Lade Inhalt...

Super-Pulp 10: Girls! Girls! Girls!

von r. evolver (Hrsg.) (Autor:in)
182 Seiten
Reihe: Super-Pulp, Band 10

Zusammenfassung

10 Jahre im Kampf gegen düstere Langeweile – wir feiern Geburtstag und präsentieren die große SUPER-PULP-Jubiläumsnummer! Oliver Müller – Helheim 2/Die Fratze im See Schreckliche Visionen suchen den Studenten Michael Hanke während seines Aufenthalts im Hessischen Bergland heim. Ergreifen hier übersinnliche Mächte von ihm Besitz oder hat er einfach nur den Verstand verloren? Vertigo Stray Cat – Mira Troublemaker 2/Die taumelnde Krähe Diesmal geht es für Mira Troublemaker um die Wurst – sie heftet sich an die Fersen des abgetauchten David. Die Spur führt zu einem unheimlichen Anwesen … Nick Granit – Girls! Girls! Girls! Nick Granit ist wieder da! Der hartgesottene Wiener Privatdetektiv mit dem weichen Kern ermittelt diesmal in einem besonders heißen Fall: Die Chefin einer exklusiven Escort-Agentur vermisst zwei ihrer zugkräftigsten Damen … Martin Compart – Bye-bye, Trenchcoat Teil 2 unserer Serie über John D. MacDonald! Anfang der 50er Jahre war das große Sterben der Pulp-Magazine nicht mehr aufzuhalten – und schnelle, spannende Romane in billigen, kleinen Taschenbüchern gefragt … Thomas Williams – Backwood 6/Die Rache der Kannibalin Ganz Bielefeld ist ein einziger Hexenkessel. Da kann nur einer helfen: Sheriff Backwood. Flankiert von Sidekick Michael und der schlagkräftigen Monique mischt er die pechschwarze Unterwelt in NRW auf. Stefan Hensch – Cullen 5/Todesfalle Kalifornien Von vielen Künstlern besungen, ist Kalifornien bei Stefan Hensch mitnichten ein Sehnsuchtsort. Die Menschen mutieren dort nach einer Virusinfektion zu Killerbestien, wodurch der US-Bundesstaat zum tödlichen Alptraum wird. Charly Blood – Der Doppler aus dem All Die Agnesbründl-Saga macht eine Ausgabe lang Pause. Dafür unterhält uns der Autor mit einer spannend-witzigen Kurzgeschichte aus dem gleichen „Universum“. Anton Preinsack – Vienna Horror Stories 1/Die Maden Der Wiener Autor taucht in die mitunter sinistre Welt der Wiener Zinshäuser und Gemeindebauten ab und präsentiert dem Publikum ein regelrechtes Panoptikum an skurrilen aber irgendwie auch liebenswerten Gestalten. Den Auftakt macht der Witwer Josef, der hinter seiner Wohnungstür ein unheilvolles Geheimnis verbirgt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


SUPER PULP

Band 10 – Girls! Girls! Girls!

IMPRESSUM

© 2021 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck

Titelbild: Walter Fröhlich

Chefredaktion: Julia Götzl

Produktion: Robert Draxler

Alle Rechte vorbehalten

www.blitz-verlag.de

www.super-pulp.com

ISBN 978-3-95719-983-6

HAPPY BIRTHDAY, SUPER PULP!

 

OEBPS/images/image0002.jpg 

 

Herzlich willkommen zu diesem etwas längeren Vorwort, das der Geschichte unseres ungewöhnlichen Pulp-Magazins geschuldet ist. Eine Geschichte, die exakt vor zehn Jahren ihren Anfang nahm. Damals, im Jahr 2011, erschien die erste SUPER-PULP-Ausgabe noch im klassischen Heftformat und war mit vier Beiträgen gefüllt. Für spannende Unterhaltung sorgten Andreas Winterer, Philipp Schaab, der seinerzeitige Herausgeber Peter Hiess sowie meine Wenigkeit, r.evolver …

 

Als Autor durfte ich eine Story mit meiner Pulp-Heldin Kay Blanchard beisteuern, als Produzent war die Sache schon ein bisschen aufwendiger. Damals wie heute galt es, dem Coverkünstler hinterherzurennen und die Beiträge einzumahnen, um das Ganze schließlich im Grafik- und Satzprogramm zu finalisieren, was kniffliger war als dieser Tage. SUPER PULP hatte zu jener Zeit nämlich eine fix vorgegebene Seitenzahl, wobei sich der Essayteil wie eine Art Centerfold exakt in der Mitte befinden sollte, was oft redaktionelle und typografische Tüfteleien nach sich zog.


super_pulp_1_sw

 

Dessen ungeachtet erwies sich das Konzept als so simpel wie erfolgreich. SUPER PULP war ein Werbegeschenk für die Fans des Wiener Kultverlags EVOLVER BOOKS – wer zwei Romane kaufte, wurde mit der Beigabe des Heftes belohnt. Ungefähr eine Ausgabe pro Jahr sollte erscheinen und mit Geschichten jener Autoren gefüllt sein, die bereits ihr Unwesen bei EVOLVER BOOKS trieben.

 

Die Idee kam beim Publikum gut an und schon bald wurde immer öfter nachgefragt, ob es nicht möglich wäre, das Heft auch so zu bestellen, also ohne die beiden Titel. Und ob das möglich war! Doch weil die Buchproduktion eben im Vordergrund stand, veröffentlichten wir die nächste SUPER-PULP-Nummer nicht vor 2012, die dritte wurde erst im Jahr 2015 vorbereitet … und dann nicht mehr realisiert, wofür in erster Linie zwei Gründe ausschlaggebend waren:

 

super_pulp_2_sw


Wegen meiner Unterrichtstätigkeit im Bereich der Mediengestaltung produzierte ich immer weniger für den Verlag, den Peter Hiess schließlich aus privaten Gründen zusperrte. Und somit war auch das Heft Geschichte. Vor allem die (nicht mehr erschienene) Nummer 3, die der Münchener Journalist und Autor Andreas Winterer redaktionell vorbereitet hatte, spukte noch einige Zeit als „Lost Issue“ durch die Wiener Phantastikszene.

 

Ich für meinen Teil hatte das alles schon hinter mir gelassen und erinnerte mich erst 2018 an das gute alte SUPER PULP, das nun – ausgestattet mit Peter Hiess’ freundlichem Segen – für mein neues Projekt Pate stehen sollte: die Edition SUPER PULP. Unter dieser Flagge wollte ich die schrägen Thriller-Abenteuer um meine Agentin Kay Blanchard sowie die Werke befreundeter Autoren veröffentlichen.

 

Um das Ganze aber nicht als egozentrische Selfpublishing-Masturbation zu betreiben, publizierte ich – en passant – auch die (vergriffenen) ersten beiden Ausgaben des namensgebenden Heftes in Neuauflage. Das wiederum beflügelte mein Wohlbefinden derart, dass ich dabei außerdem die „verlorene“ Nummer 3 herausbrachte. Und zwar nahezu in Originalbesetzung. Also nicht nur mit dem genialen Cover des Wiener Künstlers (und Autors!) Erik R. Andara, sondern sogar mit (fast) allen Originalgeschichten. Nur eine Autorin wollte die Genehmigung zum Release ihrer Story nicht mehr erteilen.

 

Trotz dieser und anderer kleiner Komplikationen merkte ich, wie viel Freude mir das trashige Heft bereitete, die Arbeit mit den Autoren, den Künstlern, der Produktionsprozess, an dessen Ende meine ganz persönliche Vorstellung vom perfekten Pulp-Magazin stand: Bunt, haarsträubend, leidenschaftlich und dabei Experimenten gegenüber durchaus aufgeschlossen, sollte das Ergebnis in unserer verdammt schnelllebigen Zeit nachhaltig gut unterhalten – und weil das gelang, führte ich die Reihe kurzerhand fort. So erschienen im Intervall von einigen Monaten die Ausgaben 4 und 5, und just während der Vorbereitungen zur Nummer 6 kontaktierte mich Ende 2019 Jörg Kaegelmann mit der Frage, ob ich mein hübsches Magazin nicht in seinem BLITZ-Verlag herausbringen wollte. Natürlich wollte ich!

 

super_pulp_3_sw


So sehr Jörgs Angebot auch zum richtigen Zeitpunkt gekommen war, von den klassischen Heftroman-Maßen hieß es nun Abschied nehmen. Dennoch gelang es, den Stil des ursprünglichen Layouts (mit der signifikanten Kopfzeile) in das kompaktere BLITZ-Format zu integrieren. Mehr noch, SUPER PULP ist dieser Tage hübscher, haarsträubender und vergnüglicher als je zuvor. Und das ist schlussendlich der Verdienst all jener, die mich bei meiner Mission unterstütz(t)en.

 

Mein großer Dank gebührt hier den Künstlern, die für die ausgefallenen Titelmotive sorgen, den vielen redaktionellen Händen, die im Zuge der Endproduktion wertvolle Hilfe leisten, sowie all den Autorinnen und Autoren, deren fantastisch-eskapistische Stoffe das Magazin so außergewöhnlich machen – zur ultimativ-spannenden Lektüre für die wenigen freien Augenblicke zwischendurch. Kurz mal flüchten, kurz mal in eine Welt eintauchen, die sich, wie das Muster in einem Kaleidoskop, aus konsistenter Farbpalette immer wieder neu zusammensetzt.

 

Nicht zuletzt deshalb begegnet das Publikum auf den knapp 200 Seiten einer Ausgabe nicht nur abgeschlossenen Abenteuern, sondern auch Fortsetzungsplots und wiederkehrenden Figuren, die hoffentlich zu Freunden werden, um im Rahmen der Rezeption ein Quantum Stabilität in einer durch und durch unsicheren Zeit zurückzugeben. Mag alles andere wackelig sein – der Job, die Familiensituation, das soziale Miteinander in Europa, schlichtweg: die Zukunft – eines ist fix: Die SUPER-PULP-Heldinnen und -Helden erscheinen zwei Mal im Jahr bei BLITZ!

