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Sherlock Holmes - Neue Fälle 31: Die Leiche des Meisterdetektivs

von Andreas Zwengel (Autor:in)
124 Seiten

Zusammenfassung

Drei Geschichten aus der Welt von Sherlock Holmes Der Tod eines Veteranen führt Doktor Watson nach Cornwall, wo Holmes einen Mordfall vermutet, der mit dem britischen Militäreinsatz in Afghanistan zu tun hat. Im Auftrag Ihrer Majestät muss Mycroft Holmes schweren Schaden vom Empire abwenden. Im dritten Fall steht Doktor Watson fassungslos im Leichenschauhaus von London. Vor ihm liegt die Leiche des Meisterdetektivs. Die Printausgabe des Buches umfasst 172 Seiten Exklusive Sammler-Ausgabe als Taschenbuch nur bei www dot blitz-verlag_de erhältlich!!!

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis




Tod eines Veteranen


Von Paddington Station aus machte ich mich mit dem Zug nach Cornwall auf. Mit einigem Widerwillen, wie ich gestehen muss. Die Zugstrecke von London endete in dem kleinen Städtchen Penzance, zu landesweitem Ruhm gekommen durch die komische Oper Die Piraten von Penzance der Erfolgskomponisten Gilbert & Sullivan. Ich hatte die Aufführung bisher nicht gesehen, aber sie soll amüsant sein.

Meine Reise führte mich allerdings noch ein ganzes Stück weiter die Südküste entlang. Glücklicherweise fand ich einen ortsansässigen Kutscher, der sich für eine Fahrt über Land begeistern ließ. Wobei ich annehmen muss, dass es eher die finanziellen Anreize waren, die ihn überzeugten, und nicht die landschaftliche Schönheit. Obwohl diese natürlich unbestreitbar war. Mit seinen langen Sandstränden, dem milden Klima und den wunderschönen Buchten bot Cornwall im äußersten Südwesten Englands den geeigneten Ort, um zur Ruhe zu kommen. Genau aus diesem Grund hatte mein Freund Sherlock Holmes vor einer Woche London verlassen.

In den quälenden Phasen der Untätigkeit versuchte Holmes für gewöhnlich, seinen rastlosen Geist mit Morphium und siebenprozentiger Kokainlösung zu bezähmen, was immer seltener gelang. Mein Freund hatte seinen Körper wahrlich noch nie geschont. Der offenkundige Missbrauch von chemischen Stoffen, die unregelmäßige Nahrungsaufnahme beziehungsweise deren völliger Verzicht, das alles hinterließ Spuren. Er führte seinem Körper Stimulanzen zu, die auf Dauer nicht gesund waren. Als Arzt musste ich ihm von so vielem abraten, aber er hörte nicht auf mich. Sein Lebenswandel konnte zu manchen Zeiten nicht anders als selbstzerstörerisch bezeichnet werden. Deshalb war es wieder einmal Zeit für eine Ruhe-Kur in Cornwall gewesen.

Der Aufenthalt in dem Sanatorium war äußerst kostspielig. Zu kostspielig für die Börse eines Beratenden Detektivs, doch seine Rechnung war bereits beglichen, da ihm ein reicher Gönner und ehemaliger Klient den Aufenthalt vermittelt hatte. Sollten es die Fachleute versuchen, einen ruhelosen Geist wie den von Holmes zum zeitweiligen Nichtstun zu verurteilen. Zu meiner Überraschung war es mehrere Tage gut gegangen, bis mich am Vortag seine Nachricht erreichte, in der er mich aufforderte, sofort zu ihm nach Ennet House zu reisen. Das Telegramm entbehrte aller weiteren Informationen und enthielt nur eine weitere Anweisung.

Bei meiner Ankunft stellte ich fest, dass es sich bei Ennet House um ein beeindruckendes Anwesen handelte. Das dreigeschossige Herrenhaus besaß einen H-förmigen Grundriss und verfügte über mehrere Türme, die noch an die mittelalterliche Festungsarchitektur erinnerten. Die Hauptfassade imponierte mit säulengerahmten Portalen, Ziergiebeln und Balustraden. Ennet House war ein elisabethanischer Landsitz mit ummauerten Gartenflächen, Gewächshäusern und Sportanlagen. Wer sich den Aufenthalt leisten konnte, besaß zumindest keine finanziellen Sorgen.

Sportliches Training, lange Spaziergänge oder musische Betätigung sollten das Wohlbefinden und die Gesundung der Gäste fördern. Sie konnten sich aber auch in den Gewächshäusern betätigen, ausreiten oder an einem nahen Teich angeln. Hauptsächlich Tätigkeiten, die Stille und Ruhe versprachen oder wenigstens für Zerstreuung sorgten. Hektik und Lärm waren in Ennet House verpönt und wurden mit mahnenden Blicken bedacht.

Das gewaltige Anwesen endete an einer Steilküste. Dort stand eine lange Reihe weißer Liegestühle, von denen man aufs Meer blicken und die Seeluft genießen konnte. Der Blick über den Ärmelkanal war atemberaubend. Ein geeigneter Ort, um zur Ruhe zu kommen und Entspannung zu finden, aber ich bezweifelte ernsthaft, dass es ihm gelingen konnte, seine wohltuende Kraft auf Holmes zu entfalten.

Ich stellte meine Reisetasche vor den Treppenstufen der Eingangstür ab und hielt nach Holmes Ausschau. Ich hatte nicht erwartet, dass er mich auf der Türschwelle erwartete, wenn ich eintraf, aber er hätte immerhin auffindbar sein können.

Ich wollte meinen Freund unterstützen, auch wenn er meine Hilfe für gewöhnlich nicht wünschte. Weder bei seinen Fällen noch in seinem übrigen Leben.

„Haben Sie meine Zigaretten dabei, Watson?“, fragte eine vertraute Stimme hinter mir. Ich gab ihm nicht die Genugtuung, zusammenzuzucken. Betont langsam drehte ich mich zu ihm um. Holmes trug sportliche Kleidung und machte den Eindruck, sich vor Kurzem körperlich betätigt zu haben. Seine Gesichtsfarbe war normal, er atmete ruhig, aber an den Schläfen und im Nacken sah sein Haar aus, als habe er dort stark geschwitzt und es sei nun wieder getrocknet. Die Aktivität durfte also bereits mehrere Minuten zurückliegen. Ich ging davon aus, dass es sich um Fecht- oder Boxtraining gehandelt hatte. Doch obwohl ich sehr zufrieden mit meinen Beobachtungen und Schlussfolgerungen war, erwähnte ich sie gegenüber Holmes nicht. Ich würde ihn damit nicht beeindrucken können, sondern eher dazu animieren, mich übertreffen zu wollen.

