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Geisterstunden

von Stefan Melneczuk (Autor:in)
332 Seiten
Reihe: Phantastische Storys, Band 12

Zusammenfassung

31 Tage im Oktober. 31 unheimliche Kurzgeschichten, versammelt in einem Band. Ein literarischer Kalender zwischen wohligem Schauer und purem Schrecken. „Meister der Gänsehaut.“ (WAZ) „Zum Gruseln geboren!“ (BILD) „Horror mit Anspruch.“ (Stadtspiegel) „Stefan Melneczuk lege ich Freunden klassischer Spuk- und moderner Horrorgeschichten ans Herz. Der Mann kann uns das Grauen lehren.“ (lovelybooks) Stefan Melneczuk, Jahrgang 1970 und am 31. Oktober geboren, hat sich mit seinen unheimlichen Romanen und Short Stories bundesweit eine Fangemeinde erschrieben. Mit diesem Buch in erweiterter Neuauflage und mit rabenschwarzen Updates feiert er auf seine Weise Halloween. Die Printausgabe des Buches umfasst 306 Seiten Exklusive Sammler-Ausgabe als Taschenbuch nur bei www dot blitz-verlag_de erhältlich!!!

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis




Vorwort: Von Gespenstern und Schreibmaschinen


Glauben Sie an Geister? Auf der Suche nach einer Antwort liegen mehr als dreißig Jahre zwischen mir und meinen ersten dunklen Short Storys. Entstanden sind sie damals auf einer elektrischen Schreibmaschine, die mein Vater mir bei einem Arbeitskollegen in Wuppertal besorgt hatte. Dass sein Sohn zu dieser Zeit schon seit Monaten wie besessen an Kurzgeschichten arbeitete und sein Taschengeld in Bücher von Stephen King investierte, erfüllte nicht nur ihn mit einer Mischung aus Sorge und Stolz.

Mit der Schreibmaschine aus zweiter Hand habe ich fortan viel Zeit verbracht. Bei gutem Wetter besorgte ich mir eine Kabeltrommel mit Wackel­kontakt, einen alten Gartentisch und einen standfesten Stuhl aus Holz, um draußen unter freiem Himmel zu schreiben. Mit und auch unter Strom, gleich hinter unserem Haus im Hattinger Hügelland, am Rosenbeet meiner Oma, während im Wohnzimmer nebenan der Fernseher lief und ein junger Mann namens Boris Becker in Wimbledon gerade Tennisgeschichte schrieb. Ich höre ihn noch heute durch das auf Kipp stehende Fenster, den Jubel meiner Mutter beim Finale. Und ich weiß, dass ich mir Beifall dieser Art insgeheim auch für meine literarische Arbeit gewünscht habe damals, als ich noch ganz sicher war, dass einem ­ambitionierten jungen Schriftsteller mit unheimlichen Geschichten im Reisegepäck die Welt da draußen offen steht.

Mittlerweile arbeite ich an einem Computer, dessen Leistung der eines Großrechners der 80er Jahre entspricht. Und ich schreibe in einer Zeit, in der Kinder mit USB-Anschluss, Smartphone-Schnittstelle und Facebook-Account zur Welt zu kommen scheinen. Eine Kabeltrommel brauche ich schon lange nicht mehr, um in Ruhe draußen schreiben zu können. Boris Becker? Den gibt es nach wie vor. Nur spielt er kaum noch Tennis. Und meine elektrische Schreibmaschine ruht schon seit vielen Jahren gut verwahrt in einem alten Schrank, der auf dem Dachboden meines Elternhauses steht – immer noch funktionstüchtig, wie ich hoffe. Mein Lehrgeld als Schriftsteller habe ich längst bezahlt: Heute weiß ich, wie lang, steinig und zuweilen auch einsam der Weg zum Ziel sein kann. Nach wie vor schreibe ich wie besessen und investiere mein Geld in Bücher von Stephen King. Nur mit dem Unterschied, dass das meinem Vater und all den anderen keine Sorgen mehr macht. Einige der Short Storys, die in den ersten Jahren entstanden sind, haben den Weg in dieses Buch hier gefunden. Bei der Arbeit daran sind viele Geschichten und Erinnerungen von damals heimgekehrt – wie alte Freunde, die man eine Zeit lang aus den Augen verloren hat, ohne sich jemals wirklich von ihnen zu entfernen.

Draußen ist es inzwischen dunkel, und ich schreibe diese Zeilen im Licht einer 40-Watt-Schreibtischlampe. Ihr Schein fällt auf meinen Textcomputer. Und gleich daneben auf eine kleine Halloween-Schneekugel auf einem schwarzen Sockel, in der ein Nachtgespenst unter schneeweißen Bettlaken seine Arme nach mir ausstreckt. Und ob Sie es glauben oder nicht: Mir ist einen Moment lang, als säße ich wieder an meiner alten Schreib­maschine. Noch einmal ein Teenager, der hofft, dass das Farbband darin wenigstens noch etwas durchhält, weil das Taschengeld mal wieder zur Neige geht und es deshalb schwer wird mit schnellem Nachschub für acht Mark fünfundneunzig aus der Abteilung für Bürobedarf bei Karstadt in Hattingen.

Und das ist noch nicht alles. Seit einer Stunde höre ich auf dem Dachboden im Geschoss über mir seltsame Geräusche. Das Klicken meiner alten Schreibmaschine im Schrank, Anschlag um Anschlag, Zeile für Zeile. Ich höre durch die dünne Zimmerdecke, dass jemand das Gerät mit dem Blatt Papier auf der Andruckrolle an sich nimmt und sich zu mir auf den Weg nach unten macht, mit schweren Schritten. Das Gespenst vom Dachboden steigt langsam aber sicher die Treppe hinab. Es kommt näher und näher. Nur ich kann es hören. Jetzt steht es auch schon auf der anderen Seite der Zimmertür. Und klopft an. Zögernd erhebe ich mich und mache auf. Zunächst nur einen Spalt breit – man kann ja nie wissen. Das 40-Watt-Licht fällt zuerst auf meine alte, elektrische Schreibmaschine. Sie steht, wie von Geisterhand vom Speicher herbeigeschafft, vor mir auf dem Dielenboden. Sie ist staubig und hat ein vergilbtes Manuskriptblatt im Rachen, dessen Überschrift ich kenne: Von Gespenstern und Schreibmaschinen ist da zu lesen. Und dann nehme ich allen Mut zusammen, öffne die Tür ganz und bitte meinen unheimlichen Besuch vom Dachboden hinein.

Bevor es aber soweit ist, entlasse ich Sie, liebe Leser, hinaus in die Nacht. Damit wenigstens Sie noch eine Zeit lang sicher sind vor dem, was zur Geisterstunde nach unten kommt, die Treppe hinab. Zu Ihrem Schutz stelle ich Ihnen Geschichten aus drei Jahrzehnten zur Seite. Und ich danke Ihnen dafür, dass Sie sich Zeit für Sie nehmen. Ihnen überlasse ich dieses Buch hier, damit Sie wissen, was auf Sie zukommt, sobald daheim das Licht erlischt und die Turmuhr Mitternacht schlägt. Ich wünsche Ihnen von Herzen, dass Sie beim Lesen immer den Heimweg finden, ohne ein Klopfen an der Zimmertür zu hören. Sollte das eines Nachts dennoch geschehen, dann hoffen wir gemeinsam, dass auf der anderen Seite der Tür wirklich nur eine alte Schreibmaschine auf dem Dielenboden steht und nicht das, wonach es hier bei mir gerade aussieht: Die Halloween-Schneekugel auf meinem Schreibtisch ist leer, das Nachtgespenst daraus verschwunden. Und jetzt kann ich es hören, dicht hinter mir das Rauschen schwerer, alter Bettlaken, die nach vergangener Zeit und nach Unheil riechen. Glauben Sie an Geister?



1. Oktober: Hungry Hill


Im Jahr des großen Hungers war der Prediger ihre letzte Hoffnung. Die Menschen lauschten seinen Worten, als draußen auf den Feldern die Ernte im Boden verfaulte und das Schicksal an der Bantry Bay seinen Lauf nahm, weil nun auch die Netze der Fischer leer blieben. Der Tod kam ohne Warnung. Bald schon starben die ersten Dorfleute, weil es nichts mehr zu essen gab. Jene, die kräftig genug waren, suchten Tag um Tag Zuflucht im Gebet. Die Kapelle des Predigers füllte sich mit Menschen und Verzweiflung. Als die Not größer und größer wurde, fasste der Mann im Talar einen folgenschweren Entschluss: Er rief seine Gemeinde in einer stürmischen Oktobernacht zu sich. Gott werde ein Zeichen geben, hoch oben, auf dem Berg jenseits der Bucht. Dort, so versprach es der Prediger, werde der Vater aller Dinge das Flehen der Menschen erhören und Brot vom Himmel regnen lassen. Ein Wunder werde sich ereignen, jetzt, im Angesicht des größten Hungers, den Irland jemals erlitten hat. 50 Männer, 40 Frauen und 15 Kinder folgten dem Prediger auf seinem Weg zum Gipfel, 684 Meter über dem Spiegel des Meeres, in der Hoffnung, dass Gott sie alle retten wird.

Am Ziel, mit Blick auf die Bucht, faltete die Gemeinde ihre Hände und betete, solange im Sturm die Kraft dazu blieb. Doch der Vater aller Dinge schwieg. Es gab kein Brot. Nur Regen, Wind und die Gewissheit, dass niemand diesen Berg hier verlassen wird. Sie starben mit Blick zum Himmel. Sie starben mit Blick auf den Atlantik. Die einen an Fieber. Die anderen an Hunger und Schwermut. Die Kinder holte sich der Tod zuerst, hoch oben über der Bucht, und zu den Letzten, die auf dem Berg ausharrten, gehörte der Prediger selbst. Kein Gebet konnte die Menschen retten, kein Vaterunser sie vor ihrem Schicksal bewahren. Nicht einer kehrte in das Dorf zurück – so geschehen im Herbst des Jahres 1845, als die Braunfäule das Land mit harter Hand regierte und Tausende dem Tod überließ.

Selbst heute noch, Jahrzehnte später, erzählt man sich diese Geschichte im Süden der Grünen Insel. In Herbst- und Winternächten, so sagt man, wenn der Wind landeinwärts zieht, kann man die Todgeweihten auf dem Hungerberg hören. 50 Männer, 40 Frauen und 15 Kinder, die keinen Frieden finden. Der Wind trägt ihre Gebete und Lieder hinab in die Stadt. Sie dringen durch Türen und Fenster, wie ein Fluss, der kein Ende nimmt und die Torffeuer von Geisterhand erstickt. Der Gesang der Toten verstummt erst bei Sonnenaufgang, wenn in der Kapelle am Hungry Hill die Glocke läutet. Sie alle sind immer noch da oben, an der Seite des Predigers, und warten auf ein Wunder. Gott hat Geduld mit ihnen.



2. Oktober: Schacht der Toten


Für kein Geld der Welt! Ich kann mich noch an jedes meiner Worte erinnern. Sie haben mir damals das Leben gerettet. Für kein Geld der Welt gehe ich da runter! Hast du mich verstanden? Der Steiger, sein Name war Paul, starrte mich sprachlos an. Dann wandte er sich ab und suchte sein Glück woanders. Am Ende jenes unheilvollen Tages, es war der 2. Oktober 1938, sollte Paul exakt das bekommen, was er brauchte, um weiterhin gut da zu stehen: Zehn Namen standen auf der Liste, die er hinauf in die Büros trug. Hinauf zu jenen hohen Herren, die ihre Tage vorzugsweise in schweren Ledersesseln verbringen, tonnenweise Geld machen und sich nur selten zu uns verirren. Zu jenen hohen Herren, denen wir hier unten seit je her egal sind, es sei denn, einer von uns wird bei der Arbeit verschüttet oder verletzt und verlangt damit eine Zahlung an seine Familie. Zehn Namen, zehn Bergleute. Die Erfahrensten von uns haben jeden der Freiwilligen noch einmal ins Gebet genommen. Und bis zuletzt versucht, sie davon abzubringen, auch nur einen Fuß in Schacht 23 zu setzen. Ohne Erfolg.

Das Unheil nahm seinen Lauf, als die hohen Herren einen englischen Ingenieur zu uns nach unten schickten. Thomson hieß er, und die Denkfalten auf seiner Stirn schienen noch tiefer zu sein als viele der Stollen, aus denen man uns damals das schwarze Gold holen ließ. Thomson hatte die Herren in den Ledersesseln von der Notwendigkeit einer schnellen Instandsetzung unter Tage überzeugt, um den Ertrag ihrer Grube auf Dauer zu sichern. Sein technischer Ehrgeiz richtete sich dabei vor allem auf Schacht 23, benannt nach jenem Jahr, in dem man ihn im Berg tief unter uns aufgegeben hatte. Glaubte man den alten Karten, war der Stollen fast achtzig Meter lang. Doch es war ein offenes Geheimnis, dass er viel tiefer in den Berg reichte und älter war als dokumentiert. Wir haben den verlassenen Schacht immer gemieden, weil er uns nicht geheuer war. Und es gab keinen Anlass, etwas daran zu ändern – bis der Engländer kam. Thomson wusste ebenso wie wir, dass man Schacht 23 vor langer Zeit nur schlecht gesichert hatte. Und dass die Stützkonstruktion da unten ersetzt werden musste, sollte sie den Berg darüber weiterhin zähmen.

Wenn wir das nicht in Ordnung bringen, verlieren wir entweder unsere Arbeit. Oder unser Leben. Mein Kamerad Wilhelm war einer der Ersten, die sich damals beim Steiger gemeldet haben, um freiwillig da runter zu gehen – für eine stattliche Gefahrenzulage, versteht sich. Wer konnte ihm und den anderen das übel nehmen? Sie brauchten das Geld für ihre Familien. Und niemand von uns hat an jenen Tagen geahnt, welchen Preis sie alle dafür zahlen sollten.

Die genaue Zahl der Bergleute, die in Schacht 23 verunglückt sind, ist bis heute nicht bekannt. Jeder ­Zwischenfall da unten blieb unter Verschluss. Der mit Abstand größte wird sich aber im Dezember 1925 ­ereignet haben: Ein Schlagwetter hat damals fünf Kameraden da unten erwischt. Nur zwei der Toten hat man bergen können. Die drei anderen blieben im Stollen zurück, weil alles andere viel zu gefährlich war. Sie liegen unter Tonnen von Gestein, hinter einer Holzverschalung, die den eingestürzten Abschnitt des Schachts verschließt. Wenig später hat man ein geweihtes Kreuz aus Eisen auf den Verschlag nageln lassen, um den Toten dahinter Frieden zu geben. Angesichts dieser Geschichte wurde der Steiger nicht müde, zwei Dinge zu beteuern: Ich gehe mit euch da runter. Das war richtig. In zehn Tagen ist unsere Arbeit getan. Das war falsch. Für die neun Freiwilligen, die es am 4. Oktober 1938 gemeinsam mit Paul in die Tiefe verschlug, sollte der Einsatz niemals enden.

Ob auch ich glaube, dass im Schacht der Toten jede Uhr nach spätestens fünf Minuten stehen bleibt? Ob auch ich etwas auf das Gerücht gebe, dass es da unten immer etwas dunkler ist als anderswo im Berg? Ob auch ich mir sicher bin, dass man tief im Stollen manchmal ein kleines Kind weinen hört und dass hinter dem Holzverschlag das Stöhnen und Rufen der Verschütteten zu vernehmen ist, wenn man nur lange genug lauscht? Ob auch ich meine, dass man in Schacht 23 das Gefühl hat, auf Schritt und Tritt beobachtet zu werden, weil es dort spukt?

Ich weiß nur, was ich gesehen habe, als unsere Kameraden nach ihrer letzten Schicht da unten zurück zu uns nach oben gekommen sind schreiend und weinend und ohne Verstand: Das einzige, was Paul bis heute von sich gibt, sind wirre Kinderlieder. Der Steiger singt sie in einer Stimmlage, bei der sich allen in der Nervenheilanstalt die Haare sträuben. Mein Freund Wilhelm dagegen läuft seit seiner Rückkehr nur noch im Kreis. Seine Frau hat er am Krankenbett ebenso wenig wiedererkannt wie seine Söhne. Und das beruht auf Gegenseitigkeit. Die Männer aus Schacht 23 sind weit vor der Zeit ergraut und drei der Unglücklichen in ihren Betten gestorben. Sie wachten morgens nicht mehr auf, weil ihre Herzen im Schlaf einfach stehen geblieben sind wie ein Uhrwerk, das seinen Dienst versagt.

Bis heute wissen wir nicht, ob es Paul und den anderen damals wirklich gelungen ist, die maroden Stützen in Schacht 23 auszutauschen, den Plänen des Engländers folgend. Wir wissen nur, dass ihnen an ihrem letzten Tag im Stollen etwas Furchtbares zugestoßen ist. In Pauls Taschen hat man Knochen gefunden. Und der arme Wilhelm hat auf seinem Weg hinaus ein rostiges Kreuz aus Eisen umarmt, in dem vier Nägel steckten. Hat er gemeinsam mit den anderen da unten wirklich noch hinter das Holz geblickt?

