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Fantastic Pulp 2

Phantastische Geschichten

von Matthias Käther (Hrsg.) (Autor:in) Paul Chadwick (Autor:in) Arthur J. Burks (Autor:in) Ralph Williams (Autor:in) Randall Garrett (Autor:in) Harry Harrison Kroll (Autor:in) Jesse Franklin Bone (Autor:in) Michael Schmidt (Herausgeber:in) David Wright O’Brien (Autor:in)
166 Seiten
Reihe: Phantastische Anthologien, Band 13

Zusammenfassung

Die besten Pulp-Geschichten aus den USA des 19. und 20. Jahrhunderts Ausstrahlung (The Man the World Forgot, 1940) von David Wright O’Brien Die Geschichte von dem Mann, den niemand wahrnahm. Die Mordmaschine (The Murder Monster, 1932) von Paul Chadwick Die Geschichte von dem Berserker, der keiner war. Stalagmiten (Women of Stone, 1935) von Arthur J. Burks Die Geschichte von der Höhle, deren Schrecken scheinbar endlos sind. Kleines Missverständnis (Mistaken Identity, 1957) von Ralph Williams Die Geschichte von dem Mahl der besonderen Art. Der Wunschstein (The Wishing Stone, 1953) von Randall Garrett Die Geschichte von dem Stein, der zu wünschen übrig lässt. Altweibersommer (Fairy Gossamer, 1924) von Harry Harrison Kroll Die Geschichte von der Höhle, die Schreckliches bereithält. Einfuhrverbot für Horgels (Quarantained Species, 1957) von Jesse Franklin Bone Die Geschichte von einer besonderen Pandemie. Die Pulp-Magazine Matthias Käther berichtet über Amerika im Bann der Kurzgeschichte. Illustrationen: Hans Waldemar Wessolowski Die Printausgabe des Buches umfasst 306 Seiten Exklusive Sammler-Ausgabe als Taschenbuch nur im Shop des Blitz-Verlages erhältlich!

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis




Vorwort


Liebe Leser phantastischer Literatur,

wir kehren zurück in die Vergangenheit, in die Frühzeit moderner phantastischer Literatur.

Im vorliegenden Band finden Sie Geschichten aus den Jahren 1932 bis 1957, alle übersetzt vom Pulp-Kenner Matthias Käther. Inhaltlich bieten die Stories eine ganze Bandbreite, ob Horror, SF oder Funtasy. Ob es die Angst vor Spinnen ist oder vor einer außerirdischen Pandemie, einem ganz besonderen Mahl oder die Angst vor dem künstlichen Menschen, die Sammlung wird Sie wieder gruseln, amüsieren oder überraschen, auf jeden Fall niemals langweilen.

Zum Abschluss finden Sie eine Einführung in die Geschichte der amerikanischen Pulps. Lassen Sie sich überraschen von der Vielfalt der Inkarnationen.

Und Sie werden sehen, da ist immer noch ein großer Schatz, der gehoben werden muss, also bleiben Sie uns gewogen, wir werden uns darum kümmern, weiter für Nachschub zu sorgen.

Um die Stimmung der damalige Zeit wiederzugeben, haben wir zwischen den Geschichten jeweils eine Illustration des Künstlers Hans Waldemar Wessolowski beigefügt.

Mit phantastischen Grüßen,

Matthias Käther und Michael Schmidt


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Matthias Käther: Hommage an Hans Wessolowski (1894-1948)


Die Bilder, die Sie zwischen den folgenden Geschichten sehen, bereiten Ihnen vielleicht Kopfzerbrechen, weil sie sich nicht unmittelbar der Handlung zuordnen lassen. Sie gehören auch nicht direkt dazu. Wir dachten, es wäre an der Zeit, in einer Anthologie, die die Fantastik-Pulps feiert, den Mann zu erwähnen, der die visuelle Seite dieser frühen Pulps prägte wie kaum ein anderer: der deutsche Maler und Grafiker Hans Waldemar Wessolowski, den die Pulp-Fans nur als „Wesso“ kannten – das war sein Pseudonym in den zehn Glanzjahren 1929-39.


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Schon sein Äußeres prädestinierte ihn zum skurrilen Maler des Grotesken und Bizarren – er hatte ein Glasauge. In der Kindheit hatte er ein Auge bei einem Unfall verloren – er gehörte zu den wenigen Zeichnern, die auch ohne perspektivisches Sehen den Weg zum Zeichen-Star in den Massenblättern schaffte.

In Graudenz (das heute zu Polen gehört) 1894 geboren, begann er seine Karriere beim legendären Münchner Satiremagazin „Simplicissimus“, nachdem er an der Königlichen Akademie Berlin sein Handwerk gelernt hatte. Durch sein fehlendes Auge wurde er vom Militärdienst befreit – verspürte aber nach geraumer Zeit doch eine unstillbare Abenteuerlust und ging zur deutschen Handelsmarine. Des harten Dienstes überdrüssig, sprang er 1912 in der Nähe von New Orleans über Bord und schwamm an Land. Schon 1913 gelang ihm die Einbürgerung, und er wurde amerikanischer Staatsbürger.

Es sollte noch ein paar Jahre dauern, bevor er sich als Zeitungsgrafiker zurückmeldete – dass es ihm gelang, lag vermutlich nicht zuletzt am boomenden Markt; fast alle Magazine brachten nun prächtige Illustrationen, gute Zeichner wurden händeringend gesucht. Auch die Pulps begannen sich umzustellen und warben mit immer mehr Illustrationen in ihren Blättern. Ab 1928 taucht sein Kürzel Wesso vermehrt in ihnen auf – zunächst in nicht-phantastischen Pulps wie Air Adventures und The ­Danger Trail.

1929 entdeckte ihn der blutjunge Markt phantastischer Blätter – nach ersten Arbeiten in Amazing Stories warb ihn der legendäre Herausgeber Harry Bates (dessen UFO-Novelle „Der Tag, an dem die Erde stillstand“ weltberühmt wurde) für seine beiden phantastischen Zeitschriften „Astounding Stories“ und Strange Tales“ an. Wesso wurde Chefillustrator und lieferte nicht nur zahllose prachtvolle Schwarzweiß-Innenillustrationen, sondern auch sämtliche (!) Cover. Tragischerweise ging Bates‘ Verlag Clayton 1933 im Zuge der Weltwirtschaftskrise Pleite.

Wesso hatte Glück im Unglück:

Astounding Stories wurde vom Pulp-Riesen Street & Smith gekauft, der Wesso von früher her schätzte; Wesso hatte lange für ihr Magazin „Clues“ gezeichnet. Und so setzte er seine Arbeit für das neue „Astounding“ auch hier in unregelmäßigen Abständen fort, begann aber auch, für andere neue SF-Magazine zu zeichnen. 1939 berichtet Chefredakteur Mort Weisinger in „Thrilling Wonder ­Stories“, dass Wesso ein exzellenter Golf-Partner sei – das klingt nicht gerade nach einem verarmten Künstler; er schien von der Zeichnerei gut leben zu können.

Ein Jahr später erreichte ihn eine Nachricht, die ihn sehr erfreut, seine Fans aber herb enttäuscht haben dürfte – die New York Daily News boten ihm einen festen Job als Zeichner an. Damit endete seine zehnjährige glanzvolle Karriere als Zeichner des Unheimlichen, Bizarren und Phantastischen.

1948 starb er nach kurzer schwerer Krankheit.

