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Vor den Toren Jerusalems

von Junia Swan (Autor:in)
249 Seiten

Zusammenfassung

Die Jüdin Chaja muss als Mädchen mitansehen, wir ihre Familie von Kreuzrittern ermordet wird. Ihr gelingt die Flucht in die von Frankreich verwaltete Stadt Tripolis, wo sie die nächsten Jahre als Christin getarnt in einem Kloster verbringt. Dazu verdammt, ein Dasein zu führen, das sie nicht will, steigert sich ihr Verlangen, jenen Mann, der ihr Leben zerstörte, zu töten. Das Angebot der Mutter Oberin, Martin, den Sohn eines Adligen zu heiraten, nimmt Chaja sofort an. Sie plant, während der Hochzeitsfeierlichkeiten zu fliehen, um ihre Freiheit zu erlangen und ihren Feind ausfindig zu machen. Als sie Martin vor dem Traualtar gegenübertritt, erkennt sie in ihm den Mörder ihrer Familie. Der Vorsatz, ihn in ihrer Hochzeitsnacht umzubringen, ist schnell gefasst. Eine Geschichte über Hass und Vorurteile, in der drei Kulturen und Religionen aufeinanderprallen. Aber auch über Liebe, Vergebung und Gnade. Leserstimmen: „Das Buch ist wieder flüssig zu lesen, von schönen Formulierungen durchzogen & einer Wortwahl, die in diese Zeit passen könnte. Und wie gesagt: furchtbar spannend bis zuletzt.“ „Geschichtliche Probeleme, spirituelle Verdrehungen und Ansichten werden aus jener fernen Zeit in unsere heutige Zeit geholt. Keine einfache Lektüre, aber dafür mit Inhalt!“ „Spannend, einmal angefangen, kann man kaum aufhören zu lesen, emotionaler Tiefgang, gute Darstellung des lebendigen Glaubens.“ „Wie immer bei Junia Swan – eine außergewöhnliche Liebesgeschichte in einem ungewöhnlichem Umfeld.“ „Die spirituellen Fragen und Unterschiede der beiden Protagonisten treten stark hervor. Dadurch ist das Buch durchgehend spannend.“

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vor den Toren Jerusalems

Junia Swan

Über dieses Buch

Die Jüdin Chaja muss als Mädchen mitansehen, wir ihre Familie von Kreuzrittern ermordet wird. Ihr gelingt die Flucht in die von Frankreich verwaltete Stadt Tripolis, wo sie die nächsten Jahre als Christin getarnt in einem Kloster verbringt. Dazu verdammt, ein Dasein zu führen, das sie nicht will, steigert sich ihr Verlangen, jenen Mann, der ihr Leben zerstörte, zu töten.

Das Angebot der Mutter Oberin, Martin, den Sohn eines Adligen zu heiraten, nimmt Chaja sofort an. Sie plant, während der Hochzeitsfeierlichkeiten zu fliehen, um ihre Freiheit zu erlangen und ihren Feind ausfindig zu machen.

Als sie Martin vor dem Traualtar gegenübertritt, erkennt sie in ihm den Mörder ihrer Familie. Der Vorsatz, ihn in ihrer Hochzeitsnacht umzubringen, ist schnell gefasst.

Eine Geschichte über Hass und Vorurteile, in der drei Kulturen und Religionen aufeinanderprallen. Aber auch über Liebe, Vergebung und Gnade.

Über die Autorin

Junia Swan schreibt seit ihrer Jugend leidenschaftlich gerne Romane. Besonders das Genre der Liebesgeschichten hat es ihr angetan. Allerdings bevorzugt sie Charaktere mit Ecken und Kanten und begleitet diese gerne auf ihrem oftmals sehr steinigen Weg. Mit ihren Romanen möchte sie den Lesern Mut machen, niemals aufzugeben und auch in schweren Zeiten durchzuhalten. Sie selbst ist mit der Liebe ihres Lebens verheiratet und lebt in Österreich.

Vorwort

Der hier vorliegende Roman ist kein historischer Tatsachenbericht. Wie alle meine Bücher ist er fiktiv und erhebt keinerlei Anspruch darauf, bis ins kleinste Detail geschichtlich korrekt zu sein. Mir geht es vorrangig um die Entwicklung der Charaktere, ihre Beziehungen zueinander im Kontext gesellschaftlicher Zwänge oder Normen. Vor den Toren Jerusalems spielt Ende des 12. Jahrhunderts und beginnt einige Jahre vor der Einnahme jener Stadt durch Sultan Saladin. Diesen Zeitraum habe ich bewusst gewählt, weil der damalige kriegerische Zusammenprall unterschied-licher Kulturen und Religionen eine ausgezeichnete Grund-lage bietet, um verschiedene Strömungen oder Denkweisen herauszuarbeiten. In dem Zusammenhang war es mir wich-tig, meine Protagonisten aus ihrem Hintergrund heraus, auf Basis der Informationen, die sie möglicherweise erhalten haben, agieren und denken zu lassen. Aus heutiger Sicht mögen manche Ansichten durchaus befremdlich erscheinen. Etwas, das zukünftige Historiker dereinst auch uns vor-werfen werden. Leben wir immerhin im Informations-zeitalter und werden doch täglich mit Pressemeldungen und Nachrichten manipuliert und gesteuert, wie nie zuvor. Des-wegen ist es umso wichtiger herauszufinden, ob es einen roten Faden gibt, der sich durch alle Zeitalter zieht und einen Ausweg aus all dem Hass, den Vorurteilen, den Zwän-gen, den Regeln und dem vorherrschenden Elend aufzeigt. Ich lade Sie ein, mit mir auf die Reise zu gehen.

