist super groß«, bemerkte Rick. »Eigentlich Platz für ’ne Menge Arbeiter. Aber niemand lässt sich blicken.«

»Und die Schlafkabinen waren alle unbenutzt.« Joy verschränkte ihre Arme vor der Brust, als fröstelte sie. »Wie tief ist eigentlich der Atlantik unter uns?«

»Gute Frage«, erwiderte Claas. »Das kommt natürlich darauf an, wo wir sind.«

»Vielleicht haben die Leute die Bohrinsel über die Rettungsschiffe verlassen«, kam es Rick in den Sinn.

Joy musterte den Öllagertank, den Bohrturm und die Rohrleitungen, die sich wie eine gigantische Schlingpflanze scheinbar willkürlich über die Bohrinsel legten. »Auch möglich, dass die Mannschaft ’ne Versammlung abhält.«

»Versammlung?«, wunderte sich Rick. »Warum sollten die das tun?«

Joy schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Irgendwo müssen die ja sein.«

Die Tür ging auf und Liv betrat die Lounge. Sie trug verlängerten Lidschatten wie eine altägyptische Königin. Ihr asiatisches Aussehen verlieh ihr zusätzlich die Aura des Geheimnisvollen. »Wisst ihr, wo Kim ist?«

»Wer?«, wunderte sich Claas.

»Die mit der super Figur und den Baumwollhandschuhen«, sagte Rick.

»Ach, die.«

Joy warf einen flüchtigen Blick auf ihre Armbanduhr. »Es ist noch recht früh. Vielleicht schläft Kim noch.«

Rick blickte zur Theke hinüber. »Stimmt. Wie unsere Schnapsdrossel hier.« Er deutete auf Ed, der, den Kopf auf den Tresen gelegt, auf einem Barhocker eingeschlafen war. Eine leere Flasche Single Malt Whiskey stand neben ihm.

»Vielleicht weiß Ed, wo Kim ist«, überlegte Liv. »Wollen wir ihn wecken?«

»Mal sehen, was sich machen lässt«, sagte Rick. Er stieß Ed an. »Hey, Kumpel, alles klar bei dir?«

»Weg ... lass mich in Ruhe!« Ed wehrte sich mit einem wütenden Armschwinger, ohne den Kopf vom Tresen zu nehmen. »Weg … weg.«

»Hast du deine Koje nicht mehr gefunden?«, fragte Rick unbeirrt.

»Koje?« Wie eine Marionette, an deren Fäden ein Puppenspieler zog, richtete sich Ed ruckartig auf. »Was?« Verkatert kämmte sich Ed mit der Hand die gegelten Haare zurück. Seine Augen waren blutunterlaufen. »Scheiße, wo bin ich hier?« Ed brauchte einige Augenblicke, um sich zu orientieren. »Mannomann, für solche Zechgelage bin ich einfach zu alt«, stöhnte er und rieb sich über den schmerzenden Nacken.

»Hast du Kim gesehen?«, fragte Liv, die ein paar Meter Abstand von Ed hielt.

»Wen?«

»Na, wen schon? Die mit der super Figur und den weißen Baumwollhandschuhen natürlich«, sagte Rick mit ironischem Unterton.

Ed stieß auf. Angewidert drehte sich Rick weg. »Mann, du hast vielleicht ’ne Fahne.«

Ed steckte sein Hemd in die Hose und reckte sich. »Was fragt ihr mich? Unser Superpilot weiß bestimmt mehr. An Mike hat sich Kim doch rangeschmissen. Ich würd’ mal in den Duschen am Ende des Flurs gucken. Vielleicht ficken die da.«

»Also weißt du, deine Ausdrucksweise.« Vorwurfsvoll schüttelte Liv den Kopf.

»Je vous demande pardon, madame.« Ed rieb sich über die Schläfen. Er wollte lachen, doch dann kniff er, das Gesicht schmerzverzerrt, die Augen zusammen. »Gibt’s hier vielleicht Aspirin an Bord?«

Rick ging hinter die Theke und füllte den Siebträger der Espressomaschine mit Pulver. »Ich mach’ dir erstmal ’nen Double-Shot-Cappuccino.«

»’N Herz oder ’ne Blume im Milchschaum ertrag ich aber nicht. Keine Hipsterscheiße am frühen Morgen. Nur einen schönen, schwarzen Kaffee. Ist das wohl möglich?«

Rick nickte lächelnd, ohne dass er beleidigt war. »Ich bin Barista. Alles ist möglich.«

»Bei Mike ist Kim garantiert nicht«, sagte Liv. »Mike ist oben beim Hubschrauber. Er versucht, die Maschine wieder in Gang zu bringen.«

»Oh, dieser gottgleiche Mike«, lästerte Ed. »Bruchpilot, Frauenschwarm, Mechaniker. Gibt es eigentlich irgendwas, was dieser Typ nicht kann?«

»Hier ist ’n Americano für unseren Morgenmuffel.« Rick schob eine Tasse über den Tresen.