 

Und genau an dieser Stelle möchte ich mich bei meiner Chefredakteurin Julia Götzl bedanken. Ohne sie, ohne ihren engagierten Einsatz, ihre Sprachkompetenz und ihr süddeutsches Sprachgefühl (da fühlen wir Österreicher uns gleich durch und durch verstanden) läge Ausgabe Nummer 10 jetzt nicht druckfrisch in Ihren Händen.

 

Abschließend sei aber auch an Sie, wertes Publikum, mein Dank gerichtet. Dafür, dass Sie unserem mit Herzblut produzierten Magazin Ihr Vertrauen schenken, und dafür, dass Sie SUPER PULP kaufen und unterstützen – ohne Sie wäre unsere wachsende Familie nicht mehr als ein Partikel dunkler Materie im luftleeren Raum … also nichts. In diesem Sinne bleibt mir nur noch, Ihnen zu den Geschichten unserer Jubiläumsnummer gute Unterhaltung zu wünschen. Ich verspreche, da ist wieder alles dabei, was unsere Ausgaben so lesenswert macht: Action, frecher Witz und Tempo, gewürzt mit erotischem Charme und einer Extraportion durchaus ungewöhnlicher Gruselspannung – das müssen Sie lesen, und zwar mindestens noch die nächsten zehn Jahre!

 

Ihr r.evolver

HELHEIM 2 – DIE FRATZE IM SEE

 

Eigentlich wollte Michael Hanke nur an seiner Bachelorarbeit tüfteln, doch der Ausflug zum Frau-Holle-Teich entwickelt sich für den Studenten zum regelrechten Höllentrip. Der Attacke eines riesigen Greifvogels folgt die Begegnung mit einer mysteriösen Frau. Doch so jäh, wie Helena auftaucht, verschwindet sie auch wieder, nur um später ein zweites Mal unvermittelt in Erscheinung zu treten – und Mike direkt in den nächsten Albtraum zu führen: mitten in eine Kreuzigung. Wird er sie mit heiler Haut verlassen? Und was hat es überhaupt mit seinen Visionen auf sich? Nicht fragen, weiterlesen!

 

Als hätte die Erkenntnis über seine unfreiwillige Teilnahme an der barbarischen Hinrichtung sämtliche Schleier von seinem Denken und Fühlen gerissen, nahm Michael Hanke plötzlich alles mit brutaler Deutlichkeit wahr: Die Ausdünstungen der Menschen, die ihn umgaben. Das Weinen und die Schreie aus hunderten Kehlen, die sich nicht mehr vermischten, sondern die er jeder einzelnen Person zuordnen konnte. Der warme Wind, der ihm Staub ins Gesicht warf. Und der Anblick des Gekreuzigten, der ihn mit schmerzverzerrter Miene direkt anzusehen schien.

Michael schüttelte den Kopf, als wollte er dem armen Mann damit zeigen, dass er nichts für ihn tun könne. Gerade als er das dachte, nickte der Langhaarige.

Das konnte nicht sein. Das bildete er sich doch ein! Das alles hier.

Der Blick des Gekreuzigten bohrte sich in sein Innerstes. Mike wollte wegsehen, aber er schaffte es einfach nicht. Er spürte den Schmerz des Unglücklichen. Michaels Körper verkrampfte sich. Als hätte er einen Marathon hinter sich, verhärtete sich jeder einzelne Muskel. Er wollte fort. Einfach weglaufen, dieses grausame Szenario mitsamt der Menschenmenge endlich verlassen.

Helena! Vielleicht konnte sie ihm helfen, schließlich hatte sie ihn doch hergebracht. Oder?

Unter großer Kraftanstrengung drehte er den Kopf zur Seite, doch sie war nicht mehr da.

Michael fühlte sich allein, obwohl er von unzähligen Menschen umringt war.

Der Gekreuzigte stöhnte auf. Sofort sah Michael wieder zurück zu dem Mann, der sein Antlitz dem Himmel zuwandte. Michael legte ebenfalls den Kopf in den Nacken. Der Himmel verdunkelte sich. Er wurde zu einer schwarzen Wand, die auf ihn niederstürzte.

Die Dunkelheit packte ihn, riss ihn mit einer Geschwindigkeit, die jede Vorstellungskraft übertraf, aus der Masse an Menschen heraus. Er wurde in ein schwarzes Nichts katapultiert.

Aus dem er schreiend auffuhr!

Nach Luft ringend wie ein Ertrinkender, und mit rasendem Herzen fand er sich auf dem Bett in seinem Hotelzimmer wieder. Allein. Ohne …

„Helena!“

Er rief vergeblich nach ihr. Wo steckte sie?

Eben war sie doch noch da gewesen. Eben? Wie viel Zeit war vergangen? Der Traum hatte sich angefühlt, als hätte er nur Minuten gedauert. Michael warf einen Blick auf die Uhr. Kurz vor sechs, früher Morgen. Er hatte also schon wieder Stunden verschlafen.

Das konnte doch alles nicht wahr sein. Was war nur los mit ihm? Er erinnerte sich daran, wie der Wirt Vukic ihn gefragt hatte, ob er einen Arzt brauche. Vielleicht hätte er ja sagen sollen. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm.

Beruhige dich! Du hast zwei Mal Unsinn geträumt. Wahrscheinlich lag es am Alkohol.

Und dass er von Helena geträumt hatte, geschenkt. Sein Unterbewusstsein hatte eben das verarbeitet, was er in der letzten Zeit gesehen und erlebt hatte. Ja, das war eine logische Erklärung. Nur, dass er sich nicht mit Kreuzigungen befasst hatte – seine Herleitung hatte definitiv Schwächen.

Vielleicht half es ihm ja, wenn er die ganze Sache nochmal von Anfang an durchging. Vierundzwanzig Stunden, keine lange Zeitspanne. Aber das, was währenddessen passiert war, reichte für einen deutlich längeren Zeitraum aus. Er führte sich die wichtigsten Geschehnisse vor Augen: Die Fahrt zum Frau-Holle-Teich, die Attacke des Riesenadlers, das erste Aufeinandertreffen mit Helena … danach der erste Traum, das zweite Treffen mit der mysteriösen Frau und schließlich seine Anwesenheit bei der Kreuzigung. Er verbot sich, diese Begebenheit auch einen Traum zu nennen, dazu hatte sich alles viel zu real angefühlt.

Unwillkürlich lachte er auf. Natürlich war es ein Traum gewesen! Egal, wie es sich anfühlte. Er war nicht bei einer Kreuzigung gewesen. Jesus hatte ihn nicht angesehen und ihm ein Zeichen gegeben.

Es konnte einfach nicht sein – in Irrenhäusern saßen Menschen für weitaus weniger abstruse Ideen ein.

„Das kann nicht sein!“, sagte er laut.

Doch wieder gelang es ihm nicht, sich selbst zu überzeugen. Vielleicht konnte das ja jemand anderes. Nur wer? Seine Ex? Grandiose Idee! Sein bester Freund? Der würde denken, er hätte zu tief ins Glas geschaut. Vukic? Ausgeschlossen.

Helena. Egal, wie er es drehte und wendete, er kam immer wieder auf sie zurück. Aber wie sollte er sie finden? Er wusste nichts von ihr außer den Vornamen. Dennoch hatte er von Anfang an das Gefühl gehabt, dass sie ihm helfen konnte.

Und in diesem kleinen Kaff konnte ihr Vorname vielleicht schon ausreichen, um sie ausfindig zu machen. Hier kannte doch bestimmt jeder jeden.

Michael beschloss, nach unten zu gehen. Gestern um diese Zeit war Vukic schon bei der Arbeit gewesen. Es würde ihn nicht wundern, wenn er es auch heute war.

Ohne sich frisch zu machen oder umzuziehen, verließ er das Zimmer. Auf der Treppe hörte er schon Geschirr klappern.

Michael betrat den Gastraum. Vukic blickte auf.

„Herr Hanke“, sagte er. „Ich hätte nicht gedacht, dass Sie so schnell wieder auf den Beinen sind.“

„Warum das?“, fragte Mike skeptisch.

„Na, Sie hatten ja schon ordentlich Schräglage, als Sie die Gaststube verließen.“ Vukic lachte auf. „Und ich dachte immer, Studenten würden einen ordentlichen Schluck vertragen. Ein junger Mann wie Sie!“ Erneut lachte er. „Soll es wieder ein Kaffee sein? Wie gestern?“

Michael nickte. „Das und eine Auskunft.“

„Wenn ich sie geben kann“, sagte Vukic und wandte sich um, um den Kaffee zu holen.

Michael wartete, bis der Wirt zurückkam. Dankbar nahm er das Getränk entgegen und atmete den Duft ein.

„Was möchten Sie denn wissen, Herr Hanke?“

„Ich suche meine Begleitung von gestern Abend.“

Er führte die Tasse zum Mund. Über den Rand hinweg sah er Vukic an. Der musterte ihn mit ungerührter Miene. Dann schüttelte er den Kopf.

„Kennen Sie sie nicht?“, hakte Michael nach.

„Ich weiß nicht, wen Sie meinen.“

Michael beschrieb Helena. Vukic musste sich doch an sie erinnern, schließlich hatte sie bei ihm am Tisch gesessen.

„Sie hat mir sogar noch geholfen, die Treppe hochzukommen.“

„Ihnen?“

„Ja.“

Nun schüttelte Vukic energisch den Kopf. „Also, dass Sie nicht mehr nüchtern waren, das hab ich gemerkt. Aber so blau können Sie nicht gewesen sein. Nicht von den zwei Schnäpsen.“

„War ich auch nicht“, sagte Michael verärgert, obwohl es für Vukic ja so ausgesehen haben musste. Er war sich sicher, dass es kein normaler Rausch gewesen war. Aber das konnte der Wirt ja nicht wissen.

„Dann frage ich mich umso mehr, von wem Sie da reden.“

„Von Helena! Sie hat mit mir am Tisch gesessen.“ Michael zeigte auf den Platz, an dem er den gestrigen Abend verbracht hatte. „Ich hier, sie dort.“

„Da hat außer Ihnen niemand gesessen, Herr Hanke.“

„Aber …“

Michael blieben die Worte im Hals stecken. Die Geschichte wurde ja immer verrückter. Steckte Vukic mit dieser Frau unter einer Decke?