Herzlich, Ihre

Junia Swan

Februar 2020

Prolog

Die Sonne brannte heiß vom Himmel, schlüpfte in die tiefen, trockenen Risse des goldfarbenen Bodens, um ihn weiter aufzubrechen. Die Luft flirrte, egal in welche Richtung Chaja schaute. Bei jedem Schritt, den sie setzte, wuchs der Olivenhain ihres Vaters, der als einziger um diese Zeit Schatten spendete, an. Unwillkürlich umschloss sie den Riemen ihrer Tasche, die mit einem Wasserschlauch und einem Mittagsmahl gefüllt war, fester. In ein paar Minuten wäre sie endlich am Ziel und könnte sich eine kurze Weile ausruhen, bevor sie ins Haus zu ihrer Mutter zurückkehren musste.

Ungewohnter Lärm ließ sie unvermittelt innehalten. Es hörte sich an, als würde Metall über Metall wetzen, als würde ...

Chajas Herzschlag beschleunigte sich und sie begann zu laufen. Je näher sie dem lichten Wald kam, desto deutlicher vernahm sie diesen unheilvollen Laut, in den sich Schreie, das Scharren von Füßen und das Wiehern von Pferden mischte. Angst, die zuvor nur schleichend in ihren Körper gesickert war, überwältigte sie und sie ging zwischen den Olivenbäumen in Deckung. Ihr Brustkorb hob und senkte sich, das Blut rauschte so laut in ihren Ohren, dass sie befürchtete, es nicht zu bemerken, sollte sich ihr jemand nähern. Sie presste die Augen zusammen und murmelte die uralten, hebräischen Gebete ihrer Vorfahren, während sie versuchte, sich zu beruhigen. Obwohl sie die Geräusche um sich her, die von ihrem inneren Aufruhr gedämpft wurden, wie unter Wasser wahrnahm, konnte sie die Stimme ihres Vaters so deutlich und klar vernehmen, sodass sich ihre Nackenhaare aufstellten. Seit Jahren fürchtete sie sich vor diesem Augenblick, von dem ihre Eltern gehofft hatten, er bliebe ihnen erspart. Immerhin wohnten sie in Ubeidiya, welches eine Tagesreise außerhalb Jerusalems lag, in der Nähe des Toten Meeres.

Trotzdem beschloss sie schon einen Wimpernschlag später, nach ihrem Vater Ausschau zu halten und schlich weiter. Kurz bevor sie den Unterschlupf aus Steinen erreichte, der inmitten des Hains gegen die Sonne errichtet worden war, entdeckte sie ihn. Er und ihre vier Brüder standen in der Mitte eines Kreises aus Soldaten, die das Banner der Kreuzritter trugen und Chajas Furcht steigerte sich. Alle blickten zu einem einzigen Mann, der soeben vom Pferd stieg, den Helm abnahm und einem der Untergebenen reichte. Von der gleißenden Sonne reflektiert, blitzte der Kopfschutz selbst wie eine Feuerkugel und stach das Mädchen unangenehm in die Augen. Der Krieger war gewaltig, fast ein Klafter größer als alle Männer, die Chaja jemals gesehen hatte und sein Haar klebte nass an seinen Schläfen. Seine Rüstung funkelte wie Juwelen und ließ sein markantes Gesicht umso dunkler und gefährlicher wirken. Genauso hatte sie sich Esaus Wächterengel, mit dem Jakob am Jabbok gerungen hatte, immer vorgestellt. Seine riesige Hand umschloss das Heft eines Langschwertes, das an seinem Gürtel hing und Chaja ballte die Fäuste.

„Ist das dein letztes Wort?“, brummte er auf Aramäisch, aber mit wahrnehmbarem Akzent.

Statt einer Antwort spuckte ihr Vater aus.

Nein!, schrie es in Chaja, Vater, beuge dich ihm!

Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen musste
sie zusehen, wir der furchteinflößende Befehlshaber das Schwert zog und den Arm hob. Panisch presste sie sich ihre Hand vor den Mund, ihre Knie gaben nach und sie wandte sich ab. Das Röcheln der Sterbenden legte Zeugnis dafür ab, dass der Riese ihren Vater und ihre vier Brüder ermordet hatte. Ungläubig, wie gelähmt, hockte das Mädchen in seinem Versteck, sein Herz trommelte schmerzhaft in seiner Brust und seine Gedanken wirbelten wie ein Sturm durch seinen Kopf. Es war Chaja unmöglich zu erfassen, was soeben geschehen war. Ein metallischer Geruch wehte in ihre Richtung und sie rang nach Luft, während Galle ihre Speiseröhre empor schwappte und ihre Kehle verätzte. Um den beißenden Geschmack auf ihrer Zunge, den Gestank fremder körperlicher Ausdünstungen, ihr Kleid, das mittlerweile schweißnass an ihrem Leib klebte und die unbeschreibliche Wut, verbunden mit aufwallender Furcht, unterdrücken zu können, krallte sie ihre Finger in die ausgedörrte, steinharte Erde. Diesen Gefühlen ausgeliefert, bemerkte sie nicht, dass ihre Fingernägel dabei abbrachen. Der harte Boden unter ihren Handflächen würde sie ein Leben lang an das erinnern, was soeben geschehen war.