Ich zog das Etui aus meiner Tasche und hielt es in die Höhe. „Ganz wie gewünscht, habe ich Ihnen Ihr bevorzugtes Gift mitgebracht.“

„Ein sehr hilfreiches Gift. Die Hausleitung folgt strengen Regeln in Bezug auf Genussmittel, aber wie soll man sich denn ohne Tabak entspannen?“

Ich reichte ihm seine Rauchutensilien. „Sie haben mich aber nicht nur kommen lassen, um Ihnen Ihre Zigaretten zu bringen? Ich hoffe jedenfalls sehr, dass dies nicht der einzige Grund ist.“

„Sind Sie der Meinung, dass ich zu verschwenderisch mit Ihrer Zeit umgehe?“, erkundigte sich Holmes amüsiert.

„Für gewöhnlich vermitteln Sie mir das Gefühl, dass es umgekehrt ist, weil ich so begriffsstutzig bin und Sie regelmäßig zu unnötigen Erklärungen zwinge. Wenn Sie mich also so direkt fragen, würde ich diese Annahme wohl bestätigen.“

„Zu Ihrer Beruhigung, Watson, Sie sind nicht nur deshalb hier, um mir meinen Tabak zu bringen.“ Holmes zündete sich eine Zigarette an und winkte mich mit sich. „Im Übrigen handelte es sich um Fechttraining“, erklärte er beiläufig. „Mir stehen hier erfreulich viele ehemalige Soldaten als Trainingspartner zur Verfügung.“

Selbstverständlich hatte er meine Beobachtungen bemerkt und kannte die Schlüsse, die ich daraus gezogen hatte. „Also? Weshalb sollte ich diese Reise auf mich nehmen?“

„Wie es der Zufall so will, bin ich hier im Haus auf einen Fall gestoßen.“

„Tatsächlich?“

„Der Tod eines Bewohners war in Wahrheit ein Mord, auch wenn dies niemand außer mir bemerkt hat.“

Ich war erstaunt. „Sie haben es keinem erzählt?“

Holmes blieb stehen. „Wozu? Damit mir hier die Polizei im Weg herumsteht?“

Er erzählte mir von seinem kurzen Gespräch mit einem Constable vom nächstgelegenen Polizeiposten. Der gute Mann hatte sich die Leiche angesehen und nach weniger als zwei Minuten der vorherrschenden Annahme angeschlossen: Der Mann sei friedlich entschlafen. Der Dorfarzt des nächsten Ortes und gleichzeitig Hausarzt des Sanatoriums hatte den Totenschein ausgefüllt und die Leiche abtransportieren lassen.

„Wen haben Sie im Verdacht?“, erkundigte ich mich. „Einen anderen Patienten, jemanden vom Personal oder einen Täter von außerhalb?“

„Momentan sind noch alle drei Möglichkeiten denkbar.“

Auf der Vorderseite von Ennet House gab es einen Blumengarten, der für Spaziergänge genutzt wurde. Hinter dem Haus befanden sich zahlreiche Obstbäume, deren Früchte den gesunden Speiseplan bereicherten. Momentan dienten sie allerdings Holmes als Sichtschutz vor dem Personal, während er seiner Nikotinsucht frönte.

Hinter uns erklang ein dezentes Räuspern. Holmes schnippte unauffällig die Zigarette davon, bevor er sich umwandte. Ich betrachtete die dunkelhäutige junge Frau in der Schwesternuniform, die meinem Freund einen tadelnden Blick zuwarf.

„Sara, darf ich Ihnen Doktor John Watson vorstellen?“, kam er ihren Worten zuvor. „Mein Mitbewohner aus London, der mir einen Besuch abstattet.“

Und Sie mit Tabak versorgt, hätte Schwester Sara hinzufügen können, doch stattdessen lächelte sie nur. Ich wollte nicht nach ihrer Herkunft fragen, tippte aber auf den Vorderen Orient.

„Ich hoffe, Holmes bereitet Ihnen nicht zu viele Umstände“, sagte ich.

„Aber ich bitte Sie, Doktor Watson. Mister Holmes ist ein mustergültiger Gast und ein Vorbild für alle anderen Gäste.“ Ihr Akzent ließ keine Rückschlüsse auf ihre Herkunft zu, da sie das Englische nahezu perfekt beherrschte.

Ich sah meinen Freund an und hob die Augenbrauen. „Ach, tatsächlich? Sie können also auch anders?“

Sara lachte, und es klang bezaubernd, weil sie versuchte, ihre Heiterkeit zu unterdrücken. Sie blickte sich schnell um, ob jemand beobachtet hatte, wie sie mit den Gästen privat plauderte, was ihr mit Sicherheit untersagt war, und verabschiedete sich dann mit einem freund­lichen Lächeln.

„Hübsches Kind“, sagte ich, als ich ihr nachblickte. Die prächtigen malvenfarbenen Uniformen sollten den zahlenden Gästen wohl auch etwas fürs Auge bieten, denn sie ähnelten nicht der schlichten Bekleidung in öffentlichen Hospitälern.

„Tatsächlich? Ist mir überhaupt nicht aufgefallen“, erwiderte Holmes. „Aber sie ist ausgesprochen sympathisch, da muss ich Ihnen zustimmen.“

„Falls sie nicht bei der Hausleitung petzt, dass Sie im Besitz von Tabakwaren sind.“

„Das wird Sie nicht“, sagte Holmes zuversichtlich. „Sara ist meist aufseiten der Gäste.“

Ich fragte mich, woher sein großes Interesse an dieser Frau stammte. Für gewöhnlich schenkte er Angestellten nicht so viel Aufmerksamkeit, es sei denn, sie hatten unmittelbar mit einem Fall zu tun. Da er mir eine solche Frage garantiert nicht beantworten würde, wechselte ich zu einem Thema, das mich mindestens genauso sehr interessierte. „Ich weiß immer noch nicht, weshalb ich hier bin. Von den Zigaretten einmal abgesehen.“

Holmes hob den eilig weggeworfenen Zigarettenstummel auf und ließ ihn in einem Blumenkasten ­verschwinden. Er verstand sich nicht nur darauf, verräterische Spuren zu entdecken, sondern auch darauf, sie verschwinden zu lassen. „Sie werden den Grund erkennen, wenn Sie das Zimmer des Toten sehen. Folgen Sie mir, Watson!“

Zuerst führte er mich auf sein eigenes Zimmer, damit ich mich nach der langen Reise etwas frisch machen konnte. Der Raum war klein und spartanisch. Angesichts der Kosten für seinen Aufenthalt hätte ich gerade in diesen Bereichen des Hauses etwas mehr Komfort erwartet. Aber vielleicht gehörte dies auch zum Heilungsprozess. Die Konzentration auf das Notwendigste konnte den Menschen helfen, zur Ruhe zu kommen. Oder aber die Betreiber von Ennet House bemühten sich, ihren Gewinn auf jede erdenkliche Weise zu steigern.

Holmes befand sich seit einer Woche hier und schien sich in dem Gebäude besser auszukennen als mancher Angestellte, der dort bereits seit Jahren seinen Dienst versah. Ich vermutete, dass er in Ermangelung anderer Beschäftigungen in diesen sieben Tagen das getan hatte, was er mit jeder fremden Umgebung tat: Er machte sie sich zu eigen. Dies geschah für gewöhnlich innerhalb weniger Minuten, doch nachdem ihm hier eine ganze Woche zur Verfügung gestanden hatte, gab es wohl keine Personen und keinen Raum im ganzen Gebäude, die ihm nicht vertraut waren.