»Wir sollten wirklich nach Kim suchen«, drängte Liv.

Ed nippte am Kaffee. »Wow, der ist ja richtig gut.« Anerkennend nickte er Rick zu. »Der verdammt beste Kaffee, den ich je probiert hab’.«

»Kim ist bestimmt noch in ihrer Kabine«, vermutete Claas.

»Wo hat sie denn geschlafen?«, erkundigte sich Liv.

»Linke Seite, letztes Zimmer«, sagte Claas.

»Könnte jemand ... vielleicht ... bitte ... mitkommen?« Unsicher rieb sich Liv an ihrer Ohrmuschel.

»Traust dich nicht alleine oder was?«, amüsierte sich Ed. »Hast du etwa Angst?«

»Es ist mir lieber, wenn wir zu zweit an ihre Tür klopfen.«

»Ich begleite dich«, bot Rick an.

Claas nickte. »Ich komm’ auch mit. Sicher ist sicher. Wer weiß schon, wer sich hier auf der Bohrinsel noch so rumtreibt.«

»Na, prima.« Ed nahm einen kräftigen Schluck aus der Kaffeetasse. »Dann hab’ ich hier endlich meine Ruhe.«

 

***

 

»Ist das hier Kims Kabine?«, fragte Liv.

»Da ist sie gestern jedenfalls reingegangen«, sagte Claas. »Kim! Alles okay bei dir?«

»Hallo?« Liv klopfte mehrmals hintereinander an die Tür. »Sag nur kurz, dass es dir gut geht. Dann sind wir auch schon weg.«

»Wir machen uns Sorgen!«, fügte Rick mit energischer Stimme hinzu.

Claas schlug mit der Faust gegen die Tür. »Kim! Verdammt! Was ist denn los?«

»Jetzt geht schon rein«, brummte Ed. Die Kaffeetasse in der Hand, schlenderte er auf Joy, Claas und Liv zu, die zusammen vor Kims Kabine standen. »Nehmt doch mal Rücksicht auf meine Kopfschmerzen. Macht irgendwas, Hauptsache, ihr schreit nicht mehr.«

»Gehst du vor?«, fragte Claas an Liv gewandt.

»Warum?«

»Du bist eine … nun ja … Frau … vielleicht ist das besser für Kim?«

Liv zögerte. »Aber wenn da drinnen … du hast eben selbst gesagt … das ist doch … die Besatzung, die ist weg.«

»Das ist ja nicht zum Aushalten. Sind wir denn hier im Kindergarten?« Ed drängte sich nach vorne. »Wenn hier Leatherface mit ’ner Kettensäge rumlaufen würde, hätten wir schon Bekanntschaft mit ihm gemacht. Verdammt.« Ed drückte die Klinke nach unten und stieß die Tür auf. »Wovor fürchtet ihr euch? Es ist nur eine ungeschminkte Frau mit aufgequollenem Gesicht, die mit Mundgeruch im Bett liegt. Nach zwei gescheiterten Ehen weiß ich, wovon ich ...« Ed verstummte von einem Augenblick zum anderen. Vor Schreck ließ er die Kaffeetasse fallen. Der Anblick, der sich ihm bot, erschütterte ihn bis ins Mark.

5

35 Jahre zuvor.

Deutschland, Königssee. Auf einem Ausflugsdampfer ...

 

»Guckt euch doch mal diesen Mongo an!«

»Ja, dieser Spast mit seiner blöden Fresse!«

»Wollen wir ihm eine reinhauen?«

»Oder wir schmeißen ihn gleich ins Wasser!«

»Frau Heldmeier, dürfen wir Eddie Schwimmen beibringen!«

»Schwimmen! Schwimmen!« Die Schüler der fünften Klasse des Baunataler Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums, die eine Fahrt nach Bayern unternahmen, stimmten mit in den Chor ein, den ihre Wortführer vorgaben. Mittlerweile eine Stunde lang dauerte die Rundfahrt im Ausflugsdampfer. Zuerst waren die Schüler noch gefangen gewesen von der atemberaubenden Naturkulisse, die ihnen der Königssee bot. Sie staunten über den üppigen Uferbewuchs, die schroffen Felsen und den urigen Wasserfall. Doch als der Guide begann, über Lautsprecher in schaurigen Anekdoten auszuführen, wie viele Menschen bereits in dem über hundert Meter tiefen Gletschersee umgekommen waren, hatte Armin, der Stärkste in der Klasse, plötzlich Lust verspürt, seine Wut über die Zurückweisung durch die Klassenschönheit am Abend zuvor am Schwächsten im Bunde auszulassen. Wie immer saß Ed neben seiner Klassenlehrerin Frau Heldmeier. Kreidebleich, für sein Alter viel zu klein, mit leidlich gut operierter Lippenspalte und dem Hang zum Stottern, wenn er aufgeregt war. Und das war Ed bei zwanzig Klassenkameraden, die ihn mit wenigen Ausnahmen alle verachteten, fast immer.