Eine plötzlich eintretende Stille hielt nur kurz an, denn ein Befehl, ausgesprochen in einer fremden Sprache, stürzte die Soldaten in eilige Geschäftigkeit. Unfähig, dauerhaft wegzusehen, beobachtete das Kind, wie ein Grab ausgehoben und die blutüberströmten Körper der geliebten Menschen darin verscharrt wurden. Chajas Augen glitten zu dem Centenar. Inbrünstig wünschte sie, ihm auf der Stelle einen Dolch in den Leib zu stoßen, um sich an seinem Tod zu weiden. Hätte sie denn einen. Es wäre ein Leichtes, da er etwas abseits stand. Mit der riesigen Hand, welche Teile ihrer Familie abgeschlachtet hatte, stützte er sich an einem Baumstamm ab, sein Blick war auf den Horizont gerichtet, als ginge ihn die ganze Angelegenheit nichts mehr an. Als hätte er nicht soeben ihre Welt zerstört, verwüstet, unwiederbringlich vernichtet.

Angestrengt versuchte sie, sich seine markanten Gesichtszüge einzuprägen: die dunklen Augenbrauen über, wie sie vermutete, braunen Augen, das glattrasierte Kinn, die schlanke Nase und die harten Falten, welche seinen zusammengepressten Mund einklammerten. Sie war überzeugt davon, ihn unter tausenden von Männern aufgrund seiner Größe zu entdecken und schwor sich, ihn eines Tages aufzuspüren und zu töten. Sein Leben für das Leben ihrer Familie war ein geringer Preis für seine Tat! Ja, es dürstete sie danach ihn ebenso kaltblütig auszulöschen, wie er das bei ihrem Vater und ihren Brüdern getan hatte. Ohne mit der Wimper zu zucken, würde sie ihm ein Messer ins schwarze Herz bohren und dabei zusehen, wie er elend verendete. Nur sein Blut auf ihren Händen war in der Lage ihren inneren Frieden wieder herzustellen. Sie schwor sich, dass der Hass in ihren Augen, das Letzte sein sollte, was er auf dieser Erde zu Gesicht bekommen würde.

Die Hoffnung darauf, ihre Rache irgendwann an ihm vollstrecken zu können, sog ihre Tränen auf, noch bevor sie geweint wurden. Unbändige Abscheu gepaart mit Todesangst ließ sie in ihrem Versteck ausharren, während Stunden verstrichen und gespenstische Stille nach dem Abzug der Soldaten einkehrte. Einsamkeit breitete sich wie ein Leichentuch über den Ort der Tragödie und legte sich drückend auf Chaja, die sich von einem Atemzug zum nächsten kämpfte. Immer, wenn sie die Augen schloss, sah sie die schreckliche Szene vor sich, deswegen starrte sie mit leerem Blick in den Himmel, ohne das leichte Schaukeln der Äste über sich wahrzunehmen. Erst am späten Nachmittag wagte sie es, sich aufzurichten und den Olivenhain zu verlassen. So schnell sie ihre Beine trugen, rannte sie den Weg nach Hause, wobei sie den Trost ihrer Mutter mit jeder Faser ihres Leibes herbeisehnte. Gewiss konnte sie in ihren Armen Linderung ihrer Schmerzen erfahren. Ja, ihre Mutter würde wissen, was zu tun war. Es war nicht mehr weit. Bald hatte sie es geschafft.

1. Kapitel

5 Jahre später

„Ehrwürdige Mutter, Ihr habt mich rufen lassen?“

Chaja sank in einen tiefen Knicks, wagte nicht, die Nonne ihr gegenüber anzusehen und starrte auf den kalten, grauen Steinboden.

„So ist es, mein Kind. Setz dich!“

Wie immer, wenn Chaja die schneidende, harte Stimme der Klostervorsteherin vernahm, zuckte sie innerlich zusammen. Schnell eilte sie zu dem spartanischen Holzstuhl und ließ sich darauf sinken. Dabei faltete sie die Hände in ihrem Schoß. Sie hasste es von ganzem Herzen, hier sein zu müssen. Verachtete dieses trostlose, abscheuliche Kloster, die schweigsamen, hartherzigen Nonnen, die monotonen Messen und die Macht, welche die Priester über sie hatten und bei denen sie täglich beichten musste. Man zwang sie zu schweigen und zum Gott der römisch-katholischen Kirche zu beten, der ihr so fremd war, wie die Götter Ägyptens. Man nötigte sie dazu, zu fasten, auf harten Holzbänken zu knien, den Rosenkranz zu beten, was sie besonders verabscheute und Heilige zu verehren, indem sie für diese Kerzen anzünden und sich vor ihnen verneigen musste. Während nie enden wollender Stunden hatte man ihr Latein beigebracht, damit sie die in jener Sprache verfassten schrecklichen Gebete lesen konnte. Bevor sie den Mund das erste Mal aufgemacht hatte, hatte sie sich Französisch heimlich angeeignet, mit welchem man sich hierzulande austauschte.

Chaja hasste diesen Ort und wartete sehnsüchtig auf eine Gelegenheit dem Kloster zu entrinnen und sich endlich auf die Suche nach jenem Mann begeben zu können, den zu töten sie geschworen hatte.

