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Spreeblut

Thriller

von Karsten Krepinsky (Autor:in) Ingo Krepinsky (Illustrationen)
203 Seiten

Zusammenfassung

»Ich bin 163 Jahre alt. Zumindest ist das die Anzahl der Morde, an die ich mich erinnere. Für jedes Jahr ein Menschenleben.« An den Ufern der Spree macht ein heimtückischer Serienmörder Jagd auf Frauen. Die Entführungen werden nicht beobachtet, die Leichen seiner Opfer nie gefunden. Als die Enddreißigerin Ana am Alexanderplatz auf eine der Vermisstenanzeigen stößt, die überall in der Stadt zu finden sind, wird sie von einem geheimnisvollen Mann angesprochen. Jan scheint mehr über das Mysterium der verschwundenen Frauen zu wissen, als er zugeben will … Da ist etwas … und es lässt sich ungern stören! »Ein Thriller der anderen Art. Meine Überlegungen und Ideen fuhren Achterbahn.« nellsche auf Lovelybooks »Spannender Mystery-Thriller, der auf ganzer Linie überzeugt.« Annie »Nichts für schwache Nerven … die Geschichte entwickelte einen solchen Sog, dem ich mich kaum entziehen konnte.« Langew. »… eine ganz außergewöhnliche Mischung aus Thriller und Mystery.« hopeandlive auf Lovelybooks »Man sieht sich schon beim ersten Kapitel um, obwohl man am helllichten Tag im Garten liest!« Sylvie »… ein intensiver Thriller … mit dem Touch des Besonderen ...« Mike76 »Durch die atemberaubende und packende Erzählweise des Autors wurde ich förmlich in die Geschichte hineingezogen …« Vampir989 »Ich habe selten ein so spannendes und gruseliges Buch gelesen.« rewareni auf Lovelybooks »Man fühlt, fiebert und leidet mit den Protagonisten.« Stups »Du wirst die Welt danach mit anderen Augen sehen.« voeglein auf Lovelybooks »Spannend, überraschend und schaurig.« kabalida »Gruselig, schaurig und einfühlsam geschrieben.« Amazon-Kunde »Perfekte Grusel-Lektüre.« Bookstar »Mit einem packenden Schreibstil und einigen überraschenden Wendungen treibt der Autor seine Geschichte mit hohem Tempo und ohne große Schnörkel voran und steuert zielsicher auf die überzeugende Auflösung zu.« ech »… eine wilde Jagd durch Berlin und dessen dunkle Ecken …« Bettina H. »Spannend von der ersten bis zur letzten Seite.« Gartenfee007 auf Lovelybooks »Nichts ist vorhersehbar. Und in dem Stil, in dem der Autor Karsten Krepinsky schreibt, hält beim Lesen ganz langsam – immer mehr und mehr – das Geheimnisvolle und das Grauen den Einzug in den Köpfen der Leser.« Wagner »Ein Thriller wie ein Horrorfilm.« classique auf Lovelybooks (Lesermeinungen)

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Zum Buch

 

An den Ufern der Spree macht ein heimtückischer Serienmörder Jagd auf Frauen. Die Entführungen werden nicht beobachtet, die Leichen seiner Opfer nie gefunden.

Als die Enddreißigerin Ana am Alexanderplatz auf eine der Vermisstenanzeigen stößt, die überall in der Stadt zu finden sind, wird sie von einem geheimnisvollen Mann angesprochen. Jan scheint mehr über das Mysterium der verschwundenen Frauen zu wissen, als er zugeben will …

 

Ein Mystery-Thriller


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

KARSTEN KREPINSKY

Spreeblut

 

(c) 2017 Dr. Karsten Krepinsky

Originalausgabe, Juli 2017

Alle Rechte vorbehalten

Nachdruck und Vervielfältigung aller Art (auch in Auszügen) nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors

Umschlaggestaltung: Die Typonauten

Veröffentlicht von Dr. Karsten Krepinsky, Berlin

 

www.nichtdiewelt.de



 

 

 

 

 

 

 

Für Isolde, Jonas und Luisa


 

 

 

 

 

 

 

»… dieses Streben – ist es nicht von wahrer Größe? Und immer, immer sucht sich das Leben seinen Weg.«

Eingeritzt auf einer Bank in der Nähe der Zitadelle Spandau

Prolog

 

Ich bin 163 Jahre alt. Zumindest ist das die Anzahl der Morde, an die ich mich erinnere. Für jedes Jahr ein Menschenleben. Ich habe keine Mutter und keinen Vater, die mir erzählen können, wann ich geboren wurde; keine Großeltern, die mir sagen, woher ich komme. Kein Familienporzellan, das ich weitergeben kann. Kein einziges Erbstück. Nichts. Ich definiere mich einzig und allein über die wundervollen Menschen, deren Leben ich geraubt habe.

Meine ersten Erinnerungen gehen zurück auf den Frühling 1836. Die Strahlen der Sonne ließen die Maiglöckchen erwachen, erhellten das zarte Grün der Wiesen. Die Knospen sprossen, und auch ich erwachte aus meinem Schlaf. Entlang eines unbedeutendes Feldweges, irgendwo in Böhmen. Damals, zu einer anderen Zeit, als Napoleon aus den Deutschen Landen geworfen und die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn den Südosten Europas beherrschte. Es war ein Wanderer, der mein Erwachen einläutete. Ein Habenichts. Beileibe kein vornehmer Herr mit Zylinder. Einen Rucksack hatte er sich umgeschnallt, die Hose war von Flecken übersät. Unbekümmert schien er zu sein und voller Tatendrang. In diesem unbändigen Verlangen, das Leben als ein Versprechen wahrzunehmen. Gierig, jede Sekunde seines Daseins aufzusaugen. Ich kenne nicht den Namen dieses jungen Mannes, der in meine Fänge geriet. Vielleicht war es ein Vagabund auf Wanderschaft. Er war athletisch und jung. Eigenschaften, die mir nützlich waren und immer noch sind. Denn trotz meines biblischen Alters erfreue ich mich bester Gesundheit. Abgesehen von ein paar Dutzend Virusinfektionen und einem äußerst lästigen Pilzbefall in meiner Jugend war ich niemals krank. In meinen Vierzigern und Fünfzigern hatte ich die eine oder andere Schwächeperiode zu überwinden, wenn ich mich recht erinnere, aber spätestens seit den Achtzigern scheint mein Körper eine vollkommene Resistenz gegenüber den Keimen, Viren und sonstigen Parasiten entwickelt zu haben. Ein mit der Zeit optimiertes Abwehrsystem, das mit den Gefahren, die das Leben mit sich bringt, umzugehen vermag.

 

Die Frühlinge kommen und gehen, Jahrzehnte schmelzen zu Augenblicken zusammen. Rastlos bin ich auf der Suche danach, mich zu perfektionieren. Wir schreiben das Jahr 1999 und wieder steht ein Umzug an. Nach Berlin, in diese wunderbare, pulsierende Stadt, in der ich zuletzt in den Dreißiger Jahren lebte. Wie ein Teenager, der in sich die Zeit der Veränderung spürt, fühle auch ich, dass das Ende des Jahrtausends einen Wandel einläutet. Ich bin so voller Tatendrang, da es zu meinem Leidwesen immer noch Dinge gibt, die mir nach all den Jahren der Entwicklung fremd geblieben sind. Eigenschaften, die ich noch in mir aufnehmen muss. So bin ich nicht dazu in der Lage, die großartigste aller menschlichen Emotionen zu spüren: die Liebe. Welche Männer wie Frauen zumindest für eine kurze Zeit so glücklich werden lässt. Auf dass sie erstrahlen und alles um sich herum vergessen. Wohl ist mir bewusst, wann es angebracht ist zu lachen oder zu weinen, doch tief in meinem Inneren verstehe ich auch diese Gefühlsregungen nicht. Ich kann lediglich versuchen, sie nachzuspielen. Vortäuschen, auch wenn ich innerlich kalt bleibe. Mein Verlangen, nach über einhundertsechzig Jahren Liebe zu empfinden, mit dem Kosmos vereint zu sein, wie ich es einmal gelesen habe, ist unendlich groß. Die Liebe ist der Schlüssel zu allen anderen Gefühlen das steht zweifelsfrei fest. Und ich werde dieses zuckersüße Geschenk von denen rauben, die dieses Gefühl im Überfluss in sich tragen: den Frauen. Nachdem ich die Kraft und die Stärke von den Männern gestohlen habe, werde ich die Liebe aus ihnen herauslösen. Frauen werden im neuen Jahrtausend meine Opfer sein.