»W-w-warum m-m-machen die d-d-das, F-f-frau Heldm-m-m-eier«, stotterte der elfjährige Ed und zog durch die Nähe zur Klassenlehrerin nur noch mehr die Verachtung seiner Mitschüler auf sich. »I-i-ich b-b-bin d-der Schwächste. W-w-w-warum n-n-nur m-m-machen d-die d-das?«

Die Klassenlehrerin, die stark genug war, Ed zu verteidigen, aber zu schwach, die anderen in die Schranken zu weisen, legte ihren Arm auf Eds schmale Schultern. »Du musst da irgendwie durch. Kinder können grausam sein.« Frau Heldmeier sah Ed eindringlich an. »Ich habe einige Schüler wie dich gehabt in den letzten Jahrzehnten. Sehr intelligent, aber schmächtig. Glaub’ mir, deine Zeit wird kommen. Ich verspreche es dir. Menschen wie Armin … er wird nicht immer Macht über dich haben. Irgendwann werden Leute wie er für Leute wie dich arbeiten. Wenn du groß bist, wird sich das Blatt wenden. Glaub’ es mir.«

»Aber w-w-arum t-t-tut er d-d-as?«

»Ich weiß es nicht.« Frau Heldmeier drückte Ed an sich und flüsterte ihm ins Ohr: »Aber du wirst es ihm mit gleicher Münze heimzahlen. Versprich es mir. Leute wie Armin dürfen niemals diese Welt beherrschen.«

»I-ich w-w-weiß n-n-nicht, w-was Sie m-m-meinen.«

Die Lehrerin packte den jungen Ed am Ärmel. »Lass ihn nicht damit durchkommen«, zischte sie ihm ins Ohr. »Du musst es mir versprechen. Hörst du?«

Ein ohrenbetäubender Lärm ließ die beiden aufschrecken. Eine Explosion erschütterte das Schiff. Bestandteile des Rumpfes wurden wie Schrapnelle aufs Wasser geschleudert. Schwarze Rauchschwaden nahmen den Schülern die Sicht. Einige Augenblicke später war das Stampfen von schweren Schuhen zu hören. Alle starrten zur Treppe hinüber. In den Rauchschwaden zeichnete sich eine dunkle Gestalt ab. Ed lief ein kalter Schauer über den Rücken. Der Mann torkelte so zielgerichtet auf ihn zu, als wäre sonst niemand an Bord. Die Unterarme des Mannes waren abgerissen. Verkohlte Hautfetzen baumelten an den Stümpfen herunter. Es war kein Entsetzen, das dem Opfer der Kesselexplosion ins rußgeschwärzte Gesicht geschrieben stand, eher Unglauben, sogar Empörung darüber, was vorgefallen war. Der Todgeweihte präsentierte Ed seine Stümpfe, bevor er zusammenbrach. Wie Magma, die aus einem Vulkan geschleudert wurde, sprudelte das Blut aus den durchtrennten Armarterien und färbte die Planken tiefrot ein.

 

***

 

35 Jahre später.

Auf einer Bohrinsel im Nordatlantik ...

 

»B-b-b-lut«, stotterte Ed. »Ü-ü-ü-b-b-erall B-b-blut.«

»Ed!«, schrie Claas. »Was ist los?«

»Geh aus der Tür, Mensch«, war die Stimme von Rick zu vernehmen.

»Was ist da?«, wollte Joy wissen.

»Perverse Scheiße«, fluchte Rick fassungslos im Angesicht dessen, was er in der Kabine erblicken musste. Das weiße Bettlaken war blutverschmiert. Im Kopfkissen zeichneten sich feine rote Streifen ab, wie von einem langborstigen Pinsel gemalt. Es schienen die Abdrücke blutgetränkter Haare zu sein. Alles deutete auf ein Verbrechen hin, aber im Bett lag niemand.

»Wo ist Kim?«, fragte Claas unsicher.

»B-b-blut ...« Wie erstarrt stand Ed neben dem Bett.

»Ist sie entführt worden?« Joy knabberte nervös auf ihren Fingernägeln.