„Felicitas“, begann die Mutter Oberin und sprach sie mit dem Namen an, den man ihr hier gegeben hatte und den sie aufs Blut verabscheute, „man berichtete mir von deiner Gewissenhaftigkeit, deiner Begabung die Bücher ordentlich zu führen und dem Talent, die Armenspeisungen zu planen. Außerdem sollst du ein Händchen für Kinder haben.“

Es war das erste Lob aus dem Mund der Ordensschwester, das jemals an Chajas Ohren gedrungen war und sie wunderte sich insgeheim darüber. Warum schmeichelte sie ihr, obwohl sie sonst nur Schelte und Missbilligung für sie übrig hatte?

„Es gibt einen Ort, an dem du deine Fertigkeiten weitaus besser wirst einsetzen können.“

Verwirrt hob Chaja den Kopf und lugte unter gesenkten Wimpern scheu zu ihrem Gegenüber, das wie ein Wesen aus einer anderen Welt hinter dem Schreibtisch saß, die Fingerspitzen aneinandergelegt.

„Ich habe dem Vicomte des Cars zugesichert, dass du geeignet dafür bist, die Position auszufüllen, für die er ein Mädchen tadellosen Gemüts sucht.“

Vicomte des Cars? Chaja runzelte die Stirn. Der Name war ihr nicht fremd, denn er wurde in regelmäßigen Abständen erwähnt. Sie selbst hatte schon Gebete für den Adligen sprechen müssen. Widerwillig, wohlgemerkt, deswegen waren sie sicherlich wirkungslos gewesen. Das hoffte sie zumindest. Und dieser Mann, dieser Gönner des Klosters, suchte jemanden, der sich um seinen Haushalt kümmerte?

„Ich möchte, dass du dich darauf vorbereitest, die Gemahlin seines Sohns zu werden.“

Die Gemahlin? Chaja erstarrte und ihre Hände verkrampften sich. Wie sollte sie einen Mann heiraten, der ... wobei ... vermutlich hatte er keine Wachen vor den Toren seines Hauses postiert. Damit stiegen ihre Chancen, ihm und diesem schrecklichen Leben hier endlich zu entkommen. Sie schluckte den Widerspruch, der ihre Zunge kitzelte, hinunter und nickte demütig. Unglaublich, dass nach all der Zeit Bewegung in ihre aussichtslose Lage kam.

„Wie Ihr wünscht, Mutter“, erklärte sie, darum bemüht, ruhig zu klingen. „Ich werde eine Aussteuer zusammenstellen.“

„Sehr gut. Schwester Maria soll dir behilflich sein. Du hast zwei Wochen Zeit dafür.“

Als hätte man eine Lampe in einem stockdunklen Raum entzündet, flammte Begeisterung in ihr auf, die jeden Winkel in ihr erhellte. In zwei Wochen wäre es überstanden und sie könnte endlich machen, was sie wollte. Der Sohn des Grafen würde sie nicht halten können. Vermutlich war er dünn, schlaksig und weich wie all die Söhne der Adligen, die sie bei den Messen hin und wieder zu Gesicht bekam; mit blasser, großporiger Haut und geröteten Nasen, die auf regelmäßigen und ausschweifenden Alkoholkonsum hinwiesen.

Schon in der Hochzeitsnacht wollte sie ihm entkommen, damit sie sich nicht an ihn binden und für immer bei ihm bleiben musste.

Sie wusste alles, was bei der Vereinigung von Mann und Frau geschah. Ihre Mutter hatte sie vor ihrem Tod dahin-gehend vorbereitet, da für sie als damals Vierzehnjährige die Zeit gekommen war, einen Bräutigam zu suchen. Wäre
dieses Massaker, bei dem ihre Familie ermordet worden
war, nicht geschehen, hätte sie vermutlich in jenem Jahr geheiratet.

Da sie nicht vorhatte, mit einem Heiden zu verschmelzen, musste sie im Zuge der Feierlichkeiten fliehen. Bis dahin wollte sie, während sie an ihrer Aussteuer nähte, gründlich über ihr Entkommen nachdenken und einen Plan ausarbeiten, um ihre Spur zu verwischen.

„Du kannst gehen“, drang die Stimme der Oberin in ihre fieberhaften Überlegungen und holte Chaja zurück in die düstere Realität.

Sogleich richtete sich die junge Frau auf, knickste vor der Klostervorsteherin und eilte von dannen.

„Der Sohn des Grafen ist ein Heiliger“, flüsterte Schwester Maria und kniff die Augen zusammen, während sie Chajas fremde Initialen auf ein Leintuch stickte. „Er interessierte sich bereits als Knabe mehr für Wohltätigkeit als für den Krieg. Man erzählt sich, dass er eines Winters seine Jacke aus Mitleid einem Bettler überlassen hat und deshalb schwer erkrankte.“

„Ist das wahr?“ Chaja ließ den Saum des Brautkleides, den sie gerade eben feststeckte, ungläubig sinken.

„Ja, so erzählt man sich. Außerdem soll er ungewöhnlich gebildet und gottesfürchtig sein. Ich denke, er wird mit dir hellauf zufrieden sein.“

„Ich kenne ihn nicht. Wer weiß, ob das nicht alles falsche Gerüchte sind.“

„Sollte es euch an Gemeinsamkeiten fehlen, teilt ihr zumindest dasselbe Mitgefühl für die Armen der Stadt.“

Chaja nahm ihre Arbeit wieder auf und dachte bei sich, dass sie dies niemals herausfinden würde. Denn sie trachtete danach, den Mann verlassen zu haben, noch bevor er drei persönliche Sätze mit ihr gewechselt hätte.