„Ich schwöre Ihnen, Herr Hanke, Sie saßen allein dort am Tisch. Und sind allein nach oben gegangen.“

Michael schüttelte den Kopf. Er war sich sicher. Absolut! Er hatte mit Helena geredet, sie waren hoch gegangen und dann …

Dann ist sie in deinem Traum aufgetaucht, als ihr euch Jesu Kreuzigung angesehen habt!

Er fühlte förmlich, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich.

„Ist Ihnen nicht gut, Herr Hanke?“

Aus Vukics Stimme klang Besorgnis. Michael zuckte mit den Schultern. Er nahm einen Schluck Kaffee, doch das Getränk schmeckte schal. Nach einem Blick auf die trübe Flüssigkeit reichte er dem Wirt die Tasse.

„Danke für den Kaffee, Herr Vukic“, sagte er und wandte sich ab.

„Aber … wo wollen Sie denn hin? Herr Hanke!“

Michael ließ sich nicht aufhalten. Er wollte dorthin, wo er Antworten zu erhalten hoffte. Und wo er vielleicht wieder auf Helena traf. Denn er war weiter davon überzeugt, dass sie existierte. Das, was es bedeutete, wenn Vukic recht hatte, ängstigte ihn so sehr, dass er diese Möglichkeit in den letzten Winkel seines verwirrten Kopfes verbannte.

Als er durch die Tür trat, merkte er, dass er zu dünn angezogen war. Es war ihm egal. Die Kälte war etwas Reales. Etwas, dessen er sich sicher sein konnte. Daher verzichtete er auch auf das Auto. Der Schlüssel lag eh oben im Zimmer.

Mit jedem Schritt beschleunigte Mike. Schließlich rannte er seinem Ziel entgegen. Dem Frau-Holle-Teich. Und diesmal würde er sich nicht von einem Adler aufhalten lassen!

Es war etwas viel Banaleres, das ihn stoppte. Oder zumindest kurzzeitig bremste. Seine mangelnde körperliche Fitness. Bereits nach weniger als der Hälfte der Strecke kapitulierte Michaels Körper. Heftiges Seitenstechen zwang ihn, sein Tempo deutlich zu verlangsamen. Sein Atem ging keuchend wie der einer alten Dampflokomotive, die mit dem letzten Rest Kohle den Anstieg zur Endstation in Angriff nahm.

Im Stillen verfluchte er die spätestens am zweiten Januar aufgegebenen guten Neujahrsvorsätze und nahm sich vor, sie zu diesem Jahreswechsel endlich ernst zu nehmen. Wenn er denn noch so lange lebte … bei den Geräuschen, die seinem Mund entwichen, war er sich da nicht so sicher.

Er quälte sich weiter. Denn trotz der Schmerzen hatte er sein Ziel nicht aus den Augen verloren.

„Komm schon, du faule Sau!“, versuchte er sich selbst zu motivieren.

Immerhin joggte er noch mal zehn Meter, dann gab er es auf. Langsam gehend, um wieder zu Atem zu kommen, bewältigte er den Rest der Strecke. Immer wieder sah er nach oben und lauschte angestrengt, doch von einem Riesenadler war nichts zu sehen oder zu hören.

Endlich erreichte er das Gewässer. Die Statue der jungen Frau Holle schien in der Bewegung innezuhalten, als er an das Ufer trat. Das war natürlich Unfug, aber hey, überrascht hätte es ihn auch nicht mehr.

Still lag die Oberfläche des Teichs vor ihm. Das Wasser war nicht so klar, dass er bis auf den Grund hätte sehen können. Der Sage nach, mit der er sich vor seiner Reise hierher beschäftigt hatte, war das eh nicht möglich. Denn die besagte, dass der Teich dem Vermessungsversuch eines Bergmanns getrotzt hatte. Bei mehr als 156 Metern Tiefe wurde das Unterfangen abgebrochen.

Eine Sage, nichts weiter. Michael war sich sicher, wenn er in das Wasser stieg, konnte er weit hineinlaufen und vielleicht sogar bis an den Grund tauchen. Der war nämlich mit knapp zweieinhalb Metern auch nicht tiefer als im Freibad. Wobei er das trotzdem nicht vorhatte. Die Temperatur war vielleicht im Hochsommer annehmbar, aber jetzt gewiss nicht. Mehr als neun Grad kaltes Wasser lieferte die Quelle nicht, wie er wusste.

Etwas unschlüssig stand er vor dem Teich und betrachtete ihn. Irgendwie kam er sich dämlich vor. Er war hierher gerannt, in der naiven Hoffnung, Antworten zu erhalten. Was erwartete er denn? Das ein Fisch auftauchte und zu ihm sprach? Oder der Teich selbst?

„Oder vielleicht du?“, rief er der Holzstatue der Frau Holle zu.

Er beobachtete sie genau, doch die Figur rührte sich nicht.

Natürlich nicht!

Na ja, so schlimm war das Ganze auch wieder nicht. Er hatte schließlich schon gestern zum Teich gewollt. Und die Ruhe tat ihm gut, wie er merkte. Es war sogar absolut still. Kein Tier war zu hören, nicht mal ein Frosch quakte.

„Du bist einfach ein bisschen überarbeitet“, sagte er und nickte wie zur Bestätigung. „Es war ein hartes Semester, der Abschluss rückt näher“, dozierte er für sich selbst. Dumm nur, dass das Härteste an diesem Semester das Aufstehen nach langen Nächten in der Kneipe gewesen war.

Langsam wurde die Stille drückend, regelrecht unangenehm. Außerdem begann Michael zu frieren. Der Schweiß lag nass und kalt auf seiner Haut. Jetzt spürte er wieder, dass er zu leicht angezogen war. Er schlang die Arme um den Oberkörper, aber viel half es nicht.

Zwar war er einige Kilometer gerannt, aber doch keinen Schritt weitergekommen. Unter dem Strich war das eine blöde Kurzschlussreaktion gewesen. Er wollte sich gar nicht vorstellen, wie Vukic ihn ansehen würde, wenn er zurück kam …

„Du bist ein Trottel, Michael.“

Im hohen Gras stieß er mit dem Fuß gegen einen Stein, etwas kleiner als seine Faust. Er hob ihn auf und warf ihn wütend in den Teich. Es gab ein platschendes Geräusch, das dunkle Wasser spritzte hoch und fiel zurück. Von dem Punkt aus, an dem der Stein im Teich versank, breiteten sich kreisförmig Wellen aus, bevor sie schließlich ausliefen.

Auslaufen sollten, denn Michael bemerkte, dass sie stattdessen mit jeder Welle höher wurden. Und schneller! Rauschend liefen sie bis zum Ufer und schwappten sogar leicht über. Das konnte er unmöglich mit dem Steinwurf ausgelöst haben.

Immer noch entstanden neue Wellenringe. Mittlerweile waren sie gut fünf Zentimeter hoch und wuchsen weiter an. Michael trat einen Schritt zurück, doch dann hielt er inne und starrte mit offenem Mund auf das, was sich vor seinen ungläubigen Augen abspielte.

Das Wasser war nicht mehr so brackig und dunkel wie zuvor. Ausgehend vom Punkt des versunkenen Steins klarte es auf. Darunter glaubte Mike etwas auszumachen …

Er kniff die Augen zusammen.

Dicht unter der Wasseroberfläche schwammen Köpfe! Mit jeder auslaufenden Welle sah er mehr. Sie ploppten auf, als hätten sie am Grund des Teichs nur auf ihn gewartet. Zehn, zwölf, fünfzehn … es wurden immer mehr!

Ihre Gesichter waren eingefallen und bleich, aber nicht aufgedunsen wie bei Wasserleichen. Die Münder hatten sie zu stummen Schreien aufgerissen. Ihre Augen wirkten trüb, trotzdem war Michael sich sicher, dass sie ihn sahen.

Und inmitten der zur Armee anwachsenden Ansammlung von Schädeln erkannte er ein Gesicht. Zumindest eine Hälfte davon. Helena!

Sie erinnerte nur noch teilweise an die junge Frau, die gestern Abend mit ihm aufs Zimmer gekommen war. Die linke Gesichtshälfte hatte sich nicht verändert, die rechte hingegen … Michael wurde schlecht, wenn er daran dachte, dass er sie hatte küssen wollen. Denn die rechte Hälfte ihres Schädels war komplett verwest. Ihr geschlossener Mund war auf dieser Seite fast lippenlos, nur dünne Hautfetzen hafteten noch an ihr und bewegten sich träge im Wasser. Darunter sah er Zahnstummel, die ihn anzugrinsen schienen.

Die Haare waren nicht mehr als ein fransiger Vorhang. Ein Netz, welches ihn gefangen nehmen wollte. Ihr rechtes Auge rollte in der mit Wasser gefüllten Höhle umher und fixierte ihn dennoch.

Der Anblick schnürte ihm die Kehle zu.

Komm zu mir in mein Reich, erklang eine blubbernde Stimme wie aus weiter Ferne in seinem Kopf.

Er schüttelte den Kopf. Niemals!

Tu es!

Michael wich zurück. Weg, er musste hier weg! Dann hörte er über sich den Adler. Sollte er ihn doch erwischen, alles war besser, als von dieser lebenden Leiche berührt zu werden.

Er riss seinen Blick los und rannte davon. Schneller als auf dem Hinweg. Und diesmal bremste ihn auch das Seitenstechen nicht aus. Sein Körper drohte zu versagen, aber er schleppte sich weiter.

Der Schrei des Adlers wurde leiser. Verfolgte er ihn nicht? Egal! Weg, nur weg! Jeder Schritt fort von hier war gut.

Weglaufen bringt nichts, Mike!

Die Stimme war wieder in seinem Kopf. Er stöhnte auf, keuchte, japste nach Luft. Dann, am Eingang des Dorfs, brach er zusammen. Aus, vorbei. Er konnte nicht mehr. Sein Blick verschwamm, trotzdem kroch er noch ein Stück weiter.