»Wenn sie überhaupt noch lebt.« Rick hob einen Platinring vom Boden auf. An den eingearbeiteten Diamanten klebten Blutspritzer. Rick konnte sich nicht daran erinnern, ob Kim den Ring getragen hatte. Nur ihre strahlend weißen Handschuhe kamen ihm in den Sinn. Es war ein wertvolles Schmuckstück, das zurückblieb. Wer auch immer der Entführer war, um Geld ging es ihm nicht.

»Wer sollte Kim so etwas antun?«, wunderte sich Liv.

Claas inspizierte die Tür. »Warum nur ... warum nur haben wir nichts gehört? Nach den vielen Spuren auf dem Bett zu urteilen, hat sich Kim heftig gewehrt. Sie muss geschrien haben. Bestimmt war sie verzweifelt.«

»Und wir haben ihr nicht geholfen.« Rick schämte sich dafür, dass er Kim nicht beschützen konnte.

»Warum nur haben wir nichts mitgekriegt?«, murmelte Claas nachdenklich vor sich hin. Er ging in den Flur und zog die Tür von draußen zu.

»Was macht er?«, fragte Liv.

Rick schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.«

Die Tür öffnete sich wieder. »Warum seid ihr nicht gekommen?«

»Was meinst du?«, fragte Joy.

»Ich hab’ nach euch gerufen«, erwiderte Claas.

»Gerufen?«, wunderte sich Liv.

»Geschrien hab’ ich. Mehrmals sogar.«

Joy hob die Augenbrauen. »Wir haben nichts gehört. Ehrlich.«

»Das bestätigt meine Befürchtungen«, sagte Claas. »Die Kabinen sind schallisoliert.«

»Schallisoliert?« Joy wurde es ganz flau im Magen. Sie dachte daran, dass sie selbst das Opfer des nächtlichen Überfalls hätte werden können, ohne dass es die anderen mitbekommen hätten.

»Seht doch!« Liv deutete auf das Telefon, das auf dem Nachtschränkchen stand. Ein rotes Lämpchen neben dem Nummernfeld blinkte.

»Es gibt ’ne Nachricht«, sagte Rick und verzog sein Gesicht bei der Vorstellung, es handelte sich um eine Botschaft von Kims Entführer.

»Hören wir uns an, was auf dem Band ist.« Claas drückte die Wiedergabetaste des Anrufbeantworters. Ein Rauschen war zu vernehmen, dann meldete sich eine tiefe, rauchige Stimme. »Was haben wir nur getan?«, flüsterte der Mann voller Verzweiflung ins Mikrofon. Er hustete. »Wie konnte es dazu kommen? Wie nur? Ich zermartere mir das Hirn. Immer und immer wieder. Für das, was wir getan haben, gibt es einfach keine Rechtfertigung. Wir sind schuldig. Wir alle. Den anderen ist es egal. Sie scheint es überhaupt nicht zu kümmern. Aber ich kann es nicht ertragen. Wie sollte auch ein normaler Mensch damit leben können? Um das zu tun, was wir getan haben, muss man krank sein. Unbeschreiblich krank.« Der Mann atmete schwer. »Dieser Ort ... es ist etwas hier … es ist der … ich muss es beenden.« Ein Klicken war zu hören, als würde eine Waffe durchgeladen werden. »Möge Gott meiner Seele gnädig sein!« Dann brach die Nachricht ab.

Liv, Claas, Joy und Rick sahen sich betreten an.

»Was zum Teufel meint dieser Typ?«, fragte Rick ungläubig.

Liv wischte sich eine Schweißperle von der Stirn. Ihr Lidschatten war zerlaufen. »Wir müssen Mike Bescheid geben.«

»Ja, ...« Joy nickte in sich gekehrt. »... vielleicht hat der Pilot auch ’ne Waffe.«

Entschlossen ballte Rick seine Hände zu Fäusten. »Wir werden es diesen Schweinen schon zeigen, die Kim das angetan haben.«

»Ich muss zu Mike. Sofort!« Liv rannte aus der Kabine.

»Warte!«, rief Claas ihr hinterher. »Wir sollten zusammenbleiben!« Er folgte Liv auf den Flur, blieb dann aber plötzlich stehen. Etwas erregte seine Aufmerksamkeit. Claas begutachtete den Boden. Er kniete sich hin und strich mit der Handfläche über den Teppich.

»Was hast du?«, fragte Joy.

Claas zeichnete mit dem Finger eine Spur entlang des Teppichs nach. »Seht ihr das?«

»Was meinst du?«, wunderte sich Rick. Er musterte das gitterförmige Ornamentmuster, das den Teppich schmückte, ohne dass ihm etwas auffiel.