Sie wusste auch schon, wie sie es anstellen wollte. Im Laufe des Festbankettes würde sie sich im allgemeinen Trubel davonstehlen. Aller Voraussicht nach würden Stunden vergehen, bis man ihr Fehlen bemerkte. Deshalb hatte Chaja keine Angst vor der Hochzeit. Im Gegenteil, sie sehnte den Tag herbei, an dem das Leben im Kloster für sie zu Ende ging.

„Außerdem hast du Glück“, fuhr Schwester Maria mit hochroten Wangen fort und Chaja sah fragend auf.

„Inwiefern?“

„Ich habe gehört, dass sich dein Bräutigam weigert, von den Hochzeitsgästen ins Brautgemach geleitet zu werden.“

Unwillkürlich erstarrte Chaja. Ins Brautgemach geleitet? Daran hatte sie noch gar nicht gedacht! Mit kreisrunden Au-gen taxierte sie ihre Freundin.

„Das heißt, bei dem Vollzug werden keine Zeugen anwesend sein“, erklärte die Nonne schnell, senkte den Kopf und stach die Nadel in den feinen Stoff.

Die junge Frau benötigte einige Sekunden, bis sich ihr rasender Herzschlag beruhigte. Da hatte sie aber Glück gehabt! Fast hätte der hiesige Brauch all ihre Pläne zerstört.

Fieberhaft arbeitete sie an der Aussteuer, säumte Tücher, Servietten und Laken und versah sie mit den initialen F. B.. Dabei fühlte es sich an, als würde sie die Hochzeitsvorbereitungen für eine andere Frau treffen. Eine Fremde, die sie nicht kannte. Was sie indessen überraschte, waren die Albträume, die sie wieder häufiger heimsuchten. Als kletterten die Erinnerungen aus den dunklen Zellen jener Gefängnisse, welche sie für diese geschaffen hatte, durch schmale Ritzen ins Freie. Aufgrund der inneren Mauerrisse, die durch die bevorstehende Veränderung ihrer Umstände entstanden waren, war sie nicht länger vor ihrer Vergangenheit in Sicherheit. Bevor sie abends die Augen schloss, sah sie ihren Feind vor sich, in der Hand sein gigantisches Schwert. Obwohl der Sommer an Stärke gewann, fror Chaja erbärmlich.

„Bist du bereit?“, wollte Schwester Maria wissen und richtete der jungen Braut den Blumenkranz, den sie etwas schief aufgesetzt hatte.

Obwohl Chaja mittlerweile doch nervös war, konnte sie es kaum erwarten, diesen Ort für immer zu verlassen. Deswegen lächelte sie voller Vorfreude.

„Ja“, erklärte sie leise und Schwester Maria umfasste sie an den Schultern und sah ihr fest in die Augen.

„Ich wünsche dir alles Glück dieser Erde“, sagte sie aus tiefem Herzen. „Ich ahnte seit jenem Tag, als man dich zu uns gebracht hatte, dass dein Platz nicht auf Dauer in unserer Mitte ist.“

Chaja schluckte und versuchte, die Erinnerungen an damals zu verdrängen. Doch es gelang ihr nicht. Ihre Füße fühlten sich bleischwer an, als hätte sie wie einst Meilen zurückgelegt. Stunden waren an jenem Tag vergangen, bis sie den Olivenhain hatte verlassen können, bis sie in der Lage gewesen war, einen Schritt nach dem anderen zu setzen, um nach Hause zu laufen und ihrer Mutter zu berichten ... Doch sie hatte diese tot vorgefunden, genauso wie ihre Schwestern, die Mägde und Knechte. Ihnen hatte man die Ehre, sie zu begraben, nicht erwiesen. Chaja fand sie in ihrem eigenen Blut liegend vor, als sie eintraf. An das, was danach geschehen war, konnte sie sich kaum noch erinnern, außer daran, dass sie geweint hatte, bis sie innerlich vollkommen ausgedörrt gewesen war. Dann war sie losmarschiert. Ohne Ziel war sie der festgestampften Straße gefolgt, war immer geradeaus gegangen. Sie wusste nicht, wie lange. Tage? Wochen? Noch wohin. Ähnlich der Verfassung in einem Traum erinnerte sie sich an Menschen, die ihr zu Essen und Trinken gegeben hatten, entsann sich, dass die Wüste hinter ihr zurückblieb und sie Städte passierte. Irgendwann war sie zu erschöpft und ausgelaugt gewesen und am Wegrand zusammengebrochen. Jemand hatte sie aufgelesen und zum Kloster gebracht. Bis zum heutigen Tag hatte sie hier ihr Dasein gefristet, ohne Möglichkeit zu entkommen. Ständig wurde sie beobachtet und eingesperrt.

„Felicitas?“, fragte Maria und Chaja schüttelte die schrecklichen Erinnerungen ab.

„Entschuldige“, bat sie und schluckte. Dann lächelte sie der einzigen Freundin, die sie auf dieser Welt besaß, beruhigend zu. „Lass uns gehen.“

Nebeneinander schritten sie den langen, dunklen Flur entlang, der in einen prachtvollen Bogengang mündete. Seine linke Seite war zum Klostergarten hin offen, weshalb Sonnenlicht über die rötlichen Steine spielte und diese erwärmte. Den Weg zur Kapelle zu gehen war ihr einziger Lichtblick gewesen. Die wenigen Meter im Freien hatten ihr Herz erhellt und sie getröstet.