1

 

Berlin, 22. März 2014, U-Bahnebene am Alexanderplatz, 0:40 Uhr.

 

Nervös drehte sich die junge Frau um, als sie mit der Rolltreppe zum Bahnsteig der U-Bahnlinie U5 hinabfuhr. Zu ihrer Erleichterung war aber niemand hinter ihr. Nur Sekunden später gelangte sie in die großzügig angelegte unterirdische Wartehalle, die von Jugendstillampen an der Decke hell erleuchtet wurde. Glänzende grüne Kacheln an den Wänden, war der Haltebereich der U-Bahn sauber und aufgeräumt. Zu ihrem Leidwesen ließ sich jedoch das Sicherheitspersonal der Berliner Verkehrsbetriebe nicht blicken. Auch der Kiosk auf dem Bahnsteig hatte zu dieser späten Stunde längst zugemacht. U-Bahnhöfe waren in der Nacht kein Ort für eine Frau Ende zwanzig, die alleine unterwegs war. Dessen war sich Claudia Junghans bewusst. Sie ertastete mit den Fingern die kalte Dose des Pfeffersprays, das sie immer in ihrer Handtasche griffbereit bei sich trug. Nur keine Angst zeigen. Claudia tröstete sich damit, dass es nicht die U8 war, die sie nach Hause bringen würde. Hauptsache nicht nach Kreuzberg fahren, dachte sie. Nicht um diese Zeit. Von den Gruppen von jungen Männern, die am Bahnsteig herumlungerten, mit verächtlichen Blicken bedacht zu werden, um ab und an ein zischendes Bitch an den Kopf geworfen zu bekommen. Wenn man Glück hatte, und es bei derartigen Beleidigungen blieb, erschauderte sie. Letzte Woche war es zu einer Gruppenvergewaltigung direkt am Hermannplatz gekommen. Die Männer hatten die Frau am Ausgang des U-Bahnhofs überwältigt und in einen Hinterhof geschleppt. Niemand war ihr zu Hilfe geeilt, als die Täter fast eine Stunde lang immer wieder über sie herfielen. Claudia lief ein kalter Schauer über den Rücken. Sie passierte schnellen Schrittes den Engpass, an dem die Treppe auf den Bahnsteig der U-Bahnlinie 5 führte. Normalerweise musste sie nicht am Alexanderplatz umsteigen, diesem von ihr so verhassten Verkehrsknotenpunkt, doch die oberirdische Stadtbahn war wegen einer Baustelle am Ostbahnhof unterbrochen. Da sie am Treptower Park wohnte, blieb ihr nichts anderes übrig, als mit der U5 bis zur Frankfurter Allee zu fahren, bevor sie dort in die Ringbahn umstieg. Vielleicht hätte sie das Angebot ihres Freundes nicht ausschlagen sollen, der sie von der Orchesterprobe mit dem Auto abholen wollte. Aber nach dem Streit von gestern hatte sie einfach keine Lust darauf, ihn zu sehen. Claudia bereute es wieder einmal, selbst keinen Führerschein zu besitzen, schnaufte tief durch und zog die Gurte des Geigenkastens enger, den sie auf dem Rücken trug. Ende zwanzig war kein Zeitpunkt, sich endgültig zu binden. Ihre biologische Uhr tickte nicht. Noch nicht. So genoss sie es unendlich, unabhängig zu sein und sich mit ihrer Mitbewohnerin eine eigene Wohnung zu teilen. Jenni konnte sie aber jetzt auch nicht anrufen. Die war zu einer Theatertour quer durch Deutschland aufgebrochen. Claudia war auf sich allein gestellt. Wie so oft in ihrem Leben. Sie musterte neidisch ein Pärchen, das, ineinander verschlungen, vor einer der grün gestrichenen Metallsäulen stand. Die beiden waren frisch verliebt, wie ihre heftigen Liebesbekundungen bezeugten. Beäugt wurden sie nicht nur von ihr, sondern auch von mehreren jungen Männern. Die begafften die beiden Turtelnden geradezu. Halbleere Sternburger Pils in den Händen, wie es in Berlin im öffentlichen Nahverkehr geduldet wurde. Vielleicht einer der wenigen Orte weltweit, wo man zu vorgerückter Stunde eher auffiel, wenn man keine Bierflasche dabei hatte. Berlin war anders. Anarchistischer als der Rest der Republik. Verbote wurden hier umgangen. Dafür liebte Claudia diese Stadt. Es war einer der Gründe, warum sie vor vier Jahren aus der verschlafenen hessischen Provinz umgezogen war. Nur um diese Uhrzeit konnte sie dem Moloch Berlin nichts mehr abgewinnen. Nicht ohne männliche Begleitung. Claudia betrachtete mitleidig einen Betrunkenen, der ungelenk in einen Döner biss. Der Rotkohl und das Dönerfleisch rieselten zu Boden, und fast verlor er das Gleichgewicht. Besoffene pöbelten häufig, stellten aber meist keine Gefahr dar, stufte sie blitzschnell die Lage ein. Üblicherweise überschätzten sich Männer, besonders dann, wenn sie tranken. Irgendetwas hielt sie aber meistens zurück, Frauen zu begrapschen. Zumindest in dieser nüchternen Umgebung mit dem grellen Licht. Vielleicht wussten diese benebelten Testosteronbomben dann instinktiv, welch kläglichen Anblick sie boten. Claudia stellte sich in die Mitte des Bahnsteigs und zog ein Buch aus der Umhängetasche. »Sakrileg« von Dan Brown. Seit sie eines Tages in der S-Bahn von einem Studenten bei ihrer Lektüre von »Siddhartha« von Hermann Hesse – also jenen Autor, den sie über alle Maßen schätzte – in ein Gespräch verwickelt wurde, war sie auf eher unverfängliche Bestsellerliteratur umgestiegen. Ohnehin las sie den Roman nicht, auch wenn die Seiten zerfleddert waren und den Eindruck erwecken mochten, dass das Taschenbuch bereits durch viele Hände gegangen war. Nur keinen Augenkontakt mit Männern um diese Zeit riskieren. Darum ging es. Während sie vorgab, sich für die Aufdeckung einer vatikanischen Verschwörung zu interessieren, musterte sie aus den Augenwinkeln weiterhin aufmerksam ihr Umfeld. Die eng anliegende schwarze Hose aus Kunstleder, die ihre Figur über Gebühr betonte, verbarg sie geschickt unter einem langen Mantel. Weit und tief war der, wie er von Magersüchtigen getragen wurde, um ihre skelettartige Figur zu verbergen oder das in ihren Augen abscheulich korpulente Wesen. Derartige Probleme mit dem eigenen Körper kannte Claudia nicht. Sie war mit sich selbst im Reinen. Hatte sich mit den ersten Falten abgefunden, dass alles nicht mehr so straff saß wie früher und die Tränensäcken immer ausgeprägter wurden, mit denen sie schon als Teenagerin zu kämpfen hatte. Das Rauchen forderte nun einmal seinen Tribut. Mit ein bisschen Schminke ließ sich das mit Leichtigkeit kaschieren. Und wenn sie dreißig wurde? Wie sah es dann aus? Was kümmerte sie das jetzt? Sechs Monate waren eine lange Zeit. Da konnte so viel passieren. Wichtiger war im Augenblick ohnehin, dass sie es sicher bis nach Hause schaffte. Um diese Zeit. Weit nach Geschäftsschluss, wenn die Shopper längst nach Hause geeilt waren. Sich die hübschen Asiatinnen mit ihren funkelnden, aufwendig verzierten Smartphones und die unbekümmerten Bubble-Tea-Trinker in die eigenen vier Wände zurückgezogen hatten, die stolzen »Zara«-Taschen-Träger wussten, was sie tags darauf umtauschen würden und die Kaufsüchtigen mit ihren »Primark«-Tüten aus Pappe ihrer Einwegkleidung wieder überdrüssig waren. Warum war es nur dermaßen spät geworden? Diese verdammte Party, ärgerte sich Claudia. Sie hatte mit Dirk geflirtet, der die erste Geige spielte. Dirk, dem Flachleger mit seinem schlechten Eau de Toilette und dem noch schlechteren Atem. Claudia hatte es zunächst genossen, doch als Dirk sie küssen wollte, hatte sie ihm eine runtergehauen. Sie war eine Frau, die sich zu wehren wusste, wenn Männer allzu aufdringlich wurden. Nicht so wie die beiden Teenagerinnen, die auf der Wartebank saßen, laut kichernd die Köpfe über ein Smartphone zusammensteckten und nicht merkten, dass sie längst von einer Gruppe junger Halbstarker gemustert wurden. Dumme, gackernde Hühner, dachte Claudia, als die U-Bahn in den Bahnhof einfuhr.