Anders als sein deutschsprachiger Kollege Franz R. Paul, der ebenfalls zu den Pionieren der phantastischen Pulp-Zeichnung gehört, faszinierte Wesso nicht vordergründig utopische Architektur. Paul wirkt immer dann formelhaft und starr, wenn er Menschen oder Monster in Aktion zeigen will – genau hier liegt Wessos Stärke. Beide ergänzten sich großartig. Obwohl Wesso ebenfalls einige beeindruckende technische Apparaturen und ­Raumfahrzeuge gezeichnet hat, liebte er die groteske Situation, den unvorstellbaren Moment – er scheute sich auch nicht, diffuse psychodelische Beschreibungen etwa in den frühen Erzählungen von John W. Campbell zu Papier zu bringen, vor deren Darstellung andere zurückgeschreckt wären. Auch wenn seine Schwarzweißzeichnungen besser waren als seine Cover, gibt es einige Ikonen unter letzteren, die die Optik des B-Movie-Horrors nachhaltig beeinflussen sollten, wie den amoklaufenden Gorilla, der am Hochhaus klebt, oder die bedrohlichen Flossenhände eines Monsters. Bedrohliche Tentakel liebte er besonders – immer wieder zeichnete er sie in Form von Schlangenkörpern, Pflanzenranken, Insektengliedmaßen oder Krakenkörpern. Er illustrtierte Geschichten fast aller Ikonen der frühen Pulp-Phantastik (Arthur J. Burks, Clark ­Ashton Smith, John W. Campbell, Murray Leinster, Hugh B. Cave und viele andere) und verlieh so ihren frühen Visionen ein markantes optisches Gesicht.


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Geschichten


David Wright O‘Brien: Ausstrahlung (1940)


David Wright O‘Brien (1918-44) gehört zu den tragischen Figuren der phantastischen Literatur, die heute fast vergessen sind. Als er im Zweiten Weltkrieg in Deutschland fiel, war der amerikanische Autor erst 26 Jahre alt. Er hatte keine Zeit, sich einen Ruf von Dauer aufzubauen und wurde bisher in Anthologien kaum berücksichtigt. Von Werkausgaben ganz zu schweigen...

Er war der Neffe des legendären Weird-Tales-­Herausgebers Farnsworth Wright. Wohl um Vettern­wirtschaft zu vermeiden, veröffentlichte er, abgesehen von einem Gedicht, nichts in der Zeitschrift Lovecrafts und Howards. Stattdessen schloss er eine enge Freundschaft mit dem SF-Herausgeber Raymond Palmer, der u.a. auch Amazing Stories betreute.

O‘Brien schrieb ab 1940 ausschließlich für Palmers Magazine.

Er hatte von Anfang an eine geniale satirische Ader. Der Durchbruch gelang ihm mit Truth is a Plague (Wahrheit ist eine Plage, 1940), eine Humoreske, in der eine Stadt für Feldversuche mit einem Wahrheitsgas besprüht wird und komplett aus den Fugen gerät.

Obwohl O‘Brien nur 6 Jahre lang schrieb, hinterließ er ein beachtliches Werk von über 100 Geschichten, darunter auch einige sehr originelle Horror-Stories. Hier ist eine davon.

Erstdruck in: Fantastic Adventures, April 1940


Keiner der Passagiere des Acht-Uhr-Zwanzig-Zuges schenkte Lucius Beem die geringste Beachtung, als er in die Vorortbahn stieg. Allerdings fand Mr. Beem - gekleidet in seinen üblichen unaufdringlichen grauen Anzug und seinen grauen Mantel, bedeckt mit seinem grauen Hut - das nicht im Mindesten ungewöhnlich. Wenige Leute schenkten ihm jemals Beachtung.

„Schöner Morgen“, bemerkte Mr. Beem, als er im Abteil Platz nahm. „Ausgesprochen schöner Morgen. Wirklich.“

Sein Gegenüber blickte zerstreut auf.

„Oh, äh, ja, schöner Morgen, Mister, äh … Mister …“

Mr. Beem seufzte resigniert. Kaum jemand konnte sich seinen Namen merken.

„Beem. Mein Name ist Mr. Beem.“

Er entschied reuevoll, dass es keinen Zweck hatte, diesen Mann an seinen Namen zu erinnern. Es war das sechzehnte Mal in diesem Monat, dass er ihn vergessen hatte. Beide fuhren seit zehn Jahren im selben Zug in die Stadt und saßen fast immer zusammen.

„Klar. Natürlich“, murmelte der Passagier. „Peinlich von mir, das zu vergessen, Mr. Dream.“

Mr. Beem vergrub sein Gesicht in seiner Zeitung und überflog die Tagesnachrichten. Fünfzehn Minuten später blickte er auf und sprach seinen Abteilgenossen ein weiteres Mal an.

„Ist das nicht seltsam?“ Beem wies auf die Kolumne seiner Zeitung. „Dieser berühmte Professor Snell ist nicht in der Lage, irgendjemanden für seine radioaktiven Strahlungs-Tests zu finden. Man sollte doch denken, dass sich irgendwer auf der Welt nicht zu schade ist, ein Opfer zu bringen für eine bessere Welt, was?“

„Hä?“

Der Passagier warf Mr. Beem einen leeren Blick zu. „Haben Sie irgendwas gesagt?”

„Ich hab gesagt …“ Mr. Beem seufzte und gab es auf. Der Mann hatte sich wieder abgewandt.


*


Mr. Beem entstieg seinem Zug und schlängelte sich durch das Gewühl der Menge zu einem kleinen Café an der Bahnhofsecke. Es war eine zehn Jahre währende Gewohnheit, hier zunächst mal Brötchen und Kaffee zu frühstücken, bevor er weiter ins Büro marschierte.

Mr. Beem schlüpfte auf einen Barhocker am Tresen. Als Cleo, die Kellnerin, herüber schwebte, um die Bestellung aufzunehmen, raffte er sich zu etwas auf, das er für ein ermutigendes Lächeln hielt. Es war etwas Beruhigendes, Cleo jeden Morgen zu sehen. Sie arbeitete hier als Kellnerin, solange er denken konnte.

„Morgen, Cleo!“, sagte Mr. Beem herzlich. „Schöner Morgen, nicht?“

Das Gesicht des Mädchens blieb undurchdringlich. „Mja“ nickte sie unverbindlich. „Sollsnsein?“

Mr. Beems Stimme klang einen Hauch vorwurfsvoll.

„Das Übliche bitte.“

„Und was“, fragte sie scharf, „is das übliche?“

Mr. Beem seufzte schwer. „Kaffee und Brötchen.“

Er fühlte sich plötzlich ein bisschen einsam. Die Leute nahmen ihn für gewöhnlich nicht wahr. Solche Dinge wie eben passierten ständig in seinem einfachen, anspruchslosen Leben. Doch dieser spezielle Morgen war schlimmer als jeder andere, den Mr. Beem je erlebt hatte. Mit einem wehmütigen Blick auf die Wanduhr schlürfte Mr. Beem seinen Kaffee.


*


In den Aufzug seines Bürogebäudes steigend, nickte Mr. Beem dem Fahrstuhlführer nüchtern zu. „Moin, Ted!“, murmelte er. Nachdem der Fahrstuhlführer fröhlich die anderen Ankömmlinge per Namen begrüßt hatte, schenkte Ted seinem blassen Passagier einen uninteressierten Blick.

Es war Teds Stolz, dass er den Laden in- und auswendig kannte und alle Stammkunden, die er täglich rauf und runter kutschierte, beim Namen nennen konnte. Folgerichtig starrte Mr. Beem ihn säuerlich an, als der Aufzug nach oben sauste. Ted wandte sich ihm zu. „Etage, bitte?“

Doch als er in das Büro von Sharpe & Sholt trat, wo er seit fünfzehn Jahren eine bescheidene Stellung innehatte, vergaß Mr. Beem die anderen vergleichsweise kleinen Zwischenfälle des Morgens vollständig.

Denn Lola, die Rezeptionistin, hielt ihn am Eingang auf.

„Wollen Sie jemanden Bestimmten sprechen?“

Mr. Beem war nicht der Typ, der sich ohne weiteres aus der Bahn werfen ließ. Aber zum ersten Mal in seinem Leben erlebte er etwas, das einem Schockzustand sehr nahekam.

„… jemanden … Bestimmten … sprechen … ?“, sagte er wie unter Hypnose. „Das ist ein Witz, oder?“

Lola verzog bedauernd das Gesicht.