Das feine Interieur schlug mich sofort in seinen Bann. In den öffentlichen Bereichen hatte man an keiner Stelle gespart. Ich sah mächtige Kamine, kunstvoll strukturierte Decken und Einrichtungsgegenstände aus vergangenen Jahrhunderten. Über dem Speisesaal befand sich eine Galerie, auf der im Mittelalter die Musiker saßen, die bei den Mahlzeiten ihrer Herrschaft musizierten.

Wir erreichten einen Flügel des Gebäudes, der wesentlich luxuriöser ausgestattet war als jener, in dem Holmes untergebracht wurde. Entlang des Ganges gab es nur sehr wenige Türen, was auf die Größe der Unterkünfte dahinter schließen ließ. Holmes’ Gönner hatte zwar den Aufenthalt bezahlt, aber im preiswerten Bereich gebucht.

Holmes blieb vor einer Tür stehen und drückte die Klinke. Die unverschlossene Tür schwang auf. Dahinter lag ein großer Wohnraum. Er ließ mir den Vortritt, und ich trat ein. Rechts von mir befanden sich das Bett sowie die Tür zu einem separaten Badezimmer. Gegenüber stand ein Kleiderschrank zwischen den beiden Fenstern und in der Raummitte eine Chaiselongue mit zwei Sesseln als Sitzgruppe arrangiert. Eine Überraschung bot die linke Seite des Raumes, wo ein großer Schreibtisch stand, direkt vor der Wand, die über und über mit Zeitungsausschnitten, gerahmten Fotografien, Zeichnungen und Andenken aller Art geschmückt war. Ich entdeckte Dolche und Pistolen, Teile einer Uniform, Flaggen und traditionelle Kleidung, die mir vertraut vorkam. Es war weit mehr, als man mit einem Blick erfassen konnte. Die schiere Fülle verursachte mir Schwindelgefühle.

Holmes blieb neben der Tür stehen und ließ mir Zeit, die prall gefüllte Wand auf mich wirken zu lassen.

Ich entdeckte schnell den gemeinsamen Hintergrund dieser Sammlung. Es ging nicht um die Erinnerungen an eine lebenslange Militärkarriere, sondern ganz speziell um den Konflikt zwischen Afghanistan und dem Empire. Genauer gesagt den zweiten Anglo-Afghanischen Krieg, an dem auch ich teilgenommen hatte. Allein der Gedanke daran weckte die Erinnerungen an vergangene Schmerzen in meinem Körper. Ich hatte im 66th Regiment of Foot bei Maiwand gekämpft und dort meine Verwundung erhalten, die mir selbst heute noch zu schaffen machte. Aus verständlichen Gründen wollte ich nicht alles noch einmal im Geiste durchspielen: die Schlacht, die Verletzung, die Infektion und das Hospital. Ich drängte meine persönlichen Erlebnisse zur Seite und konzentrierte mich allein auf die dargebotenen Gegenstände. Eine Haltung, die Holmes sehr entgegenkommen dürfte, da ihm Gefühlsäußerungen immer unangenehm und auch ein wenig suspekt waren.

„Was halten Sie davon?“, erkundigte sich Holmes.

„Wo ist die Leiche?“

„Im örtlichen Leichenschauhaus. Sie braucht Sie nicht zu interessieren.“ Holmes hatte die Leiche untersucht und wusste bereits alles, was es zu wissen gab. Ich begriff, dass er nicht an meinem Wissen als Mediziner interessiert war, sondern meine Erinnerungen an den Krieg nutzen wollte. Ich sollte mich wieder an Dinge erinnern, die ich am liebsten vergessen hätte. Mein Aufenthalt in Afghanistan war ein so großer Einschnitt in meinem Leben gewesen, dass ich nur ungern daran ­erinnert ­werden wollte. Ich gehörte nicht zu den ehemaligen Soldaten, die den Rest ihres Lebens in Erinnerungen an alte Kriegsgeschichten schwelgten. Meiner Erfahrung nach erzählten diejenigen am meisten von der Front, die den Schlachten am weitesten ferngeblieben oder nicht einmal in ihre Nähe gekommen waren. Zu welcher Sorte mochte wohl der Tote gehört haben?

„Mit wem haben wir es zu tun?“, wollte ich von Holmes wissen. „Oder muss mich das auch nicht interessieren?“

„Der Verstorbene war Major Reginald Fitzgerald.“

Ich überlegte kurz, ob ich jemals die Bekanntschaft des Mannes gemacht hatte, aber der Name sagte mir nichts. Ich widmete mich wieder der Wand.

„Der Major interessierte sich sehr für den Konflikt in Afghanistan und hat dort auch gedient“, stellte ich rasch fest. „Er war an der Schlacht in Maiwand beteiligt.“

„So wie Sie.“

„So wie ich“, bestätigte ich und sah mir die einzelnen Bildunterschriften an. Ich wusste sofort, was der Major in Afghanistan erlebt hatte. Holmes verhielt sich ruhig, während ich mir die Fotografien ansah, schließlich tat ich genau das, wofür er mich hatte kommen lassen. Ich fuhr mit der Hand über die ausgehängten Urkunden und Medaillen. Überflog die zahlreichen Zeitungs­ausschnitte, die sich mit den Hintergründen des Konfliktes beschäftigten.

„Können Sie mir schon etwas über den Toten sagen?“, fragte Holmes, der langsam ungeduldig wurde. Er war es nicht gewohnt, auf die Erkenntnisse von anderen warten zu müssen, und ich musste gestehen, ihn unnötig auf die Folter gespannt zu haben.

„Wie viel wissen Sie über den Krieg in Afghanistan?“, fragte ich ihn.

„Nur das, was ich von Ihren bisherigen Kriegsgeschichten nicht vergessen habe.“

Eine typische Holmes-Antwort, um keine Wissenslücken eingestehen zu müssen. Außerdem war ich, wie bereits erwähnt, sehr sparsam mit den Berichten meiner Kriegserlebnisse. „Ich werde einen knappen Abriss geben, und Sie sagen mir einfach, an welchen Stellen ich mehr ins Detail gehen soll.“

Er machte eine auffordernde Handbewegung.

„Der Konflikt mit Afghanistan begann vor etwa fünfzig Jahren, als Russland und das Empire koloniale Interessen an diesem Gebiet entwickelten. Das Zarenreich wollte bis an den Indischen Ozean vordringen, aber das mussten wir unbedingt verhindern, um unsere Vormachtstellung zu sichern und die Expansionsbestrebungen des Russischen Reiches zu bremsen. Es ging schließlich um das weitere Bestehen des Britischen Weltreichs.“

„Ich glaube, Sie können die Vorgeschichte überspringen, Watson. Seit meiner Ankunft habe ich viele Mitglieder des Militärs kennengelernt, die hier versuchen, ihre Erlebnisse in Afghanistan oder anderen Orten zu bewältigen. Wobei kennengelernt wohl der falsche Begriff ist, da die meisten von ihnen jeglichen Kontakt mit anderen Bewohnern meiden. Aber über die Ursachen des Konfliktes wurde ich dennoch ausreichend informiert.“

„Sind Sie dem Major vor seinem Tod begegnet?“, fragte ich.