Vor dem schweren Klostertor erwarteten sie fast alle Einwohner des Ordens, um Chaja in ihrer Mitte zur Kirche zu geleiten. Während all der vergangenen Jahre hatte sie nur am Sonntag zur Frühmesse die heiligen Mauern verlassen dürfen, ebenfalls inmitten der Klosterschwestern.

Schweigend setzte sich der Zug in Bewegung und innerlich jubelte Chaja, da es das letzte Mal war, dass sie diesen Weg gehen musste. Nie wieder wollte sie einen Fuß in das verhasste Gemäuer setzen und sie war froh, dass die Diener Les Cars ihre wenigen Habseligkeiten und die Aussteuer längst abgeholt und zum Haus ihres zukünftigen Mannes gebracht hatten. Im Endeffekt war es jedoch nicht von Bedeutung, da sie ohnehin nicht darauf würde zurückgreifen können. Deswegen hatte sie ihm Laufe der letzten Wochen heimlich Münzen aus dem Opferstock gestohlen und in ihr Brautgewand eingenäht. So käme sie, bis ihr Plan ausgereift war, über die Runden. Zuerst einmal beabsichtigte sie, an ihren Geburtsort zurückzukehren. Danach wollte sie weitersehen.

Als sie die Kirche des Apostolischen Vikariates Tripolis betraten, empfingen sie die Klänge einer Blockwerkorgel und Chaja biss die Zähne zusammen. Sie konnte die gregorianischen Choräle sowie die unheimlichen Töne der Labialpfeifen nicht ausstehen. Die Kerzen entlang des Hauptschiffes waren entzündet worden und Weihrauch hing in der Luft, ein Geruch, der sie schmerzlich an ihre Kindheit erinnerte. Obwohl ihr Leben aufgrund der unzähligen Gesetze der Thora stark reglementiert gewesen war, meinte sie doch, dass sich Lachen, Feste, Düfte und Farben durch den Alltag gezogen hatten und dieser nicht so grau und eintönig verlaufen war, wie hierzulande, auf feindlichem Boden.

Die Mutter Oberin wandte sich ihr zu und deutete ihr, stehen zu bleiben, während die anderen Schwestern in die Kirche einzogen und in den vordersten Bänken Platz nahmen. Erst dann setzte sie sich hinter der Klosterfrau in Bewegung. Da sie ahnte, wie ihr zukünftiger Gemahl aussehen würde und es letzten Endes ohnehin nichts zu bedeuten hatte, hielt sie den Kopf züchtig gesenkt. Doch als die Oberin auf die Seite trat und die feinen Lederstiefel eines Edelmannes in ihr Blickfeld gerieten, sah sie langsam auf. Nie zuvor hatte sie Stiefel dieser Größe gesehen, in denen Füße steckten, die einen Mann von den Ausmaßen Goliaths tragen mussten. Die alten Geschichten ihres Volkes waren verwoben mit ihrem Leben gewesen und immer um sie herumgeschwirrt, nur eine Erzählung, eine Erinnerung entfernt. David, ein junger Hirte, der sich dem furchteinflößenden Philister Goliath gestellt und ihn besiegt hatte. Israel, welches diesen außergewöhnlichen König nicht für eine Stunde vergaß – es war, als lebte er mitten unter ihnen. Genauso wie die anderen Helden der Thora, Psalmen und prophetischen Bücher. Kein anderes Volk hatte eine Geschichte, wie das ihre. Kein anderes Volk hatte einen Gott, wie das ihre, der ihnen schon vor langer Zeit einen Messias versprochen hatte, den Retter, der sie endgültig der Knechtschaft, unter der sie litten, entreißen würde. Daran erinnerte sie sich, während ihre Augen über enorm muskulöse Beine höher wanderten. Dieser Mann ist kein Heiliger. Auf keinem der unzähligen Bilder, die im Kloster, der Kapelle oder der Kirche aufgehängt waren, hatten Heilige solch säulenähnliche Beine besessen, die so stark wirkten, als wären sie mit dem Boden verwachsen und als gäbe es nichts, was sie umreißen konnte. Da glitt eine Hand in ihr Blickfeld, die sich ihr höflich entgegenstreckte, um sie vor den Altar zu führen. Nur ein einziges Mal in ihrem Leben hatte sie eine Hand dieses Ausmaßes gesehen, deren Spanne etwas weniger als ihrem Taillenumfang entsprach. Damals hatten sich die kräftigen Finger um den Schaft eines gewaltigen Langschwertes geschlossen.

Sekundenlang erstarrte sie und der Schreck ließ sie ihr Antlitz mit einem Ruck heben. Ihr Blick flog über breite Schultern, einen kraftstrotzenden Hals immer höher. Um ihn ansehen zu können, musste sie den Kopf in den Nacken legen. Er sah auf sie herab und warme Augen empfingen sie, ein kaum merkliches Lächeln spielte um seinen Mund. Doch Chaja bemerkte all dies nicht, den sie erkannte in ihm jenen Mann, der ihre Familie abgeschlachtet hatte. Sie taumelte, während alle Farbe aus ihren Wangen wich.

Sofort trat er näher und legte stützend eine Hand unter ihren Unterarm. Seine Berührung durchzuckte sie, als hätte ein Blitz in sie eingeschlagen und Chaja ballte die freie Hand zur Faust.

„Geht es?“, wollte er leise wissen, wobei er sich ein Stück tiefer neigte und ihren Blick suchte.