„Tut mir leid, Sir. Offensichtlich waren Sie schon einmal hier. Aber haben Sie eine Verabredung mit jemandem?“

„Ich … also … naja … ähm … Ich arbeite hier ...“, stammelte Mr. Beem.

„Sie arbeiten hier?“ Die Stimme des Mädchens war plötzlich eine Mischung aus Ungläubigkeit und Misstrauen. „Hier???“

Unvermittelt begann sie an ihrem Pult herumzustöpseln und Kabel zu verbinden. Blinkende Lichter spiegelten sich in ihrem Gesicht.

„Mr. Sharpe“, sagte sie. „Hier is ein Typ, den ich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen hab. Er behauptet, er is hier angestellt. Will rein zu Ihnen. Was soll ich machen?“

Lola wandte sich zum schockstarren Mr. Beem. „Mr Sharpe würde gern Ihren Namen wissen, Sir. Er sagt, falls Sie eine Stellung haben wollen, hinterlassen Sie bitte Ihren Namen, und wir rufen Sie an, wenn sich irgendwas ergibt.“

„Sag ihm“ - Mr. Beem wurde langsam grantig - „mein Name ist Beem. Keine Ahnung, was du hier für eine Nummer abziehst, Lola, aber Mr. Sharpe wird ...“

„Er sagt, sein Name ist Team“, raunte Lola ins Mikrofon, „… oder so ähnlich … Was? Ja, Sir, ich sags ihm.“

Sie wandte sich erneut an Mr. Beem.

„Mr. Shape, sagt, er hat noch nie was von Ihnen gehört, aber wenn Sie Ihre Qualifikationen in dieses Formular eintragen möchten“, sie hielt ihm ein Blatt Papier hin, „würde er gern mit Ihnen in Kontakt bleiben, falls sich was ergibt, und …“

Sie stoppte ihnen Redefluss abrupt, den Mund weit offen, denn der graue, mausartige Mann stob aus dem Büro und rannte Hals über Kopf den Korridor entlang, als wären tausend Teufel hinter ihm her.


*


Fast eine Stunde lang wanderte Mr. Beem verzweifelt und verwirrt durch die Straßen, nachdem er aus dem Büro gestürmt war. Durch sein Hirn waberten halbformulierte Fragen, vage Verdächtigungen und unfertige Antworten. In der ersten halben Stunde tendierte Mr. Beem zu der erschütternden These, dass die Welt begann, ­durchzudrehen.

Doch nach einer Weile verwarf er diese Erklärung, sich daran erinnernd, dass es die Gewohnheit aller Psychotiker war, anzunehmen, alle außer ihnen selbst seien wahnsinnig. Dann fielen ihm Horror-Geschichten ein, in denen unheimliche Gestalten unerkannt durch die Welt schlurften, beachtet von niemandem. Diese Schauergeschichten endeten für gewöhnlich mit der faden Pointe, dass Held der Story längst tot war. War er, Mr. Beem, gestorben? Der Gedanke war grauenvoll, und Mr. Beem schreckte vor ihm zurück. Nein, er war ganz gewiss nicht tot.

Unbewusst hatten Mr. Beems Füße ihn ohne sein Wollen zum Bahnhof zurückgetragen. Fast ohne es zu bemerken, kaufte er ein Ticket für die Vorortbahn und setzte sich in die Wartehalle, um die Ankunft des nächsten Zuges zu erwarten. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich sein Verstand etwas geklärt. Er würde nach Hause gehen. Martha, seine Frau, würde zwar ziemlich überrascht sein, ihn zu sehen. Er war nicht mehr unerwartet nach Hause gekommen, seit damals, als sein Blinddarm geplatzt war. Es würde eine Menge Mühe kosten, Martha zu erklären, was passiert war, aber sie war seine einzige Chance auf etwas Trost. Der einzige verbleibende feste Anker seines Lebens. Vielleicht, dass sie ihm einen Doktor rief. Und es könnte beschlossen werden, dass er eine Pause vom Job brauchte.

Das war es! Nervenzusammenbruch!

In die Straße seines behaglichen kleinen Vororthäuschens einzubiegen war tröstlich für Mr. Beem.

Die vertraute Reihe von Pappeln und weiß bemalten Zäunen gab ihm ein vages Gefühl der Sicherheit. Als er seine eigene weiße Holzzaunpforte öffnete und seinen Gartenweg betrat, pfiff er sogar vor Erleichterung. Es war ein melodieloses Pfeifen, öde, fahl und unharmonisch.

Martha hatte ihm nie einen eigenen Schlüssel gegeben. So war Mr. Beem gezwungen, den Türklopfer zu benutzen. Er bemühte sich um ein selbstsicheres Lächeln, als er seine Frau zur Tür laufen hörte. Er wollte sie auf keinen Fall schockieren oder erschrecken. Schließlich könnte sie denken, er wäre ernstlich krank.

Er hörte im Haus ihre Absätze über den Boden klackern. Die Tür schwang auf. Mr. Beem trat auf die Schwelle.

„Hallo, Süße“, sagte er, „krieg bloß keinen Schreck. Ich fühl mich nicht so gut heute und dachte, ich fahr besser nach Haus ...“

Doch er kam nur ein paar Zentimeter weit. Denn Mrs. Beem starrte ihn mit einer Mischung aus Erstaunen und Verärgerung an. Bevor er ganz im Flur war, schmetterte sie ihm die Tür vor die Stirn.

„Ma … Martha, was ist los? Ich bins bloß! Stimmt was nicht?“ Mr. Beems Stimme verlor beinahe ihre Fadheit, und eisiger Schrecken ließ seine Knie weich werden.

Die Stimme seiner Frau war hoch, schrill und vermutlich in der ganzen Straße zu hören. „Wer immer Sie sind, Vertreter oder Aufreißer – sie haben den Nerv, mich Süße zu nennen und versuchen, sich Zutritt zu meiner Wohnung zu verschaffen? Verschwinden Sie sofort oder ich ruf die Polizei!“

Dann brachte sie einen geschickten, fiesen Kick gegen Mr. Beems Schienbein an, das sich immer noch zwischen Tür und Pfosten befand. Er zog es rasch zurück, und augenblicklich knallte die Tür zu. Er hörte seine Frau die Sicherheitsriegel vorschieben. Dann klickerten ihre Absätze erneut über den Flur.

Für mehrere zähe Minuten stand Mr. Beem vor seiner verschlossenen Tür, sein schmerzendes Schienbein reibend. Panik griff mit eisigen Fingern in sein Hirn.

Mit dem Handrücken die Augen wischend, stakste der verwirrte Mr. Beem die Stufen seines Heims hinunter und wanderte ein weiteres Mal ziellos durch die Straßen. Verzweiflung hatte den schmalen Mann erfasst. Rasende Verzweiflung – und Todesangst.

Tief in einem versteckten Winkel seines gemarterten Hirns raunte eine penetrante, peinigende, spöttische Stimme: „Du wirst verrückt! Das ist es. Du wirst verrückt!“

Mr. Beem stand stocksteif mitten auf dem Bürgersteig und wehrte sich mit aller Macht gegen diesen Gedanken. „Nein …“ erklärte er sich selbst. „Ich-drehe-nicht-durch …“

Er sah den Gehweg hinauf – und hinunter. Da war niemand, der seinem Statement widersprach. Eine Träne wegwischend, bewegte sich Mr. Beem erneut in Richtung Bahnhof.


*


Zwei Stunden später stand ein verzweifelter Mr. Beem, gekleidet in dröges Grau, nervös vor einer Tür im zwölften Stock eines Bürohauses im Zentrum der Stadt. Die Aufschrift auf der Milchglasscheibe lautete: „Dr. ­Clarence Q. Zale, Psychiater.“

Der unauffällige kleine Mann hüstelte nervös, straffte seine herabhängenden Schultern, atmete tief durch und trat ein.