„Ich habe Fitzgerald nur einmal aus der Ferne gesehen, da machte er keinen allzu scheuen Eindruck. Er hat gerne mit dem Personal und anderen Bewohnern gesprochen. Nur kurz und wohl auch lediglich oberflächliche Konversation, aber es bereitete ihm wohl keine Schwierigkeiten.“

„Sie hatten also keinen anderen Veteranen zur Hand, der Ihnen Ihre Fragen beantworten konnte?“

„Für mich ist es komfortabler, mit einem vertrauten Informanten zu arbeiten, bei dem ich die Qualität seiner Antworten einschätzen kann.“

Ich seufzte. „Ich nehme an, das ist so eine Art Kompliment gewesen. Die Reise hierher war sehr aufwendig, deshalb beruhigt es mich, zu erfahren, dass Sie es sich gründlich überlegt haben, bevor Sie mich kommen ließen.“

Holmes machte eine ungeduldige Handbewegung, als handele es sich um lästige Phrasen, die seine Zeit vergeudeten. Die Ironie meiner Bemerkung entging ihm entweder oder er ignorierte sie einfach.

„Wenden wir uns dem Teil zu, der auch unseren Major betrifft“, drängte er.

Wie gewünscht fuhr ich fort. „1878 sind unsere Truppen über den Khaiberpass in Afghanistan einmarschiert und haben Kabul sowie einige andere Städte besetzt. Der amtierende Emir floh nach Russland und wir setzten einen neuen ein. Fortan bestimmte das Empire die ­Außenpolitik des Landes, bis zwei Jahre später im Westen, genauer in der Stadt Herat, Truppen zusammen­gezogen wurden, um Richtung Kandahar zu marschieren.

Brigadier George Burrows erwartete mit über zweieinhalbtausend Soldaten den Angriff. Zu seiner Unterstützung waren 6.000 Männer der afghanischen Armee abgestellt, von denen aber ein großer Teil desertierte, um sich dem Gegner anzuschließen. Burrows wollte der gegnerischen Streitmacht entgegenziehen und ihre Vorhut ausschalten. Er glaubte nicht an die gemeldeten Zahlen von 8.000 Infanteristen und 3.000 Reitern, die auf dem Weg zu ihm waren.“

„Die typische Überheblichkeit in diesen Kreisen“, sagte Holmes abfällig, und ich mochte ihm nicht widersprechen.

„Dazu kamen noch zahlreiche Stammeskrieger aus der Umgebung, die sich ebenfalls der feindlichen Armee anschlossen.“

„Eine beachtliche Übermacht.“

„Nicht wahr? Am Morgen des 27. Juli gingen wir bei dem Dorf Maiwand in Stellung, etwa achtzig Kilometer westlich von Kandahar. Wir standen in dieser staubigen Ebene unter der heißen Sonne einer zahlenmäßig überlegenen Armee gegenüber, die zudem noch mehr und bessere Kanonen besaß. Sie nahmen uns unter Feuer, während wir ihnen kaum etwas entgegenzusetzen hatten. Zu allem Übel drohte uns auch noch die Munition auszugehen. In dieser Lage griffen die afghanischen Reiter unsere Flügel an und brachten schließlich die gesamte Verteidigung zum Zusammensturz. Unsere Einheiten zogen sich unter großen Verlusten nach Mahmudabad und Chik zurück.“

„Es scheint mir ein Wunder, dass Sie diese Schlacht überlebt haben, mein lieber Watson.“

Ich nickte traurig und dachte daran, wie die letzten Mitglieder meines Regiments eingeschlossen und nieder­gemacht wurden. „Ich habe überlebt, weil ich schon früh verwundet wurde. Ebenso wie Burrows, der rechtzeitig flüchtete. Unsere Gegner sind uns nicht gefolgt, sondern haben lieber geplündert. Die letzten Mitglieder des 66th1 Regiments stellten sich in den Obstgärten bei Chik einer riesigen Übermacht. Sie kämpften zuletzt Rücken an Rücken und fanden alle den Tod.“

„Soweit ich weiß, hat nur Ihr Regimentsmaskottchen überlebt. Ein Hund, der von Queen Victoria mit einem Orden ausgezeichnet wurde. Eine entzückende kleine Geste für die Massen.“ Holmes konnte seinen Spott nicht verbergen.

„Er hieß Robbie. Er hat Afghanistan überlebt und ist nach England zurückgekehrt, um ein Jahr später von einer Kutsche in Gosport überfahren zu werden.“ Ich seufzte wegen dieser Ironie. „Jedenfalls kehrten die Überlebenden nach Kandahar zurück und konnten gemeinsam mit den übrigen britischen Truppen den anrückenden Afghanen eine schwere Niederlage zufügen.“

„Also ein gutes Ende?“

Ich schüttelte energisch den Kopf. „Kurz darauf wurde in London beschlossen, dass die Kosten für eine ­Besetzung Afghanistans zu hoch seien, und deshalb zogen die Truppen ab. 1.750 Soldaten fanden bei Maiwand den Tod, fast 200 wurden verwundet. Es war eine der schwersten Niederlagen, die das Empire in seinen Kolonien hinnehmen musste.“

„Wie passt nun der Major in dieses Bild?“, fragte Holmes. „Was halten Sie von ihm? Was für eine Art Soldat war er wohl?“

Ich betrachtete wieder die Zeichnungen und Fotos an der Wand, die Orden, die auf samtenen Untergrund gepinnt waren. Der Major schien ein akribischer Sammler gewesen zu sein. Neben den militärischen Erinnerungsstücken gab es auch einheimische Andenken an die Kultur des Landes. Ich fragte mich, wie lange sein Einsatz gedauert haben mochte, wenn dies die gesammelten Erinnerungen eines ganzen Lebens waren. Ich entdeckte keine Familien­fotos, nichts, was außerhalb seiner Militär­zeit stattgefunden hatte. War es möglich, dass sein gesamtes übriges Leben so wenig Beachtung in seinem Erinnerungsschatz fand? Die abgebildeten Menschen waren ausnahmslos Soldaten und afghanische Einheimische. „Er hat Interesse für das Land gezeigt, in dem er kämpfte. Das lässt auf einen weltoffenen Charakter schließen.“

Holmes nickte. „Ich muss zugeben, der gute Major hat mich neugierig gemacht. Er schien ambivalente Gefühle gehabt zu haben, was seinen Einsatz betraf.“