Irgendwann packten ihn Hände. Er schlug um sich, traf auch, doch es half nichts. Sie hatten ihn. Stimmen redeten auf ihn ein, er verstand nichts. Dann stach etwas in seinen Arm – und alles wurde schwarz.

 

*

 

Langsam wurde es zur Gewohnheit für ihn, aus tiefer Bewusstlosigkeit zu erwachen. Er erwartete, erneut die ebenso vertraute Umgebung des Gasthofzimmers zu sehen, und war überrascht, als dem nicht so war.

Der Ort, an dem er stattdessen erwachte, war ihm fremd – trotzdem wusste er sofort, wo er sich befand. Egal in welcher Stadt oder in welchem Land, von innen glichen sich alle Krankenhäuser. Die gewollte Freundlichkeit, die trotzdem nicht die Kälte der funktionalen Einrichtung überdecken konnte, die weißen Laken, die typischen Schränke. Und vor allem … der Geruch.

Diese Mischung aus Desinfektionsmittel und Krankenhauskost. Kaum hatte er daran gedacht, knurrte Michael der Magen.

Zwei Sekunden später öffnete sich die Tür zu dem Zimmer, in dem er alleine lag. Er glaubte nicht, dass sein Magen so laut Hunger geschrien hatte, dass man ihn bis auf den Flur hörte, sondern eher, dass man ihn überwacht hatte.

Herein trat eine Schwester in typischer Dienstkleidung.

„Ah, Sie sind wach. Schön“, sagte sie und war etwas zu bemüht, ihrer Stimme einen überraschten Klang zu verleihen.

Michael nickte nur. Er wusste nicht, wie er hierhergekommen war. Das letzte, woran er sich erinnerte, war, wie er vor dem Anblick der Schädel im Frau-Holle-Teich geflohen war. Vor Helenas Fratze! Er zuckte bei der Erinnerung daran zusammen und stemmte sich gleichzeitig hoch, wobei sich ein scharfer Schmerz in seinem Arm bemerkbar machte. Irritiert blickte er auf die Stelle. Mit seiner hektischen Bewegung hatte er an dem Tropf gerissen, dessen Nadel unter seine Haut führte.

„Ganz ruhig, Sie sind in Sicherheit!“, sagte die Schwester in einem professionell-beschwichtigenden Tonfall und trat näher ans Bett heran, immer noch das einstudierte Lächeln auf den Lippen.

Obwohl er sich dagegen wehrte, verfehlte es seine Wirkung nicht. Langsam ließ er sich auf das Kissen zurücksinken und merkte dabei, wie unbequem es war. Er veränderte vorsichtig seine Lage, bis er zufrieden war, dann blickte er der Schwester – Tanja war ihr Name, wie ein Schild an der Brust verriet – erwartungsvoll entgegen. Die fühlte sich anscheinend zu einer Frage genötigt.

„Wie geht es Ihnen?“

„Wie bin ich hierhergekommen?“, antwortete er mit einer Gegenfrage.

„Sie erinnern sich nicht?“

„Würde ich sonst fragen?“

„An nichts?“

Langsam hatte er genug von den Fragen. Antworten wären ihm lieber. „Nein, an nichts. Zumindest nicht an den Transport hierher.“

Schwester Tanja nickte verständnisvoll. „Man fand Sie nassgeschwitzt und ziemlich unpassend gekleidet am Eingang von Vockerode. Ein Passant wollte Ihnen aufhelfen, aber sie schlugen um sich. Das taten Sie auch, als ein weiterer Mann dazu kam. Schließlich wussten die beiden Herren sich nicht mehr zu helfen und informierten den Rettungsdienst. Die Kollegen haben Ihnen dann etwas zur Beruhigung verabreicht und Sie mitgenommen.“

Michael kramte in seinem Gedächtnis nach Anhaltspunkten, ob die Geschichte stimmte. Doch außer den Händen, die er auf seinem Körper gespürt hatte, gab es keine. Aber welchen Grund sollte die Schwester haben, ihn anzulügen? Er akzeptierte also ihre Version und nickte schwach.

„Wie geht es jetzt weiter?“, fragte er.

„Da Sie sich an nichts erinnern, wird der behandelnde Arzt Sie bestimmt untersuchen wollen.“

„Hey, ist nicht so, dass ich mich an nichts erinnere. Nur eben nicht an den Transport hierher.“

„An das davor schon?“, hakte sie nach.

Er nickte.

„Und? Was ist da geschehen?“

Stumm blickte er ihr ins Gesicht. Wie sollte er erklären, was ihm widerfahren war? Im Frau-Holle-Teich schwimmt eine große Sammlung von Schädeln? Und mit einem davon habe ich mich tags zuvor noch unterhalten und … Wenn er das sagte, würden die Untersuchungen sicher bald anders aussehen.

Andererseits … vielleicht wäre das ja gar nicht verkehrt. Denn irgendetwas schien nicht mit ihm zu stimmen. Riesenadler, eine Frau, die nur er sah und die später als untoter Kopf in einem Teich aus Schädeln auftauchte, Stimmen, die nur er hörte … zugegeben, die Anzeichen, dass in seinem Oberstübchen mehr als nur die berühmte Schraube locker war, ließen sich nicht verleugnen.

Trotzdem hatte er wenig Lust, sich Schwester Tanja anzuvertrauen. Die schien sein Schweigen falsch zu deuten, denn sie sagte: „Es ist wohl besser, wenn ich jetzt Dr. Mertens informiere.“

Er nickte. Was sollte er auch sonst tun?

Schwester Tanja wollte gerade gehen, als er sie zurückhielt. „Eine Frage noch.“

„Ja?“

„Ist mein Smartphone irgendwo?“

„In der Schublade im Schränkchen sollte es sein.“

Er zog die Schublade auf und fand sein Handy.

„Danke“, sagte er und blickte demonstrativ auf das Display.

„Ruhen Sie sich aus. Dr. Mertens wird sicher noch heute nach Ihnen sehen.“

Das fürchte ich auch.

Er wartete, bis die Tür sich hinter der Schwester schloss, dann atmete er tief durch. Drehte er gerade durch? Er hatte keine Ahnung, wie sich das anfühlte und ob man das selbst überhaupt registrierte.

Er seufzte. Schwester Tanja hatte er noch abwimmeln können. Beim Arzt würde ihm das sicher nicht so leicht gelingen. Mehr als eine Galgenfrist hatte er also nicht herausgeholt.

Nun ja, niemand konnte ihn zwingen, etwas zu sagen. Und er war erwachsen, also konnte er sich auch jederzeit selbst entlassen. Aber vielleicht war es ganz gut, wenn der Arzt ihn durchcheckte.

Die Zeit, bis dieser Dr. Mertens auftauchte, wollte er in jedem Fall nutzen.

Michael rief eine Suchmaschine auf und tippte zwei Begriffe ein: Helena und Kreuzigung. Er war sich sicher, dass diese Frau der Ursprung all dessen war, was ihm gerade widerfuhr.

Wenn sie denn wirklich existiert!

„Halt die Fresse, Verstand!“

Super, Selbstgespräche. War das nächste Level schon erreicht? Er blickte zur Tür. Wenn Dr. Mertens das mitbekommen hätte … Zum Glück blieb die Tür zu.

Was er kaum zu hoffen gewagt hatte, traf ein. Seine Suche lieferte ihm zahlreiche Ergebnisse. Er klickte direkt auf den ersten Link, der ihn zu einem bekannten Onlinelexikon führte.

„Helena, Mutter Konstantins des Großen“, las er laut.

Okay, der Name hätte auch zu unzähligen anderen Frauen führen können. Es musste also eine Information in dem Artikel geben, die ihn an die erste Stelle der Ergebnisse setzte. Weit musste er nicht scrollen, um herauszufinden, welche das war.

„Heilige Scheiße“, stieß er beim Lesen aus.

Wenn der Artikel stimmte, hatte diese Helena dafür gesorgt, dass das Kreuz, an dem Jesus Christus starb, im vierten Jahrhundert wiedergefunden wurde. Der Legende nach entdeckte sie dabei sogar drei Kreuze. Das richtige erkannte man dadurch, dass ein Toter, den man nacheinander auf alle drei Relikte legte, auf Jesu Kreuz wieder zum Leben erwachte.

Anschließend teilte man das Kreuz in drei Teile. Einer verblieb in Jerusalem, ein weiterer gelangte in den Vatikan und soll sich noch heute dort befinden, während Helena den dritten Teil ihrem Sohn nach Konstantinopel schickte, wo er im Jahre 1204 nach der Eroberung durch Kreuzritter in viele kleine Splitter zerlegt wurde, die unter den siegreichen Rittern verteilt wurden und so ihren Platz in christlichen Klöstern und Kirchen fanden.

Die Geschichte war ja durchaus interessant, aber vermutlich nur eine Legende. Oder? Sicher war Michael sich da nicht wirklich. In jeder Legende steckte ja auch ein Körnchen Wahrheit.

Aber was hieß das für ihn? Wollte diese Helena etwa, dass er sich auf die Suche nach den Splittern des Kreuzes begab, um es wieder zusammenzusetzen? Unwillkürlich schüttelte er den Kopf. Das war doch einfach nur irre!

Dennoch musste er zugegeben, dass ihm diese Theorie stärker zusagte als jene, die er sich selbst zurechtgelegt hatte. Er hatte nämlich schon fantasiert, dass ihm ein Geist aus dem Totenreich Hinweise auf ein Verbrechen lieferte. Zum Beispiel auf einen bisher unbehelligten Serienmörder, der die Schädel seiner Opfer im dunklen Wasser des Frau-Holle-Teichs versenkte. Nein, das war noch bekloppter!

Unwillkürlich lachte er laut auf. Genau in dem Moment öffnete sich die Tür. Neben Schwester Tanja kam ein Mann im Arztkittel herein. Das Lachen blieb Mike im Hals stecken. Verdammt, hatten sie das gehört? Wie sollte das nur auf den Mediziner wirken?