Er fand sich in einer Art kleiner Rezeption wieder. Dahinter sah er eine weitere Milchglasscheibentür mit der schlichten Aufschrift: „Dr. Zale.“

Die zweite Milchglasscheibentür öffnete sich und ein großer, bärtiger, sehr eindrucksvoll aussehender Mann von etwa Fünfzig erschien, um Mr. Beem zu begutachten. Er glättete die Aufschläge seines Prinz-Albert-Anzugs mit professionellem Griff, warf seinem recht gewöhnlichen Besucher einen nachlässigen Blick zu und sprach:

„Ich bin Dr. Zale. Wollen Sie zu mir?“

„Ja“, flüsterte Mr. Beem. „Ich wollte zu Ihnen. Ich glaube nämlich, ich verliere den Verstand.“

„Tsss!“, machte Dr. Zale abwesend. „Wie bedauerlich. Aber kommen Sie doch rein.“

Es war vielleicht fünfzehn Minuten später, als Mr. Beem die aufregendste Geschichte seines Lebens beendet hatte: die turbulenten Ereignisse dieses Morgens.

Dr. Zale erhob sich aufgeregt von seinem Schreibtisch. „Das“, rief er aus, „ist ja unglaublich!“

Mr Beem blickte auf den Psychiater mit einer Art von hündischer Ergebenheit und Hoffnung.

„Wenn das alles wahr ist, was Sie da erzählt haben“, fuhr Dr. Zale fort, „dann sind Sie das interessanteste ­Exemplar der psychiatrischen Forschung, dem ich je begegnet bin! Sie, Mr. Leem, sind das perfekte Beispiel für die oft postulierte und nie gefundene Minus-­Persönlichkeit!“

Mr. Beem zuckte zusammen.

„Mi-nus …“

„Genau. Minus-Persönlichkeit. Sehen Sie, Mr. Weem, Charakter oder Persönlichkeit ist in Wahrheit nichts anderes als eine Art elektromagnetische Aura des Menschen. Nicht zufällig nennt der Volksmund das Aus-Strahlung. Je stärker diese elektrische Aura ist, desto größer die menschliche Ausstrahlung. Wir sprechen dann von einer starken Persönlichkeit.“

Der Psychologe machte eine Pause, um Mr. Beem Zeit zu geben, das verdauen.

Dann fuhr er fort:

„Ausgehend von dem, was Sie mir grade erzählt haben, Mr. Deem, hatten Sie schon immer eine ausgesprochen schwache Persönlichkeit. Ihre Umgebung fand es von jeher schwierig, sich an Sie zu erinnern. Grund ist die schwache Aura. In letzter Zeit ist Ihre positive Ausstrahlung schwächer und schwächer geworden.“

Die nächste Pause wählte Dr. Zale aus dramaturgischen Gründen.

„Heute, Mr. Ream, haben Sie nicht nur aufgehört, eine positive Aura auszustrahlen, sie haben Energie absorbiert. Anders gesagt, Sie strahlen nun ­negative ­Persönlichkeits-Signale aus. Sie sind eine Minus-­Persönlichkeit geworden.“

Der vor Entsetzen gelähmte Mr. Beem war sich der Bedeutung dieser Ansprache des Psychiaters nicht ganz klar, doch der Ton der Experten-Stimme war unheilsschwanger genug, um ihn tödlich erblassen zu lassen.

„Nein …“, krächzte der negative Mr. Beem.

„Doch!“, versicherte Dr. Zale. „Und das Ergebnis ist, dass die Welt beginnt, Sie völlig zu vergessen. Für die Menschen, die Sie bisher gekannt haben, sind Sie nie geboren worden! Sie machen einen konstanten negativen Eindruck von großer energetischer Wucht auf sie!“

Mr. Beem saß schlotternd auf seinem harten Stuhl, seine Hände in qualvoller Verzweiflung verschränkend und wieder auseinanderreißend. Seine wässrigen bleichen Augen sendeten ein stummes Flehen an den Spezialisten.

„Aber Sie werden natürlich nicht wirklich vergessen werden, Mr. Jeem“, beruhigte Dr. Zale. „Denn von diesem Moment an gehen Sie in die Geschichte ein. Sie sind das größte medizinische Phänomen aller Zeiten!“

Die Stimme des Doktors hatte eine exaltierte Schärfe bekommen. Seine Augen funkelten.

„Sie bleiben, wo Sie sind! Sie bewegen sich nicht von der Stelle! Ich gehe raus und rufe ein paar Kollegen aus dem Haus zusammen. Ich brauche ein paar weitere Meinungen, Mr. Queem.“

Er hastete zur Tür, stoppte, wendete sich noch einmal an Mr. Beems Stuhl. „Keinen Zentimeter bewegen Sie sich da weg!“ wies er ihn erneut an, seine schmale Schulter tätschelnd. „Auf keinen Fall verlassen Sie die Praxis! Ich bin sofort mit den Kollegen zurück!“

Mr. Beem verschmolz gehorchend mit seinem Stuhl.

Dr. Zale raste aus seinem Behandlungszimmer, stürmte den langen Korridor hinunter. Seine Schritte hallten für einige Meter gehetzt über den Marmorboden, dann zögerten sie, verlangsamten sich, stoppten.

Dann waren sie erneut zu hören. Sie kehrten gelassen zurück. Der Psychiater schlenderte gemächlich in sein Zimmer, steuerte den Garderobenständer an und nahm Hut und Mantel vom Haken. Er kleidete sich an, etwas Unverständliches murmelnd, schenkte Mr. Beem keinerlei Beachtung und verschwand erneut.

Verwirrt starrte Mr. Beem ihm nach, um dann noch weiter im Stuhl zu versinken, falls das überhaupt möglich war. Er wartete lange, nervös zappelnd. Eins-, zweimal erhob er sich und wanderte auf und ab, um sich bald wieder bescheiden auf seinem Stuhl niederzulassen.

Aber Dr. Zale kehrte nicht zurück.

Und dann realisierte Mr. Beem endlich die Wahrheit. Man hatte ihn wieder vergessen.


*


Mr. Beem verließ niedergeschmettert die Praxis, einen dicken Kloß in seinem dürren Hals mühsam herunterwürgend. Warum, überlegte er in einer Art qualvoller Sehnsucht, konnte er nicht einfach ein Amnesie-Opfer sein anstatt einer Minus-Persönlichkeit? Ein perfektes Amnesie-Opfer, genau, das wärs. Dann hätte er die Welt vergessen, nicht umgekehrt.

Doch als der kleine Mann auf die Straße trat, wusste er im Grunde seines Durchschnitts-Herzens, dass das kein echter Trost war.

Die Abendbrotzeit rückte heran, und wehmütig schaute Mr. Beem in die erleuchteten Fenster der Stadt, dachte schmerzlich an sein eigenes grüngedecktes Häuschen, und wie Martha in ihm ihr Essen kaute. Der Gedanke an seine Frau, die nicht länger wusste, dass sie verheiratet war, war mehr, als Mr. Beem ertragen konnte. So verdrängte er die Bilder, nur mit dem Ergebnis, dass noch bitterere Empfindungen in ihm hochkochten.

Da war der Fluss, zum Beispiel. Nur ein paar Häuserblocks entfernt. Es wäre ein kurzer Spaziergang. Das Brückengeländer war nicht hoch …

Mr. Beem schauderte. Nein, er war kein Feigling. Selbstmord, das war die letzte Ausflucht eines Versagers. Eines Menschen, der am Ende war.

„Ich bin kein Versager! Ich bin nicht am Ende!“, versicherte sich Mr. Beem leidenschaftlich. Doch im gleichen Augenblick durchflutete ihn die Erkenntnis seiner ganzen jämmerlichen, vergeblichen Existenz um so heftiger. Was sollte er tun? Wo sollte er hin?

Die Welt hatte keinen Platz für vergessene Menschen.

Mr. Beem vergrub seine Hände in seinen grauen Mantel­taschen und stapfte voran. Da war plötzlich etwas Entschiedenes, ja Kämpferisches in seiner Brust. Da war etwas, das er nicht richtig in Worte fassen konnte. Er wusste nur, dass er irgendwie, in irgendeiner Weise die Welt auf sich aufmerksam machen musste, damit sie ihn wieder wahrnahm. Und zwar nicht bloß als Mann, sondern als eine Berühmtheit, als eine grandiose Figur von Ewigkeitswert, bewundert von der Nachwelt.