Zwei Wochen nach dieser Tragödie wurde das Grubenfeld geschlossen. Der Ingenieur aus England starb am Tag darauf bei einem Eisenbahnunglück auf dem Heimweg nach London. Der Zug ist – so berichteten es Augenzeugen – auf gerader Strecke entgleist und hat 23 Menschen mit sich ins Verderben gerissen. Thomsons Pläne, Skizzen und Aufzeichnungen aus dem Schacht der Toten sollen zur selben Stunde in Flammen aufgegangen sein, ein paar hundert Meilen entfernt, im Panzerschrank jener hohen Herren, die ihn einst beauftragt hatten. Wir haben damals mit eigenen Augen gesehen, dass der Engländer immer wieder nach unten in den Berg gefahren ist, zu Paul und den anderen, um sich ein Bild von der Arbeit in Schacht 23 zu machen. Warum nicht auch bei ihrer letzten Schicht? Man hat uns stattdessen nur etwas von Grubengas und von großer Gefahr im Berg erzählt, sollte Schacht 23 eines Tages doch noch einstürzen. Und so beließ man es dabei, den Schacht der Toten für immer zu verschließen und das Grubenfeld darüber aufzugeben. Die Herren von ganz oben sollen viel Geld dafür gezahlt haben, dass die Zeitungen nichts mehr darüber schrieben. Und uns Bergleute verteilte man ohne großes Aufsehen auf andere Zechen.

Ich selbst gehöre zu denen, die nach diesem Unglück niemals wieder unter Tage gearbeitet haben. Weil wir nicht vergessen können. Und weil wir Fragen stellen. Wir versuchen bis heute, an den Fotoapparat zu gelangen, den Paul im Schacht der Toten bei sich getragen hat. Wo sind seine Bilder geblieben? Und was ist auf ihnen zu sehen? Warum verrät man uns nicht, was den Kameraden da unten im Berg wirklich widerfahren ist? Die wenigen, die heute noch leben, können wir nicht fragen. Sie hocken nach wie vor in Gummizellen oder sind im Sanatorium an ihre Betten geschnallt, damit sie nicht länger versuchen, sich die Augen aus dem Kopf zu reißen. Der Teufel alleine scheint zu wissen, was es mit Schacht 23 auf sich hat. Und bis er mir sein Geheimnis am Ende der Schicht verrät, bleiben mir nur diese Worte: Für kein Geld der Welt!



3. Oktober: Geisternacht


Es gibt gute Ideen, und es gibt weniger gute Ideen. Das hier war eine weniger gute Idee, fand Frederic. Vor ihm auf dem Boden lag ein abgetrennter Kopf, so groß wie zwei Fußbälle. Mit dreieckigen Augen, die ihn durch die Dunkelheit hasserfüllt anstarrten. In ihren Höhlen flackerte Kerzenlicht. Sein Schein kroch durch einen gezackten Mund, vorbei an steilen, scharfen Zahnreihen. Die Nase im Zentrum der Fratze war ein tiefes Loch, mit einem Taschenmesser mitten ins Gesicht geschnitten. Die Haut des Schädels war orangerot, verblichen und faul.

„Alte Kürbisse sind die besten“, hörte Frederic seinen Bruder Kai sagen. Und Kai musste es wissen mit seinen fast dreizehn Jahren. Der Bitte ihrer Eltern, in diesem Jahr auch den kleinen Frederic am Halloween-Fest teilhaben zu lassen, war er nur murrend gefolgt. „Wenn es sein muss. Fred macht sich ja doch nur in die Hosen, wenn es ernst wird.“

„Mach’ ich nicht“, rief Frederic in das Halbdunkel – nur sein Bruder nannte ihn abfällig bei seinen ersten vier Buchstaben. Er fragte sich, was ihre Eltern dazu sagen würden, dass man ihn auf dem Dachboden eingesperrt hatte, kurz nachdem sie zum Cousinen- und Vettern­abend gegangen waren. So kam es, dass ­Frederic an jenem 31. Oktober alleine in der Dach­kammer hockte, umgeben von alten Schränken, Kisten und besagtem Kürbiskopf, der vor seinen Füßen lag und ihn wild angrinste.

Und da war sie wieder, die Stimme seines Bruders: „Hey Fred“, hörte er sie durch das Flackern der Kerze sagen, „wenn du heute Nacht mit uns kommen willst, musst du eine Mutprobe ablegen. Zwei Stunden lang wirst du mit dem Kürbis da alleine auf dem Dachboden sitzen und abwarten, bis das Licht ausgeht. Wenn die Gespenster dich dann immer noch nicht geholt haben, darfst du mitkommen, okay?“

Nur durch eine schmale Luke war der Dachboden zu erreichen. Auf der anderen Seite hing eine Treppe, und genau die hatten Kai und seine Freunde mit Gelächter eingezogen, nachdem sie den Einstieg mit dem schweren Messingschloss verriegelt hatten.

„Zwei Stunden“, hörte er seinen Bruder noch rufen. Das war jetzt drei Stunden her. „Dann holen wir dich raus. Ehrenwort. Vorausgesetzt, die Gespenster haben dich nicht mitgenommen. Das machen sie gerne mit Kindern, wenn es dunkel wird. Deswegen solltest du hoffen, dass diese Kerze hier lange brennt. Gib Acht, dass sie nicht ausgeht.“

Das Teelicht, das die Jungs in den ausgehöhlten Kürbis gesteckt hatten, brannte immer noch.

Kai und die anderen waren dann ohne ihn losgezogen, um mit Bettlaken auf ihren Köpfen von Haus zu Haus zu gehen und kistenweise Schokolade einzukassieren.

„Pass gut auf dich auf“, hatte einer von Kais Freunden vergnügt durch die Luke gerufen. „Heute ist die Nacht der bösen Geister.“

Frederic lauschte dem Pfeifen des Herbstwindes, der entschlossen um das Haus schlich. Hin und wieder kratzten Laub und Äste über die andere Seite der Dachziegel. Es klang so, als würde ein Tier darüber hinweg laufen. Eine Maus vielleicht, oder sogar eine Ratte. Es war für diese Jahreszeit ungewöhnlich kalt, und das sprach für einen strengen Winter. Eigentlich mochte Frederic den Herbst. Er liebte es, in Bergen aus goldgelben Blättern zu spielen, und die schönsten, die er draußen fand, benutzte er als Lesezeichen für seine Comics. Mit ihrer Hilfe hatte Frederic schneller lesen gelernt als manche seiner Schulkameraden. Ab und zu brachte seine Mutter ihm auch GESPENSTERGESCHICHTEN mit. Seltsam? Aber so steht es geschrieben. Mit diesem Satz endeten sie alle. Viele Storys erzählten von Vampiren, von Werwölfen und von anderen Seelen, die keinen Frieden finden. Wie kam sein Bruder also dazu, dass er sich vor Geistern fürchtete?

Frederic konzentrierte sich auf den Kürbis. Er wagte es nicht, sich umzusehen. Hin und wieder glaubte er jenseits der Kisten, in denen seine Eltern viele alte Sachen lagerten, Schritte zu hören. Sie ließen den staubigen Holzfußboden knirschen wie das Deck eines alten Schiffs auf hoher See.

Die Geister sind längst hier, flüsterte es von allen Seiten, doch Frederic wusste, dass er sich das nur einbildete. Sie haben dich umzingelt und warten nur auf ihre Gelegenheit. Je schwächer das Licht im Hals des Kürbisses schien, umso länger wurden die Schatten, die ihre Umrisse auf die Schrägen des Dachbodens warfen. Manche sahen aus wie tanzende Phantome, mit ausgestreckten Händen und gekrümmten Fingern, die nur ein Ziel hatten. Pass auf, dass sie dich nicht erwischen. Die Würgegeister sind die Schlimmsten.

Frederic hatte Angst. Wenn es sie wirklich gab, dann hatten die Geister hier oben ein leichtes Spiel mit ihm. Er war ganz allein heute Nacht. Natürlich hatte Frederic den Dachboden nach Kerzen abgesucht. Selbst Kartons hatte er geöffnet, in der Hoffnung, etwas Brennbares zu finden, mit dem er nicht gleich das ganze Haus anstecken würde.

Unter die Kommode zu blicken, die einst seiner Großmutter gehört hatte – sie war seit zwei Jahren im Himmel – vergaß Frederic. Dort lief ein verstecktes Tonband­gerät, das auf Aufnahme gestellt war, um seinen Bruder und dessen Freunde morgen ein wenig zu erheitern, wenn sie in ihrem Baumhaus über Playboy-Heften hockten, die sie aus Containern für Altpapier gezogen hatten. Das Schluchzen, das Frederic über die Lippen gekommen war, hatte das Gerät bereits aufgezeichnet. Ebenso wie andere Dinge, die der Junge auf dem Holzfußboden nicht hören konnte.

Keine Kerze, kein Feuerzeug und keine Lampe. Frederic dachte an seine Eltern, als das Kerzenlicht mit einem Mal erlosch und den Kürbis in der Dunkelheit verschwinden ließ. Es roch nach Kerzenrauch, und das Herz des Jungen begann noch aufgeregter zu schlagen als ohnehin schon.

„Die Würgegeister kommen alle zwanzig Jahre für eine Nacht zurück auf die Erde, um sich Kinder zu holen. Am liebsten zu Halloween, weil sie dann niemandem auffallen. Jeder hält ihre Leichentücher für Verkleidungen. Sie mischen sich unters Volk und spionieren Siedlungen aus, in denen Kinder zu Hause sind. Erwachsene interessieren sie nicht. Es geht ihnen um frische Seelen, unverbraucht und sauber, ohne den Ballast, den große Menschen mit sich herumtragen. Sie lieben Kinder, die sich aus Angst in die Hosen machen. Zuletzt waren sie 1984 in unserer Stadt. Damals holten sie sich den kleinen Benjamin aus dem Eulenweg. Seine Eltern haben wochenlang nach ihm gesucht. Würgegeister kennen keine Angst. Liebe ist ihnen ebenso fremd wie Mitleid. Ihnen reicht die Kraft ihrer eiskalten Hände.“

Die Stimme in Frederics Kopf wollte nicht verstummen. Sein Bruder war schon immer ein großer Erzähler gewesen, doch dieses Mal hatte er sein Meisterstück abgeliefert. Kai hatte sich viel Zeit genommen, um Fred das alles zu erzählen, und die anderen Jungs hatten voller Ehrfurcht genickt. Sie ließen Kai reden, ohne zu wissen, dass sie damit sein Schicksal besiegelten.

„Würgegeister können durch Wände gehen, Fred. Und sie riechen ein Kind, das sich vor Angst in die Hosen macht, schon aus tausend Metern Entfernung. Sie können dich wittern, wenn du nicht vorsichtig bist. Dein Duft lässt ihnen das Wasser im Mund zusammenlaufen. Sie wissen, wie man an Dachrinnen entlang klettert und durch Schornsteine in Wohnzimmer steigt. Auf Dachböden schlagen sie am liebsten zu, denn dort ist ihre Beute in der Regel allein. Sie lieben es, kleine Jungs aus dem Hinterhalt zu überraschen, wenn sie heimlich nach Gerümpel suchen oder nach Comic-Heften, die irgendjemand weggesteckt hat, weil sie im Kinderzimmer doch nur in der Ecke herumliegen. Hin und wieder erwischen sie auch Kinder, die gerade eine Mutprobe ablegen und sich einreden, dass es keine Würgegeister gibt. Sie warten, bis die Kerze erloschen ist. Zuerst holen sie sich den Kürbis. Sie verschlingen ihn und hoffen, auf Kerzenwachs zu stoßen. Wenn sie könnten, würden sie kiloweise Kerzen essen. Du wirst ihr Schmatzen hören. Und wenn sie mit dem Kürbis fertig sind, dann holen sie dich.“

Frederic hoffte, dass Kai ein Lügner war. Er streckte die Arme aus und ließ seine Finger über den Holz­fußboden wandern. Er wollte sich vergewissern, dass der Kürbis immer noch an seinem Platz lag. Er wollte einfach nur die raue Haut berühren, die Augen ertasten und durch den Mundschlitz das Teelicht zu fassen bekommen. Vielleicht brannte der Docht ja noch. Aber der Kürbis war nicht mehr da.

Anstatt noch größere Angst zu bekommen, bemühte Frederic sich um Ruhe. Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder hatten Kai und seine Freunde es geschafft, sich auf den Dachboden zu schleichen, um ihn zu erschrecken.

Oder es gab die Würgegeister wirklich.

„Es ist ihnen gestattet, bei jeder Wiederkunft zehn Kinder zu holen. Fünf Jungen, fünf Mädchen. Das ist abgemacht nach zähen Verhandlungen zwischen Gott und dem Teufel. Die Würger bevorzugen Jagdreviere in Amerika und Europa.“

„Ist da jemand?“

Diese Frage erübrigte sich angesichts der furchtbaren Geräusche auf dem Dachboden. Jetzt machte Frederic sich wirklich in die Hosen, ganz so, wie sein Bruder es vorausgesehen hatte. Panik und Scham machten sich in ihm breit, und er schnappte nach Luft. Vielleicht sollte er um Hilfe rufen. Aber wer würde ihn hören? Der Junge starrte auf das Dachfenster, hinter dem der fahle Mond schien. Irgendwo weiter hinten glaubte er ein leises Lachen zu hören.

„Ist da jemand?“, fragte Frederic noch einmal, obwohl er nur zu gut wusste, dass das sinnlos war. Er rutschte ein Stück rückwärts, bis seine Schultern gegen etwas Hartes stießen. Das Lachen verwandelte sich in ein Kichern, und jetzt kam es von allen Seiten auf ihn zu. Der Junge spürte, wie sich sein Hals zuschnürte vor lauter Verzweiflung. Das hässliche Kichern ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Es sollte das Letzte sein, was Frederic in seinem Leben zu hören bekam.

Ihm blieben nur noch Sekunden.

Drei Monate später stellte die Polizei ihre Suche nach Frederic als ergebnislos ein, und die Ermittlungsakte wurde geschlossen. Selbst unter den Dielenbrettern des Dachbodens hatte man nach dem Jungen gesucht. In der Kammer wurden DNA-Spuren gesichert: Ein paar Haare, die mit denen aus Frederics Kamm verglichen wurden, etwas Urin auf dem Parkett, und das war alles. Der Umstand, dass die Luke des Dachbodens ebenso fest verschlossen vorgefunden wurde wie das Fenster, machte das Verschwinden des Jungen noch rätselhafter. Es dauerte nicht lange, bis ein Sensationsreporter Parallelen zu einem ähnlichen Fall herstellte, der sich auf den Tag genau vor zwanzig Jahren nur ein paar Straßen weiter ereignet hatte. Auf den Gedanken, in den Archiven vierzig, sechzig und achtzig Jahre zurück zu blättern, kam niemand – auch wenn sich dabei eine erschütternde Lektüre ergeben hätte.

In zwei Gottesdiensten, einer evangelisch und einer katholisch, wurde an den verschwundenen Jungen erinnert. Freunde und Bekannte legten vor dem Haus am Finkenweg Blumen nieder. Vernehmungen brachten die Ermittler ebenso wenig weiter wie das Eingeständnis des Bruders, Frederic in der Tatnacht auf dem Dachboden allein gelassen zu haben. Kai konnte nicht erklären, wer da oben den Spiegel der Kommode zerschlagen hatte. Und er verschwieg den Beamten, dass er an das Tonbandgerät gelangt war und sich die Aufnahmen gemeinsam mit seinen Freunden angehört hatte. Keiner der Jungs sollte diese vierzig Minuten jemals wieder vergessen.

Kai war angesichts der entsetzlichen Geräusche, die auf dem Band zu hören waren, bis die Aufnahme aussetzte, in Tränen ausgebrochen.

„Macht das aus! Macht das sofort aus!“

Die Jungs beschlossen, den Inhalt des Tonbands für sich zu behalten, und sie sollten sich bis ans Ende ihrer Tage vor jedem 31. Oktober fürchten. Noch am selben Abend verbrannten sie die Kassette auf einer Lichtung und vergruben die verkohlten Überreste im Wald. Dann eilten die Jungs nach Hause, als sei der Leibhaftige hinter ihnen her. Das Tonband vom Dachboden wurde zu ihrem Alptraum, ein Würgegeist, der ihnen keine Ruhe mehr ließ. Ihre Freundschaft zerbrach ebenso daran wie ihre Fähigkeit, ruhig zu schlafen oder unbefangen in einen Spiegel zu sehen. Fest stand nur eines: Frederic blieb wie vom Erdboden verschluckt, ebenso der Gespensterkürbis, der ihm in den letzten Minuten seines Lebens Licht gegeben hatte. Seltsam? Aber so steht es geschrieben.



4. Oktober: Loch Ness


Wir ahnten damals nicht, dass die beiden jungen Männer, die uns im Schankraum gegenüber saßen, dem Tod geweiht waren. Dreißig Jahre liegt die unheilvolle Begegnung inzwischen zurück. Sie ereignete sich an einem stürmischen Abend Anfang Oktober, und mir ist, als sei das erst gestern gewesen. Ich sehe sie noch immer vor mir, in ihren teuren Maßanzügen, ein Bier nach dem anderen kippend und altklug daher schwatzend – geistreich und arrogant zugleich. John Lethbridge hieß ihr Wortführer. Eine Erscheinung wie in Stein gemeißelt, hellwach, distinguiert, weit gereist und felsenfest davon überzeugt, sich mit Geld alles kaufen zu können. Einer seiner Vorfahren hatte mit der „Diving Engine“ das Tauchen in großen Tiefen überhaupt erst ermöglicht, ­irgendwann zu Beginn des 18. Jahrhunderts, und nun war es an ihm, die Tradition seiner Familie mit Anstand fortzusetzen, wie er betonte. Seine britischen Wurzeln lägen ihm am Herzen, dozierte Lethbridge, sein Bier in einer Art und Weise trinkend, wie es nur Amerikaner zu tun vermögen. Als Mitglied der Historical Diving Society verstand er sich als Abenteurer. Er benutze, und das wiederholte Lethbridge an diesem Abend gleich mehrfach, ausschließlich historische Ausrüstungsstücke sofern es ihre Technik zuließ. Durch eine Erbschaft war er zu unglaublich viel Geld gekommen, und als Teilhaber wild sprudelnder Erdölfelder in Texas konnte sich der junge Mann jede Form von Extravaganz leisten. Der Amerikaner ließ mich nicht eine Sekunde daran zweifeln, dass er meinem alten Freund Scott und mir in allen Belangen überlegen war.