Wie ein ertappter Schüler ließ er das Handy in der Schublade verschwinden. Der Arzt schien jede seiner Bewegungen genau zu verfolgen.

„Herr Hanke, wie geht es Ihnen?“, fragte der Arzt, ohne sich selbst vorzustellen.

Sehr sympathisch!

„Gut, danke.“

„Hmm“, brummte der ältere Mann etwas in seinen nicht vorhandenen Bart. Fehlte nur noch, dass er seinen Stift aus der Kitteltasche zückte und etwas auf einem Block notierte. Was für eine Art von Arzt war das überhaupt?

„An was erinnern Sie sich?“, fragte er.

„An alles, bis auf den Transport hierher. Aber darüber hat mich Schwester Tanja ja schon aufgeklärt“, sagte er und versuchte ein Lächeln.

Während die Schwester es sofort erwiderte, blieb das glattrasierte Gesicht des Arztes ohne jede Regung. „Hmm“, brummte er erneut. „Was ist denn vorher geschehen?“

„Ich hab mich einfach beim Joggen übernommen. Bin halt ziemlich außer Form“, log Michael. Die Geschichte hatte er sich gerade zurechtgelegt. Es war ihm egal, ob man sie ihm glaubte. Trotzdem versuchte er in Dr. Mertens Gesicht zu erkennen, was der darüber dachte.

„Joggen. Hmmm.“

Dieses Brummen nervte ihn gewaltig.

„In Straßenschuhen?“

Verdammt. Der Arzt war ein guter Beobachter. „Äh, ja. Ich hatte meine Laufschuhe nicht eingepackt.“

„Sie stammen nicht von hier?“

„Nein, ich bin nur ein Tourist.“

Wenn er jetzt wieder brummt, dann frage ich ihn, ob er ein Bär ist!

„Wo sind Sie untergekommen?“

„Im Landgasthof Meißnertal“, gab Michael bereitwillig Auskunft. Er sah keinen Grund dafür, das geheim zu halten.

„Möchten Sie dort jemanden informieren, dass Sie heute nicht zurückkommen? Ich würde Sie gerne über Nacht zur Beobachtung hierbehalten und morgen früh ein paar Untersuchungen mit Ihnen machen.“

„Morgen früh?“, fragte Michael überrascht.

„Ja. Sie sehen nicht wie ein dringender Notfall aus, wir können uns also etwas Zeit lassen. Eine Nacht Ruhe wird sicher schon Wunder wirken. Unter Beobachtung natürlich.“

Michael wollte eigentlich sofort widersprechen, einer Eingebung folgend, entschied er sich dann aber dafür, zuzustimmen. Im Bett des Gasthofs hatten ihn bisher ohnehin nur seltsame Träume gequält. Vielleicht schlief er hier tatsächlich besser.

„Kein Problem“, sagte er daher.

„Prächtig. Also wäre das geklärt. Gibt es denn noch wen, den Sie informieren möchten?“

Michael überlegte, ob er den Wirt Vukic in Kenntnis setzen sollte, doch den ging es eigentlich nichts an, wo er sich aufhielt. Er schüttelte den Kopf.

„Prächtig“, wiederholte der Arzt und nickte Michael zum Abschied zu. Er war froh, dass er ihn los war. Von Schwester Tanja wollte er allerdings noch etwas.

„Schwester?“

„Ja?“

„Ich habe einen Bärenhunger.“

Muss an diesem Gebrumme liegen …

„Ich bringe Ihnen gleich etwas.“

„Danke.“

Als die Tür zufiel, lehnte Michael sich zurück. Sein Blick richtete sich starr auf die Decke. Er hoffte, dass er bald etwas zu essen bekam und der Krankenhausfraß erträglich war. Und noch mehr hoffte er, dass er nicht wirklich von einer Kaiserinmutter aus dem vierten Jahrhundert dazu auserkoren worden war, nach den Überresten von Jesu Christi Kreuz zu suchen.

 

Die restlichen Stunden des Tages vergingen wie im Flug. Untersuchungen und unregelmäßige Kontrollbesuche der Schwestern lenkten Michael von seinen wilden Gedanken ab. Im Anschluss an das sogar einigermaßen genießbare Abendessen hatte er sich ein leichtes Schlafmittel geben lassen, denn er wollte sich nicht nur auf die neue Umgebung verlassen, um diesen Träumen zu entgehen. Am nächsten Morgen erwachte er ausgeruht. Er hatte geschlafen wie ein Stein. Vor allem – traumlos.

Man hatte ihn sogar ausschlafen lassen. Anscheinend war die Klinik klein genug oder mit ausreichend Personal ausgestattet, dass die Patienten nicht gefühlt mitten in der Nacht geweckt werden mussten, damit die Zimmer gemacht werden konnten. Was Mikes Meinung nach eher zur Verschlechterung des Gesundheitszustands führte. Aber ihn fragte ja keiner.

Er schlug die Decke zurück und streckte sich, dazu gähnte er laut. Als hätte man nur darauf gewartet, wurde die Tür geöffnet.

Michael hatte damit gerechnet, Schwester Tanja oder Dr. Mertens zu sehen. Stattdessen trat ein ihm fremder Mann in das Zimmer. Er schloss die Tür hinter sich und lächelte ihn an.

„Gut geschlafen, Herr Hanke?“

Michael nickte. „Danke, ja. Sehr gut, Doktor …“

Er dehnte das letzte Wort, um den Namen zu erfahren.

„Dr. Kilian, Lorenz Kilian. Ich würde gerne mit Ihnen sprechen, Herr Hanke.“

„Sprechen?“

Der Arzt lachte. „Sie können auch untersuchen sagen, wenn Ihnen das lieber ist.“

„Nennen wir das Kind ruhig beim Namen.“

Dr. Kilian nickte. „Sie haben recht.“ Der Mediziner zog sich einen Besucherstuhl heran und setzte sich. „Man hat mich gebeten, Sie mal in Augenschein zu nehmen.“

„Ich hatte mit Dr. Mertens gerechnet“, sagte Michael und konnte gar nicht sagen, warum. Der Arzt war nicht unsympathisch und hatte ihn auch nicht durch sein Verhalten in Alarmstimmung versetzt. Aber tief in seinem Inneren regte sich eine Unruhe, von der er gehofft hatte, dass die traumlose Nacht sie vertreiben würde.

„Die Nachtschicht des Kollegen ist vorbei.“

Hätte ich mir eigentlich denken können.

Da er schwieg, sprach der Arzt weiter. „Sie sind gestern hier nach einem, sagen wir mal … Schwächeanfall eingeliefert worden.“

Michael nickte.

„Haben Sie eine Idee, was der Grund für diesen Anfall gewesen sein kann?“

„Nein, habe ich nicht, Herr Doktor.“

Der Arzt schlug seine schlanken Beine übereinander und legte die Fingerspitzen aneinander. „Es gibt also keine körperlichen Beeinträchtigungen, die Ihnen bekannt sind?“

„Nein. Also, ich bin nicht wirklich in Form“, sagte Michael und strich mit der Hand über seinen Bauchansatz. „Sport ist nicht so meins. Aber sonst …“ Er dachte tatsächlich nach, ob es irgendetwas gab, aber seine Krankengeschichte war doch ziemlich kurz, nachdem er die üblichen Kinderkrankheiten wie Mumps und Windpocken überstanden hatte. Das sagte er Dr. Kilian auch.

Der nickte bedächtig. „Aber dass es einen Grund geben muss, das ist Ihnen klar.“

Michael zuckte mit den Schultern.

„Nun, wenn es nichts Körperliches ist, dann …“

„Was für ein Arzt sind Sie eigentlich?“, unterbrach Michael den Doktor reichlich schroff.

Die Mundwinkel des Mannes zuckten kurz. „Ich bin Psychiater.“ Irgendetwas an Michaels Gesichtsausdruck ließ ihn auflachen. „Oh, Sie glauben gar nicht, wie oft ich so angesehen werde. Jeder, der Psychiater hört, befürchtet gleich, dass er in eine geschlossene Abteilung eingewiesen wird. Ich kann Sie beruhigen, so etwas habe ich nicht vor. Das geschieht nur bei wirklich schweren Fällen.“

Vielleicht sitzt ja gerade genau so einer vor dir …

„Es gibt also keinen Grund für Scheu. Sie können frei sprechen.“

„Warum nehmen Sie an, dass es etwas zu erzählen gibt?“

Wieder lächelte der Arzt. „Sagen Sie es mir. Gibt es etwas zu erzählen?“

Michael antwortete nicht. Der Arzt schwieg ebenso. Anscheinend wollte er ihm die notwendige Zeit geben, sich die Antwort gut zu überlegen. Das tat Michael. Er rang mit sich.

Doch was genau hielt ihn zurück? Vielleicht tat es ihm ja gut, sich jemandem anzuvertrauen? Vielleicht war es sogar verdammt notwendig und er benötigte eine Therapie, Medikamente oder was auch immer!

„Also gut, Herr Dr. Kilian“, sagte er, „es gibt da wohl tatsächlich so einiges zu erzählen.“

Der Arzt lehnte sich zurück und sah ihn aufmerksam an. „Ich bin ganz Ohr, Herr Hanke.“

„Alles fing damit an, dass mich ein überdimensionaler Adler angriff“, begann Michael seine Geschichte. Er fragte sich, ob das wirklich ein gelungener Einstieg war, doch wenn bei dem Arzt die Alarmglocken läuteten, war ihm nichts davon anzumerken.

Also sprach Mike weiter und ließ nichts aus. Weder die plötzlich verschwundene Frau, die anscheinend nur er sehen konnte, noch die Totenschädel im Teich oder seine Vermutung über die tote Kaiserinmutter. „Und dann konnte ich nicht mehr und bin zusammengebrochen. Den Rest kennen Sie“, beendete er seinen Bericht.

Gebannt wartete er auf eine Reaktion des Arztes, die auf sich warten ließ. Glaubte er ihm? Oder klingelte er gleich nach zwei bulligen Wärtern, die ihn in eine Zwangsjacke steckten? Verdammt, vielleicht hätte er doch besser geschwiegen. Was hatte ihn nur geritten, jemandem davon zu erzählen? Das konnte ganz üble Konsequenzen haben. Er wollte gerade so tun, als hätte er sich das Ganze nur ausgedacht, als Dr. Kilian endlich eine Regung zeigte.