Leben und Tod – beides war unwichtig angesichts dieser neuen Entschlossenheit, die plötzlich in der Brust des Mr. Minus-Beem brannte. Es zählte nicht länger, was aus dem physischen Mr. Beem wurde, solange er dem unsterblichen Lucius Beem zum Erfolg verhalf.

„Und es wird diesen unsterblichen Beem geben!“ verkündete der dröge Mr. Beem laut. Als er so sprach, durchblitzte ein Gedanke seinen Geist, der unbewusst schon in den letzten Minuten in ihm herumgespukt hatte und nun klare Konturen annahm.

Die Nachrichten am Morgen! Besonders die eine, von der er dem Passagier erzählt hatte! Die Stelle über den Wissenschaftler, der ein menschliches Versuchskaninchen für seine Strahlungsexperimente suchte! Sicher würde Fortuna ihm wenigstens in dieser Angelegenheit zulächeln. Hier war die Chance seines Lebens, die Gelegenheit, um der Welt zu zeigen, was für ein Held in Lucius Beem steckte! Ein Held, an den sich die Menschheit so lange erinnern würde, wie sie existierte.

Er wäre der Mann der Stunde. Sein Name wäre für immer eingeschrieben in die Annalen von Wissenschaft und Fortschritt! Dann würde er eine Identität haben! Dann würde er – SEIN!

Winzige Eiszapfen der Erregung glitschten sein zerbrechliches Rückgrat herauf und hinunter, als er so dastand, sich das Ausmaß seiner Entscheidung ausmalend. Dann schreckte ihn ein unerfreulicher Gedanke aus den rosigen Träumen. Was, wenn der Forscher schon jemanden gefunden hatte?

Nein, das durfte nicht sein. Das Schicksal konnte Mr. Beem keinen so grausamen Streich spielen!

Aber rasches Handeln tat Not. Man konnte nie wissen, ob und wann jemand anderes sich entschloss, sich selbst für dieses Experiment zu opfern.


*


Da war ein Kiosk an der Ecke, und Mr. Beem kam einen Moment später keuchend vor ihm zum Stehen. Dann, unter eine Laterne tretend, durchblätterte der unauffällige Mann aufgeregt die Zeitung auf der Suche nach einer Mitteilung über das letzte Strahlungsexperiment des Wissenschaftlers. Endlich fand er etwas auf der zweiten Seite, eine unauffällige kleine Spalte am unteren Ende. Es war eine knappe Zusammenfassung des Textes in der Morgenausgabe, lediglich zusätzlich feststellend, dass Professor Snell immer noch keinen Freiwilligen gefunden hatte.

Das Blatt mit einer Hand umkrampfend, winkte Mr. Beem wie rasend mit der anderen einem Taxi zu. Als der Wagen vor ihm anhielt, schaute Mr. Beem kurz auf Snells Adresse, die winzig klein in der Zeitung abgedruckt war.

„Vine Street sechsundsechzig!“, schnauzte er den Fahrer an. „Und schnell!“

Der Taxifahrer knallte die Tür hinter seinem Passagier zu und legte den Gang ein. Dann schossen sie durch illuminierte Boulevards. Fünfzehn Minuten später hielt der Wagen mit quietschenden Reifen an der angegebenen Adresse. Der Fahrer hatte keine Chance, die Tür für seinen Gast zu öffnen, denn Mr. Beem verließ das Auto wie eine Kugel den Revolver, um dann seinen Mantel nach seiner Brieftasche zu durchwühlen.

„Was kriegen Sie?“, fragte er atemlos.

Ein perplexes Stirnrunzeln umwölkte das Antlitz des Fahrers. Rasch warf er einen Blick auf den Rücksitz. Dann, den Mund weit offen, starrte er Mr. Beem an.

„Und?“, schnappte der graue Mann ungeduldig, „was schulde ich Ihnen?“

„Eh“, blaffte der Fahrer grob, „Is das‘n Gag oder so was?“

Mr. Beem setzte zu einer Antwort an, aber der Taximann ließ ihn nicht zu Worte kommen. „Sind Sie der Typ, den ich aufgegabelt hab, oder werd ich langsam bekloppt? Hab Sie noch nie zuvor gesehn. In meim ganzen Leben nich! Also keine Ahnung, wie der Typ aussah, der eingestiegen is, ich kann nur sagen – Sie hab ich noch nie gesehen!“

Mr. Beem konnte keine weiteren kostbaren Momente verschwenden. Er schob dem Fahrer einen Schein in die Pranke und rannte die Stufen zum Anwesen von Professor Snell hinauf.

Ein kleiner, plumper, energiegeladener Mann ließ Mr. Beem ein. Seine glänzenden Knopfaugen musterten das öde Gesicht des kurzatmigen Besuchers aufmerksam. Dann sprach er:

„Ich bin Professor Snell. Kann ich irgendwas für Sie tun?“

„Professor“, keuchte der Angesprochene, „Ich hab über sie in der Zeitung gelesen!“

„Jaja“, nickte der Wissenschaftler traurig. „Auf dem Höhepunkt meiner Forschungen über die Möglichkeiten radioaktiver Strahlung kann ich keinen Freiwilligen auftreiben, mit dem ich meine bahnbrechenden Thesen beweisen würde!“

Mr. Beem atmete tief durch. „Professor Snell – ich bin Ihr Mann!“

In den Augen des Professors blitzte es. Doch als er sprach, blieb seine Stimme ruhig und behutsam.

„Sie verstehen, was es bedeutet, sich darauf einzulassen? Ich arbeite mit Radium.“

Er hob eine Hand, als Mr. Beem unterbrechen wollte.

„Sie könnten aus diesem Versuch natürlich unbeschädigt hervorgehen. Allerdings …“ er machte eine seltsame Bewegung mit seinen Schultern, „könnten sie auch … chronische Schäden …“

Mr. Beem hörte seine Stimme heiser antworten: „Ich verstehe vollkommen. Es ist mir egal, wie das Experiment ausgeht. Alles, was mich interessiert, ist meine Pflicht, der Nachwelt zu dienen. Vielleicht wird sie sich dann an meinen … kleinen Beitrag freundlich erinnern.“

Der Professor stürzte auf Mr. Beem zu und schüttelte seine Hand. „Sie sind, äh, ein tapferer Mann. Und seien Sie sicher: Egal wie das Ganze ausgeht, diese Tat wird immer im Gedächtnis der Wissenschaft bleiben, keine Sorge. Ich werde mich persönlich darum kümmern.“

Tränen traten in die Augen des langweiligen kleinen Kerls, als er die Hand des Professors mit seinen beiden umschloss. Endlich! Mr. Beem würde zurückkehren ins kollektive Gedächtnis, um für immer dort zu verweilen!

„Von mir aus können wir sofort anfangen!“, krächzte er.

Professor Snell war sofort wieder ein kühler Mann der Wissenschaft. „Gut. Freut mich, dass Sie so schnell zum Punkt kommen.“ Er kramte nach einem Formular auf dem Schreibtisch neben ihm. „Bitte“, sagte er, ihm das Blatt reichend, schreiben Sie Ihren Namen auf und die Namen der Freunde oder Angehörigen, die ich informieren kann, falls etwas … also …“ Er brach bedeutungsvoll ab.

„Nicht nötig. Da gibt es niemanden auf der Welt - außer mir“, sagte Mr. Beem.


*


Und dann waren sie im Laboratorium von Professor Snell.

Alles, was Mr. Beem umgab, war weiß und sah wissenschaftlich-effizient aus. Der rundliche Professor fummelte geschäftig an diversen Instrumenten an einer sargähnlichen Apparatur herum.