Zwei bis drei Minuten stand die Bahn in der Endhaltestelle Alexanderplatz, bevor der Zugführer die Fahrt fortsetzte. Die Wagen waren neu, durchgängig von vorne bis hinten und daher gut einsehbar. Leider fuhren immer noch unterteilte Wagen der älteren Baureihe auf der Linie. Dann musste Claudia immer darauf achten, dass sie nicht alleine in einen Wagen einstieg. Auf dass sich an einer Haltestelle ein oder zwei Männer dazugesellten und man ihnen ausgesetzt war, bis der Zug wieder hielt. Sowohl auf den Bahnhöfen als auch in den Zügen gab es zwar neuerdings Videoüberwachung, aber eine Vergewaltigung verhindern konnte man dadurch auch nicht. Es erleichterte nur die Aufklärung eines Verbrechens. Claudia stieg in die U-Bahn ein, setzte sich in die Mitte einer Sitzbank, klappte das Buch auf und senkte den Kopf. Sie hielt es mit der rechten Hand, einen Ehering gut sichtbar präsentierend. Das vermeintliche Zeichen der ewigen Bindung an einen Mann trug sie häufig, um Verehrer abzuhalten. Zumindest einige schreckte das ab. Andere ließen sich auch davon nicht beirren, ihr Balzverhalten fortzuführen. »Zurückbleiben, bitte«, dröhnte es aus den Lautsprechern der Bahn, wobei man das »Bitte« nur erahnen konnte, da es einem schroffen Pusten des Zugführers in das Mikrofon gleichkam. Ein Warnton erklang, rote Lichter blinkten auf und die Türen schoben sich langsam zu. Die Halbstarken blieben wie die beiden blutjungen Frauen auf dem Bahnsteig zurück. Claudia hatte ein schlechtes Gewissen. Vielleicht hätte sie die unerfahrenen Teenager warnen sollen. Andererseits musste sich jede Frau früher oder später selbst in einer von Männern dominierten Welt zurechtfinden, glaubte sie.

 

Bis zur Frankfurter Allee blieb die U-Bahn recht leer; ein paar spanische Nachtschwärmer, vielleicht Anfang zwanzig, stiegen am Strausberger Platz zu. Vergnügungssüchtige, die nach Berlin kamen, um die Vorzüge einer Stadt zu genießen, die keine Sperrstunde kannte. Berlin war weltweit in Mode. Eine Metropole, in der sich die globale Jugend amüsierte. Es gab nur das Jetzt. Nur das Vergnügen.

 

Den Übergang von der U-Bahn zur S-Bahn hasste Claudia. Das Ring-Center, ein Einkaufszentrum, das sich auf beiden Seiten der S-Bahntrasse erstreckte, hatte seine Pforten längst geschlossen und der einzige Weg zur Hochbahn führte eine schmale Gasse entlang. Ein Bauzaun auf der einen Seite und die kalte, fensterlose Rückwand des Einkaufspalastes auf der anderen Seite boten gerade genug Platz, dass man sich in beiden Richtungen im Gänsemarsch drängen konnte. Früher standen hier aufgereiht Imbisse und Kioske, über die sich die Nachtschwärmer mit Nachschub versorgten, doch solange es die Baustelle gab, war es nur ein beängstigender Engpass auf ihrem Weg nach Hause. Claudia stöhnte innerlich auf. Ganz Berlin erschien ihr manchmal wie ein riesiger Buddelplatz zu sein, der beständig umgegraben wurde. Die Dinge waren einem permanenten Wandel unterworfen, Konstanten gab es so gut wie keine. Bis auf die spärliche Beleuchtung auf den Straßen vielleicht. Den Blick nach unten gerichtet, folgte Claudia den ausgelassenen Spaniern und huschte in den Eingangsbereich der S-Bahnstation Frankfurter Allee, während ihr Geleitschutz weiter zur Rigaer Straße zog.

Die Anzeige im Eingangsbereich wies darauf hin, dass die Ringbahn gerade eingefahren war. Claudia rannte die Treppe nach oben und drückte sich gerade noch rechtzeitig gegen die verschwitzten Körper von Vergnügungssüchtigen, die den ersten Wagen komplett füllten. Junge Männer, die mit ihren Freundinnen unterwegs waren, Studenten und heiteres Partyvolk, das am Ostkreuz ausstieg, um weiter zur Simon-Dach-Straße zu ziehen oder in den Clubs an der Spree zu feiern. Auch wenn die Luft stickig war, konnte Claudia aufatmen.

 

An der Station Treptower Park war die Bahn fast leer. Claudia stieg als Einzige aus und eilte über den verwaisten Bahnsteig. Sie hastete die Treppe nach unten, zündete sich eine Zigarette an und inhalierte den Rauch so gierig, als wäre es der letzte Glimmstängel, den sie rauchen würde. Um keine Zeit zu verlieren, wenn sie vor der Haustür stand, holte sie ihren Wohnungsschlüssel schon jetzt aus der Tasche. In der Unterführung der S-Bahnstation horchte sie plötzlich auf. Claudia war sich sicher, ein Geräusch vernommen zu haben. War das etwa ...? Adrenalin flutete ihren Blutkreislauf, die Muskeln spannten sich und ließen ihren Körper erstarren.

»Hilfe«, schien eine zarte Stimme zu wimmern. Sie hatte sich nicht geirrt. Und wieder: »Hiilfe …« Mitleidserregend und erbärmlich. Claudia blickte die Unterführung der S-Bahntrasse entlang in Richtung des Treptower Parks. Da mussten die Hilferufe herkommen. Unwillig, sich um diese Uhrzeit um die Angelegenheiten anderer zu kümmern, ging sie zwei Schritte in die entgegengesetzte Richtung. Dort lag ihre Wohnung, direkt neben den Treptowers – gläsernen Bürotürmen, die immer noch erleuchtet waren. Die Sicherheit der eigenen Wohnung wartete auf sie. Nur dreihundert Meter entfernt.

»Hilfe«, war wieder dieser flehentliche Ruf zu vernehmen.

Claudia ging zwei Schritte weiter. War das etwa ein Kind? Mit einem Schulterblick sah sie sich um. »Hallo?«, rief sie durch den Tunnel in die Dunkelheit der Nacht. »Hallo? Kleines? Was ist?«

»Hiiiiiiilfe«, flehte diese zarte Stimme unverändert leise.

Sollte Claudia die Rufe ignorieren? Was ging es sie an, wer sich um diese Uhrzeit noch im dunklen Park herumtrieb? Sie zögerte. »Ich lass dich nicht allein! So bin ich nicht!«, sprach sie dann entschlossen vor sich hin, ließ die Zigarette fallen, zog ihr Handy aus der Tasche und wählte »110«. Die Warteschleife der Berliner Polizei war zu hören mit der Bitte, noch etwas Geduld zu haben. Nach einigen Augenblicken brach die Verbindung unvermittelt ab. Claudia beäugte kritisch den Empfangsstatus auf dem Display. Ein Balken deutete darauf hin, dass die Verbindung im Tunnel der Unterführung nicht stabil war.