»Das ist ’ne Schleifspur«, sagte Claas und blickte auf. »Die Spur führt geradewegs zum Treppenhaus.«

Rick runzelte die Stirn. »Wo soll da ’ne Spur sein? Ich kann nichts erkennen.«

Claas stand auf, ging zur Treppenhaustür und drückte die Klinke nach unten.

Joy stockte der Atem. »Sollten ... sollten wir nicht auf Liv und Mike warten? Du weißt nicht, was uns erwartet!«

»Wir dürfen keine Zeit verlieren«, widersprach Claas entschlossen und öffnete die Tür. »Wenn Kim noch leben sollte, zählt jede Sekunde.«

 

***

 

Ed war allein in Kims Kabine zurückgeblieben. Noch immer stand er mit ausdruckslosen Augen regungslos vor dem Bett. Das blutverschmierte Laken hatte ein längst vergessen geglaubtes Trauma aus seiner Vergangenheit lebendig werden lassen. Ed hatte seit Jahren nicht mehr an diesen einen verhängnisvollen Tag gedacht. Tief verschüttet im hintersten Winkel seines Gedächtnisses war das schicksalhafte Ereignis aber noch da gewesen. Wie ein dunkler Schatten hatte es über seinem bisherigen Leben gelegen, um ihn jetzt, 35 Jahre später, einzuholen. Ed war gedanklich längst nicht mehr auf der Bohrinsel. Er war kein reifer Mann von Mitte vierzig mit Bauchansatz, dem über die Lippenspalte ein Bart gewachsen war und der als erfolgreicher Programmierer im Dienst von GC Digital stand. Ed war klein. Viel zu klein für sein Alter. Ed war ein schmächtiger Junge von elf Jahren, dem das kalte Wasser des Königssees bis zu den Knöcheln stand. Der Ausflugsdampfer hatte sich nach der Explosion des Dampfkessels bedrohlich zur Seite geneigt. Jederzeit konnte das Schiff kentern. Die Mitschüler schrien in Panik. Ed aber vernahm nur die eine, ihm so vertraute Stimme. »Nimm das hier«, sagte seine Klassenlehrerin Frau Heldmeier. Dann trat jemand von hinten an Ed heran und zog ihm eine Schwimmweste über den Kopf. Wie sehr hatte Ed Frau Heldmeier vermisst. So viel wollte er ihr noch sagen. Endlich hatte Ed die Möglichkeit, sich dankbar zu zeigen für all das, was sie für ihn getan hatte. Ed strömte ein fauliger Atem ins Gesicht. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, als er sich umdrehte. Es war nicht die geliebte Klassenlehrerin, der Ed in die Augen blickte, es war der unbarmherzige Teufel, der ihm die Schulzeit zur Hölle gemacht hatte. »Du weißt, warum ich gekommen bin«, giftete Armin mit hasserfüllter Stimme. Seine Haut war aufgequollen wie die einer Wasserleiche, die Augen eingefallen, die Lippen wurmzerfressen. An seiner zerfetzten Kleidung hingen Algen herunter. Der Verwesungsgeruch war unerträglich. »Du weißt, warum ich hier bin, du kleine Ratte. Und diesmal gibt es für dich kein Entrinnen.«

Nach all den Jahrzehnten war Armin zurückgekehrt, und Ed wusste nur zu gut, warum er gekommen war.

6

Auf der Bohrinsel, im Treppenhaus des Wohnblocks ...

 

Claas betrachtete die Mauer vor sich. Die Backsteine waren ungleichmäßig aufgeschichtet, der Mörtel quoll an vielen Stellen hervor. Es schien so, als wäre die Mauer in aller Eile im Treppenhaus errichtet worden. Wie ein Fremdkörper wirkten die roten Steine inmitten der genieteten Stahlbleche der Treppenhausverkleidung. Die Zahl »107« war als Graffiti an die Wand gesprüht. War es als Warnung gemeint? Die Treppe war blockiert. Der Entführer von Kim musste einen anderen Weg nach unten gewählt haben. Nur welchen? Claas hörte ein diffuses Rauschen, das durch die Wand drang, und musste an eine Wasserleitung denken. Doch da war noch etwas anderes. Claas presste sein Ohr gegen die Backsteine und lauschte angestrengt. Das Geräusch stammte zweifelsfrei von einem Menschen. Er hielt den Atem an. Es hörte sich an wie das Schluchzen einer Frau. Blechern im Klang, als ob der Schall über eine Rohrleitung kam. Konnte das Kim sein? Ein polterndes Geräusch ließ Claas aufschrecken. Jemand folgte ihm die Treppe nach unten. Sekunden später streifte ein Windhauch seinen Nacken. Claas spürte die Gefahr. Blitzartig drehte er sich um. Mike stand vor ihm. Groß und übermächtig, das Gesicht zur wütenden Fratze verzerrt. Claas gelang es noch, die Arme schützend hochzureißen, zu mehr blieb keine Zeit. Mit mörderischem Schwung holte Mike mit einer Spitzhacke zum Schlag aus.