Mr. Beem starrte auf das Sarg-Ding, während Snell erklärte: „Ihr Aufenthalt in dem Behälter ist auf die Sekunde genau geregelt. Diese Uhr“, er zeigte auf ein fragiles Instrument, das an der Seite der Box befestigt war, „setzt sich in Bewegung, sobald ich den Deckel schließe. Von diesem Gerät kann ich ablesen, wie viel Zeit vergeht, bis Sie den Kasten wieder verlassen dürfen.“

Minuten später hörte Mr. Beem, auf dem Rücken in einem kalten Radium-Metall-Behälter liegend, die schicksalsschweren Worte: „Viel Glück!“ vom Professor. Dann rastete der Deckel über ihm ein. Dunkelheit umgab ihn …

„Drei Stunden und siebenunddreißig Minuten dürften korrekt sein“, murmelte Professor Snell, einen Hebel am Ende des Behälters in Bewegung setzend. Eine zitternde Erregung schwang in seiner Stimme. Er schaute einen Moment auf die Box, dann drehte er sich um und verließ rasch den Raum. Da waren einige Telefonate zu erledigen. Kollegen warteten auf die große Neuigkeit.


*


Früh am folgenden Morgen, als Professor Snell an seiner Radium-Box herumschraubte, resigniert fluchend, dass sich immer noch kein Freiwilliger für das Experiment eingefunden hatte, nahmen seine scharfen Augen einen seltsamen Schmierfilm wahr, mit dem das Innere des Kastens bedeckt war.

„Seltsam“, fragte sich der Forscher, „wo kommt dieses Zeug her?“

Mr. Beem war vergessen. Für immer.


Originaltitel: The Man the World Forgot

von O‘Brien geschrieben unter dem Pseudonym John York Cabot

-In der Public domain -


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Paul Chadwick: Die Mordmaschine (1932)


Der Pulp-Fiction-Autor Paul Chadwick ist heute vor allem noch bekannt als Mitbegründer der modernen ­Spionage- und Super-Hero-Genres. Er erfand die beliebte Pulp-Roman-Serie Secret Agent X, die viele Züge von James Bond vorwegnimmt, und schrieb 15 der 41 Romane selbst. Doch Chadwick war auch der Erfinder einer sonderbaren literarischen Figur, die sowohl in der ­Horror- als auch in der SF-Literatur ein Außenseiterdasein führt: Sein Journalist und Privatdetektiv Wade Hammond gehört beiden Genres an, passt aber nirgendwo so richtig hin. Er ist kein echter Okkult-Detektiv, weil er seine Aufgabe gerade darin sieht, das Natürliche in scheinbar übernatürlichen Verbrechen zu finden. Meist handelt es sich um perfide und ekelhafte Erfindungen mieser, zynischer Genies. Damit aber wurde er in den 1930er Jahren auch zu einem Outcast der Science-Fiction-Fans. Das Bild der SF war im Großen und Ganzen positiv, der technische Fortschritt selbst war begrüßenswert, auch wenn er mitunter auch von wahnsinnigen Wissenschaftlern missbraucht wurde. Konsequent dystopische SF-Autoren wie David H. Keller blieben die Ausnahme und wurden wegen ihrer düsteren Weltsicht auch eher dem Horror-Genre zugerechnet.

In Wade Hammonds Welt sind neue Erfindungen eine echte Bedrohung, und sie werden in der Regel nicht von Wahnsinnigen, sondern sehr klugen und sinistren Figuren eingesetzt.

Der sonderbare Akte-X-Touch der Wade-Hammond-Geschichten ist auch heute noch reizvoll, die Storys sind temporeich und entwickeln oft eine erstaunlich modern anmutende, beklemmende Atmosphäre.

Allerdings leiden sie auch unter der typischen Schwäche der Pulp-Tagesproduktion. Hastig fabriziert und nie für eine Anthologie überarbeitet, haben sie zuweilen Logiklöcher und kleinere Unstimmigkeiten im Handlungsablauf, so schön die Twists und so charmant die lakonische Hard-Boiled-Sprache der Texte auch sind. Durch diese Sorglosigkeit qualifizieren sich die Storys nicht für den Olymp der Horror- oder SF-Literatur, doch ich fand es reizvoll, zumindest eine davon trotz ihrer Schwächen in deutscher Sprache zu konservieren.

Denn es geht um ein erstaunlich modernes Thema – eine Drohne. Doch diese Drohne kommt nicht aus der Luft, sondern die Straße entlang – es ist eine menschenähnliche Drohne auf zwei Beinen ...

Chadwick schrieb seine vierzig Wade-Hammond-Abenteuer zwischen 1931 und 36 für das Magazin Ten Detective Aces (das verwirrenderweise vor 1933 anders hieß, nämlich Detective Dragnet). Dies hier ist die siebente Geschichte.



I.


Die Klingel über der Flurtür schreckte Wade Hammond mit gerunzelter Stirn aus seinem Sessel hoch. Jede Bewegung seines hageren, tigerhaften Körpers drückte Verärgerung aus. Er flippte seine Zigarette genervt ins offene Kaminfeuer und schmetterte sein Buch auf den Tisch. Er hasste es, mitten in einer guten Story gestört zu werden. Selbst wenn es Freunde waren, die störten.

Doch der Mann im Türrahmen war kein Freund. Wade hatte ihn noch nie zuvor gesehen.

Er war bucklig, nicht größer als eins fünfzig. Schlanke, drahtige Figur. Sein Kopf war schief geneigt – in die Richtung seines goldgriffigen Gehstocks. Eine riesige Zigarre klemmte zwischen seinen Lippen.

„Hallihallo“, grüßte Wade, bemüht, seine Stimme herzlich klingen zu lassen.

Der Bucklige zog eine Visitenkarte mit schmutzig gelben Ecken hervor und überreichte sie Wade mit einer triumphalen Geste. Dort prangten die eingravierten Worte:

Dr. Adolph Blatten

Radio-Techniker & Beratender Ingenieur

Wade musterte die Zeilen interessiert. Die Augen des Buckligen starrten ihn an, als er aufblickte. Der Mann nahm die Zigarre aus dem Mund.

„Sie kennen mich nicht“, sagte er, „aber ich habe von Ihnen gehört, Hammond. Ihr Name war in der Presse im Zusammenhang mit ein, zwei Mordfällen. Man sagt, Sie wären so was wie ein Amateurschnüffler.“

Wade nickte.

„So sagt man.“, stimmte er bei.

„Wenn Sie ein paar Minuten für mich hätten – ich würde Sie gern sprechen.“

Wade nickte erneut, und diesmal trat er von seiner Türschwelle zurück.

Der Bucklige kam herein, seine Hände reibend und sich höflich verbeugend. Er begann umstandslos, seinen Überzieher aufzuknöpfen. Der Märzwind warf sich gegen die Außenwand des Apartment-Hauses, rüttelte an den Fenstern und heulte durch die Eisenzäune in den Gassen. Wade schauderte.

„Es ist kalt draußen“, sagte er. „Besser, Sie setzen sich nahe ans Feuer. Es plaudert sich leichter, wenns kuschlig ist.“ Er deutete auf einen tiefen Sessel. Doch der Bucklige stolzierte zu einer Couch am andern Ende des Raums.

„Das hier ist bequemer für mich, wenn es Ihnen nichts ausmacht“, entschuldigte er sich.

Er zündete ein Streichholz an und paffte einige Momente lang vor sich hin. Die Zigarre war so groß, dass sie den winzigen Kopf und den deformierten Körper aus der Balance zu bringen schien. Hinter ihm an der Wand zeichneten die Flammen schaurig verzerrte Schatten seines Buckels.

Die Atmosphäre im Raum wirkte plötzlich seltsam angespannt. Wade fragte sich, was der Mann wollte, und warum er unter der ruhigen Oberfläche so aufgewühlt zu sein schien.

Blatten drehte ihm schließlich das Gesicht zu. Die Pupillen seiner Augen hatten sich zu winzigen Stecknadelköpfen verengt. Es lag ein Hauch von Vibration in seiner Stimme.

„Ich werde Ihnen eine seltsame Geschichte erzählen, Hammond. Ich bitte Sie um Hilfe in einem der seltsamsten Fälle, von denen Sie je gehört haben.“

Wade nickte. „Schießen Sie los!“, sagte er und zündete sich seinerseits eine Zigarette an.