»Hilfe!« Erbärmliches, flehentliches Wimmern. Claudia erkannte in der Dunkelheit des Parks die Konturen eines Gebüschs. Daher schienen die Rufe zu kommen. Viel zu finster war es da draußen, als dass sie es wagen konnte, die Sicherheit der S-Bahnstation zu verlassen. »Ich hole Hilfe!«, schrie Claudia, rannte die Treppe der S-Bahnstation nach oben und betätigte an der Notrufsäule die Alarmtaste. Das Freizeichen erklang, ohne dass jemand den Notruf annahm. Es tutete fünfmal, dann brach die Verbindung ab. Sie winkte in die Überwachungskamera, um auf sich aufmerksam zu machen. »Hilfe«, formulierten ihre Lippen, ohne dass sie es rief. Sie betätigte noch einmal die Notruftaste. Dieses Mal erhielt sie nicht einmal ein Freizeichen, sondern nur Signaltöne in dichter Abfolge. Besetzt. Claudia sah auf. »Der Zugverkehr ist wegen eines Notarzteinsatzes unregelmäßig«, lief über die Anzeige. Der nächste Zug kam frühestens in zwanzig Minuten. Auf den beiden Bahnsteigen der Station wartete niemand. Wie ausgestorben war es. Nicht einmal einer der Obdachlosen, die an der Station für gewöhnlich rumlungerten, trieb sich noch hier herum. Claudia rannte die Treppe wieder nach unten in den Tunnel und zog das Pfefferspray aus der Tasche. Dann hielt sie inne und lauschte. Es war nichts mehr zu hören. Überhaupt nichts. Totenstille. Zögerlich tastete sie sich zur Parkseite der Unterführung vor, vergewisserte sich nach jedem Schritt, ob irgendwelche Geräusche auf die Anwesenheit eines Fremden schließen ließen. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte sie das Tunnelende. »Hallo? Kleines? Bist du noch da?«, fragte sie in die Nacht, das Pfefferspray zur Verteidigung in der rechten Hand. Die feingeästelten Zweige des Busches zeichneten sich nun im diffusen Restlicht der Bahnsteigbeleuchtung ab. Dahinter lag der Treptower Park, in unergründlicher, unheilvoller Dunkelheit, als würde die Grünanlage das Licht der Umgebung wie ein schwarzes Loch aufsaugen.

»Hilfe«, stöhnte diese zarte Stimme wie aus dem Nichts. Claudia Puls raste, und der hohe Blutdruck ließ die Halsarterien anschwellen. Ihre Knie zitterten, doch ihre Entschlossenheit, einem wehrlosen Opfer beizustehen, wuchs mit jeder Sekunde. Sie atmete zweimal tief durch, während sie die Unterführung verließ.

Die wenigen Lampen im Park funktionierten nicht. Bauzäune deuteten darauf hin, dass auch hier etwas Neues entstehen sollte. Tagsüber war der Park wunderschön, bot einen Zugang zum Hafen an der Spree, wo die Ausflugsboote im Sommer ablegten, doch nachts schien es wie eine andere Welt zu sein. So unübersichtlich und fremd. Die unbeschwerte Leichtigkeit des Tages, das Vogelgezwitscher, verflogen. Sie merkte, wie ihre schwitzigen Hände das Metall der Pfefferspraydose erhitzt hatten. Ihr Zeigefinger klebte am Auslöser.

»Hiiiiiilfe …«

Das Mädchen war nicht hinter dem Gebüsch direkt am Ausgang, wie Claudia zunächst geglaubt hatte. Die Rufe kamen aus Richtung des Gebäudes der Stern- und Kreis-Schifffahrt, das gut neunzig Meter entfernt, unweit der Spree lag. In der einen Hand das Mobiltelefon, in der anderen das Pfefferspray schritt Claudia ganz langsam auf den eingeschossigen Bau der Reederei zu. Angespannt bis zum Äußersten schaltete sie die Taschenlampe ihres Handys an. Der eng begrenzte Lichtkegel der Lampe konnte der Umgebung keine Gestalt verleihen. Die Schwärze der Nacht ließ sich mit der Beleuchtung eines Smartphones nicht durchdringen. Claudia wählte die Nummer ihres Freundes, aktivierte den Lautsprecher und ließ die Hand mit dem Handy sinken. »Hallo? Kleines? Bist du noch da?«, wollte sie in die Dunkelheit rufen – doch es war nur ein Flüstern.

»Was ist denn?«, fragte eine verärgerte Stimme. Claudia schrak zusammen und ließ ihr Smartphone fallen. Das Mobiltelefon fiel auf die Vorderseite, und das Licht der Taschenlampe bohrte sich in den sandigen Grund.

»Was willst du jetzt noch? Kann das nicht bis morgen warten?«, war der Ärger ihres Freundes aus dem Lautsprecher des Handys deutlich zu vernehmen. Aber Claudia hörte nicht mehr, was er ihr sagen mochte. Wie erstarrt stand sie vor der großen Platane, die neben dem Gebäude der Reederei wuchs, und versuchte, das zu verarbeiten, was ihre Augen gerade wahrnahmen. Das Entsetzen zu unterdrücken, das sie ganz und gar erfasste. Und den Instinkt zu beherrschen, der ihren Vorfahren vor Urzeiten signalisierte, dass sie die Beute eines Raubtieres werden sollten. Die Wahrheit war nicht zu leugnen. Wenn man es sich auch noch so sehr wünschte. Nicht als alptraumhaftes Gebilde zusammenbrechen und sie in der Sicherheit eines kuscheligen Bettes aufwachen lassen. Wie sie es so oft als Kind erlebt hatte. Schrecklich war das Hier und Jetzt. Unmittelbar und kalt. Weder Fantasie, noch Urangst. Hinter dem Baum bewegte sich etwas. Ein kalter Schauer lief Claudia über den Rücken und sie verstand schlagartig, dass es etwas abgrundtief Böses war. Es war der Feind, der sie in eine Falle gelockt hatte.

»Hilfe!«, war wieder das leise Flehen aus dem Gebüsch zu vernehmen. Weit weg. Es war ein anderes Opfer. Und sie war auserwählt, das nächste zu sein. Hier das Opfer, dort der Jäger. Mitten in einer Großstadt. Mitten in Berlin. Wie hypnotisiert starrte Claudia auf das Gesicht, das hinter dem Stamm hervorkam, angestrahlt wie der Mond von der Sonne. Langsam, ganz langsam bewegte es sich. Grausam unaufgeregt. Als gäbe es keine Eile. Maskenhaft, fahl und bleich stellte es sich dar, ohne die feinen Konturen eines menschlichen Antlitzes zu besitzen. Mit zittrigen Händen hielt Claudia das Pfefferspray in der Hand. Unfähig, sich zu verteidigen, war sie nicht in der Lage, das augenreizende Pulvergemisch einzusetzen. Claudia spürte einen stechenden Schmerz im Arm. Ihr wurde schwindelig, sie torkelte und fiel zu Boden. Hatte sie etwas getroffen? Etwas Spitzes? Wie gelähmt musste sie tatenlos dabei zusehen, wie sich diese Maske unaufhaltsam näherte. Die Bewegungen fast tanzend in der Luft, losgelöst vom Boden, als gäbe es keinen Körper, zu dem sie sich zugehörig fühlte.

»Hilfe!«, erklang erneut ein Wimmern. Doch diesmal stammte der Klagelaut nicht von einem Kind. Dieses Mal kam das verzweifelte Flehen von ihr. Claudia stöhnte ein letztes Mal auf, bevor sich ihre Kehle zuschnürte und sie den Kopf auf den Boden sinken ließ. Ohne noch Kontrolle über ihre Muskeln zu besitzen, starrte sie mit leeren Augen in den Nachthimmel. Als sich die weiße Maske in ihrer gesamten Fremdheit über ihr Gesicht schob und sich etwas Scharfes dutzendfach in Arme und Beine bohrte, fühlte Claudia schon längst keinen Schmerz mehr.

2

 

Drei Tage später. Berlin, Strausberger Platz. 25. März 2014, 12:00 Uhr.

 

»Schatz?« Ana wischte mit dem Zeigefinger über das brandneue Tablet, das sie von ihrem Mann geschenkt bekommen hatte. Der Artikel in der »Berliner Zeitung« über einen Einbruch in der Juwelierabteilung des KaDeWe hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. »Schatz? Hast du das gelesen?« Ihr Mann François war längst an der Arbeit, doch Ana tat so, als würde er weiterhin mit am Tisch sitzen in dieser teuren Penthousewohnung mit dem fantastischen Blick über die Karl-Marx-Allee bis hin zum Fernsehturm. Anas Ritual war es, die Onlineausgaben der Zeitungen nach ungelösten Kriminalfällen zu durchforsten. Allemal besser, wie sie fand, als ein neuerliches Sudoku-Feld auszufüllen. Am Ende standen die Zahlen von eins bis neun doch immer wieder in den Reihen unter- und nebeneinander, bevölkerten das gerasterte Quadrat in bekannter Regelmäßigkeit. Was hatte das für einen Sinn?

 

Die achtunddreißigjährige Ana und ihr fast zehn Jahre älterer Mann François lebten seit Jahren aneinander vorbei. Zusammengehalten wurde die Ehe einzig durch die tägliche Routine, die Risse gekittet durch den Alltag, der ihnen ein Nebeneinander in der gemeinsamen Wohnung auftrug. Da Ana nicht arbeiten ging, war ihr Tag vollgepackt mit Beschäftigungen, die ausschließlich der Befriedigung ihrer Eitelkeit dienten. Nach einem über einstündigen Schminkritual, das der angegriffenen Haut in ihrem hübschen Gesicht eine millimeterdicke Hülle verpasste, standen Besuche in der Pediküre und im Fitnessstudio an, ein Zwischenstopp im Solarium, um wieder eine Bikinibräune für den Osterurlaub zu erhalten, und nachmittags ausgiebiges Shopping im KaDeWe.