„Nun, Herr Hanke, ich glaube, für all das gibt es eine rationale Erklärung.“

Michael riss die Augen auf. Mit vielem hatte er gerechnet, aber nicht damit.

„Aber natürlich. Sehen Sie, die Attacke des Adlers wird es gegeben haben. Wahrscheinlich war es auch ein außergewöhnlich großes Tier. Die Panik hat ihre Wahrnehmung dann etwas, sagen wir mal … maßstabslos werden lassen. Und die Frau auf dem Parkplatz … sie wird einfach in eine Richtung verschwunden sein, in der Sie sie nicht mehr sehen konnten. Bedenken Sie doch einfach den toten Winkel.“

Michael musste zugeben, dass das nicht unlogisch klang. Ganz überzeugt war er trotzdem nicht. „Und das Wiedersehen im Restaurant?“

„Wird es gegeben haben.“

„Aber warum streitet der Wirt es ab?“

„Die Erinnerung der Menschen ist oft nicht die beste. In seiner Eigenschaft als Wirt sieht der Mann sicher viele Gäste. Vielleicht trinkt er dabei auch noch den einen oder anderen Schluck.“

Michael dachte an Vukics selbstgebrannten Fusel und nickte. Er selbst hatte ja schon ordentlich Schlagseite gehabt. Rückblickend konnte er auch nicht mehr sagen, ob er sich an alle Einzelheiten korrekt erinnerte.

„Und die Schädel im Teich?“

„Eine Überreaktion ihres Unterbewusstseins, ausgelöst durch den Angriff des Adlers an genau diesem Ort, hervorgerufen durch die Eindrücke, als sie den Teich wieder aufsuchten. Da die Arbeit an Ihrer Bachelorarbeit stockt, stehen Sie einfach unter einem enormen Stress. Sie sehen, für alles davon gibt es eine natürliche Erklärung.“

„Und …“

„Helena? Nur ein Zufall. Sie merken ja, die Nacht hier in der neuen Umgebung hat Ihnen gutgetan. Sie hatten keinen weiteren Traum. Achten Sie in Zukunft einfach auf mehr Ruhe und appellieren Sie an Ihre Vernunft, wenn noch einmal etwas Ähnliches geschieht. Ich glaube übrigens nicht, dass es sich wiederholen wird.“

Aufmunternd lächelte der Arzt ihn an. Mike erwiderte das Lächeln, wenn auch etwas gezwungen. Trotzdem war er froh über die Einschätzung des Doktors. Er war nicht durchgedreht. Für alles gab es eine Erklärung. Besser konnte es doch gar nicht sein.

„Ich danke Ihnen, Herr Doktor“, sagte er.

„Nichts zu danken. Sie können das Krankenhaus dann auch verlassen, weitere Untersuchungen sind nicht nötig. Ich regle den Papierkram für Sie, dann müssen Sie sich nicht damit aufhalten.“

„Vielen Dank noch einmal.“

„Nichts zu danken“, wiederholte der Arzt und verabschiedete sich mit einem kurzen Winken.

Als er die Tür hinter sich schloss, fühlte Michael sich wesentlich besser. Er war froh, dass er nicht länger im Krankenhaus bleiben sollte. Eilig packte er seine Sachen – viel war es ja nicht – und verließ das Gebäude.

Draußen vor der Tür atmete er tief durch. Die Luft war kühl und belebte seinen Geist.

„Dann wollen wir mal schauen, wie wir zurück in den Gasthof kommen“, sagte er gut gelaunt zu sich selbst und sah sich um.

NEIN!

Michael fror in der Bewegung ein. Die wohlbekannte Stimme donnerte so laut durch seinen Schädel, dass ihm leicht schwindlig wurde.

Nicht in den Gasthof! Nach WIEN!

 

Studi-Stress, blühende Fantasie, Wahnsinn oder doch eine Fügung des Schicksals? Ob Michaels Reise ihn nun zurück in den Gasthof oder direkt nach Wien führt: Das sollten Sie keinesfalls verpassen – weiter gehts in SUPER PULP Nr. 12.

 

OLIVER MÜLLER, 1983 in Marl geboren, hat vor ein paar Jahren das Schreiben für sich entdeckt. Seit mehr als zwei Jahrzehnten Fan von Heftromanen, gehört er heute selbst zum Autorenteam der Bastei-Lübbe-Serien „Geisterjäger John Sinclair“, „Professor Zamorra – Meister des Übersinnlichen“ und „Maddrax – Die dunkle Zukunft der Erde“. Im Bereich Science-Fiction erschienen zwei Romane in der Serie „Deinoid XT“ im Verlag Peter Hopf, ansonsten schrieb und schreibt er auch für Raumschiff Promet, Rex Corda und Ad Astra. Wenn er die Zeit findet, schreibt er gerne Kurzgeschichten, was diverse Veröffentlichungen in Anthologien und seine Auszeichnung mit dem Vincent Preis 2018 in der gleichnamigen Kategorie beweist. Die übrige Zeit widmet er seiner Sammlung von Tausenden Heftromanen und Hörspielen, die er bis zur Rente weder komplett lesen noch hören wird.

DIE TAUMELNDE KRÄHE

 

Mira Troublemaker ist zurück und heftet sich an die Fersen des abgetauchten David – der angesichts seines Nervenzusammenbruchs während der rituellen Bestrafung von Jennifer in ziemlichen Schwierigkeiten steckt. Doch auch die Troublemakerin selbst hatte schon bessere Tage: Die subtile Drohung von Sarah, ihrer neuen Auftraggeberin, und die Gewissheit, dass David sie vor seinem Verschwinden ausfindig gemacht hatte, hängen wie ein Damoklesschwert über ihr. Die Frage ist nicht ob, sondern wann es auf sie herunterkracht.

 

’Ner verdammten Aktenschubserin von der Stadt hätte sie so viel … Überzeugungskraft nicht zugetraut. Es war nicht das erste Mal, dass jemand Mira in Bedrängnis bringen wollte. Normalerweise versuchten das irgendwelche Machos, deren Ego sie erfolgreich angekratzt hatte. So wie im Fall von David, wobei der ihrer Erinnerung nach eher ein Möchtegern war, der toxische Männlichkeitsbilder zwar verinnerlicht hatte, ihnen selbst jedoch in keiner Weise standhielt.

Mit angehaltenem Atem starrte sie auf den Bildschirm seines Laptops. Angeblich hatte Sarah das alte Ding im Zimmer ihres Halbbruders gefunden, der aufgrund seiner Arbeitslosigkeit noch bei den Eltern lebte. Falls dem so war, erschien es Mira umso sicherer, dass David nicht aus freien Stücken gegangen oder zumindest weggeblieben war. Denn bereits bei einem flüchtigen Blick in die Ordner und Dokumente hatte sie jede Menge kranken Scheiß entdeckt – es konnte schlichtweg nicht in Davids Interesse sein, dass jemand anderes Zugriff darauf erhielt.

Zunächst musste Mira herausfinden, welche Informationen der junge Mann über sie gesammelt hatte, denn schließlich waren sie das Druckmittel, mit dem sich Sarah ihre Unterstützung bei der Suche nach David sicherte. Und wenn der Verwaltungsfachangestellten ihre Ergebnisse nicht gefielen, verpfiff sie die Troublemakerin vielleicht wirklich bei der Polizei.

Seufzend wandte sich Mira einem Ordner zu, der mit einer Zahlenfolge benannt war, die sie unschwer als das Datum ausmachte, an dem sie David aus Leilas Leben gekickt hatte. Dort befanden sich unzählige aktuelle Fotos von ihr, die der kleine Stalker unbemerkt geschossen hatte. Wenn ich dich in die Finger bekomme! Die Aufnahmen machten Mira außerordentlich sauer, halfen ihr aber nicht weiter, weshalb sie den Trip durch die gleichsam krude wie eintönige Foto-Love-Story abbrach und stattdessen das einzige Textdokument öffnete.

Dort waren stichpunktartig einige ihrer Jobs aufgelistet: Klient, Problembeschreibung, Bezahlung, Vorgehensweise, dabei gebrochene Gesetze. Details, die außer ihr nur der Auftraggeber selbst wissen konnte. Hat mich dieser Scheißkerl dafür gebucht?

Über ihr Kontaktformular, verschiedene E-Mail-Adressen und damit verbundene PayPal-Accounts wäre das sicherlich möglich gewesen, wenngleich sich die Frage stellte, woher er das Geld dafür nahm. Doch warum er nach so langer Zeit überhaupt ein Interesse an ihr entwickelt hatte, blieb ihr ein absolutes Rätsel. Lag es an seiner Verbindung zu den Söhnen von Deutschland? Was genau erhoffte er sich davon, war das Teil eines größeren Plans oder folgte er lediglich einer neuen Obsession, seit er sie – wie auch immer – wiedergefunden hatte?

Fuck. Nein, so einfach war es nicht. Bei einem genaueren Blick auf die Liste stellte sie fest, dass einer der Aufträge definitiv nicht von ihm stammen konnte.

In ihrer Nase breitete sich der unerträgliche Gestank von Kuhdung aus. Sie erinnerte sich leider mit allen Sinnen daran, wie sie nach Einbruch der Dunkelheit ein paar Kilo Rinderkacke auf einen überdimensionierten SUV platschen ließ, den sein Besitzer grundsätzlich vor der Garage einer alten Dame parkte. Die rüstige Rentnerin kam dann regelmäßig nicht an ihr Werkzeug für die Gartenarbeit heran, außerdem fürchtete sie, dass ihr Sohn – der Mira letztlich beauftragt hatte – sie noch seltener besuchen würde, wenn er immer erst nach einem Parkplatz in der Nähe suchen musste. Also regnete es vom Flachdach der Garage Kuhfladen auf das Auto des rücksichtslosen Nachbarn, der danach kein Wort mehr mit der Hausbesitzerin sprach und sich endlich von ihrem Grundstück fernhielt.