 

***

 

Zwei Monate zuvor.

Tijuana, Mexiko ...

 

Claas ließ das Mobiltelefon in seiner Jackentasche läuten. Es war die Musik von NoFX, die er als Klingelton gewählt hatte, und es gab keinen Grund, den Punk-Sänger zu unterbrechen. Sollte er seine Wut herausschreien. Nachdenklich betrachtete Claas den massiven Zaun, der die Grenze zwischen den USA und Mexiko markierte. Auf der anderen Seite lag San Ysidro. Exakt getrimmter Rasen, mit SUVs gefüllte Parkplätze und Outletstores, in denen gelangweilte Touristen ihr drittes oder viertes Paar Turnschuhe kauften. Jenseits der Grenze wurde der US-amerikanische Traum gelebt, schier unerreichbar für diejenigen, die das Schicksal hierher befördert hatte: auf die falsche Seite des Zauns. Eine riesige mexikanische Flagge warf ihren Schatten auf einen trockenen Abwasserkanal. In die flach abfallenden Seitenwände hatten Menschen Wohnlöcher gegraben. Wenn über die Brücke Touristen aus den USA kamen, streckten die Bettler solange ihre Hände aus, bis ein paar Cents auf sie herabregneten. Die Szenerie war bizarr, und Claas musste unweigerlich an die Fütterung von Zootieren denken. In den Straßen direkt hinter der Grenze gab es auf mexikanischer Seite dutzende kleine Shops, die sich als Apotheken ausgaben. Angepriesen von herben Schönheiten in aufreizenden Schwesternuniformen, wurden in verspiegelten Regalen Viagra-Produkte präsentiert. Wie konnte Claas hieraus eine Story entwickeln, die sich verkaufte? Es war eine Geschichte um Armut und Reichtum, wie es sie tausendfach auf der Welt gab. Hier ging es nicht um die Hautfarbe oder die Ethnie – die strengen US-Zöllner, die Claas ausreisen ließen, waren selbst Kinder mexikanischer Einwanderer. Hier ging es schlicht und ergreifend um privilegiert und abgehängt. Es war schwer, die Schuld zuzuordnen. Zumindest, wenn man bei der Wahrheit blieb. Früher, in den goldenen Zeiten des Gonzo-Journalismus, hatte Claas die Rollen von Gut und Böse eigenmächtig verteilt, Interviews gestellt und Personen frei erfunden. Die Leser hatten seine vermeintlichen Recherchen geliebt, die doch nur ein Produkt seiner Fantasie waren. Realität 2.0, emotional ansprechend aufbereitet für die Leserschaft. Claas zog das Mobiltelefon aus der Jackentasche, sah kurz auf das Display und nahm eher widerwillig den Anruf an. »Was willst du von mir?«

»Wo bist du?«, fragte die vertraute Stimme am anderen Ende der Leitung. Es war sein ehemaliger Chefredakteur aus Hamburg.

»Tijuana«, knurrte Claas ungehalten.

»Was machst du da?«

»Was kümmert’s dich?«

»Hör mal, die Sache tut mir aufrichtig leid. Wirklich. Ich hätte dich viel eher anrufen sollen.«

»Du hast mich verraten, Arschloch.«

»Was sollte ich tun?«

»Ich hab’ nur das geliefert, was du wolltest. Und du hast mich in den Dreck gezogen.«

»Das kannst du so nicht sagen.«

»Ach ja?«

»Ich weiß, es ist nicht fair, aber so sind unsere Leser nun mal. Die lieben eben diese Storys. Stereotype Geschichten vom alten weißen Mann, der irgendwelche fuckin’ Minderheiten unterdrückt. Was soll ich machen? Klar wollte ich genau so Storys haben. Aber das heißt ja nicht, dass du alles erfinden solltest. Zu fälschen, das hab’ ich nie von dir verlangt.«

»Ich leg’ jetzt auf.«

»Nein, warte.«

»Was willst du?«

»Warum bist du in Tijuana?«

»Urlaub.«

»Blödsinn. Ich kenn’ dich.«

»Ich bin an ’ner Story dran.«

»Für wen arbeitest du?«

»Auf eigene Faust.«

»Hast du noch Geld?«

Claas stöhnte auf. »Hör mal, weshalb rufst du an?«

»Ich weiß, dass es damals … das ist … es war nicht richtig. Aber was hätten wir denn tun sollen?«