 

Manchmal, wenn die Tage dunkel waren und das Wetter wolkenverhangen, hing Ana, deren Leben erfüllt war von einer tiefen Leere, melancholischen Gedanken nach. Auch sie hatte Träume gehabt, auch sie kam nicht schon desillusioniert auf die Welt. Sie wäre gerne Lehrerin geworden. Für Deutsch und Sport. Wenn nicht an der Grundschule, dann zumindest in der Sekundarstufe 1. Sie liebte Kinder. Doch ihr Mann bestand darauf, dass sie zu Hause blieb. Er hatte sich nicht unbedacht eine Frau aus Osteuropa ausgesucht, prahlte er immer vor seinen Freunden. Wenn es einmal Liebe zwischen ihnen gegeben hatte, war diese längst in Hass umgeschlagen. Unterwürfig und geduldig sollte sie sein. Nicht so unwirsch und zickig wie die deutschen Frauen, trug François ihr auf. Zu Hause sollte Ana bleiben, aber Kinder mochte er nicht haben. In diese verdorbene Welt Nachwuchs zu setzen? Bei all dem Leid? Jeder suchte sich seine Ausreden – und François war nicht sonderlich einfallsreich dabei, Gründe dafür zu suchen, keine Kinder großziehen zu müssen. Obwohl der Name es vermuten ließ, war François beileibe kein Franzose. Die Eltern verehrten François Truffaut, den französischen Filmregisseur. Tolerant erzogen die Heinzmanns ihren Spross. Liebe, geduldige Eltern waren es, die in München lebten. Ana fragte sich, woher dieser Hass kam, der ihren Mann so oft beherrschte und der Jähzorn, den sie jedes Mal zu spüren bekam, wenn er sich an der Arbeit geärgert hatte. Manchmal schien die Natur alternative Wege ausprobieren zu wollen, wurden Charakteristika der Eltern abgestreift, um Neuem Platz zu schaffen. Die Natur kannte weder Gut noch Böse. Das war das Dilemma.

 

Aber Ana wollte nicht undankbar sein. Das Geld floss im Überfluss, die entbehrungsreichen Zeiten in Kiew, die sie in ihrer Kindheit erlebt hatte, waren nicht mehr als eine blasse Erinnerung. Ob arm oder reich, wusste Ana aus eigener Erfahrung, Menschen trugen immer ihre Probleme mit sich herum. Diese machten ihnen zu schaffen, ob sie nun existentiell waren oder eher profanen Ursprungs. Wie bei ihr. Es war nun einmal, wie es war. Ihre dringendste Frage blieb, wie zum Teufel sie nur die Zeit totschlagen sollte in dieser makellosen, glänzenden Penthousewohnung. Eine sterile, bis zur Perfektion von einem Innenarchitekten arrangierte Umgebung, in der man selbst wie eine Verunreinigung wirkte. Die Putzfrau kümmerte sich um den Schmutz, ihr Mann kam sehr spät zurück und aß unterwegs. Gut auszusehen bei den Treffen und Partys, den gesellschaftlichen Verpflichtungen und ausschweifenden Gala-Diners. Das hatte François ihr aufgetragen. Eine begehrenswerte Puppe für ihren Mann zu sein. Der Körper sollte schön straff bleiben, die Haut makellos erstrahlen. Ana ertrug die Demütigungen ihres Mannes nur, weil sie monatlich tausend Euro zu ihrer Familie in die Ukraine überweisen durfte. Das war es wert. Ihr Vater war krank, und die Therapie musste aus eigener Tasche bezahlt werden. Wie oft hatte sie François angefleht, ihr bei der Beantragung eines neuerlichen Visums für ihre Eltern zu helfen. Einmal hatten sie Ana nur in Berlin besucht. Und das war bei ihrer Hochzeit. Sie glaubte, dass ihr Mann ganz gewiss wusste, warum er ihr Herzensanliegen partout überging. Es war ein Druckmittel, sie in der Hand zu haben. Die Möglichkeit, sich um eine Einreiseerlaubnis zu kümmern, hatte François ganz gewiss. Seine Arbeitsstelle war der Inbegriff der Einflussnahme auf politische Entscheidungen. Er war promovierter Chemiker und hatte einen hoch dotierten Posten als Lobbyist für die Pharmaindustrie. François hatte somit Kontakte in höchste politische Kreise, duzte mehrere Bundestagsabgeordnete freundschaftlich. Paolo Meister von der CDU hatte er sogar einmal in das Penthouse eingeladen.

 

Vielleicht hätte Ana über die Machoallüren ihres Mannes hinwegsehen können, vielleicht wäre noch ein Rest von Zuneigung zu ihm geblieben, wenn, ja wenn er sie nicht schlagen würde. Ana trank das Glas Rotwein in einem Zug aus, das auf dem Küchentisch vor ihr stand, und schaute nachdenklich aus dem Panoramafenster. Der Ausblick, vorbei an Fernsehturm, Tiergarten bis hin zum Teufelsberg war grandios. Traumhaft. Berauschend. Dennoch war ihre Stimmungslage wieder einmal an einem Tiefpunkt angelangt. All die Möglichkeiten, die sie hatte verstreichen lassen. Die besten Jahre ihres Lebens hatte sie an einen Mann verschwendet, den sie hasste. Klassenbeste war sie im Gymnasium in ihrer Heimatstadt gewesen, sprachbegabt, voller Träume. Eine bildschöne blonde Ukrainerin, die sich den Deutschen in seinem Porsche 911 angelte, der ihretwegen seinen Wagen im Halteverbot abstellte, quer über den Bürgersteig. Sie zu einem Essen einlud, nur aufgrund ihrer langen Beine und ihres sinnlichen Lächelns. Natürlich entpuppte sich François nicht als der Traumprinz. Die Flitterwochen auf Mauritius in einem sündhaft teuren Luxushotel waren schnell vorbei. Schon wenige Monate nach der Hochzeit entwickelte er eine immer tiefer sitzende Eifersucht. Schon wenn sie mit einem anderen Mann redete, hielt er es ihr abends vor. Dann, ein Jahr nach ihrer Hochzeit, fing er an, sie zu schlagen. In den ersten Jahren ertrug sie es. Suchte sogar die Schuld bei sich. Vielleicht gab sie ihm nicht das, was er haben wollte. Da beide in der Partyszene Berlins unterwegs waren und François auf eine nach außen hin vorbildliche Ehe Wert legte, ließ er ihr Gesicht, das Dekolleté, Arme und Beine von den Misshandlungen unberührt. Meistens schlug er sie in den Bauch. Meistens in den Bauch. Zehn lange Jahre hatte sie seine Launen ertragen. Sollte sie ihn verlassen? Sie hatte tausendmal daran gedacht. Untertauchen? Immer wieder wog sie diesen Schritt ab. Oder wieder zurück in die Ukraine? Sie dachte jeden Tag an ihr Heimatland. Es musste noch etwas geben da draußen. Ana musterte die Weinflasche. Die Hälfte hatte sie bereits getrunken. Sie nahm die Flasche, stand auf und ging zum Kochbereich. 900 Gramm zeigte die Waage an. Das war das Gewicht der Flasche mit dem berauschenden Inhalt. Die leere Flasche wog genau 500 Gramm, wusste sie. Damit blieben noch etwa 400 Milliliter übrig, da Wein eine Dichte von ungefähr einem Gramm pro Milliliter hatte. Das musste für den verbleibenden Tag reichen. Mehr als eine Flasche wollte Ana nicht konsumieren. Wie alle Alkoholiker glaubte sie, dass sie jederzeit aufhören konnte mit dem Trinken.