Diese Stimme hatte sie bis in ihre Träume verfolgt. Jede Nacht und auch während der Tage hatte sie immer wieder gemeint, sie wehte um ihre Ohren. Sie nun zu hören, katapultierte sie in einen luftleeren Raum und sie schnappte nach Luft.

Trotzdem war ihr bewusst, dass sie sich zusammenreißen musste. Jetzt war nicht der Augenblick, sich ihrer Bestürzung hinzugeben. Deswegen kämpfte die junge Braut darum, sich ihr Zittern nicht anmerken zu lassen. Nie hätte sie damit gerechnet, dass man ihr den Feind auf dem Silbertablett servierte. Langsam dämmerte ihr, welche Konsequenzen sich daraus ergaben. Da er vor ihr stand, erübrigte es sich, ihn zu suchen. Alles, was ihr noch zu tun blieb, war, ihm schnellstmöglich ein Messer in die Brust zu rammen, ihn danach auszurauben und zu fliehen.

Deswegen hing das Gelingen ihrer Rache davon ab, dass sie sich nichts von ihrem inneren Tumult anmerken ließ. Es galt, eine liebreizende Braut zu spielen, die sie definitiv nicht war und ihm ins Brautgemach zu folgen. So weit, so gut.

Obwohl sie verbissen um ihre Haltung kämpfte, weigerte sich indessen ihr Körper, zu gehorchen. Sie zitterte, als würde man sie zur Hinrichtung führen.

Eine steile Falte bildete sich auf der Stirn ihres zukünftigen Gatten und er musterte sie besorgt.

„Ist alles in Ordnung?“, wiederholte er seine Frage und sie nickte, schenkte ihm ein mattes Lächeln.

Ein letzter, prüfender Blick und er wandte sich ab, führte sie nah bei sich vor den Vikar. Während dieser die Trauungszeremonie in Latein einleitete, überlegte Chaja fieberhaft, wie sie einen Mann seiner Statur umbringen sollte. Ihr schwante, dass es im Schlaf geschehen musste. Ihr kam die Idee, ihm, so, wie Deborah es im Buch Richter gemacht hatte, ein Mittel einzuflößen, und ihm, sobald er eingeschlafen war, einen Pfahl durch den Kopf zu rammen. Aber woher bekäme sie einen solchen Trunk, den sie während des Hochzeitsmahls in seinen Becher mischen konnte? Besser, sie bediente sich eines Dolches. Der Nachteil dabei war, dass sie warten müsste, bis er schlief. Und schlafen würde er erst, nachdem er die Ehe mit ihr vollzogen hatte. Bei der Vorstellung daran, nun doch in letzter Konsequenz seine Frau zu werden, schauderte es sie.

Ohne sich auf die Worte zu konzentrieren, wiederholte sie die Sätze des Geistlichen, welche sie an ihren Feind banden. Zum Glück nur für kurze Zeit, denn ihr Gemahl war so gut wie tot.

Nachdem sie den priesterlichen Segen empfangen hatten, hängte er ihren Arm bei sich ein und führte sie durch den Mittelgang aus der Kirche. Seine überwältigende Nähe raubte ihr die Sinne und sie befürchtete, in Ohnmacht zu fallen. Sie hatte es unterschätzt, wie heftig ihr Körper auf ihn reagierte. Es gab nichts, was sie dagegen unternehmen konnte.

Als spürte er ihre Furcht, half er ihr zuvorkommend in eine wartende Kutsche und setzte sich ihr erst gegenüber hin, als er sicher war, dass sie nicht zu Boden stürzen würde. Dann musterte er sie ernst, bevor sich seine Lippen zu einem freundlichen Lächeln teilten.

„Ich kann verstehen, dass Euch die Situation überfordert“, stellte er fest. „Ihr kennt mich nicht und meine Größe hat schon viele Menschen eingeschüchtert.“

Da Chaja ihn nicht ansehen wollte, starrte sie auf ihre Hände, die sie im Schoß gefaltet hatte.

„Aber ich verspreche Euch, dass Ihr keine Angst vor mir zu haben braucht. Mir ist bewusst, dass ich Euch fremd bin, deswegen lasst mich Euch versichern, dass Ihr nichts zu befürchten habt.“

Die sanften Worte prallten an Chaja ab, die verzweifelt nach einem Ausweg suchte, der darin bestand, ihn zu töten, ohne mit ihm zuvor das Bett teilen zu müssen.

Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, während er seine Braut nachdenklich betrachtete. Obwohl er damit gerechnet hatte, dass diese Hochzeit für Felicitas eine beängstigende Angelegenheit sein würde, war er dennoch von dem Ausmaß ihrer Furcht überrascht.

„Denkt Ihr, dass Ihr Euch an mich gewöhnen könnt?“, wollte er nach einer langen Weile wissen, in der sich das Schweigen zwischen ihnen unangenehm ausdehnte. „Wenn nicht, bestünde die Möglichkeit, unsere Eheschließung zu annullieren. Ihr habt mich nicht gekannt, deswegen würde zweifellos jeder verstehen ...“

„Nein!“, entfuhr es Chaja und ihr Kopf schnellte in die Höhe, während sich ihre Augen in seine bohrten. „Bitte tut das nicht, Monsieur!“

Überrascht hob er die Augenbrauen an.

„Wie Ihr meint. Das beruhigt mich“, stellte er fest und atmete erleichtert aus. „Ich hätte die Feier nur ungern abgesagt.“

Das Lächeln in seinem Blick ließ sie schnell den Kopf abwenden und aus dem Fenster sehen.