„Doch zunächst“, fuhr Blatten fort, „muss ich Sie bitten, alles, was ich sage, für sich zu behalten. Wenn die Presse Wind davon bekommt, bin ich beruflich erledigt. Sie würden mich als wahnsinnig brandmarken – oder als Schwindler. Das ist auch der Grund, warum ich zu Ihnen komme und nicht zur Polizei gehe.“

„Bleibt rundherum Privatsache“, versicherte Wade.

„Vertrauen Sie mir. Alles, was Sie sagen, wird wohlbehütet unter dieser Mütze verstaut.“

Blatten nickte zufrieden und legte los.

„Haben Sie jemals von drahtloser Fernsteuerung gehört? Sie wissen, heute kann man ganze Schlachtschiffe fernsteuern, Flugzeuge sind fernlenkbar mit Hilfe gyroskopischer Leitung – sowohl vom Boden als auch von einem anderen Flugzeug aus.“

„Jaja“, bestätigte Wade. „Das ist Schlagzeilenfutter in letzter Zeit.“

„Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen mitteilen würde, dass ich einen künstlichen Menschen ­konstruiert habe, der alles vermag, außer reden und denken, und dessen Bewegungen per Fernsteuerung gelenkt werden können?“

Wade hob die Augenbrauen.

„Würde den Burschen gern mal sehen. Wäre so was wie eine technische Kuriosität.“

Blattens Stimme erhob sich nun aufgeregt. „Natürlich würden Sie den gern sehen. Aber genau da liegt das Problem. Sie werden ihn nicht sehen, und ich auch nicht! Es sei denn, Sie helfen mir! Das Ding ist mir gestohlen worden – gestohlen genau in dem Augenblick, als ich das Patent einreichen und die Erfindung der Öffentlichkeit bekannt machen wollte! Irgendwer hat mich ausspioniert, Hammond. Irgendjemand ist dabei, mein Werk zu diskreditieren ... oder Schlimmeres. Offen gestanden, ich befürchte Entsetzliches, jetzt, wo das Ding in die Hände meiner Feinde gefallen ist!“

„Ihrer Feinde?“

Batten zuckte ungeduldig mit den Achseln. „Natürlich! Jeder Mann hat Feinde, Leute, die ihn nicht ausstehen können und ihm schaden wollen, wo sie nur können. Wenn meine Erfindung nicht mit dieser Absicht gestohlen wurde, dann war der Dieb vermutlich vom Wert des hochkomplizierten Mechanismus überzeugt. Doch ich befürchte etwas viel Grauenhafteres, Hammond, etwas Entsetzliches ...“

Blatten unterbrach seinen Redeschwall und starrte Wade mit zusammengekniffene Augen an.

„Und zwar?“, fragte Wade sanft.

„Mord!“ Blatten stieß das Wort fast wie eine Herausforderung hervor, seine Stimme schrill vor Furcht. „Das ist es, was mich verfolgt. Außer dem Fehlen von Sprache und Denken hat dieser mechanische Roboter wenige Beschränkungen. Er könnte als Killermasche missbraucht werden. Denken Sie nur einen Moment über diese gruselige Möglichkeit nach, Hammond! Sich vorzustellen, welchen teuflischen Gebrauch irgendeine skrupellose Person von dem Ding machen könnte!“

Blatten erhob sich und ging im Raum aufgeregt auf und ab. Sein grotesker Schatten folgte ihm an der Wand.

Wade fragte: „Wann genau ist das passiert? Und wo war Ihre Erfindung, als sie gestohlen wurde?“

„Ich habe den Diebstahl etwa gegen sieben Uhr heute Abend bemerkt“, antwortete Blatten. „Ich hatte das Ding in meiner Werkstatt unter Schloss und Riegel gehalten. Jemand hat ein Seitenfenster aufgebrochen. Ich fand draußen eine Trittleiter. Die mechanische Kreatur und der Fernsteuer-Apparat waren beide verschwunden.“

Wade nickte. Auch er stand auf. Sein braungebranntes, schmales Gesicht mit den hohen Wangenknochen und dem bleistiftdünnen Schnurrbart war nun ausdruckslos. Er klopfte mit seiner Zigarette auf dem Daumennagel herum und platzierte sie dann zwischen seinen Lippen.

„Mal angenommen, ich beschließe, Ihnen zu helfen“, fragte er, „was für eine Vorgehensweise würden Sie mir nahelegen?“

„Sie sind der Spezialist in Sachen Detektivarbeit!“, fauchte Blatten. „Nicht ich. Kommen Sie mit zur ­Werkstatt. Ich werde Ihnen ein paar Fotografien von dem Ding zeigen. Sie könnten einen Blick auf das aufgebrochene Fenster werfen. Vielleicht finden Sie einen Hinweis – oder zwei.“

„O.K.“, brummte Wade. Er ging in den Nachbarraum und holte Hut und Mantel. Dann nahm er ein abgenutztes Lederholster vom Haken an der Wand. In ihm befand sich ein stahlblauer Achtundreißiger-Colt, eine Waffe, die ihn schon bei so manchem Abenteuer begleitet hatte.

Das mochte nicht viel nützen beim Umgang mit einem mechanischen Angreifer, doch er steckte sie trotzdem ein, hauptsächlich aus Macht der Gewohnheit. Er gab seinem Hut einen Schubs zu einer Seite hin und wandte sich dann um zu Blatten, der ihm kaum bis zur Schulter reichte.

„Na dann! Auf geht’s! Mein Wagen steht in der Garage – gleich um die Ecke.“

„Den brauchen Sie nicht rausholen“, erwiderte Blatten. „Meiner steht direkt vor der Tür.“



II.


Heftige Regenschauer schlugen gegen die Scheibe, als sie in die Straße einbogen, in der Blatten seine Werkstatt hatte. Schmuddelige Fabriken und finstere Läden ragten allerorten aus dem Dunkel. Keine erfreuliche Wohn­gegend.

Blatten stoppte seinen Wagen vor einem Grundstück mit einem hohen Bretterzaun. Sie liefen durch die Pforte und traten bald in einen einstöckigen Wellblechschuppen. Der Bucklige knipste einen Schalter an, und der Raum wurde durchflutet vom violetten Licht einer Quecksilberdampf-Lampe über ihren Köpfen.

Wade starrte interessiert auf den komplexen Wirrwarr elektrischer Apparaturen rings um ihn. Er sah eine Metalldrehbank, eine kleine Pressmaschine, einen elek­trischen Brennofen und dutzende Radio-Einzelteile.

Blatten bahnte sich einen Weg zu einer kleinen Vitrine. Dort öffnete er eine Schublade und zog verschiedene Fotografien heraus.

„Und hier ist der gute Junge höchst selbst!“, rief er, nicht ohne Stolz in der Stimme.

Ein Frösteln kroch Wades Rückgrat hoch, als er die groteske elektromechanische Gestalt erblickte, die ihn aus den Bildern anstarrte. Die biegsame Metallhülle hatte Blatten mit ganz normaler Kleidung bedeckt. Die Klamotten hingen schlaff herunter, fast so, wie sie an einem Skelett hängen würden. Das Ding hatte einen leeren, starrenden Blick und eine hohe, kantige Stirn, die seltsam totenschädelhaft wirkte. Seine Hände waren offensichtlich mit Gummihandschuhen überzogen. Sie sahen verstörend menschlich aus.

„Er gewinnt nie einen Preis beim Beauty-Contest“, kommentierte Wade.