»Ihr habt mich wie ’ne heiße Kartoffel fallen lassen. Ich war euer Sündenbock.«

»Claas, was erwartest du? Diese Sache hätte die Zeitung zerstört.«

»Und stattdessen hat’s nur mich erwischt, hä?«

»Wir stehen ja auch in deiner … mhm, na ja … Schuld. Irgendwie jedenfalls. Du hast ’n großes Opfer gebracht.«

»Was willst du, verdammt?«

»Ich hab’ was für dich. Eine fantastische Story, mit der du dich rehabilitieren kannst.«

»Ich mich oder ihr euch?«

»Und wenn’s für beide Seiten was bringt? Wär’ das so schlimm?«

»Ich hab’ euch nur das geliefert, was ihr haben wolltet. Und ihr habt mich einfach so fallenlassen.«

»Claas, das bringt doch alles nichts. Lassen wir das endlich hinter uns. Wir müssen nach vorne blicken. Und vor uns liegt die Story des Jahrhunderts.«

»Warum setzt ihr nicht ’nen Volontär dran, der sich noch beweisen will? Den müsst ihr nicht mal was bezahlen.«

»Das geht nicht. Wir brauchen dich.«

»Pech für euch.«

»Du musst es machen. Das schuldest du uns.«

»Ich schulde es euch?« Claas lachte höhnisch auf. »Willst du mich verarschen oder was?«

»Es geht um GC.«

»Interessiert mich nicht.«

»Hör mal, das ist deine Möglichkeit, mit einer sauber recherchierten Geschichte wieder an die Öffentlichkeit zu kommen. Fame, Claas. You’ll be back! Die Preisverleihungen, das mochtest du doch so sehr. Und für die Story kriegst du mehr als nur einen Preis. Glaub mir, irgendetwas Großes geht da bei Global Companion vor sich. Der Aufwand, den die betreiben, das Projekt im Geheimen durchzuziehen, ist enorm.«

»Ja und?«

»Die bauen da etwas. Eine Anlage. Mitten im Nordatlantik. Was es werden wird, weiß keiner. Alles ist streng geheim. Claas, wir brauchen da einen Mann vor Ort.«

»Was erwartest du von mir? Dass ich dahin schwimme?«

»Das ist ja der springende Punkt.«

»Was meinst du?«

»Weißt du, was die GC-Lotterie ist?«

»Grob.«

»Einmal im Jahr können Mitarbeiter von GC ’nen Ausflug auf diese gigantische Yacht Love 1 gewinnen. Und jetzt stell dir vor, einer der Gewinner ist an uns herangetreten. Er will, dass die Leute die Wahrheit über GC erfahren. Der Typ hat uns sein Ticket verkauft.«

»Bist du bescheuert? Du hast das Geld umsonst rausgehauen. Soviel ich weiß, ist der Gewinn nicht übertragbar.«

»In diesem Fall aber schon. In gewisser Weise zumindest.«

»In gewisser Weise? Was meinst du damit?«

»Sagen wir es so: Da kommst du ins Spiel. Claas, verdammt nochmal, du siehst genauso aus wie der Gewinner der Lotterie.«

»Schwachsinn.«

»Doch, glaub mir. Die Ähnlichkeit ist wirklich verblüffend. Ich dachte zuerst: Was macht der Claas denn jetzt bei GC? Kannst du dir vorstellen? Der Typ hat sogar den gleichen Vornamen wie du. Es ist wie ein Geschenk des Himmels.«

»Du bist so ’n verlogenes Arschloch. Du hättest jederzeit anrufen können. Aber erst jetzt, wo du mich brauchst, kommst du angekrochen.«

»Du kannst mich hassen. Kein Problem. Auch beleidigen. Vielleicht hab’ ich das verdient. Vergiss aber nicht, du machst den Job für dich, nicht für mich.«

»Die Zeiten, in denen ich mich von dir missbrauchen lasse, sind vorbei.«

»Claas, du kannst dich damit voll rehabilitieren. Du kannst zeigen, dass du ’n echter Investigativ-Journalist bist. Du übernimmst die Identität des Gewinners und gehst für ihn auf die Yacht.«

»Denkt ihr die Sachen auch mal zu Ende? Selbst wenn wir GC täuschen können, der Urlaub ist auf der Yacht, nicht auf deiner ominösen Top-Secret-Anlage.«

»Das ist ja der Clou. Die Yacht schippert im Nordatlantik, vor der Küste Schottlands. Sag selbst, kann es Zufall sein, dass die Yacht genau dort ihre Kreise zieht, wo GC gerade Unmengen an Material hinschafft? Die Dinge hängen zusammen, glaub’ mir. Du musst dahin. Hörst du?«