Sein Partner hieß Jankins. John Lethbridge vermied es geflissentlich, den Mann beim Vornamen zu nennen. An seinem Geldgeber gemessen war Jankins geradezu zurückhaltend. Er begleitete den unerträglichen Amerikaner bereits seit einigen Jahren. Jankins stammte aus Bristol, trug stets eine Kamera bei sich und hatte sein Talent einst in den Dienst britischer und französischer Hochglanzmagazine gestellt. Bis er eines Tages einen extravaganten Multimillionär aus den Staaten abzulichten hatte. Als persönlicher Haus- und Hoffotograf von John Lethbridge erfüllte ihn seitdem die Hoffnung, sich in absehbarer Zeit mit einem Haufen Geld zur Ruhe setzen zu können. Jankins verbrachte den Abend damit, Scott und mich reserviert zu beobachten und hin und wieder seine hohe, braungebrannte Stirn zu runzeln, wenn wir etwas sagten. John Lethbridge offenbarte uns, dass sich sein persönlicher Assistent bestens darauf verstand, die Fotos, die er bei ihren gemeinsamen Expeditionen rund um den Erdball schoss, gegen Höchstgebote zu versilbern. Jankins war unberechenbar. Wortkarg trank er sein Bier und sah sich dabei immer mal wieder nach der hübschen Bedienung um, die uns bald schon mit Malt Whisky versorgte und nicht einen Blick erwiderte.

So saßen uns John Lethbridge und Jankins in einem verrauchten Pub in Inverness gegenüber und besiegelten ihr Schicksal. Ein Mittelsmann, sein Name war Rowlins, hatte sich ein paar Tage zuvor mit uns in Verbindung gesetzt über den Hafenmeister aus Aberdeen, den wir gut kannten. Lethbridge suchte zwei für sein nächstes Vorhaben erfahrene Seeleute, die Geld verdienen wollten, ohne daraus eine große Sache zu machen. Zwei Tage sollte der Job in Anspruch nehmen. Unsere einzige Verpflichtung bestand in Stillschweigen. Kein Wort zu unseren Familien, kein Wort zu unseren Freunden und vor allen Dingen kein Wort zur Presse. Andernfalls drohte uns die Rückzahlung des Zehnfachen der vereinbarten Summe.

Nach Unterzeichnung eines entsprechend geharnischten Vertrages bei einem Notar wurden wir mit einem stattlichen Vorschuss und mit einem Boot bedacht. Der Kahn, den Lethbridge über den Hafenmeister hatte chartern lassen, hieß „Maid of Moray“, war gut in Schuss und lag startbereit an einem Ausleger am Loch Ness. Das roch nach leicht verdientem Geld. Scott und ich sollten die „Maid“ nur hinaus auf den See steuern und den beiden Abenteurern beim Tauchgang zur Hand gehen.

John Lethbridge war mit Blick auf das bevorstehende Spektakel kaum noch zu bremsen, was Jankins sichtlich unangenehm war. So erzählte uns der Amerikaner nach seinem dritten Bier von einer Himalaya-Expedition auf den Spuren des Yeti. Und von den wirklich ­wundervollen Fotos, die Jankins von den Überresten eines solchen geschossen hatte. Hinter den verschwiegenen Mauern eines Klosters in Tibet, immer darauf bedacht, die jahrhundertealten Fundstücke bloß nicht durch Blitzlicht zu beschädigen. An der Echtheit des Fundes bestehe kein Zweifel, erklärte uns Lethbridge. Ähnliches gab es von Bigfoot zu berichten. Ihm waren die beiden Männer vor zwei Jahren über den Weg gelaufen. In den Rocky Mountains. Das behaupteten sie zumindest.

Das Ungeheuer von Loch Ness fehle ihm noch in der Sammlung, ließ Lethbridge uns wissen. Er hoffe, das Untier beim Tauchgang mit Jankins vor die Linse zu bekommen – ein Relikt aus der Urzeit, das tief unten im See die Jahrtausende überdauert hatte. Ich fragte mich, wann der Amerikaner uns wohl von seinem Besuch in der Area 51 berichten würde. Und von den Fotos der vier außerirdischen Leichen, die seit dem Absturz von Roswell in New Mexico im Sommer 1947 dort aufbewahrt wurden. Möglicherweise war John Lethbridge ja auch im Besitz des Heiligen Grals und der Bundeslade, die er in einer extra dazu gebauten Frachthalle in seiner texanischen Heimat bei konstanter Temperatur und Luftfeuchtigkeit aufbewahren ließ, um sie eines Tages doch noch der staunenden Welt zu präsentieren.

Unser Auftrag: Mit Seilwinden und Galgen am Heck der „Maid“ sollten wir Lethbridge und Jankins in die Tiefe befördern. Die Männer verfügten über beheizbare Helmtauch-­Ausrüstungen, von der Sorte, wie man sie aus alten Schatzsucher-Geschichten kennt. Dreißig Meter tief, das sollte reichen, um einen aufschlussreichen Blick in den See zu werfen. John Lethbridge legte Wert auf einen ­stilechten Tauchgang. Eigens für dieses Unternehmen hatte er deshalb zwei Tiefseetauchanzüge aus den 40er Jahren generalüberholen und auf den neuesten Stand der Technik bringen lassen. Die Unterwasser-­Scheinwerfer und die Kameras, welche die Männer mit nach unten zu nehmen gedachten, waren hochmodern und das Beste, was es auf dem Markt zu kaufen gab.

Der Zeitpunkt war ideal: Vor drei Wochen hatte es glaubhafte Meldungen über Sichtungen an der Westseite des Loch Ness gegeben. Diesen wollten Lethbridge und Jankins nachgehen, gegebenenfalls mit Tauchgängen an verschiedenen Stellen im See. Augenzeugen hatten – pünktlich zu Beginn der Saison – von riesenhaften Umrissen im Wasser berichtet, einer Schlange gleich, fast zehn Meter lang und sehr, sehr schnell.

In der Überzeugung, den ersten echten Beweis für die Existenz des Ungeheuers von Loch Ness zu liefern, waren Lethbridge und Jankins nach Schottland ­gekommen. Das berühmte Nessie-Foto aus dem Jahr 1934 sei nichts anderes als eine Fälschung, behauptete der Amerikaner, und wir könnten gerade auch deshalb stolz sein, den Tauchgang hier gemeinsam mit ihm zum Erfolg zu führen, um der Welt da draußen endlich handfeste Aufnahmen zu liefern. Nach dem Loch Ness werde man bald schon im Lake Okanagan in Kanada tauchen, auf gleiche Weise, ebenfalls auf den Spuren eines Seeungeheuers, das an Land immer mal wieder für Schlagzeilen sorgte. Der Amerikaner entspannte sich etwas, als die Bedienung – eine gälische Schönheit mit feuerroter Mähne – Nachschub auf seinen Bierdeckel stellte.

Mit Kähnen wie der „Maid“ aus früheren Zeiten vertraut, ließen wir uns auf das Abenteuer ein. John Lethbridge hatte es sich unter Zuhilfenahme monetärer Mittel, wie er es nannte abschließend auch bei den schottischen Behörden absegnen lassen. Mit der Maßgabe, bei einer Sichtung und eindeutigen Fotos umgehend die Regierung zu informieren. Um den Reiz seiner Mission zu vergrößern, hatte es sich der Amerikaner auch noch in den Kopf gesetzt, nachts zu tauchen. Und er war durch nichts davon abzubringen. Auf Aufnahmen unter solchen Bedingungen sei er spezialisiert, sekundierte Jankins. Außerdem sei die Chance, unter Wasser tatsächlich auf das Ungeheuer zu treffen, in den Nachtstunden am größten: Nach allem, was wir wissen, verlässt es vor allem bei Dunkelheit sein Versteck tief unten im See, um weiter oben auf die Jagd nach Fischen und Seevögeln zu gehen.

Am Abend darauf machten wir uns auf den Weg. Der Himmel war sternenklar, als wir mit der „Maid of Moray“ auf Loch Ness hinaus fuhren. Lediglich ein paar japanische Touristen schauten uns nach, als wir ablegten. Jankins und Lethbridge winkten den Leuten feixend zu. Die Beiden waren auch noch in bester Laune, als sie wenig später in ihre Helmtauch-Anzüge stiegen. Nach einer kurzen Einweisung wussten Scott und ich, was beim Einkleiden unserer Helden zu beachten war: Wir reichten dem Amerikaner und seinem Tauchpartner schwere Drei-Bolzen-Helme und arretierten sie auf nicht minder schweren Schulteraufsätzen. Dann prüften wir die Zufuhr der Luftschläuche, kontrollierten die Auslassventile an den Anzügen ebenso wie die Pumpsysteme, die Lethbridge und Jankins unten im See mit Atemluft versorgen sollten. Die Männer sprachen über ihre Helm-Mikrophone mit uns. Zur Vorsicht waren beide auch noch über ein Zugseil als Signalgeber mit der „Maid“ verbunden. Am Ende der beiden Seile hing jeweils eine Glocke aus Messing. Sobald sie läutete, galt es, die Taucher so schnell wie möglich aus dem See zu ziehen.

Bleischuhe und Gewichtsgürtel sollten den Abstieg am Stahlseil sicherstellen und einen unerwarteten Auftrieb verhindern. Das größte Risiko bestand darin, dass sich die Luftschläuche an den Zugseilen ineinander verwickelten. Für diesen Fall trug jeder der Männer eine Pressluftflasche bei sich, auf die er bei Gefahr zurückgreifen konnte. Abschließend checkten wir die beiden ­Motorwinden. Fielen sie aus, bestand zur Not immer noch die Möglichkeit, die Taucher per Handkurbel aus dem Wasser zu holen. Doch darauf wollten wir es nicht ankommen lassen, zumal die Ausrüstungen, in denen die beiden Männer steckten, unglaublich schwer waren.

Zehn Minuten später, es war gegen 22 Uhr, ließen wir Lethbridge und Jankins in den Loch Ness hinab. Sie nickten uns zum Abschied zu und hoben ihre Daumen wie die Gewinner eines Straßenrennens. So hingen die beiden Männer im Sicherungsgeschirr und schauten uns durch die dicken Glasscheiben ihrer Helme an, Kamera und Scheinwerfer im Anschlag. Dann tauchten sie ab in die Tiefen des Sees, während die Winden über ihnen gehorsam surrten und sich der Pumpengenerator hinter uns ebenso ergeben an die Arbeit machte.

Wir hörten Lethbridge die Melodie von Fly me to the moon summen, jetzt schon fünf Meter unter dem pechschwarzen Wasserspiegel, der sich langsam aber sicher beruhigte. Hin und wieder stiegen dicke Luftblasen aus den Auslassventilen der Taucheranzüge auf und zerplatzten an der Oberfläche. Das Scheinwerferlicht, das fahl zu uns nach oben schien, wurde von Sekunde zu Sekunde schwächer. Die Farbmarkierungen an den Stahlseilen zeigten uns im Licht des Bordscheinwerfers, dass Lethbridge und Jankins bereits zehn Meter tief tauchten. Wir benutzten die Funksprechanlage und ließen die beiden Winden nicht einen Moment lang aus den Augen.

„Alles in Ordnung!“, ließ John Lethbridge uns nach einer Kunstpause wissen. „Alles ganz wunderbar hier unten.“

Die Lichter der Uferhäuser waren jetzt so weit weg wie die Sterne hoch über uns. Bei Meter zwanzig war nichts mehr vom Schein der Unterwasserlampen zu sehen. Scott nickte mir angespannt zu. Zehn Meter noch, und die beiden Verrückten waren am Ziel. Ein schlechter Scherz, wenn man bedenkt, dass Loch Ness bis zu 230 Meter in die Tiefe führt – aber das hier war alles, was die beiden Abenteurer verlangten: Sie waren fest davon überzeugt, dass dreißig Meter genügten, um dem Ungeheuer zu begegnen. Ich glaube nicht, dass die Männer auch nur entfernt daran gedacht hatten, sich auf ihrem Tauchgang zu bewaffnen. Mut kennt keine Kompromisse. Meine größte Sorge galt nach wie vor den beiden Auslegern der Seilwinde, die knapp drei Meter voneinander entfernt standen und das Heck unseres Bootes nach unten zogen. Was würde geschehen, sollten sich die Stahlseile, an denen Jankins und Lethbridge fast 180 Kilogramm schwer hingen, ineinander verfangen? Oder die Luftschläuche? Ich hoffte, dass sich die Beiden wirklich auf ihr Handwerk verstanden. Wind kam auf und ließ mich erschauern.

Bei Meter 25 hörten wir mit einem Mal ein Raunen durch den Lautsprecher der Funkanlage dringen. Ich weiß bis heute nicht, ob es von Lethbridge oder Jankins kam. Niemals vergessen werde ich den Schrei bei Meter 27, der uns dazu trieb, die Winden zu stoppen. Die ­Wasseroberfläche entlang der Seile und Schläuche kam in Bewegung, und die „Maid“ begann zu schaukeln, ganz so, als sei sie in einen Sturm geraten. Das Hin und Her wurde stärker und stärker, so dass wir Probleme hatten, uns auf den Beinen zu halten. Bei Meter 28 war der Tauchgang der Abenteurer beendet, und ich entschied, sie sofort nach oben zu holen, während Scott vergeblich versuchte, sie über die Funksprechanlage zu erreichen. Die Geräusche, die jetzt aus der Tiefe zu uns drangen, waren nicht länger beunruhigend. Sie waren grauenvoll. Plötzlich riss die Verbindung ab. Wellen peitschten gegen das Boot und ließen keinen Zweifel daran, dass sich da unten im See etwas sehr Großes bewegte.

Bei Meter 15 hörten wir einen weiteren Schrei, diesmal eindeutig von Jankins. Dann ging ein harter Ruck durch sein Seil. Die Alarmglocken über unseren Köpfen dröhnten in die Nacht hinaus, bevor sie aus der Verankerung rissen, dicht an uns vorbeischossen, zwei oder drei Meter von der „Maid“ entfernt ins Wasser schlugen und versanken.

Scott bemühte sich, seine Panik in den Griff zu bekommen. Zunächst mit Flüchen. Dann mit Stoßgebeten. Beides zeigte keine Wirkung. Ich glaubte, unter Wasser das schwirrende Licht eines Scheinwerfers zu erkennen. Vermutlich war es der von John Lethbridge. Und dann schob sich etwas Riesenhaftes zwischen das Schimmern und die Oberfläche des Sees. Scott und ich starrten fassungslos in die Tiefe. Und wir wünschten uns, dass die Seilwinden schneller arbeiteten.

Meter zehn, Meter neun, Meter acht, Meter sieben – dann war das Scheinwerferlicht mit einem Mal wieder zu sehen und der gewaltige Umriss verschwunden. Sekunden später brach Lethbridges Drei-Bolzen-Helm durch die Wasseroberfläche, dicht über dem Riemengeschirr, an dem der Amerikaner baumelte wie ein Hochseefang. Wir zogen den leblosen Körper des Tauchers mit vereinten Kräften zu uns ins Boot und ließen einen Moment lang die zweite Winde aus den Augen, die mit protestierendem Heulen Jankins an die Oberfläche zurückholte. Wir hatten John Lethbridge geborgen, als ein Schlag durch das Boot ging und die zweite Seilwinde in Stücke gerissen wurde. Etwas Großes, etwas überaus Kräftiges zog am anderen Ende, und alles, was von Jankins auftauchte, war ein leeres Geschirr. Zerrissen, verbogen und blutverschmiert.

Niemals in meinem Leben werde ich den Moment vergessen, als wir John Lethbridge von seinem eiskalten Helm befreiten und in die weit aufgerissenen Augen eines Mannes blickten, der eben erst dem Tod begegnet war. Er atmete in Stößen, außer sich, und als wir nach ihm griffen, schlug er wild um sich. Dann blieb das Herz des Amerikaners stehen, einfach so. Er starb in meinen Armen triefend nass, zusammengekauert, zitternd, verausgabt, wirres Zeug stammelnd, immer noch voller Angst. Ganz gleich, was Lethbridge in den Tiefen von Loch Ness auch erblickt hat es muss etwas Furchtbares gewesen sein. Scott hatte sich als erster von uns beiden wieder im Griff. Er eilte zum Funkgerät und schickte einen Notruf in die Nacht hinaus. Vom Rauschen der Lautsprecher abgesehen, war es auf dem See mit einem Mal totenstill.

Wieder an Land, schlug die Stunde der Notärzte und Polizisten. Und es schlug die Stunde der Marinetaucher, die am Tag nach dem tödlichen Tauchgang genau jene Kamera aus den Tiefen bargen, die Jankins bei sich getragen hatte. Von ihm selbst fehlt bis heute jede Spur. Abgesehen von seiner abgetrennten rechten Hand, die das Objektiv auf dem Grund des Sees immer noch umschlossen hielt.

Die Aufnahmen, die Jankins unter Wasser gemacht hat, liegen seit fast dreißig Jahren in einem Londoner Panzerschrank, heißt es. Scotland Yard wird sie uns niemals zeigen. Man hält die Bilder warum auch immer unter Verschluss. Zwei Tage lang wurden Scott und ich in Aberdeen vernommen, während die Pressemeldung über einen tragischen Tauchunfall im ganzen Land die Runde machte: Ein reicher Tourist aus den Vereinigten Staaten, der seit seiner Kindheit an einem nicht erkannten Herzfehler litt, war bei einem Tauchgang im Loch Ness auf tragische Weise ums Leben gekommen. Von einem zweiten Taucher war in den Zeitungen nichts zu lesen. Und auch nichts von den beiden Helfern an Bord der „Maid of Moray“, die John Lethbridge und seinen Assistenten bei der Expedition auf den Spuren des Ungeheuers von Loch Ness begleitet hatten. Der mit dem Fall befasste Inspektor, seinen Namen verriet er uns nicht, verdonnerte Scott und mich zu Stillschweigen.