 

Germanistik hatte sie an der Uni Kiew studiert. So voller Träume war sie. Eine Träne lief ihr über die Wange – doch sie spürte es nicht auf der Haut. Kein Kitzeln. Nichts. Nur ein gefühlloser Panzer aus Schminke, der keinerlei Emotionen sichtbar werden ließ. Äußerlich makellos und innerlich gebrochen. Selbstmitleid ist ein schlechter Ratgeber, du dumme Pute, dachte sie trotzig. Zum gefühlt tausendsten Mal. »Schatz?«, begann sie auf ihren Mann einzureden, der längst nicht mehr da war. Als ob es ihn interessieren würde, was sie von sich gab. »Schatz? Also letztens im KaDeWe. Das war doch diese libanesische Großfamilie gewesen, oder? Hatten die nicht die Justiz ausgetrickst, weil es Zwillinge waren? Einer hatte ein lupenreines Alibi, der andere ist eingestiegen. Wer wohl die Täter dieses Mal sind? Warum werden da eigentlich nicht die Sicherheitsvorkehrungen erhöht? Meinst du, das KaDeWe steckt selbst dahinter? So muss es sein. Ganz sicher. Wenn ich erst den Wein getrunken habe, werd’ ich den Tipp jedenfalls an unseren Freund, den Polizeidirektor, geben. Ist Notger eigentlich auch beim Empfang am Samstag dabei?«

3

 

Zur gleichen Zeit. Irgendwo in Berlin …

 

Claudia Junghans betrachtete das Kellerfenster über sich. Zum Greifen nahe und doch unerreichbar weit weg. Nur wenige Stunden schien die Sonne durch die Scheibe herein, ansonsten blieb es dunkel. War das dort oben überhaupt ein Fenster? Genau genommen konnte Claudia nicht erkennen, wodurch das Licht fiel, das ihr Gesicht traf. Trüb war ihr Blick, benebelt ihr Verstand. Wenn sie doch nicht so müde wäre. Ihr kam es vor, als sei sie seit Tagen nicht aufgestanden. Sie wunderte sich darüber, was sie in diesem Kellerraum zu suchen hatte, in dem es nichts gab außer erdigem Untergrund. Wie war sie hierher gekommen? Etwas lief ihr über die Wange. Es kitzelte nicht – war nur ein dumpfes Empfinden, als wäre die Haut aus Leder. Und all die Flüssigkeit entwichen. Vielleicht war es eine Ameise oder ein Käfer, der sich verirrt hatte. Claudia versuchte, das Insekt aus ihrem Gesicht zu pusten, doch es gelang ihr nicht. Das Tier lief über die Nase und die Stirn, bevor sich seine Spur verlor. Sie wollte mit der Hand nachfassen, doch dann merkte sie, dass sie nicht wusste, wie. Sie hatte keine Kontrolle über ihre Arme, nicht einmal über einen einzigen Finger. Wie hatte sich das früher wohl angefühlt? Dem Körper zu befehlen, nach etwas zu greifen. War sie nicht mehr klar bei Verstand? Claudia schmeckte etwas in ihrem Mund, begann instinktiv zu kauen. Sand knirschte zwischen ihren Zähnen. Jetzt fiel es ihr wieder ein. Ihr Kopf lag auf dem Boden. Sie musste hingefallen sein, konnte aber weder Arme noch Beine sehen. Auch keinen Oberkörper. Alles schien unter einer Erdschicht begraben zu sein. Möglicherweise war etwas über ihr eingestürzt. Ein Erdbeben? Doch nicht in Berlin, tat sie den Gedanken ab. Sie vernahm ein knarrendes Geräusch hinter sich. Ihre Sinne waren noch geschärft.

Hierher!

Claudia wollte schreien, doch sie hatte keine Kraft. Um Himmels Willen, hier liegt noch jemand.

Eine Verschüttete!

Das Ausharren hat sich gelohnt, war sie erleichtert.

Rettung ist nah!

Feingliedrige Fasern umspannten ihren Kopf und umfassten ihr Gesicht. Ein Saugen. Ein Lutschen. Ein Schmatzen. Und ein Opfer, das nicht verstand, dass es bei lebendigem Leibe verspeist wurde.

4

 

Berlin-Alexanderplatz, Ausgang der U-Bahn auf Höhe der Weltzeituhr, 15:30 Uhr.

 

»Vor drei Tagen ist wieder eine verschwunden«, sprach jemand Ana Heinzmann von hinten an.

»Was?«, entgegnete diese gedankenversunken, ohne sich umzudrehen. Gebannt starrte die gebürtige Ukrainerin ohne Unterlass auf die Vermisstenanzeige, die am Ausgang der U-Bahn prangte; auf die grünen Kacheln mit Klebestreifen fixiert.

»Das hier war nicht die Letzte«, wusste der Mann zu berichten.

Der Aushang war nur behelfsmäßig angebracht, hatte Ana auf den ersten Blick erkannt. Es handelte sich nicht um eine offizielle Bekanntmachung. Einer der Klebestreifen hatte sich bereits gelöst und das Papier am unteren Ende eingerollt. Normalerweise wurden derartige Beschläge vom Reinigungspersonal umgehend entfernt, doch dieser farbige Ausdruck musste seit mehreren Tagen hier hängen. So staubig und verdreckt wie er bereits war. Als ob sich niemand traute, den Aushang zu entfernen. Das Gesicht einer jungen Frau war darauf abgebildet. Madonnenhafte Züge, unschuldig und jung. Ein Sakrileg, den Zettel zu entfernen. Niemand, der sich dazu bereit fand. Wie bei Andachtskerzen, die an Orten von Selbstmorden oder Attentaten als Anteilnahme aufgestellt wurden und, nur der Witterung ausgesetzt, unangetastet blieben.

Sabine Freter, eine einundzwanzigjährige Frau, 164 cm groß, wurde laut der Informationen unter dem Porträtfoto seit einem Jahr vermisst. Eine Narbe am Hals, die von einer Operation an der Schilddrüse stammte, hatte sie mit einem knallbunten Halstuch bedeckt, erfuhr man weiter. Eine Mobilnummer gab es als Kontakt mit der Bitte, dass sich derjenige meldete, der etwas über ihr Verschwinden oder ihren jetzigen Aufenthaltsort wusste. Die Anzeige schloss mit dem Hinweis, dass Sabine regelmäßig Epilepsiemedikamente einnehmen musste. Offensichtlich war die Polizei bei der Aktion nicht hinzugezogen worden. Wahrscheinlich hatten die Behörden die Suche nach Sabine längst eingestellt, vermutete Ana, während die Angehörigen die Hoffnung nicht aufgaben und sich an jeden Strohhalm klammerten. Bei all den Vermisstenfällen, die sie in den Medien verfolgt hatte, schienen die Verwandten die bittere Wahrheit verdrängen zu wollen, dass sie ihre Liebsten niemals mehr in den Armen halten würden.

»Das geht schon seit Jahren so«, suchte der Mann hinter Ana erneut das Gespräch mit ihr. Sie drehte sich um und hob die Sonnenbrille an, um ihr Gegenüber besser mustern zu können. Da die Sonnenstrahlen von den glänzenden Kacheln des U-Bahnausgangs reflektiert wurden und direkt auf ihr Gesicht fielen, musste sie blinzeln. Ein schöner Mann war es, der sie angesprochen hatte. Jünger als sie. Vielleicht Anfang dreißig. Ein kantiges Kinn, tiefblaue Augen, intelligenter Blick. Markante Nase. Drahtig in der Erscheinung. In einem anderen Leben hätte sie ihn begehrt. Traurig sah er aus, dunkle Augenringe zeigten seine Rastlosigkeit. In einem anderen Leben hätte sie ihn getröstet.

»Sie muss jemandem aber wahnsinnig viel bedeuten. Nach einem Jahr noch so nach ihr zu suchen«, befand der fremde Mann.

»Ja …«, stimmte Ana mit einem Seufzen zu.

»Die eigene Telefonnummer zu nehmen. Ich meine, da rufen nicht nur gute Menschen an.«

»Wie meinst du das?« Ana war nicht klar, worauf der Fremde anspielte.

»Da werden sich auch Leute bei der Familie melden, die falsch Auskunft geben. Die Hoffnung wecken. Leute, die sich über den Schmerz lustig machen.«

»Ja, so Typen gibt es«, wurde sich Ana mit bekümmertem Gesichtsausdruck schlagartig bewusst.

 

Der fremde Mann hielt einen Kaffeebecher lässig in der Hand. Jesse, stand darauf, mit Filzstift von der Bedienung bei Starbucks geschrieben. »Darf ich dich was fragen?«, setzte er an. »Wollen wir vielleicht zusammen ’nen Kaffee trinken?«, schob er nach, ohne ihre Antwort abzuwarten.