„Zumindest war er wohl den Einheimischen und ihrer Kultur zugetan. Diese Sammlung legt man nicht an, wenn es nur um ein paar Andenken geht. Sehen Sie sich diese Wand an, Holmes. All die Erinnerungsstücke behandeln nicht eine Soldatenkarriere, sondern einen bestimmten Einsatz. Es geht hier nicht um einen Major, der neben vielen anderen Orten auch zufällig einmal in Afghanistan eingesetzt wurde. Das Land spielt mindestens eine so große Rolle wie der Militäreinsatz.“

„Wir haben es also mit einem Soldaten zu tun, der an einer der schlimmsten Schlachten dieses Krieges teilgenommen hat. Wer könnte einen Grund haben, ihn zu töten?“

„Untergebene, weil er einen Fehler gemacht hat, oder Gegner, weil er seine Aufgabe zu gut erledigt hat. Dazu kämen noch die Angehörigen auf beiden Seiten. Also mehr als genug Verdächtige.“

Holmes stimmte mir zu. „In dieser Beziehung können wir uns kaum über einen Mangel beklagen.“

Ich sah mir die Andenken zur militärischen Vergangenheit von Major Fitzgerald an. Hatte er einen Fehler begangen, für den er nun bestraft worden war? Sobald wir wussten, wo und wann dies geschehen war und worin der Fehler bestanden hatte, wäre dies eine direkte Spur zu dem Mörder.

Ich sah mir wieder und wieder die einzelnen Stationen an, glich Daten mit meinen eigenen Erinnerungen ab und versuchte herauszubekommen, ob sich unsere Wege in Afghanistan gekreuzt hatten. Leider gaben die Andenken­stücke an den Wänden dafür nicht genug her. Ein Tagebuch wäre viel hilfreicher gewesen. Es könnte die Lücke füllen, die die ausgestellten Momentaufnahmen boten. Welche glücklich Fügung Major Fitzgerald damals vor dem Tod gerettet hatte, vermochte ich nicht zu sagen.

„Wie soll ich aus diesem Sammelsurium herauslesen können, ob der Major damals einen Fehler gemacht hat? Ich glaube, Sie verwechseln mich mit ... sich selbst.“

Holmes spekulierte unbeirrt weiter. „Er könnte den Tod eines oder mehrerer Kameraden verschuldet haben und jetzt will sich ein Verwandter rächen.“

„So etwas würden wir höchstens seiner Militärakte entnehmen. Haben Sie einmal bei Ihrem Bruder angefragt, ob er Ihnen Einblick gewährt?“

„Bevor ich Mycroft um einen solchen Gefallen bitte, möchte ich sichergehen, dass es wenigstens einen Hinweis auf diese Theorie gibt. Vielleicht war auch das genaue Gegenteil der Fall: Der Major hat sich in der Schlacht besonders hervorgetan und wird deshalb von den Afghanen gehasst.“

„Ein afghanischer Rächer, der nach England gereist ist, um sich an ihm zu rächen?“ Ich ließ es mehr als zweifelhaft klingen.

„Warum nicht?“

„Wenn der Major ein solcher Held in der Schlacht von Maiwand gewesen wäre, hätten wir wohl von seiner Leistung gehört. Stattdessen hat die Queen einen Hund ausgezeichnet, dessen einzige Leistung darin bestand, überlebt zu haben. An der Andenkenwand ist mir kein Orden für besondere Tapferkeit aufgefallen. Den hätte Major Fitzgerald aber bestimmt dort aufgehängt.“

Ein junger Mann blieb in der offenen Tür stehen und sah uns erstaunt an. Er war gut gekleidet und machte nicht den Eindruck, als würde er einen Aufenthalt in Ennet House benötigen. Seine Überraschung über unsere Anwesenheit wurde sehr schnell von einer aufbrausenden Wut überdeckt. Er baute sich vor uns auf und hatte bereits den Mund geöffnet, um uns zur Rede zu stellen, als er plötzlich stutzte. Er betrachtete meinen Freund genauer.

„Sie sind Sherlock Holmes“, sagte er schließlich.

„Ich gebe es nicht gerne zu, aber in diesem Moment sind Sie eindeutig besser informiert als ich“, erwiderte Holmes.

„Oh, verzeihen Sie. Robert Fitzgerald ist mein Name, der Tote war mein Vater.“ Ich verglich ihn schnell mit der Fotografie des Majors und stellte fest, dass der junge Mister wie eine jüngere Ausgabe seines Vaters aussah. Mit Ausnahme der Kleidung, die wenig Militärisches an sich hatte. Er trug eine Knickerbockerhose aus Tweedstoff. Wir konnten uns also bei seiner Identität sicher sein.

„Mein herzliches Beileid“, sagte Holmes. Ich kondolierte dem Sohn ebenfalls.

„Darf ich fragen, was Sie hier machen, Mister Holmes?“

„In diesem Zimmer oder in diesem Haus?“

„Nun, sowohl als auch, würde ich sagen.“

„Mein Aufenthalt in Ennet House ist eher zufällig, aber selbstverständlich hat der Tod Ihres Vaters mein Interesse geweckt.“

Robert Fitzgerald riss die Augen auf. Die Empörung wich sehr schnell der Erkenntnis. Er setzte sich auf einen Stuhl neben der Tür, als fürchte er, seine Beine könnten ihn nicht mehr tragen. Der junge Mann hatte sofort die richtigen Schlüsse gezogen. Das war natürlich nicht weiter verwunderlich. Schließlich stand Holmes nicht in dem Ruf, ein ausgeprägtes Interesse an natürlichen Todesfällen zu besitzen. „Mein Vater wurde ermordet?“, keuchte er.

„Ich fürchte, das muss ich bestätigen“, sagte Holmes. „Ich bin davon überzeugt, dass Major Fitzgerald vergiftet wurde.“

„Du meine Güte, womit denn? Und warum?“, fragte der Sohn des Opfers fassungslos.

„Nun, in beiden Punkten bin ich mir noch nicht sicher. Es fehlen spezifische Gerüche oder Symptome, anhand derer ich das verwendete Gift bestimmen könnte.“

„Das spricht doch für Arsen“, bemerkte ich. „Kein Geschmack und kein Geruch, um das Opfer zu warnen, und keine auffälligen Symptome bei dem Toten, um Verdacht zu erregen.“

Holmes schüttelte den Kopf. „Seit der Marsh-Methode ist es zu sehr aus der Mode gekommen. Wer einen Mord verbergen will, riskiert nicht, dass das Gift im Körper des Toten nachgewiesen werden kann.“

„Vielleicht handelt es sich um einen dummen Mörder“, schlug ich vor, „oder es ist ihm egal, ob herauskommt, dass es sich um einen Mord gehandelt hat.“

„Dazu hat man sich zu große Mühe gegeben, keine Spuren zu hinterlassen und den Eindruck eines natürlichen Todes zu bewahren.“

„Möglicherweise aus dem Grund, weil es sich doch um einen natürlichen Tod handelte“, warf Fitzgerald ein, der immer noch recht blass war. Er wollte offenbar immer noch nicht daran glauben, dass jemand seinem Vater mit Gewalt das Leben genommen hatte. Niemandem behagte die Vorstellung, dass ein geliebter Mensch von einer anderen Person abgrundtief gehasst werden könnte.