Bis heute halten wir uns daran, auch wenn die Alpträume mir nach wie vor zusetzen. Wieder sehe ich die beiden Abenteurer vor uns, fest davon überzeugt, dass man sich mit Geld alles kaufen kann. Und ganz gleich, was man mir eines Tages dafür bieten wird, sollten die Polizeiakten doch noch geöffnet werden: Scott und ich werden niemals verraten, was wir damals im Loch Ness erblickt haben, bei Meter zehn, als die Scheinwerfer der beiden Taucher genau das anstrahlten, was ihnen in den Tiefen des Sees zum Verhängnis werden sollte. Ich habe das Ungeheuer nur ein paar Sekunden lang gesehen, verschwommen und verzerrt. Aber ich bin mir sicher, dass es mich durch die Fluten beobachtet hat mit Augen, die furchterregender nicht sein können. Nur eines weiß ich seit jener Nacht genau: Niemals wieder werde ich in ein Boot wie die „Maid of Moray“ steigen und auf Loch Ness hinaus fahren. So wahr mir Gott helfe.



5. Oktober: Sand


Nevada! Fay beobachtete ihren Liebsten schon eine ganze Zeit lang. Neil hatte seine eigene Art, in die Ferne zu blicken die eine Hand lässig am Lenkrad, die andere verwegen am Türflügel des Cabrios. So könnte man ihn malen. Der Fahrtwind rauschte Fay durchs Haar, als sie die Interstate westwärts nahmen. Die Sonne hoch über ihnen hatte das Land hier schon vor Ewigkeiten ­verbrannt bis auf das karge Strauchwerk, das vom Rand der Straße aus gierig in die Steppe griff. Entlang der Meilensteine ragten gestorbene Bäume in die Weiten und streckten ihre hölzernen Arme in den Nachmittag. Fay lehnte sich zurück. Die viel zu große und viel zu teure Sonnenbrille auf ihrer Nase ließ keinen Blick auf ihre Augen zu. Sie betrachtete sich abermals im Spiegel der Sonnenblende. Ihre Fahrt ins Glück schien kein Ende zu nehmen immer geradeaus, mit der Tacho-Nadel am Anschlag. Die Lederbezüge des Mustangs kochten. Fay befürchtete, sich ihre Schultern daran zu verbrennen. Und Neil hatte sie gerade auch noch wissen lassen, dass er Sonnenbrillen genauso hasste wie schlechtes Essen und schlechten Sex.

„Ohne Brille wirst du noch blind werden“, rief Fay in das Tosen des Windes.

„In Ordnung.“ Neil grinste schief. „Wenn es sein muss.“

„Ich meine das ernst.“ Fay bemühte sich, möglichst verletzt zu klingen. „Du trägst jetzt Verantwortung.“

„Ach Fay“, sagte Neil. „Mir macht viel größere Sorgen, dass wir auf Reserve fahren, Süße. Schau mal auf die Landkarte.“ Mit diesen Worten deutete er auf das Relikt aus vergangenen Zeiten, das ausgebreitet auf dem Schoß seiner Frau lag, gedruckt auf festem, altem Papier.

„Wir haben vorhin erst getankt.“

„Du wolltest, dass wir diesen Flitzer hier mieten. Hatte noch nie einen Wagen mit solchem Durst und einem dermaßen kleinen Tank.“

Dann war es still. Nur das Schnurren des Motors war zu hören. Fay studierte gehorsam die Karte, ganz so, als betrachte sie Mamas Rezeptbuch. Neil konzentrierte sich derweil auf die Straße und hoffte, dass seine Frau zurechtkam. Fays Smartphone fand hier draußen seit Stunden KEIN NETZ, zu ihrem größten Bedauern, und einen elektronischen Navigator suchte man in diesem Traum von Auto ebenfalls vergeblich.

„Da haben wir es.“ Fay zog ihre Sonnenbrille etwas tiefer, wie eine Lehrerin, die damit beschäftigt war, auf der Veranda daheim furchtbar schlechte Klassenarbeiten zu korrigieren. „Wir sind ungefähr hier.“ Sie deutete auf einen Punkt vor sich.

Neil verzichtete auf einen Kommentar. Zumindest auf einen, den seine Süße hören konnte. Als Gott die Menschen schuf, da wollte er nicht, dass Frauen Krieg führen. Und er wollte scheinbar ebenso wenig, dass Frauen wissen, wo Norden und wo Süden ist. Neil liebte sich für seinen Chauvinismus. Er war die einzige Konstante, auf die man sich hier draußen verlassen konnte. Vom Staub auf der Motorhaube einmal abgesehen.

„Mir ist egal, wo wir sind. Sag mir einfach, wie die nächste Stadt heißt.“

„Saltpoint. Scheint aber ein Kaff zu sein.“ Sie schnitt ihrem Liebsten eine Grimasse und griff ihm dann ins Lenkrad.

„Lass das!“, rief Neil böse. Fay lachte und fuhr ihm über das unrasierte Gesicht.

„Wollte nur sehen, wie gut deine Reflexe sind.“

„Ich habe keine Lust, wegen dir in Schwierigkeiten zu geraten.“

„Ich habe keine Lust, wegen dir in Schwierigkeiten zu geraten“, äffte sie ihn nach. „Suchen wir uns ein Motel und gehen ins Bett!“ Bei diesen Worten griff Fay genau dorthin, wo Neil es seit je her am liebsten hatte. „Okay?“

„Okay“, rief er mit Motoröl in der Stimme. „Wie du willst. Süße.“

Das Biest kann zwar keine Landkarten lesen, weiß aber ziemlich genau, worauf es im Leben ankommt. Neil bemühte sich um klare Gedanken und erblickte einen rostbraunen Wegweiser auf einem Pfahl aus Eisen.


SALTPOINT ZWEI MEILEN


„Da gibt es sicher ein Motel. Es wird bald dunkel.“

Der Wagen brauste von der Interstate und wechselte auf eine marode Landstraße. Ihre Schlaglöcher waren über und über mit Sand gefüllt. Die Sonne hatte den Asphalt an manchen Stellen weich werden lassen, so dass der Mustang selbstbewusst das Profil seiner Reifen wie Schriftzeichen in ihn drückte. Senken ließen den Wagen sachte hin und her schaukeln. Fay hielt sich fest und achtete penibel auf den korrekten Sitz ihrer Sonnenbrille.

„Bist du sicher, dass es hier nach Saltpoint geht?“, fragte sie in das Ächzen der Stoßdämpfer hinein.

„Schilder lügen nicht.“ Neil sah seine Frau an und hoffte, dass es in Saltpoint ein Motel mit wirklich dicken Wänden gab. „Wir brauchen Sprit und ein gutes Bett.“ Fay machte sich abermals daran, genau dorthin zu ­greifen, wo es ihm seit je her am liebsten war, doch jetzt schob Neil ihre Hände zur Seite. „Später.“

In der Ferne erblickten sie ein weiteres Schild.

Fay las pflichtbewusst vor.


SALTPOINT

(378 EINWOHNER)

HEISST SEINE BESUCHER
HERZLICH WILLKOMMEN


Und dann noch etwas – in blutroter Farbe windschief hinzugefügt:


ALLE TOT!


„Okay“, knurrte Neil und ließ das Schild nicht aus den Augen. Das Ausrufezeichen begann zu verlaufen und tropfte in den harten Sand. „Die Leute hier scheinen Humor zu haben.“

„Wir drehen um.“, sagte Fay. „Zehn Meilen, und wir sind in ...“

„Wir fahren weiter.“

„Wir drehen um! Auf der Stelle!“

„Einen Teufel werde ich. Wir müssen tanken.“

Fay schwieg beleidigt. Sie hatte ihren Liebsten vor noch nicht einmal zwei Wochen kennengelernt – in einem Kasino für Marineleute. Nach einer wilden Nacht hatte Neil ihr versprochen, sie möglichst bald in Las Vegas zu heiraten. Zum ersten Mal zog Fay das alles in Zweifel.

Saltpoint war in der Tat ein Kaff und jedes seiner Häuser von Staub, Sand und Zeit ergraut. Schmucklose Bauten reihten sich an der einzigen Straße auf, die durch den Ort führte. An der Wand einer verlassenen Absteige hing eine verblichene Coca-Cola-Tafel, die ein nicht minder blasses Mädchen mit Zahnpasta-Lächeln zeigte.

„Da vorne ist die Tankstelle“, sagte Neil in das Schweigen hinein. „Alles okay.“

Verwahrlosung zog sich über alle Fassaden. Neil suchte Worte. Als er welche in seinen Gedanken fand, hatten sie die Tankstelle fast erreicht.

Trostlos. Das hier ist so trostlos.

„Wo sind die Leute hin?“ Fay schaute sich um. „Nicht eine Seele hier draußen.“

„Was hast du erwartet? Einen Empfang mit Bigband?“ Neil griff nach Fays Hand, doch sie zog sie zurück, ganz so, als habe sie sich an ihrem Lover verbrannt wie an einer heißen Herdplatte.

„Alle tot!“ Fay sah ihren Mann nachdenklich an. „Schilder lügen nicht. Das hast du selbst gesagt.“

„Und du hast zu viel Stephen King gelesen.“

„Sieh doch! Die Häuser da vorne haben keine Türen mehr!“

Neil sah, dass seine Frau Recht hatte. Auch an der blassen Prärie-Villa, die sie jetzt hinter sich ließen, fehlte die Außentür samt Veranda. Stattdessen klaffte ein gezacktes Loch in der Hauswand – wie von einer gewaltigen Faust ins Holz gerammt. Neil dachte an Handgranaten und Panzerfäuste mit großer Wucht. Und er dachte an seine Zeit im Irak.

„Wo sind die Leute hin?“, wollte Fay immer noch wissen. Und sie begann damit, die Vorgärten zu zählen, in denen zerbrochene Haustüren lagen.

Dreizehn, vierzehn, fünfzehn.

Die Tankstelle hatte nur zwei Zapfsäulen. Gleich dahinter lag ein Verkaufsraum mit kleinem Supermarkt. Die Kasse war nicht besetzt und auch der Laden menschenleer. Scheinbar zumindest.


INHABER: DEAN MARELLI


Fay las das Schild am Eingang vor, um sich zu beruhigen, als Neil nebenan den Zapfhahn in den Tank stieß und in den Verkaufsraum spähte. Nur ein paar Gallonen Sprit tanken und dann nichts wie weg. Wir fahren so weit, bis unsere Handys wieder ein Netz finden. Die Glastür des Ladens lag zerplatzt vor einem Regal. Neil betrachtete das Meer aus Scherben. Und Dean Marelli, der am Ufer lag.


MOTORÖL IM ANGEBOT

GREIFEN SIE ZU, SOLANGE DER VORRAT REICHT!


Neil starrte auf die Fensterfront des Supermarktes. Fliegen krochen von innen über das Glas. Die meisten bewegten sich aber in Höhe der Ladentheke, vor der sich ein Anblick bot, den er niemals wieder vergessen sollte.


Weiß der Teufel, was hier passiert ist. Weiß der Teufel, was das hier angerichtet hat. Es ist aus der Wüste gekommen und hat sie alle erwischt. Einen nach dem anderen. Es hat all die Jahre über im Sand gelauert – irgendwo da draußen, wo sie in den 50ern und 60ern Atombomben getestet haben. Es hat geduldig gewartet und sich irgendwann auf den Weg hierher gemacht, um sich auszutoben. Es ist schnell. Es ist kräftig. Und es kann schreiben. Der Mann in der Tankstelle hat bis zuletzt gehofft, dass es seine Frau und ihn verschont.


Der Tank war voll, doch die Zapfsäule pumpte weiter und weiter. Warmes Blut lief Neil über die Hände und vermischte sich tief unten im Bauch des Autos mit dem letzten Benzin. Er ließ den Schlauch fallen wie eine Giftschlange.

„Warum hast du nicht auf mich gehört?“ Fay fragte das vom Beifahrersitz aus, ohne ihren Liebsten auch nur einen Moment lang anzusehen.

Neil zwang sich zu Ruhe, wischte sich angewidert die Hände ab und erwiderte hart wie ein Cowboy beim Blick auf den Gegner: „Wir müssen zur Interstate.“ Dann eilte er zurück auf seine Wagenseite, stieg hastig ein, ließ den Motor an, quälte die Schaltung und gab Vollgas. So prügelte er den Mustang zurück auf die Straße und rammte dabei einen ignoranten Reifenständer.

„WARUM HAST DU NICHT AUF MICH GEHÖRT?“

Jedes dieser Worte klang nach purem Wahnsinn. Auf der Windschutzscheibe starben immer mehr Fliegen. Großer Gott, lass jetzt keinen Reifen platzen! Neil hörte, dass etwas Großes, etwas wirklich Großes, dabei war, dem Mustang auf seiner Flucht zu folgen. Es war aus einem der Häuser gekommen und bewegte sich im Windschatten. Es weiß, wie man Kraft spart. Es ist hungrig, durstig und dicht hinter uns. Neil spielte mit dem Gedanken, in den Rückspiegel zu schauen, um letzte Gewissheit zu haben. Und ließ es bleiben. Stattdessen beschwor er Nevadas Asphalt und jagte an zig verwaisten Häusern vorbei. Fay schrie wie von Sinnen. Ihr Gesicht war jetzt das einer alten Frau. Schatz! Was ist mit deinen Haaren passiert?

„WARUM HAST DU NICHT AUF MICH GEHÖRT?“

Neil biss sich auf die Zunge, ignorierte den Schmerz, bereute sein Versprechen beim Gedanken an Las Vegas und wich Fays Zähnen aus. Neben der Straße wartete nichts als Wüste. Vor ihnen, endlos weit entfernt, die Interstate. Und hinter ihnen? Saltpoint und eine Wolke aus grauem Staub, die langsam aber sicher aufholte. Neil klammerte sich an das Lenkrad, starrte auf die Tacho-Nadel und betete zu seinem Gott, dass der Sprit im Tank noch etwas reichte.



6. Oktober: Die Kinder von Nonstrom


Im Himmel über Norwegen tobte der Sturm. Tief unten, entlang der Küstenlinie irgendwo zwischen Bode und Nonstrom, schlich ein Scheinwerferpaar durch die Nacht. Zwei einsame Lichtkegel widersprachen der Dunkelheit, dem Wind und dem Regen und schnitten sich ihren Weg frei. Schräg stehende Kilometersteine, weiß wie Zähne, wiesen ihnen die Richtung – als stumme Straßen­posten, nur einen Moment lang der Nacht entrissen, bevor das Schwarz sie wieder verschluckte. Um Mitternacht erfasste das Fernlicht des Mini Coopers allerdings noch etwas anderes: Ein Gespann kämpfte sich mit gleichem Ziel durch das Unwetter. Zwei pechschwarz glänzende Pferde stemmten sich tapfer gegen den Sturm. Massen aus Wasser peitschten wieder und wieder auf den Wagen und seine schweren Holzplanken nieder. Helen trat so fest es ging auf die Bremse. Auf dem Beifahrersitz krachte es. Ein wirres Konglomerat aus CDs Queen, AC/DC, Billy Idol sowie eine verirrte Best-of-Sammlung von Phil Collins und ein brandneues Shakira-Album, das Helen bereits mit der Spitze eines Kugelschreibers unbrauchbar gemacht hatte, um die Lieblingsmusik ihrer männ­lichen Begleiter nicht länger ertragen zu müssen rutschte in den Fußraum. Helen fluchte ganz so, wie es ihre Art war. Sie schimpfte ganz so, wie es ebenfalls ihre Art war. Und sie hielt sofort an was so gar nicht ihrer Art entsprach, denn sie war von Natur aus die Vorsicht in Person. Eigentlich. Das Pferdegespann tat es Helen gleich und stoppte ebenfalls, keine drei Wagenlängen vor dem Mini Cooper. Helen schnallte sich ab, holte ihre Windjacke vom Rücksitz, zog sie sich so gut es eben ging über, hielt die Luft an und stieß mit Macht die Tür auf. Augenblicklich traf sie schwerer Regen. In einer der Jackentaschen fand sie ihre Akku-Lampe und schaltete sie ein, als sie sich auf den Weg voran machte. Der Sturmwind schlug die Wagentür hinter ihr von alleine zu und überließ sie unheilvoll heulend dem Unwetter.

„Hallo?“, rief Helen in das Tosen des Sturms und machte sich keine Hoffnung, dass jemand sie hörte. Im Schein des Standlichts lief sie auf den Pferdewagen zu. In der einen Hand hielt sie ihre Taschenlampe. Mit der anderen verteidigte sie ihre Kapuze dicht über der Stirn. „Hallo da vorne! Warum fahren Sie ohne Licht?“

Dann hatte Helen das Gespann endlich erreicht und sah, dass sie von der Ladefläche aus beobachtet wurde. Auf den schmalen Bänken hoch oben hockten Kinder unterschiedlichsten Alters, dicht an dicht. Mädchen und Jungen in Mänteln und Öljacken. Vielleicht zehn oder elf oder zwölf kleine Menschen, vielleicht auch mehr. Schwer zu sagen. Helen nickte den Kindern über den Rand ihrer Kapuze hinweg zu, und einer der Jungen, wahrscheinlich der älteste, erwiderte die Geste. Er trug einen Regenhut und kniff einen Moment lang die Augen zu, als eine Windböe mit zig Regentropfen im Gefolge über die Ladefläche niederging. Eines der Mädchen trug weder einen Hut, noch eine Kapuze, dafür aber eine Haarschleife, die aussah wie ein Schmetterling. Das Kind war keine zehn Jahre alt.