»Kaffee?«, wunderte sich Ana. »Du trinkst doch gerade einen.«

»Mhm, stimmt. Könnte aber noch einen vertragen.«

Ana lächelte, hob ihre Hand und präsentierte den Ehering. »Bin schon vergeben. Verheiratet. Hast du’s nicht gesehen?«

Der Fremde lächelte verschmitzt. »Ja und? Dürfen verheiratete Frauen keinen Kaffee mehr trinken?«

Ana fuhr sich durch ihre blonden, langen Haare. Makellos wie ihr Make-up. Sie genoss es, dass sie in der U-Bahn oft angesprochen wurde. In den letzten Jahren war es zwar weniger geworden, aber einmal die Woche geschah es immer noch. Ein wenig zu flirten, wenn sie unterwegs war. Von den Männern angestarrt zu werden, sich begehrt zu fühlen. Ihre Figur hatte sich seit ihren Teenagertagen nur wenig geändert, die beginnende Cellulite konnte sie mit straffen Leggins kaschieren. Wenn François davon wüsste, wie aufreizend sie durch Berlin zog, mochte sie sich seine Reaktion nicht ausmalen. Heimliches, gefährliches Spiel. Es wirkte wie ein Jungbrunnen auf sie.

Ana runzelte die Stirn. Keine Falten mehr, die Mimik stark reduziert. Die letzte Botoxspritze hatte sie erst im Februar bekommen. »Also Jesse, ich muss dich wirklich enttäuschen«, wollte sie den Flirt abrupt beenden.

»Jesse?«, wunderte sich der junge Mann.

»Na, ist das nicht dein Name?« Sie deutete mit dem Zeigefinger auf den Kaffeebecher.

»Ach so, das. Natürlich«, verstand der Mann, schüttelte den Kopf und lächelte. »Ich sag’ denen bei Starbucks doch nicht meinen wahren Namen«, verriet er ihr, wobei er die Hand vor den Mund hielt, als wäre diese Tatsache ein unerhörtes Geheimnis.

»Nicht?«, war Ana verblüfft. »Warum das denn nicht?«

»Weil ich meinen Namen nur denjenigen verrate, die ich schätze. Und nicht denen, die mein Geld zu schätzen wissen.«

Ana lächelte unweigerlich. »Machst du das so?«

Der Mann nickte.

»Und? Verrätst du mir deinen Namen?«

»Warum willst du wissen, wie ich heiße?«, ließ der Fremde sie zappeln.

Ana winkte ab. »Nur so …«

»Willst du wissen, wie ich heiße, weil du hoffst, dass ich dich schätze oder … oder ist es, weil du mich kennenlernen willst.«

»Mhm … fünfzig zu fünfzig«, gab Ana mit einem Schmunzeln Auskunft. Ohne es zu merken, strich sie sich erneut durchs Haar. Unbewusst befeuchtete sie danach ihre Lippen mit der Zunge. Der Mann gefiel ihr ausgesprochen gut.

»Jan. Mein Name ist Jan«, verriet er ihr.

Sie reichte ihm die Hand. »Und ich bin Ana. Ana mit einem ‚n‘.«

»Ein schöner Name«, lobte Jan, ohne dass es aufgesetzt klang. Ohnehin schien Jan kein Mann zu sein, der leichtfertig etwas dahinsagte. Gut abzuwägen schien er alles, was aus seinem Mund kam. Er war selbstsicher, ohne arrogant zu wirken. Hatte Selbstbewusstsein, schien aber gleichzeitig verletzlich zu sein. »Von Anastasia?«, wollte er wissen.

Ana nickte. »So wurde es mir gesagt.«

»Woher kommst du?«

»Wie meinst du das?«

»Na, dein Akzent.«

Ana schüttelte den Kopf. »Hört man den etwa immer noch raus?«

»Nein, nein, mach’ dir keine Sorgen«, wiegelte Jan ab. »Nur ganz wenig. Zuckersüß«, schmeichelte er ihr.

»Normalerweise werde ich immer gelobt, wie gut ich Deutsch kann. Akzentfrei.«

»Das stimmt auch«, bestätigte Jan. »Das ‚h‘ sprichst du nur ’n bisschen hart aus. Ein klein wenig.«

Ana stampfte mit ihrem linken Fuß energisch und verspielt zugleich auf dem Boden auf. »Ich wusste es doch, dass man es noch raushört.«

»Bist du ’ne Russlanddeutsche?«, wollte Jan wissen. »Darf man das noch so sagen? Oder ist das beleidigend?«

»Nun, weiß nich’. Bin aus der Ukraine.«

»Ukraine? Verstehe.«

»Was verstehst du?«, fragte Ana nach.

»Woher dein Akzent kommt. Ich meine, dieser klitzekleine, anbetungswürdige Akzent…chen.«

»Jan?«

»Ja?«

»Bist du ein Gentleman?«

»Denke schon.«

»Dann lass eine verheiratete Frau weiterziehen.«

»Darf ich dich nicht zum Kaffee einladen?«

Ana seufzte. »Mach’ es mir doch nicht so schwer. Sei nicht so hartnäckig.«

»Wenn es sich denn lohnt.«

»Was versprichst du dir davon?«

Jan lächelte. Ganz unbekümmert und unschuldig. »Versprechen? Kann ich eine wunderschöne Frau nicht einfach zum Kaffee einladen, ohne eine besondere Absicht zu haben?«

»Eine wunderschöne, alternde Frau …»

»Eine bezaubernde Frau mit Charakter«, widersprach Jan. Es wirkte aufrichtig. »In den besten Jahren.«

Ana merkte, wie ihr Gesicht heiß wurde und ihre Wangen anfingen zu glühen. Schlagfertig war er auch noch. »Du bist mir ja einer.«

Jan deutete auf die Vermisstenanzeige. »Ich hoffe, dass es Sabine gutgeht. Dass sie noch viele Frühlinge erlebt.«

Ana schüttelte nachdenklich den Kopf. »Du weißt doch, dass so was niemals gut ausgeht.«

»Manchmal schon«, widersprach Jan. »Manchmal schon. Man darf die Hoffnung niemals aufgeben.«

Ana sah auf ihre Uhr. Noch eine halbe Stunde Zeit hatte sie bis zu ihrem nächsten Termin beim Frisör. »Also ich weiß auch nicht, was ich mir dabei denke.«

»Dann hast du Lust?«

Ana nickte unsicher. »Wohin?«

»Das Café neben Saturn?«

»Das Einstein?«

»Ja.«

»Gut.«

»Aber viel Zeit hab’ ich nicht.«

»Die hat niemand«, wusste Jan. »Aber man sollte die Zeit nutzen, die einem bleibt.«

Ana schüttelte verunsichert den Kopf. Normalerweise kannte sie alle Phrasen, die Männer droschen, wenn sie Frauen beeindrucken wollten. Die auswendig gelernten Sprüche, das angeberische Angebaggere. Doch bei Jan wirkte alles vollkommen anders. Es schien kein Imponiergehabe zu sein. Es wirkte nicht aufgesetzt. Vielleicht, weil eine unendliche Schwere über diesem Mann zu liegen schien. Eine Last, die er zu schultern hatte. Reif wirkte er. Als hätte er viel durchgemacht und erlebt.

 

***

 

Ana nippte einmal am Café latte und setzte ihr Glas dann ab. Jan saß ihr an einem Zweiertisch gegenüber, ohne dass die beiden seit mehreren Minuten ein Wort gewechselt hatten. Es war aber keineswegs eine unangenehme Situation, wunderte sich Ana, was Schweigen sonst oft mit sich brachte. Eher ein Gefühl der Vertrautheit, als kannte sie den Mann schon seit einer Ewigkeit. Ein Wortwechsel war nicht mehr nötig, da man wusste, wie der andere tickte. Schweigen als Zeichen der Verbundenheit. Sie fühlte sich nicht unsicher, auch nicht in Eile.

Jan sah sie seit einer gefühlten Ewigkeit mit tiefgründigem Blick an. Als würde er ihre Gefühle lesen. »Wusstest du, dass jeden Frühlingsanfang immer wieder eine junge Frau verschwindet?«, fragte er dann.

»Ich denke, dass jedes Jahr ’ne ganze Menge Menschen verschwinden. Männer wie Frauen«, relativierte Ana. »In so einer großen Stadt kann man schnell untergehen.«

»Vielleicht«, bestätigte Jan mit einem Kopfnicken, ohne dass er von ihrem Einwand überzeugt schien. »Aber so eine Regelmäßigkeit?«

»Wie meinst du das?«, zeigte sich Ana interessiert.