„Ich wünschte, ich könnte Ihnen das bestätigen“, sagte Holmes, „aber ich meinte damit nicht, dass es keine Spuren gab, sie waren nur schwerer zu finden.“

Falls dies überhaupt möglich war, wurde Robert Fitzgerald noch blasser. Ich machte mich bereit, ihn zu stützen und zu einem Stuhl zu helfen, doch er straffte sich wieder und sah Holmes direkt an.

„Sie haben Spuren entdeckt?“

„Jawohl. Der Mörder kam über die Terrasse herein und nutzte dazu die steinernen Pfade, um keine Abdrücke im Gras zu hinterlassen. Die Terrassentüren stehen zu dieser Jahreszeit meistens offen, so auch bei ihrem Vater, also musste der Mörder nur darauf achten, keinen Schmutz hereinzutragen, und konnte dann in aller Ruhe das Gift hinterlassen. Ich nehme an, er hat dazu eines der Whiskey­gläser ihres Vaters benutzt. Leider fiel es dem Toten aus der Hand, sodass wir den Inhalt nicht mehr untersuchen können. Ich vermute, es handelte sich um ein pflanzliches Gift. Schierling, Blauer Eisenhut, Bilsenkraut, Engelstrompete, Stechapfel oder Knollenblätter­pilz.“

„Ermordet“, murmelte Fitzgerald wie zu sich selbst. Der junge Mann schien es immer noch nicht glauben zu können. Ich dagegen hatte keinen Anlass, an den Worten meines Freundes zu zweifeln, auch wenn ich die Leiche nicht persönlich zu sehen bekommen hatte.

„Ich habe es geahnt!“, stieß er schließlich aufgeregt hervor. „Ich hatte von Anfang an den Verdacht, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen ist“, rief Fitzgerald Junior aus. „Wenn Sie mich nun unterstützen, wird es mir zweifellos gelingen, den Leiter dieser Einrichtung und die Polizei davon zu überzeugen, dass es sich um Mord handelte.“

„Wodurch kam Ihnen der Verdacht, dass es sich um Mord handeln könnte?“, erkundigte sich Holmes.

„Mein Vater war kerngesund, als ich ihn zuletzt besuchte, und nun soll er innerhalb einer Woche an Altersschwäche dahingesiecht sein? Ich bitte Sie.“

Holmes nahm eine neue Zigarette aus dem Etui und zündete sie sich an. „Sie waren also vor einer Woche zum letzten Mal hier?“

„Ich komme jede Woche, um meinen Vater zu besuchen.“

„Weshalb hat er hier gewohnt?“

„Er kam vor einigen Jahren zur Kur nach Ennet House und hat sich so wohl gefühlt, dass er seine Stadtwohnung aufgab und hierherzog.“

„Das macht es für Sie sehr aufwendig, ihn zu besuchen, nicht wahr?“

Der junge Fitzgerald zuckte die Achseln. Ich verstand nicht, was er damit sagen wollte. War er der gute Sohn, der alles für seinen Vater tat und deshalb keine ­Anstrengung scheute? Oder wollte er damit ausdrücken, dass ihm keine andere Wahl blieb?

„Wer könnte Ihrem Vater den Tod gewünscht haben?“, fragte ich.

„Da fällt mir niemand ein. Er hat auch nie jemanden erwähnt. In London hatte er nicht mehr viele Bekannte. Die meisten waren schon verstorben. In der Familie gab es keine Unstimmigkeiten. Wenn es jemanden gab, der ihn nicht mochte, dann muss er von hier sein.“

Holmes blies den Rauch zur Decke. „Fällt Ihnen denn jemand in Ennet House ein, der Ihrem Vater Böses gewollt haben könnte?“

Er überlegte einen Moment. Wir erkannten beide, dass er einen Namen parat hatte, aber sich noch zierte, ihn zu nennen.

„Ich möchte niemandem etwas Schlechtes nachsagen ...“

„Aber?“, kürzte Holmes das schlechte Schauspiel ab.

„Nun ja, es gibt diese eine Schwester ... keine Britin, dem Aussehen nach. Ich weiß es nicht sicher, aber vielleicht stammt sie aus Afghanistan. Sie könnte einen Grund gehabt haben, meinen Vater zu hassen.“

„Sie meinen Schwester Sara?“, fragte Holmes nach.

„Ja, genau, Schwester Sara. Nehmen Sie diese Frau fest, ich bestehe darauf!“

Ich war versucht, die junge Schwester sofort zu ­verteidigen, die so einen sympathischen Eindruck auf mich gemacht hatte. Doch da ich ihr nur einmal begegnet war, überließ ich es Holmes, diesen Verdacht zu bewerten.

Er blieb völlig ruhig und versuchte, auch einen beruhigenden Einfluss auf den Sohn des Mordopfers auszuüben. „Sie wird nicht davonlaufen, dazu liegt Ennet House viel zu abgelegen. Aber ich wüsste gerne, welchen Grund sie für diesen Mord gehabt haben soll.“

„Das können Sie doch auch noch fragen, nachdem sie verhaftet wurde“, drängte Fitzgerald.

„Wir werden der Frau auf den Zahn fühlen“, versprach Holmes.

„Tun Sie das. Aber bitte schnell, bevor sie fliehen kann. Jetzt, wo mein Vater tot ist, hat sie keinen Grund mehr, zu bleiben.“

„Nun, bisher erledigt sie ganz pflichtbewusst weiter ihren Dienst“, erklärte Holmes.

„Das ist sicher nur eine Tarnung, um keinen Verdacht zu erregen. Sie glaubt wahrscheinlich, damit davonkommen zu können.“ Er machte eine dramatische Pause. „Oder sie hat noch mehr ehemalige Militärangehörige auf ihrer Todesliste.“

Ich wollte mich einmischen und gegen diese ungeheuren Anschuldigungen Einspruch erheben, doch Holmes’ rascher Seitenblick sorgte dafür, dass ich mich zügelte. Stattdessen bemühte ich mich, sachlich zu argumentieren: „Bisher sind wir drei die Einzigen, die von einem Mord ausgehen. Sie dürfte sich also sicher fühlen.“

„Auch mit Sherlock Holmes im Haus?“, fragte Fitz­gerald spöttisch.

„Ich befand mich bereits vor dem Mord im Haus und das war ihr bekannt. Dass sie trotzdem zugeschlagen hat, lässt auf ein hohes Maß an Kaltblütigkeit schließen. Oder aber darauf, dass es sich bei dem Mörder um eine andere Person handelte, die eben nichts von meiner Anwesenheit wusste und deshalb gänzlich unbedarft ans Werk ging.“

Robert Fitzgerald gefiel es überhaupt nicht, dass wir seinen Verdacht anzweifelten. „Ich werde die Leitung von Ennet House einschalten und dafür sorgen, dass diese Frau entlassen wird. Das ist aber nur der erste Schritt. Ich werde nicht eher ruhen, bis die Mörderin meines Vaters im Gefängnis sitzt.“

Mit diesen Worten marschierte er davon. Holmes und ich gingen ihm nach.