Neben dem Schmetterling hockten zwei nicht minder tapfere Jungs mit Pudelmützen, die tief über ihre Köpfe gezogen waren. Die triefend nassen Kinder beobachteten Helen schweigend, als sie den Kutschbock erreichte – und damit die alte Frau, die die Zügel des Gespanns fest in ihren Händen hielt. Sie trug eine schneeweiße Haube und einen breiten Kragen in gleicher Farbe über ihrer schwarzen Robe. Eine Ordensschwester mit kantigem Gesicht – umspült von Regenwasser, das im Schein der Taschenlampe Tränen glich. Neben ihr hockte ein weiteres Kind. Ein Mädchen mit nassen Haarsträhnen auf der Stirn. Die Frau an den Zügeln schaute abwärts, strich ihre lange Kette mit Kruzifix über der Brust glatt und taxierte Helen mit argwöhnischem Blick. Die Nonne war kaum größer als die Kinder, die sie durch den Sturm brachte. Die beiden Spannpferde standen wie angewurzelt weiter vorne auf der Landstraße und schnauften angestrengt.

„Brauchen Sie Hilfe?“, rief Helen nach oben gewandt. „Und warum haben Sie kein Licht am Wagen? Es hat nicht viel gefehlt, und ich hätte Sie ...“

„Fahren Sie in Gottes Namen weiter“, erwiderte die Schwester in tadellosem Englisch. Sie war selbst im Sturm sehr gut zu verstehen. „Wir schaffen es alleine bis nach Nonstrom. Ich habe einfach nur den Sturm unterschätzt.“

„Sind Sie sicher?“ Helen warf einen Blick auf die Ladefläche. „Ich könnte drei Kinder mitnehmen. Und noch einmal wiederkommen, um ...“

„Fahren Sie bitte weiter“, sagte die Nonne mit fester Stimme. „Die Pferde werden sonst unruhig. Bitte!“

„Wie Sie meinen.“ Helen warf einen letzten Blick auf die Kinder, zögerte noch einen Moment lang und eilte schließlich schweren Herzens durch den Sturm zum Mini Cooper zurück. Bis Nonstrom waren es keine fünf Kilometer mehr. Helen überholte das Gespann wenig später so langsam wie möglich und sah im Vorbeifahren, dass es sich ebenfalls wieder in Bewegung setzte. Wie Sie meinen.

Und Helen fragte sich, wo Martin und die anderen steckten, doch die Sturmböen, die den Wagen stießen, ließen keinen weiteren Gedanken daran zu. Helen war viel zu sehr damit beschäftigt, das kleine Auto auf Kurs zu halten. Auf dem Rücksitz polterte Gepäck – Camping­geschirr, Rucksäcke und Reisetaschen. Was für eine Schnapsidee, ausgerechnet mich darum zu bitten, hinter den Jungs herzufahren! Noch dazu bei diesem Wetter und ohne ein funktionierendes Handy! Martin und die anderen hatten mit dem Van gut und gerne eine Stunde Vorsprung. Wahrscheinlich saßen sie längst am Kaminfeuer eines Wirtshauses an der Küstenstraße, genossen eingeschmuggelten Single Malt und warteten auf ihre beste Freundin aus Schulzeiten, die gerade im Begriff war, Martins rollende Stereoanlage so nannte er diesen unglaublichen Zustand von Auto hier schrottreif zu fahren. In Nonstrom würde Helen sich auf jeden Fall ein Nachtquartier suchen und erst einmal ihr in Ohnmacht gefallenes Handy aufladen ganz gleich, ob die anderen im Ort nun auf sie warteten oder nicht. Wenn nur dieser Sturm nicht wäre!

Die Nachtschwärmer in Nonstroms einzigem Gasthaus schauten müde auf, als Helen die schwere Tür aus Eichenholz hinter sich schloss und den Sturm aussperrte. Mit einem Stoßseufzer auf den Lippen schritt sie an den Tischen vorbei zu einem Tresen, an dem drei alte Männer vor schweren Biergläsern hockten. Leuchtturm hieß die Kneipe. An den Wänden hingen präparierte Fische, Fangnetze, Seekarten und Fernrohre aus Messing, allesamt von Tabakschwaden umwoben. Der Dielenboden aus dem vergangenen Jahrhundert knarzte bei jedem Schritt. Auch auf den anderen Barhockern saßen nur Greise. Derbe Gesichter zu entrückt, um noch weiter Notiz von der jungen Fremden zu nehmen. Einige Männer spielten Karten, andere dösten vor sich hin. Gaslampen hoch über ihnen warfen ihr Dämmerlicht durch eine Galerie aus Spinnweben.

Hinter dem Tresen stand eine kräftige Frau, flankiert von Flaschengalerien und zwei nicht minder robusten Bierspiegeln. Sie war gerade damit beschäftigt, eine Batterie Gläser und Becher in einen Schrank zu räumen.

„Kann ich etwas für Sie tun?“, fragte sie direkt auf Englisch.

Es steht mir wohl auf der Stirn geschrieben, dass ich nicht aus der Gegend komme.

„Ich suche meine Freunde“, sagte Helen. „Mein Handy hat leider den Geist aufgegeben. Sind sie vielleicht hier gewesen?“

„Dann sind Sie Miss Glease?“ Die Alte lächelte. „Vor einer Stunde war ein ziemlich besorgter junger Mann mit Gipsbein hier und bat mich, Ihnen auszurichten, dass alle in Edmunds auf Sie warten. Das liegt zehn Kilometer auf der Küstenstraße von hier aus. Ich habe Ihren Freunden eine Adresse gegeben, bei der sie auch um diese Zeit noch eine gute Unterkunft bekommen.“ Die Wirtin drückte Helen ein Stück Papier in die Hand. „Leicht zu finden. Edmunds ist etwas größer als Nonstrom. Sie haben sich verloren?“

Helen nickte beiläufig, als sie die Zeilen studierte. Einer der Männer neben ihr stopfte würzig riechenden Tabak in seine Pfeife.

„Ja. Wir sind mit zwei Autos unterwegs.“

„Verstehe“, sagte die Wirtin. „Ich bin Elsa.“ Sie reichte Helen die Hand. „Trinken Sie etwas?“

„Besser nicht. Ich habe noch ein gutes Stück Strecke vor mir, wenn es wirklich noch bis nach Edmunds geht.“

„Sie fahren nicht lange“, erwiderte Elsa. „Die Straße dorthin ist besser. Es kommt nicht oft vor, dass Touristen sich in diese Gegend hier verirren.“

Helen nahm auf einem Hocker Platz. Der Greis neben ihr lächelte verlegen und rückte ein Stück zur Seite. Elsa zapfte Bier.

„Rauchen Sie?“

„Nicht mehr.“

„Vernünftig.“ Die Wirtin wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.

Helen stellte ihr Glas ab. „Gibt es hier im Ort ein ­Kinderheim?“

„Warum wollen Sie das wissen?“

„Auf dem Weg hierher bin ich einem Gespann mit Kindern begegnet. Eine Nonne fährt den Wagen. Sie sind alle furchtbar nass.“

Die Frau an der Theke hielt inne und fuhr herum. Ihr Gesicht war mit einem Mal kreidebleich. „Wo haben Sie den Wagen gesehen?“

Alle Männer in der Kneipe drehten ihre Köpfe jetzt in Helens Richtung, so gut es eben ging. Ein unheimliches Schauspiel.

„Vier oder fünf Kilometer von hier. Warum wollen Sie das wissen?“

„Hans!“, rief Elsa laut. Dann folgten schnelle Worte auf Norwegisch, die Helen nicht verstand. Zwei Männer sprangen von den Tischen auf und eilten nach draußen in die Sturmnacht. Ein Stuhl kippte um. Seine Lehne schlug auf die Dielenbretter. Elsa rief einem Greis mit immer noch breiten Schultern, der ebenfalls hinaus eilte, zwei oder drei Sätze hinterher, die wie Befehle klangen. Die anderen Männer starrten sprachlos durch die Fenster in die Nacht hinaus.

Helens Herz schlug immer schneller. Dann hörte sie, dass draußen hoch über ihnen eine Glocke geläutet wurde, dumpf und laut. Elsa stand jetzt ebenfalls an einem der Fenster. „Sie sollten sofort nach Edmunds fahren“, sagte sie leise. „Heute haben wir eine böse Nacht.“

„Eine böse Nacht?“ Helen schaute sich um. Niemand hier schenkte ihr Beachtung. „Was ist mit den Kindern?“

„Vergessen Sie die Kinder“, sagte Elsa. „Vergessen Sie sie einfach.“

„Aber was ist mit ihnen?“

Die alte Frau suchte nach Worten, seufzte und setzte sich neben Helen. „Wenn Sie es unbedingt wissen wollen, dann sage ich Ihnen, was mit den Mädchen und Jungen ist.“ Im nächsten Moment lag eine vergilbte Foto­grafie vor Helen. Elsa schob das Bild an zwei umgestoßenen leeren Biergläsern vorbei. Ihre Hände zitterten. „Sind das die Kinder, die Sie gesehen haben?“

Helen betrachtete das Foto. Sie erkannte das Mädchen mit der Haarschleife. Die beiden Jungen mit den Pudelmützen. Bei Gott – und da war auch die Ordensschwester – klein, alt und aus der Mitte des Bildes heraus einen strengen Blick auf sie richtend.

„Ja“, sagte Helen. „Das sind sie.“

Elsa seufzte noch einmal. Das Mädchen mit der ­Haarschleife. Die alte Frau ließ ihren knochigen rechten Zeigefinger langsam aber sicher über die Fotografie laufen und berührte schließlich das sepiafarbene Kindergesicht.

„Das Kind ist tot.“ Elsa zeigte nun auf einen Jungen, der ein Bilderbuch in seinen Händen hielt. „Der kleine Mann hier auch.“ So fuhr Elsa fort, bis sie auf jedes der Kinder gezeigt hatte. Die Glocken der Dorfkapelle läuteten immer noch. „Die Nonne, die Sie gesehen haben – hat sie mit Ihnen gesprochen?“

„Sie wollte nicht, dass ich Kinder im Auto mitnehme.“

„Das will Jona nie“, sagte Elsa. „Sie und die Kleinen sind in einer stürmischen Oktobernacht vor mehr als zwanzig Jahren ums Leben gekommen – Mädchen und Jungen aus Nonstrom. Sie waren auf dem Heimweg vom Fold Fjord. Die Tragödie hat das Land hier nie wieder losgelassen.“

„Was ist damals passiert?“

„Ein tragischer Unfall.“ Elsa atmete schwer. „Die Pferde sind ihnen im Sturm auf der Küstenstraße durchgegangen. Jona und die Kinder kamen an den Klippen ums Leben. Das Meer hat sie sich geholt.“

Der Glockenschlag wurde leiser und leiser, bis er irgendwann verstummte.

Elsa horchte auf. „Es ist überstanden.“

„Was ist überstanden?“

Die Wirtin nahm Helens Hände in ihre. „Jona und die Kinder sind heute Nacht nicht nach Nonstrom zurückgekommen.“

„Ich verstehe nicht, was Sie meinen.“ Helen erhob sich und ging zum Fenster.

„Das hat nichts mit Verstehen zu tun“, sagte Elsa, und ihre brüchige Stimme begann zu beben. „Manchmal kommt Jona mit den Oktoberkindern wieder. Und sie sind immer auf dem Weg nach Nonstrom. Zum letzten Mal vor zwei Jahren. Ihr Gespann taucht jedes Mal zwischen den Häusern auf, und mit einem Mal verschwindet es im Nichts. Sie kehren vor allem in Sturmnächten heim. Und nur bei Glockengeläut meiden sie das Dorf.“

„Niemals.“ Helen bemühte sich um Fassung. „Sie meinen, ich habe da draußen Gespenster gesehen?“

„Nennen Sie es, wie Sie wollen“, sagte Elsa. „Ab und an kommen sie wieder. Und wir wissen nur eines mit Sicherheit: Immer, wenn Jona mit den Kindern durch unser Dorf fährt, wird Nonstrom ein Stück kleiner. Jedes Mal stirbt ein Mädchen oder ein Junge hier.“

Elsa bat einen der älteren Männer, Helen zu ihrem Wagen zu bringen.

„Fahren Sie nach Edmunds“, sagte sie. „Fahren Sie, und suchen Sie Ihre Freunde. Nonstrom ist ein Ort der Trauer in Nächten wie dieser.“

Helen schaute Elsa ein letztes Mal in die Augen, sammelte sich und ging an der Seite ihres Begleiters zum Wagen. In ihren Gedanken sah sie das Gespann mit den beiden schwarz glänzenden Pferden noch einmal vor sich und lauschte den Worten der Ordensschwester. Fahren Sie in Gottes Namen weiter. Wir schaffen es alleine bis nach Nonstrom. Ich habe einfach nur den Sturm unterschätzt. Der Greis blieb so lange auf dem Parkplatz stehen, bis Helens Rücklichter in der Sturmnacht verschwanden. Dann ging er schweigend heim, ohne noch einmal einen Fuß in den Leuchtturm zu setzen. So war Elsa im Schankraum allein. Ihre Blicke galten noch einmal der Frau auf dem alten Foto. Ihre Blicke galten noch einmal der Schwester, ihrer geliebten Schwester. Und als sich der Wind draußen noch einmal gegen die schwere Eichentür stemmte, platzten links und rechts neben der Theke die beiden Bierspiegel in tausend Stücke.



7. Oktober: Der Kongress


„Wie viele haben wir?“

Bei dieser Frage ließ der Anführer seinen Blick in die Ferne schweifen und die vielen aufgereihten Gesichter zu seinen Füßen einen Moment lang hinter sich. Er dachte an Gott und an die Gewissheit, ihm bald nahe zu sein. Sehr nahe. Doch erst einmal werden Köpfe gezählt. Am anderen Ende der Röhre nichts anderes war der Bauch des großen Flugzeugs schlugen zwei seiner Gefolgsleute noch immer auf den Sicherheitsmann mit US-Pass ein, der den Versuch unternommen hatte, im letzten Moment seine Waffe zu ziehen. Immer wieder waren Stimmen aus den Sitzreihen zu vernehmen. Einige der vielen, vielen Anzugträger wagten es, einen Blick hinter sich zu werfen, um zu sehen, woher die Schläge und Schreie zu ihnen drangen. Der Anführer schenkte ihnen allen ein Lächeln und kehrte mit seinen Gedanken zum Cockpit zurück. Vor dem hielt er gemeinsam mit seinem Stellvertreter die Stellung.

„Fünfundachtzig“, sagte der Gefolgsmann, noch immer außer Atem. „Dazu fünf Stewardessen, der Luftpolizist und die beiden Piloten.“

„Sehr gut!“ Der Anführer klopfte seinem Stellvertreter auf die Schultern – wie ein Lehrer es tut, der einen Schüler lobt. Dann beugte er sich vor, um ihm noch etwas ins Ohr zu flüstern. „Sag’ denen da hinten, sie sollen den Sheriff leben lassen. Wir könnten ihn noch brauchen.“

„Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist. Der Mann bringt uns alle in Gefahr. Wir sollten ihn hinter uns lassen.“

„Nein“, rief der Anführer, und sein Blick verfinsterte sich. „Noch nicht. Haben wir uns verstanden?“

„Wie du meinst.“ Der Stellvertreter machte sich auf den Weg ins Heck der Maschine. „Ich werde sehen, was ich tun kann.“

„Sag es ihnen einfach.“ Der Anführer wandte sich wieder dem Cockpit zu, wo ein weiterer Gefolgsmann stand und die beiden Piloten mit einem Revolver in Schach hielt. Ein Blick auf die Uhr verriet dem Anführer, dass das Kommando die Passagiermaschine mit der Flugnummer 9031 seit exakt dreiundzwanzig Minuten in seiner Gewalt hatte. Noch immer brüllte der Gefolgsmann auf die Männer im Cockpit ein, um ihnen klar zu machen, dass es sinnlos war, an einen Funkspruch oder an einen Hilferuf an den Tower in Frankfurt auch nur zu denken.

„Gibt es ein Problem?“, fragte der Anführer streng, als er in das Cockpit stieg und eine der Stewardessen zur Seite stieß, die im Vorraum auf dem Boden kauerte und an Händen und Füßen mit Packband gefesselt war. Die Frau war bildhübsch und sah ihn sprachlos an, als er an ihr vorbei schritt, um sich den Piloten zu widmen.

Der Anführer fragte sich, ob die Frau zu seinen Füßen sich jemals mit elementaren Fragen beschäftigt hatte. Kennst du die Wahrheit jenseits des Schminkspiegels? Das fragte er die Ungläubige in seinen Gedanken. Als er nichts als Furcht in ihren Augen las, wusste er, dass sie die Wahrheit ebenso wenig kannte wie all die anderen, die jetzt auf sein Kommando hörten. Die Stunde wird kommen, und du wirst begreifen, was es heißt, Teil eines großen Plans zu sein. Du wirst verstehen, warum wir keine andere Wahl haben, als das zu tun, was wir tun. Die Stunde wird kommen, und du wirst deine hübschen Augen öffnen, um Klarheit zu erfahren. Du wirst deinen Widerstand aufgeben, mit wehenden Fahnen zu uns überlaufen und uns für diese Erkenntnis lieben. Der Anführer mochte es, wenn seine Gedanken so zu ihm sprachen, denn ihre Stimme war geduldig, weich und warm. Er spürte Liebe in jedem einzelnen Wort, und genau das war die Energie, die ihn und seine Männer auf Kurs hielt.

Dann erfreute er sich am Anblick seiner wohl wichtigsten Gefangenen.