»100.000 Euro.«

»Was? Hast du sie nicht mehr alle?«

»Du kannst es dir überlegen.«

»Das ist doch lächerlich, Claas. Über ein angemessenes Honorar können wir gerne reden, aber 100.000 Euro? Spinnst du jetzt?«

»Das ist mein Preis. Und der ist nicht verhandelbar.«

»Bist du denn nicht neugierig, was GC da vorhat, so weit draußen auf dem Meer?«

»Ich denke, ihr habt meine Kontonummer noch. Wenn das Geld eingegangen ist, bin ich dabei. Wenn nicht, dann adios

»Hör mal, weißt du, mit welchem Decknamen GC das Geheimprojekt bedacht hat? Claas, weißt du, wie die es nennen? Das ist einfach ungeheuerlich, wenn ich dran denke, was dahinter stecken könnte. Solch ein Name! Wir brauchen dich unbedingt vor Ort.«

»Ja und?«

»Bist du dabei?«

»Jetzt sag’ erst mal, wie GC das Projekt nennt. Dann wird sich zeigen, ob ich interessiert bin.«

»Sarkophag! Verdammt nochmal, Claas, die nennen es Projekt Sarkophag!«

 

***

 

Auf der Bohrinsel, im Treppenhaus des Wohnblocks ...

 

Die Hände schützend über dem Kopf gefaltet, kauerte Claas am Boden, während Steinbröckchen auf seine rotgelockten Haare rieselten. Mit voller Wucht trieb Mike die Spitzhacke in die Mauer. »Hey!«, schrie Claas. »Spinnst du?« Nach einer ersten Schrecksekunde kroch er von der Mauer weg, stand auf und klopfte sich den Staub von der Kleidung. »Hättest du mich nicht warnen können? Ich hab’ echt gedacht, das war’s jetzt für mich.«

Mike kümmerte sich nicht um Claas. Wie von Sinnen schlug er eine Kerbe nach der anderen in die Mauer.

»Was ist hier los?«, fragte Rick, als er, begleitet von Joy und Liv, die Treppe herunterkam.

»Moment!« Mike zog einen Stein heraus, der sich unter der Wucht der Schläge gelöst hatte, und benutzte die Spitzhacke als Hebel, um das Loch zu vergrößern. Weitere Backsteine fielen zu Boden. Als er erneut zuschlug, hallte ein metallisches Geräusch durch das Treppenhaus. »Zum Teufel...?« Mike senkte die Spitzhacke.

»Was ist das?«, fragte Joy irritiert. Nervös fuhr sie sich über ihre spröden Lippen.

Mike tastete über den dunklen Schild, der hinter der Backsteinwand lag. »Da ist noch ’ne Wand. Und die ist metallisch. Aus Blei, wenn ich mich nicht irre. Fuck! Keine Chance, mit der Hacke durchzukommen.«

»Warum baut jemand eine doppelte Wand ins Treppenhaus?«, fragte Liv. »Und warum sollte man Blei verwenden?«

Joy fuhr es eiskalt den Rücken herunter. Wer außer ihnen trieb sich noch auf der Bohrinsel herum?

»Wir müssen hier weg«, murmelte Liv vor sich hin.

Mike schüttelte den Kopf. »Nicht ohne Kim.«

»Hast du Pistolen dabei?«, fragte Rick.

»Pistolen? Bist du bescheuert?« Mike wischte sich eine Schweißperle von der Schläfe. »Ich hab’ keine Waffen. Die Spitzhacke lag oben auf der Landeplattform.«

»Im Hubschrauber muss es doch …?«

»Was denkst du? Das ist fuckin’ nochmal keine Militärmaschine. Im Sea Stallion gibt es nur ’ne Signalpistole.«

»Wir sind alle in Gefahr!«, sagte Joy mit aufgerissenen Augen.

»Es muss einen anderen Weg nach unten geben«, erwiderte Rick. »Finden wir den Weg, finden wir Kim.«

»Sagt mal ...« Joy sah sich fragend um. »Wo ist eigentlich Claas hin?«

»Eben stand er doch noch da.« Rick richtete seinen Blick auf die Treppe. »Claas!«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739478753
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (August)
Schlagworte
Psychothriller Horror Dystopie Spannung Suspense Utopie Science Fiction

Autoren

  • Karsten Krepinsky (Autor:in)

  • Ingo Krepinsky (Illustrationen)

Dr. Karsten Krepinsky lebt in Berlin und arbeitet dort als Biologe in einem Start-Up-Unternehmen im Bereich Neurowissenschaften. Leidenschaftlich gern schreibt er als freier Autor. Aus der Vielfalt und den Gegensätzen in der Hauptstadt holt er sich die Ideen für seine Thriller, in die er Motive aus den Genres Science-Fiction, Mystery und Horror einfließen lässt.
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Titel: Blutroter Schleier