Der junge Fitzgerald kannte den Weg zum Büro von Matthew Goodbuddy, dem Leiter von Ennet House, wohl sehr gut, denn er bewegte sich zielstrebig durch das Haus. Da wir sein Ziel kannten, ließen wir uns etwas zurück­fallen und folgten ihm mit einigem Abstand.

Im dritten Stock gab es eine Long Gallery, die als Hauptempfangsraum diente. Sie erstreckte sich über die ganze Fläche des obersten Stockwerkes und war mit großen Fenstern ausgestattet, die einen großartigen Ausblick auf die umgebende Landschaft gewährten. In Ennet House wurde sie für Festveranstaltungen genutzt sowie als Trainingsraum für Tanz- und Fechtgruppen.

„Was halten Sie von dem jungen Mann?“, fragte ich Holmes.

„Was ich zu diesem Zeitpunkt bereits sagen kann: Die Zahl seiner Besuche ist eine Lüge. Keine Übertreibung, sondern eine glatte Lüge.“

„Woher wissen Sie das so genau?“

„Anhand des Weges, den er nimmt.“

„Er scheint doch sehr genau zu wissen, wo er lang muss.“

„Es handelt sich aber nicht um den direkten Weg zum Büro von Mister Goodbuddy. Der würde durch die Biblio­thek führen. Allerdings war der Bereich sehr lange wegen Renovierungsarbeiten geschlossen, über ein Jahr meines Wissens nach. Erst vor vier Wochen wurden die Bibliotheksräume wieder freigegeben.“

Ich blieb überrascht stehen. „Daraus schließen Sie, dass er seinen Vater seit über vier Wochen nicht mehr besucht hat? Möglicherweise ist er nur gerade zu aufgebracht, um an den bequemsten Weg zu denken. Und selbst wenn, dann ist er eben nicht der treu sorgende Sohn, für den er sich ausgeben möchte.“

„Ich denke, es war mehr als nur der Versuch, einen guten Eindruck zu machen“, erwiderte Holmes und winkte mich weiter, damit wir den Anschluss nicht verloren.

Fitzgerald betrat das Vorzimmer des Leiters und ließ durch seinen stürmischen Auftritt die Sekretärin zusammenfahren. Er verlangte energisch, Mister Goodbuddy sofort zu sprechen, und die junge Frau war zu erschrocken, um diesem Wunsch zu widersprechen. Kurz darauf standen die drei Männer im Büro.

Matthew Goodbuddy war ein kleiner Mann mit Stirnglatze und Nickelbrille. Jemand, dem man auf der Straße keinen zweiten Blick geschenkt hätte. Mit großen Augen und halb geöffnetem Mund lauschte er den hastig vorgebrachten Anschuldigungen, die Robert Fitzgerald ihm entgegenstieß. Ich stellte erfreut fest, dass Goodbuddy nicht zurückwich. Obwohl er einen ganzen Kopf kleiner war und zu seinem Gast aufschauen musste, blieb er äußerlich völlig ruhig. In diesem kleinen Mann streckte mehr Mumm, als der erste Eindruck erwarten ließ.

Er bot dem aufgebrachten Fitzgerald einen Sitzplatz an, wohl auch, um nicht weiter seinen Nacken strapazieren zu müssen, und verwies uns freundlich auf ein Sofa an der Wand.

„Ich glaube, dass die Pflegerin meines Vaters ihn ermordet hat, was sagen Sie dazu“, kam der junge Mann direkt auf den Punkt.

„Ein Mord? Hier?“ Goodbuddy wirkte ernsthaft schockiert, was leicht nachzuvollziehen war. Ein Mord auf diesem Anwesen konnte im schlimmsten Fall für das Ausbleiben der wohlbetuchten Gäste sorgen.

„Ganz recht“, bestätigte Fitzgerald. „Mister Holmes ist übrigens ebenfalls dieser Meinung.“

Der Leiter von Ennet House beugte sich zur Seite, um an Fitzgerald vorbei zu Holmes schauen zu können.

„Ich bin ebenfalls der Meinung, dass es sich um Mord handelt“, korrigierte mein Freund die Aussage ein wenig.

„Sie stellen sich also auf die Seite dieser Verbrecherin?“, fauchte Fitzgerald über seine Schulter.

„Ich sage bloß, dass wir keine voreiligen Schlüsse ziehen sollten“, sagte Holmes.

„Wenn Sie mir Beweise für die Schuld von Miss King vorlegen, werde ich Sie auf jede erdenkliche Weise unterstützen“, sagte Mister Goodbuddy und lenkte die Aufmerksamkeit wieder auf sich. Erneut zollte ich innerlich dem kleinen Mann Respekt. Es war durchaus nicht üblich, dass sich ein Arbeitgeber schützend vor seine Angestellten stellte, wenn sich ein respektabler Kunde beschwerte. Wieder einmal ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass man Menschen nicht nach dem oberflächlichen Eindruck beurteilen sollte.

„Wie lange arbeitet die junge Dame hier schon?“, fragte Holmes den Leiter.

„Seit drei Jahren“, erklärte Goodbuddy, „und ich kann Ihnen versichern, dass sie sehr zuverlässig ist und bei unseren Gästen sehr beliebt.“

Fitzgerald protestierte sofort. „Mein Vater ist seit fünf Jahren Gast in Ihrem Haus. Ich kann mir also durchaus vorstellen, dass sie absichtlich diese Stelle angenommen hat, um in seine Nähe zu gelangen.“

„Um dann drei Jahre zu warten, bis sie ihn ermordet?“, fragte Holmes in zweifelhaftem Tonfall.

„Sie hatte ein Motiv. Wahrscheinlich hat sie so lange gebraucht, bis sie sich zu dem Mord durchringen konnte.“

„Äußerst unwahrscheinlich, Mister Fitzgerald“, sagte Holmes. „Ich habe gesehen, wie Miss King mit Ihrem Vater umgegangen ist und er mit ihr. Da war nicht der geringste Groll zwischen ihnen. Soweit ich das beurteilen kann, herrschte ein fast freundschaftliches Verhältnis zwischen den beiden, auf einer professionellen Ebene.“

„Mit Verlaub, Mister Holmes, Sie befinden sich erst seit einer Woche in Ennet House, wie wollen Sie sich da ein vollständiges Bild verschaffen?“

Holmes zeigte ein schwaches Lächeln. „Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich habe damit wohl mehr Zeit in diesem Haus verbracht als Sie im letzten Jahr. Trotzdem nehmen Sie für sich in Anspruch, alle Vorgänge hier zu durchschauen, und verwehren mir eine ähnliche Einsicht.“

Fitzgerald erkannte sofort, dass es keine gute Taktik war, den Meisterdetektiv gegen sich aufzubringen. „Entschuldigen Sie, Mister Holmes, das sind die Nerven. Aber ich verlange, dass diese Mörderin verhaftet wird. Wenn Sie die Polizei nicht verständigen, werde ich es selbst tun. Ich begreife nicht, weshalb Sie ständig versuchen, die Hauptverdächtige zu beschützen.“

„Zu entlasten wäre wohl die treffendere Bezeichnung. Aber das träfe nur zu, wenn Miss King auch für mich die Hauptverdächtige wäre, was nicht der Fall ist.“

Fitzgerald drohte zu hyperventilieren. „Sie können doch keine Mörderin verschonen?“

„Dies ist gewiss nicht unsere Absicht“, versicherte ich dem aufgebrachten Mann, doch er nahm mich überhaupt nicht zur Kenntnis.