„Guten Abend, meine Herren“, rief er den Piloten zu. „Haben Sie mir etwas zu sagen?“

Der Kapitän der Passagiermaschine hieß laut Namensschild Michael Krüger und befahl seinem Copiloten – einem von tiefen Akne-Narben gezeichneten jungen Mann – sich auf seine Instrumente zu konzentrieren. Das Narbengesicht nickte und ließ seine zitternden Finger über eine Schalttafel huschen. Auf der Stirn beider Piloten standen Schweißperlen. Das erfüllte den Anführer mit tiefster Zufriedenheit. Sie alle hier haben Angst, große Angst, und Ansgt ist unser stärkster Verbündeter. Die beiden Männer hier werden alles tun, um nicht ihr Leben zu verlieren. Sie werden alles tun, damit sie ihren Familien erhalten bleiben und nicht in einem Leichensack nach Hause kommen. Die beiden hier werden alles tun, um ihre neuen Herren an Bord zufrieden zu stellen auf dem Weg zu wahrer Erkenntnis. Sie werden lieber ihren Gott an uns verraten als die Menschen, die ihnen alles bedeuten. Es ist ihr weiches Herz, das sie verletzbar macht und einnehmbar wie eine schlecht gesicherte Festung. Für ein paar Silberlinge werden sie sich ans Messer liefern, immer in der Hoffnung, damit ihr sinnloses Leben zu retten.

Die Piloten rochen nach Angst. Ein Duft, der den Anführer so manche Entbehrung der letzten Jahre vergessen ließ. Er überließ dem Kapitän der Maschine das Reden und kreuzte die Hände hinter seinem Rücken, als er zuhörte, um sich an der Furcht zu erfreuen.

„Wir haben Ihre Anordnung befolgt und keinen Kontakt mehr zur Flugsicherung“, erklärte der Kapitän mit dünner Stimme, ganz so, als habe er diese Sätze in mühsamer Arbeit einstudiert. „Es ist allerdings nur eine Frage der Zeit, bis die Leute da unten misstrauisch werden und nachfragen, was an Bord los ist.“

„Das soll nicht Ihr Problem sein.“ Der Anführer beugte sich vor und strich mit dem Lauf seines Revolvers über Krügers hohe Stirn. Schweißtropfen vereinten sich mit dem Metall der Waffe, und der Anführer betrachtete die Spuren, die er auf der Haut des Mannes hinterließ. Kunstwerke. Das sind kleine Kunstwerke. Er malte mit dem Revolver schließlich ein Fragezeichen auf die Stirn des Kapitäns und bemühte sich um ein Lächeln voller Güte, den Zeigefinger um den Abzug gekrümmt. „Ich alleine entscheide hier über Tod und Leben“, flüsterte er und ließ Schweiß vom Lauf der Waffe auf die Nase des Kapitäns tropfen. „Sie halten die Maschine auf Kurs und informieren mich sofort, sobald wir den deutschen Luftraum verlassen haben. Lassen Sie die da unten nur reden. Sie sprechen eine Sprache, die wir nicht kennen.“

„Ich wollte nur sagen, wie die Dinge stehen“, erwiderte der Kapitän. „Beabsichtigen Sie, dass wir ein anderes Ziel ansteuern, sobald wir nicht mehr über Deutschland sind?“

„Sagen wir es mal so.“ Der Anführer beugte sich noch weiter vor, um in Krügers rechtes Ohr sprechen zu können. „Wir ziehen diese Möglichkeit in Betracht. Befolgen Sie unsere Anweisungen, und Ihnen wird kein Leid geschehen. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?“

Der Kapitän nickte. Der Anführer sah, dass der Mann seine Lippen zusammenpresste, ganz so, als gelte es, sich einem Schmerz zu stellen, der kaum zu ertragen war. Diesen Gesichtsausdruck kannte er nur zu gut. Dutzende Male war er ihm schon begegnet, in gekachelten Räumen überall auf der Welt. Der Anführer liebte es, Verhöre zu führen, die nur das Ziel verfolgten, den Herzschlag des Gegners zu beschleunigen, bevor es für immer zum Schweigen gebracht wurde. Er liebte den Glanz in den Augen seiner Feinde, besonders dann, wenn sie an der Schwelle zwischen Leben und Tod standen. Und er liebte es, Menschen sterben zu hören, denn nur dann ­folgten ihre Stimmen der Melodie wahrer Erkenntnis. Der Anführer liebt es außerdem, wenn Gefangene an dem festhielten, was Gott ihnen letzten Endes doch nur geliehen hatte für eine Zeit von gut und gerne 70 Jahren. Und er liebte es, das alles an sich zu nehmen. Nichts anderes tat Anführer, wenn er Menschen richtete, die sich ihm und der Bewegung in den Weg stellten.

„In Ordnung“, sagte der Pilot in das Schweigen hinein. „Wir tun, was von uns verlangt wird, auch wenn Sie sich die falsche Maschine ausgesucht haben.“

„Die falsche Maschine? Wie meinen Sie das?“

„An Bord befinden sich ausschließlich Zivilisten“, antwortete der Kapitän. Der Narbenmann neben ihm hielt einen Moment lang die Luft an. „Diese Maschine ist nicht auf Langstreckenflüge ausgelegt. Es wird Komplikationen geben, sobald wir auftanken müssen.“

„Was Sie nicht sagen.“ Der Anführer spielte einen Augenblick lang mit dem Gedanken, den Kapitän hinzurichten und den Copiloten mit dem Weiterflug dieser Maschine hier zu betrauen. Was ihn letzten Endes davon abhielt, war der Zweifel an der Nervenstärke des jungen Mannes. Er wird es nicht verkraften, neben einer Leiche zu fliegen, ganz gleich, wie schnell wir sie auch fortschaffen. Er wird es nicht verkraften und den Flug hier vor seiner Zeit zu Ende bringen. Der Anführer verwarf den Gedanken an eine vorzeitige Hinrichtung und hörte stattdessen zu.

„Ich will, dass wir alle heil aus dieser Angelegenheit herauskommen.“ Noch immer wandte sich der Kapitän nicht von den Bedienfeldern ab. Dann sagte er: „Sie hätten ein anderes Flugzeug entführen sollen. An diesen Geiseln hier werden Sie keine Freude haben.“

Der Gefolgsmann schlug dem Kapitän mit dem Handrücken hart und schnell ins Gesicht. Das Platschen der Ohrfeige drang bis in den Vorraum und ließ eine der Stewardessen in Tränen ausbrechen, als sei ihr selbst Gewalt geschehen.

„Sie sollten sich mäßigen“, sagte der Anführer und hielt seinen Gefolgsmann davon ab, ein weiteres Mal die Hand gegen den Kapitän zu heben. „Nicht jeder meiner Männer bringt das gleiche Maß an Geduld und Ausgeglichenheit auf wie ich. Für unsere Mission sind die Menschen hier an Bord absolut unerheblich, verstehen Sie? Sobald wir den Luftraum Ihrer Heimat verlassen haben, werden wir unsere Forderungen stellen. Sie sollten beten, dass die Amerikaner unserer Bitte nach Freilassung aller politischen Gefangenen Folge leisten.“

„Sie wollen Terroristen freipressen.“ Der Kapitän wischte sich Blut von den Lippen. Die Finger des Mannes zitterten bei jeder Bewegung. „Das ist das Ziel Ihrer Aktion.“

„Sie sind mir zu neugierig, Pilot“, fauchte der Anführer. Dann lächelte er. „Wer weiß? Vielleicht haben wir ja auch vor, diesen gottlosen Kasten hier über einer großen Stadt zum Absturz zu bringen. Wie wäre das? Die Welt wartet seit dem 11. September nur auf ein Zeichen dieser Art. Schaffen wir es bis nach Paris?“

Der Kapitän sah den Anführer fassungslos an.

„Ich will wissen, ob wir es bis nach Paris schaffen.“

Der Copilot nickte.

„Sie habe ich nicht gefragt.“ Der Anführer wandte sich wieder dem Piloten zu: „Ich will wissen, ob wir es bis nach Paris schaffen.“

„Ja. Wir schaffen es bis nach Paris“, erwiderte der Kapitän langsam. „Kein Problem.“

„Klingt schon besser. Schaffen wir es bis nach London?“

„Ganz gleich, was Sie auch beabsichtigen. Sie haben sich die falsche Maschine ausgesucht. Ich kann Ihnen nur raten, uns so schnell wie möglich landen zu lassen. Hier an Bord herrscht eine besondere Situation.“

„Eine besondere Situation?“ Jetzt spielte der Anführer mit dem Gedanken, zuzuschlagen. Beherrschung, rief er sich in letzter Sekunde zur Ordnung. Die innere Stimme, die ihm das sagte, war dem Anführer vertraut. Es war die Stimme seines Vaters. Alles nur eine Frage der Beherrschung, mein Sohn, gerade wenn es um das Erreichen großer Ziele geht. Der Fehler unserer Bewegung lag lange genug darin, dass es uns an Beherrschung mangelte. Daraus schlagen unsere Gegner Kapital, daraus gewinnen sie schon seit Generationen ihre Sicherheit. Soldaten, Panzer, Bomber, Tränengas und Stacheldraht sind nur Beiwerk in ihrem Kampf gegen uns. Denke immer daran: Ungeduld und Dummheit sind unsere größten Feinde. Jetzt liegt es allein an dir, die alten Fehler nicht noch einmal zu machen. Auf dir allein lastet die Verantwortung, den Kreis endlich zu schließen. Nur das wird deine Männer und dich unsterblich machen. Du allein wirst den Graben überwinden und unsere Bewegung endlich an ihr Ziel bringen.

Tränen liefen über das Gesicht des Kapitäns. Sie machten dem Anführer klar, mit welcher Wucht sein Gefolgsmann zugeschlagen hatte.

„Wir sind keine Unmenschen“, sagte er. „Aber ich glaube, Sie überschätzen den Wert der Leute hier an Bord. Sollten wir gezwungen sein, Geiseln zu erschießen, dann sind Sie der Erste. Das verspreche ich Ihnen.“

Mit diesen Worten verließ der Anführer das Cockpit und wandte sich den fünf gefesselten Stewardessen zu, die ihn ansahen, als sei der Leibhaftige vor ihren Augen erschienen.

„Meine Damen! Machen Sie es sich bitte bequem.“ Der Anführer bückte sich, um den Frauen nacheinander mit seiner freien Hand über das Gesicht zu streichen, während er in der anderen den Revolver hielt. Eine der Stewardessen weinte bei seiner Berührung, und der Anführer spürte neben tiefer Erregung extreme Zufriedenheit. Die Stewardess war vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt, hatte ein rundes Gesicht, das mit Sommersprossen überzogen war und noch keine konkrete Vorstellung vom Tod zeigte. Die Tränen dieser Frau nahm der Anführer zum Anlass, ihr sanft einen Kuss auf die Stirn zu drücken. Dabei zitterte sie nur noch mehr.

„Wissen Sie, wie viele Menschen ich mit dieser Waffe hier getötet habe?“ Er deutete auf den Revolver und bemühte sich abermals um Beherrschung. „Ich habe schon so viele sterben sehen“, sprach er in das Schluchzen hinein. „Aber keine hat so elegant geweint wie Sie. Sie können stolz auf Ihren Kapitän sein. Er ist ein aufrechter Mann. Werden Sie ihm auf seinem Weg folgen, wenn es soweit ist, meine Liebe?“

„Lassen Sie uns in Ruhe“, rief eine Stewardess, die deutlich älter war als die anderen, gleich neben ihm. „Wir haben Ihnen nichts getan.“

„Das stimmt.“ Der Anführer deutete auf seinen Revolver. „Sie fragen sich bestimmt, wie ich den hier an Bord gebracht habe.“

Er setzte wieder ein Lächeln auf und lauschte der Melodie seiner Gedanken. Wie geschickt. Die Frau da versucht, mich von den anderen abzulenken. Sie verwickelt mich in ein Gespräch, um Zeit zu schinden. Sie hofft, dass sich in der Röhre weiter hinten irgendetwas tut, was ihnen Rettung bringt. Sie hat Angst vor mir, aber sie lässt sie sich nicht anmerken. Ein starker Mensch, das hier ist ein starker Mensch. Sie steht auf, während die anderen liegen bleiben, obwohl sie weiß, was ihr droht durch diese sinnlose Art von Heldentum. Der Anführer richtete den Revolver auf die Frau, die es gewagt hatte, ihm ein Widerwort zu geben. Du willst wissen, wo die Grenzen für das Handeln eines Westeuropäers liegen? Du willst wissen, wie weit du gehen kannst? Gut! Du sollst es erfahren.

Der Anführer sagte: „Das Problem Ihres Systems liegt darin, dass es jeden käuflich macht. Ich versichere Ihnen: Wir haben uns diesen Moment hier teuer erkauft.“ Er beobachtete die Stewardess, wartete aber vergeblich auf eine Regung und fuhr fort: „Sie reden und reden und leben auf Kosten anderer. Sie schauen an Ihren Fernsehern zu, wie ganze Völker unterdrückt und ausradiert werden, und Sie merken nicht, dass das gottlose System, in dem Sie seit Generationen zu Hause sind, von innen morsch wird und verfault. Und jetzt schlägt unsere Stunde.“

„Ich denke, wir verstehen Sie“, sagte die Frau am Boden. „Auch wenn wir anderer Meinung sind.“

Sehr gut, sehr gut, raunte die innere Stimme des Anführers. Sie bestätigt mich. Sie gibt mir Recht. Sie spricht über sich und die anderen Frauen im Plural. Das macht sie ganz bewusst. Sie hält die Herde beisammen, während der Wolf draußen um die Zäune schleicht. Die Frau da ahnt, dass ich nicht alle Lämmer gleichzeitig erwischen kann.

„Ich weiß nicht, ob unsere Ansichten wirklich so unterschiedlich sind“, sagte die Stewardess. „Haben Sie sich darüber schon einmal Gedanken gemacht?“

„Dann stimmen Sie unserem Feldzug zu?“ Der Anführer war einen Moment lang verblüfft. „Dann geben Sie unserem bewaffneten Widerstand gegen das Regime der Kreuzritter Recht?“

„Sie wissen, dass wir so etwas niemals tun würden.“ Die Stewardess sagte das mit fester Stimme. „Sie und Ihre Männer sind zu weit gegangen, als Sie sich dieses Flugzeug hier genommen haben. Sie treffen Unschuldige.“

„Sie haben ja keine Ahnung davon, wie nahe Schuld und Unschuld beieinander liegen.“ Der Anführer hockte sich neben die Frau, betrachtete sie und fragte: „Wissen Sie eigentlich, was Sie gekostet haben? Haben Sie sich mal Gedanken über Ihren Preis gemacht?“ Er erhob sich und verschränkte die Arme hinter seinem Rücken, den Revolver noch immer in der Hand. „Wir haben für 93 Europäer 85.000 Dollar bezahlt. Das sind noch nicht einmal 1000 Dollar für jeden.“

„Wen haben Sie bestochen?“, fragte die Stewardess. „Wer hat Ihnen ermöglicht, Waffen an Bord zu schaffen?“

„Geisel oder Ankläger?“ Der Anführer richtete den Revolver nun auf den Kopf der Stewardess. „Geisel oder Ankläger?“, wiederholte er noch schärfer und stellte fest, dass er hinter diesen Worten selbst zu zittern begann. Nicht aus Angst, sondern aus Zorn. Beherrschung, mahnte sein Vater. Beherrschung ist unsere schärfste Waffe. Nur so treffen wir jeden Feind im Zentrum. Unser Krieg will gut durchdacht sein. Das Herz des Anführers raste. „Geisel oder Ankläger? Entscheiden Sie sich.“

„Geisel“, sagte die Stewardess irgendwann. Der Anführer ließ demonstrativ die Waffe sinken und genoss den Triumph. Die Gräben, die unsere Völker trennen, sind in der Tat kleiner, als ihr denkt. Und er kehrte zurück, der bodenlose Zorn. „Sie sind noch nicht einmal 1000 Dollar wert. Denken Sie darüber nach, bis ich wiederkomme, um Sie bluten zu sehen.“

Wenig später stand der Anführer mitten in der Röhre, und alle Blicke richteten sich auf ihn. In der letzten Sitzreihe hatten seine Gefolgsmänner endlich vom Wachmann abgelassen. Mit ihren Waffen im Anschlag schritten sie den Gang auf und ab und ließen die Frauen und Männer auf den Sitzen nicht eine Sekunde lang aus den Augen.

Warum sind keine Amerikaner an Bord? Warum nur die zweite Wahl, die sich schneller und angenehmer begraben lässt? Alles wäre besser mit ein paar Amerikanern. Noch immer dachte der Anführer über die Taktfolge möglicher Erschießungen nach, sollte es zum Äußersten kommen. Nach jeweils 15 Minuten? Oder doch erst nach 20? Töten wir zuerst einen Mann, um Stärke zu zeigen? Oder zuerst eine Frau, um die Generäle da unten sofort in die Knie zu zwingen, weil die Bilder unserer Kameras im Netz stärker sind als jeder Abfangjäger? Tragen wir das Feuer nach Paris oder nach London?