Mira hatte wiederholt mit dem Auftraggeber telefoniert und konnte somit ausschließen, dass David dahintersteckte. Woher wusste der Kerl, wann und wo sie unterwegs war? Ihr wurde flau im Magen.

Erneut scrollte sie sich durch die Bilderflut, diesmal systematischer. Sie suchte nach der Verbindung zwischen den Jobs in der Liste und den Aufnahmen, auf denen sie unfreiwillig die Hauptattraktion war – mit überschaubarem Erfolg.

Die Fotos zeigten sie wahlweise als Cindy, das blonde Püppchen, Jessica, das saufende Metal-Weibchen mit den langen Dreadlocks oder als die brillenbewehrte Streberin Annika. Sie ließ bei ihren Tarnungen kaum ein Klischee aus, was vermutlich der Grund dafür war, weshalb ihre Mitmenschen darauf ansprangen wie der Pawlowsche Hund auf die elende Glocke. Und in mancher Verkleidung fand sie einen Teil von sich wieder, der irgendwo auf der Reise zu ihrem heutigen Ich verschüttgegangen war. Gut, nicht unbedingt im Püppchen, aber sie hatte sowohl einige Jahre zum Inventar einer Metal-Kneipe gehört als sich auch eine kurze Zeit in haarsträubender Überanpassung versucht. Langfristig gesehen war beides scheiße: Zu ihrer Lebensphase als Metalhead gehörten zu viel Bier, Met und Wodka; das halbe Jahr als Streberin verzweifelte sie daran, einen schlafenden Hund namens Perfektionismus geweckt zu haben.

Doch hin und wieder war es spannend, sich in altbekannte Welten zu stürzen, zumal sie immer noch ein großes Herz für Melodic Death Metal und eine noch größere Lust an Männern vom Typ langhaariger Bombenleger hatte. Nur schade, dass in so vielen von ihnen unverbesserliche Romantiker steckten, die nach mehr als sexuellen Abenteuern suchten. Auf Raves ging deutlich mehr in der Horizontalen, die Männer dort entsprachen allerdings nur selten ihrem Beuteschema. Wenn sie dagegen an den Barkeeper vom Excalibur mit seinen langen schwarzen Haaren und dem Lincoln-Bart dachte, wurde sie sofort wuschig.

Echt jetzt? Wie wäre es, wenn du dich erstmal um deinen eigenen Arsch kümmerst, bevor du zu dem von Jokke in seiner schwarzen Lederhose masturbierst?

Na, wenn das nicht die olle Streberin ist …

Die war definitiv die Spaßbremse in dem vielstimmigen Chor ihrer Dark Half, die ihr ständig amüsante Gehässigkeiten, naive Ratschläge oder Belehrungen zuflüsterte.

Das Schrillen ihres Prepaidhandys ließ Mira zusammenfahren. Missmutig meldete sie sich und wurde von einer angenehmen, wenngleich etwas unsicheren Stimme begrüßt. Es dauerte ein wenig, bis sie verstand, dass sich der Kerl wegen einer ihrer Anzeigen meldete und nach einem Bewerbungsgespräch fragte. Was etwas merkwürdig war, da sie in der Annonce explizit nach weiblicher Unterstützung gesucht hatte.

„Du möchtest also meine Mitarbeiterin oder Partnerin werden … Ich will dich ja nicht wegen deiner tiefen Stimme diskriminieren, aber – und das meine ich nicht ganz wertneutral – du klingst wie ein Kerl.“

„Äh, ich bin ein Kerl!“

„Dann habe ich heute leider kein Foto für dich. Oder einen Job.“

„Weil ich ein Mann bin? Das ist Diskriminierung!“

Hach, wie oft hatte sie ähnliche Diskussionen schon geführt. Offensichtlich nicht oft genug.

„Hör mal, Schnuckelchen … Darf ich dich Schnuckelchen nennen, ja? Ist auch nicht böse gemeint. Du kannst nicht wegen heteronormativer Männlichkeit diskriminiert werden, weil du qua Geschlecht zu den Privilegierten gehörst und bevorteilt wirst.“

„Äh …“

„Bekommst du mehr Geld für den gleichen Job, für den du eher eingestellt wirst als eine Frau? Wirst du prinzipiell vor deiner Kollegin befördert?“

„Äh … vielleicht?“

„Ziemlich sicher sogar. Wie gesagt: Du kannst gar nicht diskriminiert werden, denn strukturell wirst du bevorzugt.“

„Es ist trotzdem gemein. Und im Augenblick trifft das ja nicht zu, ich suche schließlich einen Job und du willst mir nicht einmal eine Chance geben.“

„Ja, das stimmt. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob das was mit uns wird. Aber wenn du meine Prüfung bestehst, kannst du vielleicht anfangen.“

Entweder war der Typ – Tom Irgendein-genuschelter-Nachname – abenteuerlustiger, als er klang, oder die pure Verzweiflung trieb ihn zu der hastigen Zusage, noch heute Abend bei ihr aufzukreuzen.

Mira konnte es recht sein – sie hatte derzeit selbst keinen Grund, wählerisch zu sein. Nach mehreren Wochen hatte sich bislang nur er gemeldet. Sie hatte die Stellenausschreibung absichtlich schwammig formuliert, außerdem bot sie darin eine unterirdische Bezahlung. Nicht alle Klienten waren so spendabel wie ihr letzter Auftraggeber; mit den meisten musste sie eine Weile feilschen, damit sich ihr Einsatz überhaupt finanziell lohnen würde. Zugleich konnte sie sich vor Anfragen kaum retten, da Menschen … nun ja, oft genug Idioten waren.

Apropos Idioten … Es war Zeit für einen zweiten, tieferen Einblick in die reichlich gestörten Rachefantasien von David.

In dem Ordner „Liebesbriefe an Leila“ verbargen sich ausschweifende Gewaltexzesse, bis ins kleinste Detail geplant. Sogar die möglichen Reaktionen seines früheren Obsessionsobjekts hatte er festgehalten, wollte offensichtlich selbst hierfür vorbereitet sein. Dabei schreckte er auch vor sexueller Gewalt nicht zurück, sie zog sich wie ein blutroter Faden durch jedes einzelne Textdokument. Nichts davon war besonders originell, doch das machte es nicht weniger grausam. Und er stand offenbar auf Messer, vor allem in Verbindung mit weiblichen Körperöffnungen. Ein weiterer Ordner namens „Inspiration“ enthielt zahlreiche Aufnahmen von verstümmelten Frauen. Einige der Szenen und vermeintlichen Opfer waren Mira aus Horrorfilmen vertraut, bei anderen Fotos musste sie hingegen schlucken: Sie kannte sicherlich nicht jeden Brutalo-Streifen, aber zum Teil wirkten die Aufnahmen erschreckend echt. Gleiches galt für die kurzen Videosequenzen von Vergewaltigungen. Als ein kaum erkennbarer Hüne einer wimmernden jungen Frau ein Bowiemesser in den Anus rammte, klappte Mira das Netbook zu.  

Den verdammten Wichser soll ich retten? Es wirkte eher so, als müsste die Welt vor David und seinen Gewaltfantasien gerettet werden. Zumindest die weibliche.

 

*

 

Sein großer Zeh stieß gegen etwas Hartes. Sein Rücken schmerzte. Ebenso die Hände und sein Brustkorb, die Arme waren hingegen taub und unfähig, sich zu bewegen. Obwohl er die Augen geöffnet hatte, konnte er nichts erkennen. Wo war er? Seine Füße fanden erneut die Begrenzung am unteren Ende, Zehennägel kratzten über Holz. Vorsichtig bewegte David die Hüfte und langsam floss das Blut wieder in seine Gliedmaßen, begannen tausend kleine Ameisen seine Arme zu malträtieren. Drecksviecher! Mit einem Mal kehrten auch die Erinnerungen zurück: an die Bestrafung von Jennifer, seine prominente Rolle in dem Ritual – sein Scheitern. Die verfluchten Käfer hatten alles zunichtegemacht.

Er stützte sich auf die Hände und wollte sich aufsetzen, dabei knallte sein Kopf gegen eine hölzerne Wand. Erst jetzt registrierte er, dass sein nackter Körper gänzlich auf Planken lag und – er tastete seine Umgebung ab – sogar vollständig von ihnen umgeben war. Ein Sarg? Davids Atem beschleunigte sich. Dabei strömte ein erdiger Geruch in seine Nase, der ihm schreckliche Gewissheit gab: Die hatten ihn lebendig begraben!

Seine Augen konnten sich nicht an die Dunkelheit gewöhnen. Er ging davon aus, dass er ein oder zwei Meter unter der Erde vermutlich auch nach Stunden nicht dazu in der Lage war, etwas zu sehen. Eher würde er sterben, als jene Finsternis zu durchdringen … Nein, so schnell gab er nicht auf. Wieder tasteten seine Finger die Umgebung ab, diesmal systematischer.

Es änderte nichts am Ergebnis, nichts an seiner Lage. Die Söhne hatten ihn fallengelassen, sich von ihm abgewandt. Wie so oft war er auf sich allein gestellt.

Mit voller Kraft stieß er die Handflächen nach oben, doch abgesehen von einem stechenden Schmerz in seinem linken Handgelenk bewirkte es nichts. Mit den Füßen hatte er ebenso wenig Erfolg, als er mehrfach gegen das untere Ende des Sargs trat. Das Holz blieb eine starre Barriere, lediglich einzelne Splitter lösten sich heraus und drangen wie feine Nadeln in sein Fleisch ein.

Obwohl er keine Kleider am Leib trug, war es ausgesprochen warm in seinem Gefängnis. In seinen Achselhöhlen, auf seiner Brust und zwischen den Oberschenkeln spürte er feuchte Stellen, Oberlippe und Stirn waren regelrecht in Schweiß gebadet. Wütend knallte er seine rechte Faust gegen die Planken, der dumpfe Laut kam ihm wie Hohn vor.