„Wir werden den Mörder Ihres Vaters überführen“, erklärte Holmes, „aber nicht aufgrund von Vermutungen und Verdächtigungen. Für uns zählen nur Beweise.“

„Welche Beweise brauchen Sie denn noch? Diese Person hatte einen Grund und die Gelegenheit. Mein Vater hat ihr vertraut und das hat sie ausgenutzt.“

„Es ist selten so einfach, wie es auf den ersten Blick erscheint“, erklärte Holmes ruhig. „Aber Sie brauchen sich deshalb nicht aufzuregen. Doktor Watson und ich haben diesen Fall übernommen. Das bedeutet, wir werden den Mörder finden, ob es sich nun um Miss King oder jemand anderen handelt. Sie können also ganz beruhigt sein, die Gerechtigkeit wird ihren Lauf nehmen.“

Fitzgerald riss sich zusammen und schaffte es, seinen Ärger herunterzuschlucken. „Verzeihen Sie mir meine Unbeherrschtheit, aber es ist für mich nur schwer zu ertragen, dass sich diese Frau weiter auf freiem Fuß befindet.“

„Nun, sie verbringt diese Zeit damit, die Gäste im Haus zu versorgen, was zumindest keine unnütze Tätigkeit ist“, sagte ich.

„Und wenn Sie dabei noch ein weiteres Opfer findet, dann wäre dies ganz allein Ihre Schuld, meine Herren!“

Holmes ließ sich davon nicht beeindrucken. „Sie waren bisher nicht der Meinung, dass Miss King wahllos mordet“, sagte er. „Wenn ich Sie richtig verstanden habe, handelt es sich doch um einen gezielten Mord, der einzig Ihrem Vater galt. Welchen Grund vermuten Sie denn für den Mord?“

„Woher soll ich das wissen? Vielleicht ist sie die Tochter eines britischen Soldaten oder sie rächt afghanische Verwandte?“

Ich musste zugeben, dass es sich um genau die Möglichkeiten handelte, die auch uns schon in den Sinn gekommen waren, aber ich hütete mich, dies laut auszusprechen. Bestätigung war das Letzte, was ich dem jungen Fitzgerald liefern wollte.

„Wie soll sie Ihrer Meinung nach den Mord begangen haben?“, fragte Holmes interessiert.

„Sie verabreicht ihm doch regelmäßig seine Medikamente ... hat sie ihm verabreicht. Entweder war es ein Gift oder eine Überdosis. Ich bin sicher, dass ihr mehrere Möglichkeiten zur Wahl standen.“

„Die Polizei und unser Hausarzt haben keinen Verdacht geschöpft, was die Todesart anging“, mischte sich Goodbuddy ein, der immer noch die Hoffnung hegte, die ganze Angelegenheit ohne großes Aufsehen beilegen zu können.

„Bei allem Respekt für unsere Polizei“, begann Holmes, und ich musste mir ein Schmunzeln verkneifen, „aber der zuständige Constable machte auf mich den Eindruck, als würde er Ruhe und Komfort weitaus mehr schätzen als die Strapazen einer Mordermittlung. Er schien mir sehr erleichtert zu sein, als der zuständige Arzt auf eine natürliche Todesursache schloss.“

Goodbuddy nickte, denn er kannte den Constable nur zu gut und wusste wohl um dessen laxe Berufs­auffassung.

„Wir müssen auch noch einmal mit dem Arzt sprechen“, fuhr Holmes fort. „Doktor Watson würde sicher gerne erfahren, anhand welcher Indizien der Kollege zu seiner Diagnose gekommen ist.“

Da dies tatsächlich der Fall war, nickte ich nur.

„Zeitverschwendung“, knurrte Fitzgerald. „Aber ich werde unterdessen aufpassen, dass die Mörderin nicht entkommt.“

„Da können wir Ihnen behilflich sein, junger Freund. Wir beabsichtigen nämlich, uns als Nächstes mit Miss King zu unterhalten.“



Mister Goodbuddy hatte Sara King in den Speisesaal zitiert, der zu dieser Tageszeit ungenutzt blieb. Robert Fitzgerald ließ uns wissen, dass er nicht bereit sei, an dieser Farce teilzunehmen. Wir verließen noch mit ihm gemeinsam das Büro des Leiters, doch unmittelbar hinter der Tür trennten sich unsere Wege.

„Ein unangenehmer Mensch“, sagte ich, während ich dem jungen Fitzgerald nachsah.

„Sie lassen sich von Ihren Gefühlen leiten, Watson. Nur weil Ihnen Fitzgerald unsympathisch ist, bedeutet das nicht, dass er ein schlechter Mensch sein muss. Wir könnten herausfinden, dass sein Verdacht richtig ist. Kämen Sie damit zurecht?“

„Natürlich. Lassen Sie uns einfach nur die Wahrheit aufdecken.“

Auf dem Weg zum Speisesaal wurde mein Freund mehrfach gegrüßt. Alle schienen zu wissen, dass es sich bei ihm um den berühmten Meisterdetektiv handelte. Sherlock Holmes war auch in Cornwall kein Unbekannter, aber niemand belästigte ihn mit privaten Problemen. Ich wunderte mich darüber, dass er jeden in dem ­Sanatorium zu kennen schien, und noch mehr überraschte mich, dass sie ihm alle freundlich zugetan schienen. Lag es daran, dass er sich mit ihnen nicht in intellektueller Weise messen musste und sie deshalb auch nicht überheblich behandelte?

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783957192301
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
Kult Mycroft Holmes Conan Doye Meisterdetektiv Krimi Thriller Spannung

Autor

  • Andreas Zwengel (Autor:in)

Andreas Zwengel, Jahrgang 1969, lebt mit seiner Frau in Griesheim bei Darmstadt und arbeitet als Lehrer an einer Förderschule. Seit dem Frühjahr 2015 gehört er zum Autorenteam der Science-Fiction-Serie Ren Dhark und im Sommer nahm er seine Tätigkeit an mehreren Serien des BLITZ-Verlages auf, darunter Schattenchronik, Raumschiff Promet, Stahlwölfe und Sherlock Holmes.
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Titel: Sherlock Holmes - Neue Fälle 31: Die Leiche des Meisterdetektivs