„Meine Damen, meine Herren“, sagte der Anführer in akzentfreiem Deutsch und fasste in seine Jackentasche. „Darf ich kurz um Ihre Aufmerksamkeit bitten?“ Dann hielt er eine Handgranate in seinen Händen und streckte sie demonstrativ nach oben, damit jeder Passagier sie auch wirklich sehen konnte. Die Crew macht Sie nun mit den Sicherheitsvorkehrungen an Bord vertraut. Wir wünschen Ihnen im Anschluss daran einen angenehmen Flug. Zwei Sitzreihen weiter war ein Raunen zu hören. Einer der Anzugmänner starrte ihn mit offenem Mund an. „Sollte es Probleme geben, werde ich nicht zögern, das Ding hier im Cockpit dieser Maschine zu zünden damit das klar ist. Bedanken Sie sich beim zuständigen Sicherheitspersonal auf dem Flughafen in Frankfurt und bei unseren alliierten Kampfverbänden in Deutschland. Hinter diesem großen Moment steckt jahrelange Arbeit, und vielleicht ist Ihnen dieser Umstand ja einen Beifall wert.“ Wie der Dozent einer Hochschule, die eine Fakultät für Wahnsinn eingerichtet hatte, ging der kahl geschorene Mann hin und her, die Handgranate noch immer über seinem Kopf. „Wo bleibt der Beifall?“, brüllte der Anführer mit einem Mal. Selbst die anderen Kommandomitglieder hielten inne, nur um zu sehen, was ihr Prophet da für ein bizarres Schauspiel veranstaltete. „Wo bleibt der Beifall für unseren Kampf gegen Unrecht und Unterdrückung?“

Es herrschte Totenstille. Die meisten Geiseln blickten betreten auf den Boden wie Kinder auf einer Schulbank, denen die Leviten gelesen werden. Der Anführer spürte das Blut hinter seinen Schläfen pochen. Das Gefühl grenzenloser Macht hatte etwas Überwältigendes. Selbst der Glaube reichte nicht an die Wucht dieser Empfindung heran. Erniedrigung war berauschend.

„Wo bleibt der Beifall?“, fragte er noch einmal in die Menge, und zaghaft vernahm er aus einer der hinteren Reihen tatsächlich ein Klatschen. Der Anführer nickte zufrieden, als weitere Hände einstimmten, immer noch verhalten, bis schließlich alle Passagiere applaudierten. Die meisten Geiseln bewegten sich dabei wie Roboter und schauten nicht zu ihm und zu seinen Gefolgsleuten auf. „Gut so“, rief der Anführer verzückt. „Ich höre, wir verstehen uns.“

„Nehmen Sie das Ding da runter“, sagte einer der Anzugträger, der allen Mut zusammengenommen hatte. „Wir tun, was Sie sagen. Wenn Sie uns in Ruhe lassen.“

„So?“ Der Anführer zog die Augenbrauen hoch, nickte dem Mann auf Platz Nummer 3a zu und ließ die Handgranate, die er vor Monaten in Afghanistan erbeutet hatte, wieder in den Tiefen seiner Taschen verschwinden. „Dann sind wir uns einig. Sollte dennoch jemand auf die Idee kommen, hier an Bord ein Telefon zu benutzen, werden wir Sie alle auf der Stelle erschießen. Halten Sie also immer Ihre Sitznachbarn im Blick.“

„Ihnen ist klar, dass wir einen wichtigen Termin haben?“, fragte der Mann von Platz 3a. „Sie wissen, in was für Probleme Sie uns und sich selbst damit bringen?“

Der Anführer nahm die Gelegenheit zum Anlass, sich diesen Passagier genauer anzusehen. Wie die anderen trug auch dieser Mann einen silbergrauen Nadelstreifenanzug, an dessen Revers eine blutrote Anstecknadel schimmerte. Das Emblem darauf war vom Gang aus kaum zu erkennen. Das Schmuckstück war so groß wie eine Euromünze und erinnerte an eine gezackte Rose. Für den Anführer stand außer Frage, dass ein großer Teil der Geiseln auf Flug 9031 zu einer Gruppe von Geschäftsreisenden gehörte, die sich zur falschen Zeit am falschen Ort für den falschen Flug entschieden hatte.

„Was für einen Termin meinen Sie?“ Der Anführer konnte nicht verhindern, dass seine Stimme zum ersten Mal seit Inbesitznahme der Maschine angespannt klang. Der Mann im Anzug will mich auf die Palme bringen. Er will, dass ich ausraste und etwas Unüberlegtes unternehme. Er will, dass ich die Nerven verliere und vor den Augen aller Leute an Bord einen entscheidenden Fehler mache. Ein Held! Der hier ist ein Held! Und fest entschlossen, das Blatt zu wenden und dafür aus den Händen eines Würdenträgers seiner Regierung einen Orden zu bekommen. Den kann er immer dann zeigen, wenn er zu Hause auf der Veranda sitzt und seinen Enkeln erklärt, wie lohnend es ist, sich für eine gerechte Sache in einem gerechten Land in Stücke reißen zu lassen, nur weil die Vereinigten Staaten von Amerika es so wollen. Das ist es, was den Mann da bewegt. Der da ist ein Held, wie er im Buche steht.

„Wir alle haben einen wichtigen Termin. Das ist ein Flug von großer Bedeutung.“ Der Mann auf Platz Nummer 3a war mindestens 70 Jahre alt, Hornbrillen-Träger, hager gewachsen, grauhaarig – und unbeeindruckt. In seinen dunklen Augen lag nichts als Verachtung. „Wir sind Kongressteilnehmer.“

„Kongressteilnehmer?“, fragte der Anführer. „Was für einen Kongress meinen Sie denn?

„Ich rede von Dingen, die Sie niemals verstehen werden.“ Der Passagier auf Platz 3a verzog keine Miene. „Ich rede von Verantwortung, Demut und Pflichterfüllung.“

„Oh!“ Der Anführer lächelte gütig. „Sie sind Patriot?“

„Das hat mit Patriotismus nichts zu tun.“ Der Held blieb standhaft. „Nur mit Vernunft und mit der Erkenntnis aus Jahrhunderten.“

„Das klingt gut.“ Der Anführer lächelte dünn. „Ich denke dennoch, dass beim Kongress Ihre Plätze frei bleiben werden.“

„Sie wissen ja nicht, was Sie da anrichten“, sagte der Mann, als spreche er von den Folgen einer thermo­nuklearen Explosion.

„Schluss jetzt“, beendete der Anführer das Gespräch. „Im Interesse der anderen Passagiere halten Sie sich geschlossen.“

„Aber warum?“, tönte es von der gegenüberliegenden Seite aus dem Mund eines weiteren Anzugträgers. Er saß auf dem Platz Nummer 3f. „Der Mann hat Recht.“

„Womit hat der Mann Recht?“ Die Geduld des Anführers war aufgebraucht.

„Das wissen Sie ganz genau.“ Nummer 3f verdrehte die Augen. „Er hat Recht damit, dass der Kongress keinen Aufschub erlaubt. Uns liegt viel daran, dass wir pünktlich landen und den Anschluss bekommen. Ansonsten hat jeder hier mit Sanktionen zu rechnen, deren Ausmaße Sie sich nicht vorstellen können. Der Kongress legt größten Wert auf Pünktlichkeit.“

„Sie sind ja verrückt“, schimpfte der Anführer, schüttelte den Kopf und wandte sich ab. „Alle!“

Weiter hinten brach augenblicklich Tumult los. Mitglieder des Kommandos gaben dem Anführer unmissverständlich zu verstehen, dass man jetzt die erste Geisel erschießen müsse, um sich Respekt zu verschaffen. Doch der Prophet hob nur den rechten Zeigefinger. Wie ein Lehrer. Das hatte er sich vor vielen Jahren bei Osama bin Laden abgeschaut.

„Darf ich mit meinen Ausführungen fortfahren?“, fragte er in die Menge. Zu seiner Genugtuung herrschte eisiges Schweigen. „Wir alle haben großes Interesse daran, dass die Angelegenheit hier reibungslos über die Bühne geht und dass unsere Forderungen erfüllt werden. Zu Ihrer aller Information: An Bord dieser Maschine befinden sich 93 Geiseln. Durch kluge Verhandlungen werden wir erreichen, dass in Europa und anderswo mindestens ebenso viele politische Gefangene freigelassen werden. Das ist alles. Dann werden wir Sie verschonen, und Sie können Ihrem Kongress vom Großmut unserer Bewegung Bericht erstatten. Ist das nicht ein Kompromiss?“ Der Anführer sah sich um. „Sollte unsere Forderung allerdings auf Widerstand stoßen, werden wir damit beginnen, im Abstand von jeweils 15 Minuten eine Geisel zu erschießen. Ich überlege derzeit, ob es sinnvoll ist, dazu vielleicht ein Los-System einzuführen.“

„Habe ich Sie richtig verstanden? Das heißt also, dass wir uns auf jeden Fall verspäten werden?“, fragte Passagier 3a ungläubig und zerdrückte einen Becher aus Kunststoff. Er ließ ihn auf den Boden fallen und suchte nach noch mehr Worten. „Sie nehmen keine Rücksicht?“

„Sie sagen es.“ Der Anführer nickte. „Freunden Sie sich mit dem Gedanken an, dass wir alle einen Ausflug unternehmen. Vielleicht tut uns die freie Welt ja den Gefallen und lässt uns von einer F-16 abschießen.“

„Das wäre immer noch besser, als den Kongress zu verpassen“, tönte es von weiter hinten. Der Anführer fragte sich allmählich, ob er es mit einem Haufen Verrückter zu tun hatte.

„Wissen Sie, wie egal mir Ihr gottverdammter Kongress ist? Wir befinden uns im Krieg, falls Ihnen das noch nicht klar ist.“ Dann schlug er mit der Faust auf eine der Sitzlehnen. Der Anzugträger auf dem Platz gleich daneben riss erschrocken beide Hände vors Gesicht.


Jetzt haben sie dich so weit, mein Sohn. Beherrschung! Du musst dich beherrschen, willst du nicht alles gefährden! Sie wollen dich nur verunsichern. Sie wollen dich auf kleiner Flamme weich kochen, bis du das Wesentliche aus den Augen verloren hast. Was du jetzt brauchst, ist Beherrschung!


Der Anzugträger auf Platz Nummer 12c richtete sich auf, rückte fast schon feierlich seine Krawatte zurecht, fuhr sich durch das lange dünne Haar und warf dem Anführer einen strafenden Blick zu. Neben ihm saß ein Junge mit gelockten Haaren, elf oder zwölf Jahre alt, ebenfalls in einem grauen Anzug. In den Augen des Kindes lag nichts als Hass. Der Junge murmelte einen Fluch in lateinischer Sprache, den der Anführer nicht verstand. Anzugmann Nummer 12c, offenbar der Vater des Bengels, ergriff nun das Wort. „Der Kongress ist in der Tat von großer Bedeutung“, sagte er vorsichtig. „Und ohne diese Delegation nicht beschluss­fähig. Die Auswirkungen werden verheerend sein.“

„Nicht mein Problem.“, sagte der Anführer, beruhigte sich allmählich wieder und wies seine Gefolgsleute an, keinen dieser seltsamen Passagiere hier aus den Augen zu lassen. „Wir sind so gut wie tot.“

„Das sehe ich auch so“, erwiderte 12c. „Ich meine es gut mit Ihnen! Ändern Sie Ihre Pläne, landen Sie auf unserem Zielflughafen und nehmen Sie nur die Crew und von mir aus ein paar Airport-Angestellte mit. Das sind Geiseln genug. Lassen Sie uns ziehen und unsere Aufgabe bei der Abstimmung erfüllen. Unser Votum ist auch in Ihrem Interesse.“

„Abstimmung?“ Der Anführer schoss nach vorne, griff den Mann von Platz Nummer 12c am Kragen seines Anzuges und zog ihn zu sich himmelwärts. „Es reicht mir jetzt mit Ihrem Geschwafel!“ Er fauchte das und biss dann die Zähne zusammen. Der Junge nebenan sah ihn immer noch zornig an. Die Art von Verachtung, die im Blick des Kindes lag, kannte der Anführer nur zu gut. Sie aber ausgerechnet bei einem kleinen Europäer und dann auch noch in dieser hohen Dosis zu sehen, überraschte ihn. Und wieder sagte der Junge etwas in einer fremden und offenbar sehr alten Sprache. Seine Stimme hatte etwas Beunruhigendes. Die Finger des Anführers schlossen sich noch fester um den Griff des Revolvers. Was immer der Kleine da von sich gibt, es ist nichts Gutes. Dann sagte der Anführer laut und deutlich, damit es auch jeder im Flugzeug hören konnte: „Sie haben wirklich keine Vorstellung davon, um was es hier geht.“

Er ließ den Mann von Sitz Nummer 12c nach hinten fallen. In diesem Irrsinn das Wort ergriffen zu haben, beruhigte den Anführer. Der Vater wies seinen bösen kleinen Sohn an, jetzt besser zu schweigen und bediente sich dazu des Lateinischen. Der Junge verstummte augenblicklich, senkte den Kopf und verschränkte die kurzen Arme beleidigt vor seinem Bauch.

„Sind die alle verrückt?“ Das war der Stellvertreter. Er stand dicht neben dem Anführer. „Schau dich um. Die tragen alle den gleichen Anzug.“

„Juristen.“ Der Prophet fiel in das Lachen seines Stellvertreters ein zur Überraschung der anderen Kommandoleute, die mit ihren Waffen alle Geiseln weiterhin in Schach hielten. „Ich bin auf ihre Gesichter gespannt, wenn wir den ersten von ihnen exekutieren.“

„Es wäre gut, wenn wir mehr Frauen und Kinder an Bord hätten.“ Der Stellvertreter spuckte aus. „Zu viele alte Männer auf diesem Flug.“

„Das wird keinen Einfluss auf die Verhandlungen haben. Die Amerikaner zählen immer nur Köpfe.“ Der Anführer dachte nach. „Denen geht es nur darum, am Ende des Tages nicht zu viele Tote beerdigen zu müssen. Sie werden es nicht wagen, ein ziviles Flugzeug vom Himmel zu holen, bevor sie wissen, woran sie sind.“

Einer der anderen Gefolgsmänner kam herbei und steckte dem Anführer ein zerknittertes Stück Papier zu.

„Woher hast du das?“

„Das lag auf dem Boden“, rief der Mann. „Keine Ahnung, wer das geschrieben hat.“

Der Anführer zeigte das Papier dem Stellvertreter. „Eine Botschaft an uns. Es wird wirklich Zeit, dass wir den ersten erschießen.“


Lassen Sie uns ziehen und unsere Aufgabe erledigen.


„Wer war das?“, fragte der Anführer, nachdem er die Zeile gelesen hatte und hielt das vergilbte Stück Papier in die Höhe. Es blieb still. Einige Passagiere – ihr Durchschnittsalter mochte, von Ausnahmen abgesehen, bei fünfundsechzig Jahren liegen – schienen ihn nicht gehört zu haben. Zwei alte Damen in grauen Kostümen und mit identischen Dutt-Frisuren unterhielten sich in Reihe 19 ungeniert weiter. „Wer war das?“, wiederholte der Anführer. Und dann sah er, dass auch die Rückseite des Papiers beschrieben war.


Sofort!


Sechs Buchstaben. Das war alles. Der Anführer ließ das Stück Papier auf den Boden fallen und befasste sich mit der Frage, wo man nach den ersten Exekutionen Leichen verstauen konnte, ohne dass sie ihm und seinen Männern im Weg waren. Die beiden alten Damen beendeten ihr Gespräch und betrachteten die Botschaft, die der Anführer so achtlos fortgeworfen hatte.

Aus dem Cockpit drang eine gedämpfte Stimme.

„Frankfurt versucht, uns zu erreichen. Sie wollen wissen, ob alles in Ordnung ist.“

„Was für eine Frage“, knurrte der Anführer. „Natürlich ist alles in Ordnung. Zwei Piloten, fünf Stewardessen, ein Sheriff und 85 Märtyrer. Alles Christen.“

„Christen? Was macht Sie da so sicher?“, tönte es von Platz 3a. Im Anführer reifte der Entschluss, den Mann mit der Brille endlich zum Schweigen zu bringen. „Sie haben sich den falschen Flug ausgesucht.“

„Das hat mir Ihr Kapitän auch schon gesagt. Ich freue mich darauf, Sie beide sterben zu sehen.“

„Was macht Sie da so sicher?“, wollte jetzt ein Anzugträger mit Vollbart aus Reihe 6 wissen. „Glauben Sie wirklich, dass Drohungen uns beeindrucken?“

„Warum nicht?“ Der Stellvertreter zielte auf Nummer 3a, fest entschlossen, im nächsten Moment abzudrücken. „Im Tod sind alle Menschen gleich.“

„Das glauben auch nur Sie“, rief ein Mann aus Reihe 8, als in der Röhre mit einem Mal alle Lichter erloschen. Die Maschine neigte sich etwas zur Seite. Der Anführer suchte an einer der Sitzlehnen Halt.


Die Piloten ändern den Kurs! Sie haben irgendeinen Plan! Sie wollen uns in letzter Sekunde einen Strich durch die Rechnung machen! Vielleicht haben sie vom Boden aus eine Anweisung erhalten. Vielleicht hat man ihnen gesagt, dass es besser ist, uns trotz aller Verluste ans Messer zu liefern, bevor wir auf den Nachrichtensendern der Welt größeren Schaden anrichten. Sie drehen ab und kehren um! Sie bringen uns zurück nach Deutschland! Beherrschung!


„Was ist da los?“ Der Anführer konnte noch nicht einmal seine Hände vor Augen sehen, suchte nach einem Fenster oder einem Licht entlang der Sitzreihen – fand aber keines. Im Cockpit schrie jemand. Und überall im Bauch des Flugzeugs war jetzt ein leises Klicken zu hören. Die Schlösser der Sicherheitsgurte wurden geöffnet. Beherrschung! Die Piloten versuchen irgendetwas in ihrer bodenlosen Dummheit, haben aber nicht den Anflug einer Chance. Wir werden es niemals dazu kommen lassen, dass man das Kommando in Handschellen filmt. Wir werden dafür sorgen, dass sie niemals solche Bilder für ihre Nachrichten bekommen. Der Anführer hörte die Wache im Cockpit noch einmal schreien. Dem Gefühl nach trennten ihn nur noch wenige Meter von der Spitze des Flugzeugs. Wir werden ihnen zeigen, wie man sich einen Platz in ihren Geschichtsbüchern sichert. Und wir werden ihnen zeigen, wie man einer gottlosen Welt den Glauben zurückgibt.