Ihn überkam das Gefühl, dass sich die Welt um ihn herum drehte. War das schon der Sauerstoffmangel? Wie lange war er bewusstlos gewesen und seit wann in seinem Grab gefangen? Wider besseres Wissen atmete er schneller, trat erneut mit Fersen und Handballen gegen sein Gefängnis, bis er ein Knacken hörte und in der Bewegung erstarrte, ja sogar den Atem anhielt. Woher war das Geräusch gekommen? Er glaubte, etwas mit seinem rechten Fuß zerdrückt zu haben. Vorsichtig drehte er ihn, um mit den empfindsameren Zehen danach zu tasten. Da! Er spürte etwas, das nicht zum Sarg gehörte. Es war eine komische Masse, Teile davon fühlten sich weich und klebrig an, während der Rest wohl ein … ein zerdrückter Chitinpanzer war. „Nein, nein! Bitte nicht.“

Sein verzweifeltes Flehen wurde nicht erhört. Oder von der falschen Wesenheit, die noch nicht fertig mit ihm war, denn im selben Augenblick drang ein leises Tappen an sein Ohr, das plötzlich explosionsartig anschwoll, als unzählige Käferbeinchen über das Holz krabbelten. Jetzt konnte er ihnen nicht entfliehen. Er wehrte sich mit allen verbliebenen Kräften gegen den Ansturm, trat und schlug vergeblich in der Enge des Sargs um sich.

Die Insekten liefen nicht mehr nur neben ihm, sondern überquerten mit flinken Beinen seine nackten Oberschenkel, kletterten über sein Becken hinauf zum Oberkörper. Mit den Handflächen versuchte David sie zu stoppen, doch die Mistkäfer krabbelten zwischen seinen Fingern hindurch oder umrundeten einfach seine Hände. Er ballte sie zu Fäusten, zerquetschte das ein oder andere Insekt darin. Die toten Tiere stanken und verklebten seine Finger, während die überlebenden sich in seinen Bart hingen, ihre Beine zwischen seine Lippen pressten oder in seine Augen eindringen wollten. Andere kletterten an den seitlichen Planken entlang, um sich von dort auf seinen Kopf zu stürzen. Dünne Beinchen strichen beinahe zärtlich über seine Ohren, bevor sich eins der Tiere in seinen Gehörgang versenkte. Er riss den Arm nach oben, um das Vieh herauszuziehen, und sein Handrücken knallte gegen den Sargdeckel. Ein pochender Schmerz durchzuckte seine Rechte, während der Käfer sich weiter in seinen Kopf grub. Verzweifelt versuchte David, das Insekt herauszuziehen. Er bekam es nicht richtig zu fassen, es glitschte Mal um Mal aus seinen Fingern, entwand sich geschickt seinem Griff. Schließlich verbiss es sich in seinem Fleisch. Entsetzt schrie er auf. Sofort drangen die Käfer in seinen geöffneten Mund ein, bahnten sich ihren Weg in seinen Rachen. David spuckte sie wieder aus und musste würgen.

Seine Finger fühlten einen klebrigen Matsch in seinem Ohr. Wenige Sekunden des Triumphs waren ihm vergönnt, bevor er registrierte, dass es nicht der Käfer war, sondern sein eigenes Blut mitsamt einiger Haut- und Fleischfetzen, die er sich aus der Ohrmuschel herausgekratzt hatte. Die offene Wunde zog weitere Insekten an, die inzwischen sein ganzes Gesicht bedeckten. Er warf den Kopf hin und her, aber sie ließen sich nicht abschütteln. „Verpisst euch, ihr verfluchten Viecher!“ Natürlich nutzten sie auch das für einen weiteren Angriff. Diesmal waren derart viele Käfer in seinen Mund gekrabbelt, dass David die Luft wegblieb. Panisch würgte er einige von ihnen – zu wenige! – heraus und drosch vergeblich auf sein hölzernes Gefängnis ein, riss sich dabei einen Fingernagel aus. Er konnte einfach nicht entkommen! Wo Sauerstoff seine Lungen befüllen sollte, brach ein ganzer Schwarm von Käfern durch seine Luftröhre tief in ihn hinein und besiegelte sein Schicksal.

In den letzten Sekunden, die ihm noch blieben, konnte selbst David sich nicht einem verzerrten Hang zur Nostalgie verwehren. Die Mistkäfer, so schien es, waren die einzigen, die ihn nicht vergaßen, niemals lange von seiner Seite wichen. Und das, obwohl sie ihm so verhasst waren, seit sie ihm im Schuppen seiner Mutter regelmäßig Gesellschaft leisteten. Schon damals hatten die Weibchen versucht, in ihn einzudringen, sich in seinen frischen Wunden einzunisten, um ihre Eier in seinem Fleisch abzulegen.

Heute waren sie erfolgreich, hatten sogar seine Lungenflügel befallen und brachten sie zum Bersten. Jedenfalls fühlte es sich so an. Doch zu dem alles vernichtenden Schmerz gesellte sich plötzlich ein anderes Empfinden hinzu, ihm war, als würde der Sarg nach oben gezogen. Und tatsächlich: Frische Luft sowie ein Hauch von Licht drangen durch einen Spalt zwischen zwei Brettern zu ihm vor. Die Käfer fielen tot auf ihre Rücken und lösten sich im fahlen Sonnenschein auf. Wie konnte das sein? Verwirrt tastete er die Bretter ab, suchte nach Spuren der krabbelnden Angreifer … er konnte nichts finden.

Das Brennen in seinen Eingeweiden und seinem Oberkörper blieb, schmälerte seine Erleichterung über das Ende dieser alptraumhaften Begebenheit. Seine Finger fühlten sich immer noch verklebt an. Waren es die Überreste der Käfer oder sein eigenes Blut? Davids Ohr schmerzte. Er hörte gedämpfte Stimmen, dann knarzte und krachte etwas. Ein gleißender Strahl ließ ihn für wenige Sekunden erblinden.

Durch seine zusammengekniffenen Augen erkannte er allmählich vier Männer in Kutten, die über seinen Sarg gebeugt waren. Ihre Gesichter sah er nicht, da sie wie bei jedem Ritual große Kapuzen trugen, und das Licht von oben lange Schatten über sie warf. Wie aus weiter Ferne hörte er eine vertraute Stimme.

„Du bist jetzt gereinigt. Sage ja zu deinem neuen Leben. Gib dich endgültig dem großen Tier hin.“

Die Männer verschwanden aus seinem Sichtfeld und David erkannte, dass er im hinteren Teil der Kapelle, der früheren Sakristei, war. Er hatte sie erst einmal betreten und sich über den Lehmboden und einen Bretterverschlag inmitten der Fläche gewundert.

„Erhebe dich!“

David folgte der Stimme. Es war der Meister selbst, der ihn rief. Mit ächzenden Knochen und zittrigen Gliedern setzte er sich im geöffneten Sarg auf und stieg vorsichtig heraus. Der Meister blickte ihn erwartungsvoll an und David ging vor ihm auf die Knie.

„Du hast uns enttäuscht, David. Du solltest Jennifer ihrer gerechten Strafe zuführen, stattdessen hast du das Ritual nicht vollendet und Schande über die Gemeinschaft gebracht. Dein Geist ist schwach, dein Wille nicht fokussiert genug. Er verliert sich in den Schatten, anstatt sie zu beherrschen.“

Meister Rawes Stimme klang so ruhig und streng wie immer. Für David fühlten sich die Worte wie tausend kleine Schnitte an – vor allem, weil er wusste, dass der alterslos wirkende Mann recht hatte.

„Es tut mir leid, Meister, ich …“

Eine schallende Ohrfeige ließ seinen Kopf zur Seite fliegen, fast hätte David das Gleichgewicht verloren und wäre seitlich zu Boden gekippt; nur im letzten Moment konnte er diese weitere Schmach verhindern.

„Schweig. Schweig und höre zu: Wie Jennifer hast du eine zweite Chance verdient. Du hast dich dort unten nicht aufgegeben, hast gekämpft. Für die Magie und das Ritual bist du nicht geschaffen. Aber auch Arbeiter und Soldaten braucht eine Gemeinschaft, daher darfst du dich ab sofort darin beweisen. Die harte Arbeit auf dem Feld wird den Anfang machen. Doch ich warne dich: Eine dritte Chance erhält niemand bei uns. Hast du das verstanden?“

„Ja, Meister. Ich danke Ihnen.“

„Gut. Zieh dich an und dann raus mit dir auf den Acker. Klara wird dich einweisen.“

David schluckte. Es war eine gezielte Demütigung, dass ihn eine Frau, eine der Bäuerinnen, in seine neuen Aufgaben einführen sollte. Im Augenblick stand in der Hierarchie des Kults kaum jemand unter ihm. Er würde sich fügen … und auf den Tag warten, an dem er wieder aufstieg. Jenni würde es noch bereuen, dass sie all die komischen Gedanken in ihm ausgelöst hatte. Er würde auf die richtige Gelegenheit warten und sie vernichten – langsam und qualvoll. Und sie wäre lediglich die erste von vielen Schlampen, mit denen er eine Rechnung zu begleichen hatte. An Leila kam er nicht mehr heran, aber der Zufall, nein, sein Schicksal hatte Mira vor wenigen Wochen zurück in sein Leben gespült. Nach allem, was er über sie herausgefunden hatte, kannte sie durchaus die Bedeutung von Schmerz. Er wollte sie ganz neue Horizonte lehren, bis sie ihren eigenen Tod weiteren Leiden vorzog. Sie würde es noch bereuen, ihn derart erniedrigt zu haben, ihm die beste Zeit seines Lebens – und Leila – geraubt zu haben. Wenn er mit ihr fertig war, würde sie diejenige sein, die sich den Tod herbeisehnte.  

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783957199836
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
Kult Österreich Geschichten Magazin Pulp Science Fiction Horror

Autor

  • r. evolver (Hrsg.) (Autor:in)

r.evolver ist ... Journalist, Medienproduzent, Schauspieler, Moderator, Regisseur, Autor, Boxer, Gitarren- und Revolverheld, (manchmal) Privatdetektiv und sonst noch einiges.
Zurück

Titel: Super-Pulp 10: Girls! Girls! Girls!