„Wahrscheinlich nicht“, räumte Blatten ein. „Aber Sie sollten sehen, was er drauf hat! In jedem Schenkel ­befindet sich eine spezielle elektrische Batterie. Sie betreiben den Elektromotor im Körperinneren – übrigens verfügt er über mehrere PS. Der Motor versorgt den Körper mit Energie durch ein Kabelsystem, das ich selbst erfunden habe. Die große Flexibilität erlaubt dem Geschöpf, jede natürliche Haltung einzunehmen, die auch ein Mensch einnehmen kann. Es gibt ein kleines Gyroskop in seinem Kopf – das ist das Kontrollzentrum und entspricht etwa der Funktion der menschlichen Cochlea – also des Gleichgewichtsorgans. Dieses Gyroskop operiert auf der Basis von Radioimpulsen und ist direkt mit dem Koordinationssystem des Motors verbunden. Es kontrolliert so jede einzelne Bewegung, die die Kreatur macht.“

Blattens Gesicht glühte voller Enthusiasmus. Er reichte Wade eine der Fotografien. „Vielleicht behalten Sie die besser“. Dann verengten sich seine Augen, und er wies zur anderen Seite des Raums.

„Da ist das Fenster, durch das der Dieb kam. Ich habe alles so gelassen, wie ich es vorgefunden habe.“

Wade spazierte hinüber zum Fenster. Er sah, dass der Verschluss aufgebrochen war. Es gab Markierungen an der Stelle des Schieberahmens, an der das Brecheisen angesetzt wurde. Er schob den Rahmen hoch und lehnte sich hinaus, richtete seine Taschenlampe auf den Boden. Die schotterbestreute Erde war aufgewühlt, doch die Abdrücke von Fußspuren waren zu undeutlich – selbst ein Spurenexperte hätte da nicht mehr viel rausholen können.

„Wo haben Sie das Ding aufbewahrt?“

Blatten deutete auf eine längliche Kiste in der Nähe des Fensters. Wade erschrak heftig, als er bemerkte, dass sie exakt so aussah wie ein Sarg. Der Deckel war geöffnet, und das Innere mit Filz ausgeschlagen. Er examinierte die lackierte Oberfläche und bemerkte in geringer Entfernung einen öligen Fleck auf dem Boden.

Keine Fingerabdrücke. Der Dieb hatte sich alle Mühe gegeben, sie sorgfältig abzuwischen.

Blatten runzelte die Stirn und kaute auf seinem Zigarrenstummel herum. „Wir müssen was unternehmen, Hammond“, ächzte er. „Versetzen Sie sich in meine Lage! Denken Sie an das Geld und die Zeit, die ich in dieses Ding investiert habe. Stellen Sie sich meine Enttäuschung vor, meine Sorgen ... Diese Sache kostet mich zehn Jahre meines Lebens!“

Wade nickte mitfühlend. „Ich weiß bloß nicht, wo ich anfangen soll, um es wieder aufzutreiben“, gab er zu. „Eigentlich könnte die Polizei Ihnen hier besser weiterhelfen. Es wäre ...“

Er unterbrach sich plötzlich und neigte sich vor. Im Rahmen des Fensters, durch das man den mechanischen Mann gezerrt hatte, bemerkte er etwas, das ihm zuvor nicht aufgefallen war.

Eine Schraube hatte sich gelockert, der Kopf stand etwa drei Millimeter über dem Holz. An ihr hatte sich ein kleiner Fussel braunen Fadens verfangen. ­Offensichtlich war er von einem Mantel abgerissen worden.

Wade zupfte ihn mit Daumen in Zeigefinger ab.

„Was ist hiermit?“, frage er. „Stammt das von den Klamotten des Roboters, oder könnte es sein, dass der Dieb es hinterlassen hat?“

Blatten starrte erregt auf den Faden. „Das muss vom Dieb stammen!“, kreischte er. „Mein Automat war in Grau gekleidet. Wir müssen den Mann finden, der diesen brauen Mantel trägt, Hammond! Ich würde Sie sogar die Polizei holen lassen, wenn Sie sie dazu bringen könnten, den Mund zu halten!“

„Wir werden sie holen müssen, fürchte ich, Blatten. Um ganz ehrlich zu sein: Das ist hier ist die sprichwörtliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Uns bleibt nicht viel mehr, als zu warten und die Augen offenzuhalten. Seien Sie wachsam! Versuchen Sie, unauffällig mit jeder Person zu sprechen, die Sie verdächtigen. Und wenn Sie auch nur den leisesten Verdacht haben – lassen Sie‘s mich wissen. Ich helfe, wo ich kann – aber ich das hier ist eine Sackgasse. Ein Detektiv ist kein Magier, egal ob Profi oder Amateur. Ich schlage vor, Sie kommen morgen bei mir vorbei, nachdem Sie mit jedem gesprochen haben, der für Sie in Frage kommt. Vielleicht haben Sie einen Arbeiter auf Abwegen. Ein Typ, dem klar ist, was Sie hier bauen.“

Blatten nickte missgelaunt. „Wie schon gesagt, es ist nicht so sehr der Verlust, der mir zu schaffen macht. Es sind die möglichen Konsequenzen. Ich werde keine ruhige Minute haben, bevor wir das Ding ­zurückbekommen. Kommen Sie, ich fahre Sie zurück.“

„Nicht nötig“, brummte Wade. „Ich laufe. Der Regen hat nachgelassen. Ein kleiner Spaziergang wird mir guttun.“



III.


Wade hatte ein anderes Motiv. Er ging nicht direkt zurück zu seinem Apartment. Stattdessen lenkte er seine Schritte zur Stadtbibliothek und verbrachte eine Stunde in der Wissenschaftsabteilung. Er vergrub sich in Literatur zum Thema Fernsteuerung. Ihm war der Gedanke gekommen, bei Blatten könnte einfach eine Schraube locker sein. Er könnte aus irgendwelchen Gründen die ganze Zeit Mist erzählt haben.

Doch das Fachbuch, das er durchstöberte, eins der aktuellsten zum Thema, bestätigte, was der Bucklige behauptete. Es gab keinen Grund, weshalb ein Erfinder mit ausreichendem Hintergrundwissen und Geschick keinen mechanischen Menschen konstruieren sollte, wie Blatten ihn auf den Bildern gezeigt hatte.

Doch er blieb skeptisch, was das Bedrohungspotenzial in der Öffentlichkeit anging. Plausibler war, dass Blatten über dem kostbaren Verlust hysterisch geworden war und seiner Phantasie nun freien Lauf ließ.

Die weitere Entwicklung dieser seltsamen Affäre sollte ihn jedoch brutal eines Besseren belehren.

Als Wade sein gemütliches Junggesellen­quartier aufschloss, hörte er das scharfe Klingeln seines ­Telefons, und ein Gefühl düsterer Vorahnung überwältigte ihn.

Ein bisschen spät für freundschaftliche Privatgespräche.

Er schritt schnell zu seinem im eleganten französischen Stil entworfenen Gerät und nahm den Hörer ab.

„Hammond hier.“

Die krächzende Stimme am andern Ende war Wade vertraut – es war die von Inspektor Thompson vom Morddezernat. Der alte Haudegen hatte Wade schon bei vielen Fällen zu Rate gezogen.

„Hallo, Hammond. Ich hole Sie doch nicht aus dem Bett, oder?“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783957196132
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
Kult USA Geschichten Pulp

Autoren

  • Matthias Käther (Hrsg.) (Autor:in)

  • Paul Chadwick (Autor:in)

  • Arthur J. Burks (Autor:in)

  • Ralph Williams (Autor:in)

  • Randall Garrett (Autor:in)

  • Harry Harrison Kroll (Autor:in)

  • Jesse Franklin Bone (Autor:in)

  • Michael Schmidt (Herausgeber:in)

  • David Wright O’Brien (Autor:in)

Matthias Käther (Jahrgang 1972) ist Rundfunkjournalist und Autor von Features, Hörspielen und Live-Hörspielen. Nach dem Studium an der Freien Universität Berlin (Bibliothekswissenschaften und Germanistik) arbeitete er fürs Berliner Uniradio und Radio 3 (ORB). Seit 2004 ist er vor allem für das Kulturradio vom RBB als Kritiker und Moderator tätig, schreibt aber weiter regelmäßig Features und Hörspiele für den RBB, das Deutschlandradio, den Bayerischen Rundfunk.
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Titel: Fantastic Pulp 2