Der Anführer nahm sich vor, zuerst den Kapitän und dann die rebellische Stewardess umzubringen, um ihrer Mission Respekt zu verschaffen. Am anderen Ende des Flugzeugs wurde erbittert gekämpft und ebenso erbittert Widerstand geleistet. Wir werden ihnen zeigen, was es heißt, dem Tod ins Auge zu sehen. Dann hörte der Anführer sich lachen. Wieder und wieder musste er auf dem Weg nach vorne an seinen Vater denken.

Klick! Klick! Klick!

„Keiner bewegt sich!“ In der Stimme des Stellvertreters weiter vorne lag blanke Angst. „Alles bleibt sitzen! Verstanden?“

„Was ist hier los?“, schrie einer der Gefolgsmänner. Der Entfernung nach zu urteilen, im Heck. „Sitzen bleiben, oder ich schieße! Habt ihr mich verstanden?“

Klick! Klick! Klick!

Der Anführer stürmte voran. Wir stehen zu weit auseinander! Beherrschung! Er hörte sein Herz schlagen, immer lauter. Im Cockpit war die Wache außer sich. Sie haben sich die falsche Maschine ausgesucht, hörte er den Kapitän sagen. Hier an Bord herrscht eine besondere Situation. Im Schutz der Dunkelheit erhoben sich immer mehr Passagiere von ihren Plätzen.

„Sitzen bleiben!“, brüllte der Anführer. Irgendwo schrie jemand. Der Stellvertreter. „Sitzen bleiben!“

Dann folgte ein Knacken, ganz so, als zerbreche Holz, aber der Anführer wusste nur zu gut, dass das kein Holz war. Weiter vorne fiel ein Revolver des Kommandos auf den Boden. Beherrschung! Was um alles in der Welt ist das hier? Der Anführer hielt seine Angst in Schach, ganz so, wie man es ihm beigebracht hatte. Jetzt wurde überall in der Maschine gekämpft. Der Anführer hoffte auf die Besonnenheit seiner Leute. Nicht schießen! Das Letzte, was unsere Bewegung braucht, ist ein Loch in der Wand und Druckverlust!

Der Anführer hatte gerade die Cockpit-Schleuse erreicht, als er hinter sich ein Räuspern hörte. Vor ihm waren Geräusche zu vernehmen, die alles in den ­Schatten stellten, was der Anführer jemals gehört hatte. Und er hatte in den vergangenen Jahren des Krieges eine Menge gehört. Ich kann noch nicht einmal meine Hände sehen, ich kann noch nicht einmal meine Hände sehen! Was um Himmels Willen ist hier los? Aus den Lautsprechern an der Decke nieselte mit einem Mal ein alter Song von Madonna. Like a prayer. Und das war das letzte, was der Anführer in seinem Leben zu hören bekam. Sechseinhalb Minuten dauerte das Schauspiel in bodenloser Dunkelheit. Als der Kapitän das Licht in der Maschine wieder einschalten und die Stewardessen von ihren Fesseln befreien ließ, informierte er die Flugsicherung über ein inzwischen behobenes Problem mit dem Funksystem. Alles unter Kontrolle.


Auf seinem Weg in die Weiten Rumäniens brauchte Flug Nummer 9031, der zwischenzeitlich von allen Radarschirmen verschwunden war, sieben Minuten und zwölf Sekunden länger als geplant. Die Maschine mit Sonderstatus setzte trotz eines überaus schweren Oktobersturms sicher auf. Die Diplomatenpässe, die auf die Namen der 85 Kongressteilnehmer ausgestellt waren, verhinderten, dass auch nur eines der Gepäckstücke aus dem Bauch des Flugzeugs von den Grenzschützern in Hermannstadt näher untersucht geschweige denn durchleuchtet wurde. Selbst der kleine Junge – das einzige Kind an Bord – trug einen für seine Verhältnisse viel zu großen Koffer aus schwerem Leder bei sich. Er ließ ihn keine Sekunde lang aus den Augen.

Und ich dachte schon, wir kommen zu spät!“ Das sagte der Anzugträger von Sitz Nummer 3a auf dem Weg durch die Gangway, wischte sich mit einem uralten Spitzentaschentuch Blut aus dem Mundwinkel, prüfte den Sitz seiner Krawatte, suchte Zahnseide und stieg in einen der bereit gestellten Shuttle-Busse, die heute Nacht auf Scheinwerferlicht verzichteten. Lassen Sie uns ziehen und unsere Aufgabe erledigen. Sie ist von großer Bedeutung. Die bevorstehende Abstimmung über den Fort­bestand der menschlichen Spezies war das beherrschende Thema in den Reihen der Kongressteilnehmer. Der Mann von Sitz 3a ließ sich gleich hinter dem Fahrer des Shuttle-Busses nieder und warf einen nachdenklichen Blick auf dessen Hals. Draußen, jenseits der Rollfelder, herrschte Dunkelheit, die ihresgleichen suchte. Und das war gut so.



8. Oktober: Invasion


So also schmeckt rostiges Eisen. William F. Taylor biss sich auf die Zunge, als er durch den Wald hastete, als sei der Teufel hinter ihm her. Auf seiner Flucht schlugen ihm wieder und wieder Äste ins Gesicht, doch das war gar nichts gegen den Schmerz, der sich bei jedem Schritt durch seine Oberschenkel zog. Taylor betete, dass er es schaffte, noch vor Einbruch der Dunkelheit am Highway zu sein. Er dachte nicht mehr daran, dass seine Sachen blutverschmiert waren. Und er dachte auch nicht mehr daran, was er vorhin weit draußen zu Gesicht bekommen hatte. Das unheimliche Heulen der Maschinen drang durch die dichten Baumreihen und ließ ihn erschauern. Er zwang sich abermals, so leise wie möglich zu sein. Jeder Schritt schmerzte. Wie viele Meilen hatte er hinter sich gebracht in seinen alten Schuhen? Fünf oder zehn? Gleich wird mir der Morast hier die Füße abreißen. Sie bleiben einfach im Boden stecken. Ich werde dann auf Knochenstümpfen aus dem Wald stapfen und hoffen, dass es mich nicht doch noch erwischt.

Taylor schnappte nach Luft und lauschte dem unglaublichen Lärm, der ihn und seine Leute hierher geführt hatte. Das Donnern und Fauchen und Grollen hörte sich an wie eines der Triebwerke, die das Militär immer mal wieder auf der Delta Airbase testete, streng geheim und ganz weit draußen, versteht sich. Meistens nachts, um keine Zaungäste, Reporter und UFO-Spinner auf den Plan zu rufen. Taylor verließ die Deckung und eilte über eine Lichtung. Er hatte keine Ahnung, wie spät es war, als er am Waldrand mit einem Mal die grellen Lichter von Dexters Tankstelle am Highway erblickte und mit letzter Kraft darauf zu stürmte. Die Lampe an den Zapfsäulen war ausgeschaltet, aber das Schild hoch über ihnen gut zu lesen.


Benzin gibt’s um die Ecke!

Bei John melden!

Danke!


William Fox Taylor, seine Freunde nannten ihn nur Foxey, vernahm heiseres Gelächter, als er dem Pfeil folgte, der mit Filzschreiber unter das Dankeschön gezogen worden war. Und er erschrak, als ihm klar wurde, dass er sich da selbst lachen hörte – ganz so, als habe er tief im Wald tatsächlich den Verstand verloren. Hinter der Tankstelle stand eine kleine Bar. Am Aufgang lockten zwei alte Gaslaternen Unmengen von Nachtfaltern an und grillten sie. Das Holz der Treppenstufen ächzte beleidigt, als Taylor hinauf eilte und sich gegen die Tür stemmte. Im nächsten Moment lag er auch schon da, wie ein verunglückter Weitspringer, auf einem schlecht gefliesten Boden, durch den sich tiefe Risse zogen. Taylor bemühte sich um Haltung angesichts der spöttischen Blicke. Sieben oder acht Männer kippten am Tresen ihre Drinks runter. Drei weitere hockten an einem Tisch etwas abseits und blätterten in großformatigen Sex-Magazinen aus einem der beiden Zeitschriften-Ständer speziell für Trucker. Taylor erhob sich und schnaufte laut. Der Wirt hinter der Theke war extrem fett, extrem unrasiert, trug eine extrem mit Flecken übersäte Schürze und betrachtete seinen Gast mit nicht minder extremer Verachtung.

„Hey Foxey! Lange nicht gesehen. Alles okay?“ Der Wirt wischte sich die Hände an der Hose ab. Sein Name war Daniel May, und er gehörte ebenso zum Inventar wie die meisten Holzfäller hier, die sich im Dunst billiger Zigaretten fragten, ob der Mann aus dem Wald möglicherweise verrückt war. „Alles in Ordnung mit dir?“ May stellte ein leeres Glas ab. „Du siehst übel aus.“

„Durst!“ William schob sich an den mürrischen Männern zur Theke durch.

„Durst?“ Der Wirt sah die anderen Gäste vielsagend an. „Dann bist du hier richtig.“ Er füllte demonstrativ ein Glas mit Wasser und eines mit Whisky und stellte sie seinem späten Gast mit feierlicher Miene vor die Nase. „Was hast du mit deinen Klamotten gemacht?“ May deutete auf Taylors blutverschmierten Mantel. „Hast du jemanden umgebracht?“

„Ich glaube schon“, sagte der Mann aus dem Wald zur Überraschung der anderen, die jetzt fest davon überzeugt waren, dass William gleich seine 45er aus der Hose zog, um ihnen faustgroße Löcher in den Brustkorb zu schießen.

„Trink erst mal was, Foxey!“, rief einer der Männer. Taylor nickte gehorsam und kippte das Wasser runter.

„Wir müssen hier weg“, rief er, als er sich dem Whisky zuwandte. „Sofort!“

„Weg?“ Der Wirt machte sich daran, Taylor ein zweites Glas auf Kosten des Hauses einzugießen. „Warum müssen wir weg?“

„Weil sie bald hier sind“, sagte der Mann aus dem Wald. „Uns bleibt keine Zeit.“

„Wer ist bald hier?“

„Das seht ihr früh genug.“ Taylor trank jetzt den Whisky. Die Hitze, die sich im nächsten Moment in seinem Magen ausbreitete, fühlte sich nach den furchtbaren Ereignissen wunderbar an. „Sie haben Danny, Freddy und Jim getötet.“

„Was?“, rief einer der Trinker am Tresen. Auch die anderen Männer schauten von ihren Gläsern auf. „Tot?“

„Ja! Sie sind alle tot!“, sagte Taylor. „Und wir werden es auch bald sein, wenn wir nicht machen, dass wir weg kommen!“

„Was redest du da?“ Der Barkeeper starrte ihn an. „Wer hat Jim getötet?“

„Ihre Haut schimmert grün“, sagte Taylor und ließ das leere Glas fallen. „Mindestens zweihundert. Vielleicht auch dreihundert. Sie sind überall. Sie haben uns eingekreist, und nur ich war schnell genug weg. Ihr Schiff liegt ein paar Meilen von hier in einer Schneise.“

„Was für ein Schiff?“

„Das Ding sieht aus wie eine Zigarre.“ Taylor dachte nach. „Es ist fünfzig Meter lang, mindestens. Wir haben den Lärm seiner Maschinen gehört und zunächst gedacht, dass das einer der verdammten Militärflieger ist, im Wald abgeschmiert. Wir hörten wirres Zeug im Funkgerät. Klang wie ein Notruf. Deshalb sind wir auf den Hügel gelaufen, und dann waren sie auch schon bei uns! Sie haben eine Fahne da oben aufgestellt. Versteht ihr? Unser Land gehört jetzt ihnen! Sie machen jetzt das mit uns, was wir damals mit den Indianern gemacht haben! Das ist eine Invasion! Sie sind schnell und haben Danny und die anderen wie Vieh geschlachtet.“

„Beruhige dich“, sagte der Barkeeper. „Du hast schlecht geträumt.“

„Kann man so etwas träumen?“ Taylor deutete auf seinen Mantel. „Unten am Fluss liegen noch mehr Zigarren!“

„Echt jetzt? Raumschiffe?“ Einer der Sex-Magazin-Männer grinste breit. Er war eingefleischter Republikaner und trug sein Haar wie Donald Trump. „Und sie sehen wirklich aus wie Zigarren?“ Dann klopfte sich der Trinker auf die breiten Schenkel, murmelte etwas von Fake News und stellte unter dem johlenden Gelächter seiner Kameraden astronomische Kenntnisse unter Beweis: „Wahrscheinlich kommen sie direkt aus dem Sternbild Lewinsky! Oder aus dem Clinton-Nebel!“

„Lacht nur! Sie sind auf dem Weg hierher, und sie sind extrem sauer!“

„Sauer?“, fragte der Barkeeper überrascht.

„Ich habe zwei von ihnen weg gepustet.“ Taylor zog nun wirklich sein Schießeisen aus dem Mantel. Die Männer an der Bar duckten sich sofort, gingen hinter Tischen in Deckung und fluchten. Mit der Waffe in der Hand ging Taylor an eines der Fenster, schaute hinaus und schüttelte mit wirrem Blick den Kopf. „Ihr müsst ihre Augen sehen!“

„Gar nichts müssen wir, du Spinner“, polterte ein alter Trinker auf der anderen Seite des Tresens, immer noch in Deckung, und wandte sich an den Barkeeper. „Ich bin dafür, dass du Sheriff Cody anrufst und die Leute von der Airbase verständigst. Und du, Taylor, legst jetzt das verdammte Ding aus der Hand, bevor ich mich vergesse!“

Der Barkeeper nickte. „Ja, das ist wohl am besten“, sagte er und griff zum Hörer des Wandtelefons. „Foxey, du gehst jetzt nach oben und machst dich sauber.“

Dann drehte er die Wählscheibe.

„Was? Ihr glaubt mir nicht?“ Taylor war außer sich. „Dann geht doch selbst in den Wald und lasst euch zu Hackfleisch machen! Die Leute von der Airbase sind längst tot. Alle! Ihre Uniformen sind überall zwischen den Bäumen verstreut. Sie hat man zuerst erledigt! Mich kriegen keine zehn Pferde zurück in den Wald, hört ihr? Ihr könnt ja gerne hier bleiben, aber ich muss weiter.“

Dann fiel Taylors Blick auf den Fernseher über der Theke. Er zeigte verwackelte CNN-Bilder vom Himmel über San Francisco, Washington und New York City.

Er war voller Zigarren.

„Warum sollten wir dir nicht glauben?“, wollte der Barkeeper wissen. Seiner Stimme nach zu urteilen, lächelte er. Und als er sich umdrehte, starrte William F. Taylor in ein Paar glühender Augen. So also schmeckt rostiges Eisen.



9. Oktober: Formatiert


Drei Worte haben ausgereicht, um die Welt, wie wir sie kannten, ins Chaos zu stürzen. Übersetzt in mehr als zwanzig Sprachen, gesendet am 9. Oktober um 7.05 Uhr mitteleuropäischer Ortszeit: Sieh mich an. Wer die verhängnisvolle Botschaft auf den Weg gebracht hat, ist bis heute ein Geheimnis. Sie hat in Windeseile alle Messenger-­Dienste geflutet und E-Mail-Postfächer gefüllt. Mehr als 50 Millionen Menschen, so schätzt man, haben die ­Nachricht am Bildschirm oder auf dem Display sofort gelesen und danach die Website besucht, auf die ihr Link führt. Die Zahl der Opfer erhöht sich von Stunde zu Stunde. Selbst 70 Tage nach dem Einschlag werden immer noch die Toten gezählt, überall auf der Welt. 64 Prozent Männer, 36 Prozent Frauen. Das sagt die Statistik. Ich selbst gehöre zu denen, die Sieh mich an ungelesen gelöscht und damit ihr Leben gerettet haben. Vorerst zumindest. Diejenigen, die der Botschaft gefolgt sind, haben ihren Verstand verloren. Wunderschön soll die Frau sein, die auf der anderen Seite wartet, sobald man den Link nutzt. Experten schätzen, dass zehn Sekunden Blickkontakt reichen, um wahnsinnig zu werden. Töte dich. Das ist alles, was die Frau verlangt. Sie ist der Erstschlag gegen alle, die auf dieser Welt ein Smartphone, ein Tablet oder einen Rechner besitzen.

Natürlich hat man alles daran gesetzt, die Frau mit den stahlblauen Augen sofort aus dem Netz zu entfernen. Die Amerikaner haben alles ins Feld geworfen, was ihnen zur Verfügung stand. Wie viele ihrer Experten im Kampf gegen Sieh mich an ihr Leben gelassen haben, wird für immer ein Geheimnis bleiben. Sie haben nichts unversucht gelassen, der Macht, die über Nacht zu uns gekommen ist, Herr zu werden. Aber selbst das hat nicht gereicht. Niemand ist in der Lage, die Frau aus dem Netz zu löschen. Technik hat in diesem Krieg keine Bedeutung. Die Mächte, die Sieh mich an schufen, haben den perfekten Weg gefunden, das Internet zur Waffe zu machen. Sie haben den Tod zu uns auf die Datenautobahn geschickt, einen Gedankenwurm, der heimtückischer ist als jeder Virus, mit dem wir es bislang zu tun bekommen haben. Sieh mich an formatiert nicht die Festplatten unserer Computer. Sieh mich an formatiert unsere Köpfe.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783957196125
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
Spuk Schauer Geschichten Halloween

Autor

  • Stefan Melneczuk (Autor:in)

Stefan Melneczuk kam am Halloweentag 1970 zur Welt, schreibt seit 1985 dunkle Literatur und wurde mehrfach für seine Kurzgeschichten ausgezeichnet - unter anderem 1993 mit dem Literaturpreis der Stadt Hattingen. Seit 1998 erscheinen auch seine Bücher. Bei Lesungen zieht er alle Register - zwischen gepflegtem Horror und Melancholie, gewürzt mit schwarzem Humor.
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Titel: Geisterstunden