»Jedes Jahr verschwindet in der Zeit vom 20. März bis zum 24. März immer eine junge Frau auf mysteriöse Weise. Da steckt Methode dahinter.«

»Mysteriöse Weise? Was meinst du denn damit?« Ana war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob Jan sich nur aufspielte. Gehörte er zu den Leuten, die Verschwörungstheorien nachhingen? Irrationale Begründungen für ungewöhnliche Erscheinungen und Begebenheiten suchten?

»Anders kann ich es nicht ausdrücken.«

»Und wie bist du auf die Fälle gestoßen?«, fragte Ana.

Jan schien sich nicht erklären zu wollen. »Zeitungen, Blogs, Bekanntmachungen der Polizei«, gab er nur widerwillig preis. Er tippte sich auf seine linke Schläfe. »Du musst aufmerksam sein. Muster erkennen können.«

»Wenn es wirklich so ist, wie du sagst, dann hätte doch die Polizei was bemerkt«, wandte Ana ein wenig schnippisch ein.

»Nicht unbedingt. Die Ermittlungen werden in so Fällen rasch wieder eingestellt«, wusste Jan. »Wenn es keine Anhaltspunkte für Verbrechen gibt, keine Spuren – wie soll die Polizei dann auch vorgehen?«

»Und die Presse?«

»Die Journalisten vergessen noch schneller. Bei Claudia Junghans wird es auch so sein. In zwei, drei Wochen kümmert sich niemand mehr um ihr Schicksal.«

»Claudia Junghans? Du meinst die Frau mit dem Notruf im Treptower Park?«

»Ja«, bestätigte Jan. »Glaub mir. Vielleicht ist sie auch vier Wochen in den Schlagzeilen, weil sie so schön war und ihr Freund so gebettelt hat, dass sie zurückkommt. Mit Heiratsantrag und Entschuldigung.«

»Vielleicht ist sie ja wirklich abgehauen.«

»Möglich ist das natürlich. Aber auch wahrscheinlich?«

»Warum sollte es nicht so sein, dass eine schöne Frau untertaucht? Vielleicht ist ihr Freund ein Schwein und sie hat die Faxen dicke.«

»Auszuschließen ist das nicht«, überlegte Jan. »Aber eben nicht typisch. Absolut nicht.«

»Warum nicht?«, fragte Ana provozierend. »Wer verschwindet denn normal so?«

»Außenseiter, Alleinstehende, Gescheiterte«, verriet Jan ohne Umschweife. »Viele Fälle werden der Polizei nicht gemeldet. Warum auch? Die vermisst keiner. Die meisten tauchen aber irgendwann wieder auf. Die Ausreißer nach ein paar Tagen. Die mit Drogenproblemen nach einigen Monaten. Vielleicht auch nach einem Jahr. Meistens brauchen die irgendwann Geld und melden sich dann wieder bei ihren Angehörigen. Bei häuslicher Gewalt kommen die Frauen über kurz oder lang in Frauenhäusern unter. Bei den Fällen, von denen ich rede, ist das aber durchweg anders.«

»Inwiefern?«, wollte Ana wissen.

»Die Frauen sind älter als zwanzig, aber noch keine dreißig. Deutsche mit festem Wohnsitz, keine Verbindung zur organisierten Kriminalität, keine Drogen, soweit ich erkennen konnte. Studenten oder schon im Beruf. Also älter als klassische Ausreißer.«

»Klassische Ausreißer? Du meinst Teenager?«

»Genau.«

»Wie lange bist du schon da dran?«

»Seit ’n paar Jahren.«

»Und wie gehst du vor? Ich meine, du musst doch Kontakte bei der Polizei haben, oder?«

»Das ist kein Ding. Ich geb’ mich einfach als Reporter aus.«

»Und das funktioniert so einfach?«, wunderte sich Ana.

»Yep. Du sagst, du kommst von der Onlineausgabe einer x-beliebigen Regionalzeitung. Mittelgroße Stadt. Die gibt es wie Sand am Meer. Die Leser wollen den Sumpf Berlin kennenlernen, behauptest du. Oder du sagst, du führst ’nen Blog. Eigentlich musst du nur zuhören können.«

»Zuhören?«

»Du glaubst gar nicht, wie redselig manche Polizisten werden, wenn du mit ihnen ins Gespräch kommst. Die schieben ’n Riesenfrust wegen all der Überstunden und ...«

»... der vielen Kriminellen, die sie festnehmen und die tags darauf wieder freigelassen werden.«

»Absolut.«

»Und die Polizisten schöpfen keinen Verdacht?«

»Bestimmt tun sie das sogar. Die sind ja nicht doof. Ich denke, sie wollen mir glauben, um sich den Frust von der Seele zu reden. Ich bin ’n guter Zuhörer, musst du wissen. Und ich kann schweigen.«

»Ich merke schon«, zeigte sich Ana überzeugt. »Warum aber – und das will nicht in meinen Kopf – warum ermittelt die Polizei nicht in den Fällen? Bei allem Respekt für dich, aber das sind doch die Profis?«

»Die waren ja auch da dran gewesen. Nur nach ein paar Wochen stellen sie die Ermittlungen normalerweise ein, wenn nichts rauskommt. Zu wenig Personal. Zu viele Verbrechen. Wenn keine Leichen gefunden werden, was soll man da auch machen? In keinem der Fälle gab es irgendwelche Anzeichen von Gewalt. Oder Spuren eines Kampfes. Spurlos verschwunden ist nicht nur eine Phrase, weißt du. Das gibt es tatsächlich.«

»Irgendwo werden die Frauen schon abgeblieben sein.«

»Natürlich.«

»Wann ging die Serie los?«

»2001.«

»Und immer waren es junge Frauen?«

»Ja, wie schon gesagt.«

»Welche Gemeinsamkeiten gibt es sonst noch?«

»Alle waren Singles. Sechs der vierzehn Frauen waren musikalisch begabt. Haben mindestens ein Instrument gespielt. Eine Frau hatte sogar eine eigene Band.«

»So? Wäre das nicht in die Öffentlichkeit gekommen?«

»Nicht unbedingt. Nicht, wenn die Gruppe niemand kennt. Weißt du, wie viele unbekannte Musiker es da draußen gibt? Mit Begabung meine ich. Also nicht die ohne Talent ... die Sänger unter der Dusche ... so wie ich ...«

Ana lachte auf. »Verzeih«, bremste sie ihr Amüsement. »Das war unangemessen.«

»Kein Problem. Ich bin da nicht eitel.«

»Jan?«

»Ja?«

»Warum hast du so ein Interesse an diesen Fällen? Das hört sich ja fast schon so an, als wärst du ... na ... irgendwie ... besessen davon?«

»Bei mir …«, begann Jan und stockte. »Eigentlich wollte ich dich ausfragen.« Verlegen kratzte er sich am Ohr.

»Dann hab ich jetzt den Spieß umgedreht.«

»Das hast du.«

»Und? Was ist jetzt?«

»Sag mir erst, warum deine Augen aufleuchten, wenn ich davon rede, dass es ein Muster hinter den Vermisstenfällen gibt. Was interessiert dich an ... nun ja ... diesen dunklen Geheimnissen?«

»Ich weiß nicht, ob …« Ana sah auf ihre Uhr. »Nun, einigen wir uns darauf, dass wir beide nichts von uns preisgeben wollen.«

Jan musste schmunzeln. »Das finde ich fair. Verrätst du mir wenigstens deine Nummer?«

»Das wär’ keine gute Idee, denk’ ich.« Ana verzog ihr Gesicht und stand ruckartig auf. »Wenn mein Mann wüsste, dass wir zusammen Kaffee trinken, dann würde er ... puh …«

»Dann war's das jetzt?«, fragte Jan überrascht.

Ana biss sich auf die Unterlippe. »Gib mir doch deine Nummer«, bot sie an.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739401119
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Januar)
Schlagworte
Übernatürlich Horror Psychothriller Fantasy Science Krimi Mystery Suspense Fiction Urban Fantasy

Autoren

  • Karsten Krepinsky (Autor:in)

  • Ingo Krepinsky (Illustrationen)

Karsten Krepinsky lebt in Berlin und arbeitet dort als promovierter Biologe in einem Start-Up-Unternehmen im Bereich Neurowissenschaften. Leidenschaftlich gern schreibt er als freier Autor. Aus der Vielfalt und den Gegensätzen in der Hauptstadt holt er sich die Ideen für seine Thriller, in die er Motive aus den Genres Science-Fiction, Mystery und Horror einfließen lässt.
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Titel: Spreeblut