„Erzählt mir etwas von Euch, Felicitas. Alles, was ich von Euch weiß, ist, dass Ihr überaus fleißig, umsichtig und wohltätig seid. Was lässt Euer Herz außerdem höher schlagen?“, begehrte er, einen Augenblick später, zu erfahren.

Chaja unterdrückte ihren Widerwillen, ihm zu antworten. Wenn sie nicht mitspielte, würde er sie womöglich ins Kloster zurückbringen! Da er diese Option in Betracht zog, musste sie auf der Hut sein. Trotzdem wollte sie nichts von sich preisgeben, deswegen entschied sie sich für eine Gegenfrage.

„Mir wurde erzählt, dass Ihr Euren Mantel einem Bettler überlassen habt und danach todkrank geworden seid. Ist das wahr?“

Da es unhöflich wäre, weiterhin ins Freie zu sehen, wandte sie sich ihm zu.

„Das ist eine Übertreibung“, schmunzelte er und winkte mit einer Hand ab. „Ich schenkte ihm den Mantel, doch war dies nicht der Grund, weshalb ich unpässlich wurde. Trotzdem scheint sich das Gerücht wacker zu halten und mit jedem Jahr weiter ausgeschmückt zu werden.“ Plötzlich wurde er ernst und er drehte den Kopf, um seinerseits ins Freie zu sehen. „Ich bin kein Held, Felicitas, wenn es das ist, was Ihr wissen wollt. Ich erwarte von Euch nicht, dass Ihr perfekt seid, nicht einmal, dass Ihr mich liebt.“

Überrascht starrte sie ihn an, sah, wie er die Hand hob und mit gespreizten Fingern durch sein dichtes Haar strich. Es war um einiges kürzer als an jenem Tag vor vielen
Jahren.

„Ich wünsche mir Eure Unterstützung. Da Euer Herz ebenso wie meines für die Armen dieser Stadt schlägt, hoffe ich, dass ich sie erhalten werde.“

Ihr blieb keine Zeit, um sich über seine Worte zu wundern, denn das Gefährt hielt an und die Türe wurde geöffnet. Der Bräutigam stieg als erstes aus, wandte sich dann um und bot ihr mit einem auffordernden Lächeln die Hand. Aus Mangel an Auswahlmöglichkeiten, ließ sich Felicitas helfen und sah sich um. Man hatte sie auf ein riesiges Anwesen gebracht, weitab von Dörfern und Städten. Weitläufige Wiesen erstreckten sich so weit, das Auge reichte und wuchsen im Landesinneren in großer Ferne zu steilen Bergen an. Auf der anderen Seite glitzerte das Mittelmeer in der heißen Nachmittagssonne. Entsetzen packte sie. Wie sollte sie von hier unbemerkt entkommen können?

Verzweifelt entzog sie ihm die Hand und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die ebenfalls eintreffenden Kutschen. Ihr schien, dass der Strom der Ankommenden nicht versiegte. Sie wünschte, Schwester Maria wäre hier. Doch von ihr hatte sie sich, wie auch von den anderen Nonnen, bereits im Kloster verabschiedet, denn es ziemte sich für den Orden nicht, einem Fest beizuwohnen.

Übelkeit grollte in ihrem Magen und als ihr Gemahl sie zur Tafel führte, befürchtete sie, sich übergeben zu müssen. Doch sie schluckte hart und hielt sich tapfer, angesichts der Falle, in der sie sich verfangen hatte. Erwiderte sein Lächeln, wenn er ihr eines schenkte, nickte, auf seine Fragen. Zum Glück war Schweigsamkeit des weiblichen Geschlechts hierzulande eine Tugend, weshalb er sie aufgrund ihrer Zurückhaltung wohlwollend musterte.

Je weiter die Stunde fortschritt, desto mehr fiel sie in sich zusammen. Die Hände, die ihre Familie ausgelöscht hatten, würden bald das Kleid von ihren Schultern streifen und das Gesicht, welches ihr Vater als letztes gesehen hatte, würde ihrem nahekommen. Sie hatte keine Ahnung, wie eine Hochzeitsnacht bei den Christen verlief, die befremdlicherweise nur einen Tag für diese Feierlichkeit aufwendeten, doch sie war davon überzeugt, dass sie ebenfalls mit ihrem Blut auf dem Laken enden würde und nicht mit seinem, das seinen Tod bezeugte. Ihr war bewusst, dass sie einem Mann, wie er es war, einem kampferprobten Soldaten, nicht entkommen konnte. Ihr Puls raste, während sich ihre Angst mit jeder Minute steigerte.

„Felicitas?“, durchbrach er ihren Gedankensturm und sie fühlte seine Handfläche auf ihrem Unterarm.

„Ja, Monsieur?“ Sie sah auf und ihn direkt an.

Sein Anblick schmerzte sie, als hätte jemand ihr Herz mit einem Speer aufgespießt.

„Es ist Zeit für dich, sich zurückzuziehen. Eine Magd wird dir den Weg weisen.“

Chaja atmete tief durch und schluckte die aufsteigende Galle hinunter. Dann stand sie bebend auf, schwankte leicht wie Schilfrohr im Land ihrer Heimat. Seine Hand legte sich stabilisierend an ihre Taille und die Hitze der Berührung raubte ihr den Atem.

„Deine Verfassung gefällt mir nicht. Wenn du es wünschst, werde ich dich begleiten“, ließ er sie wissen und machte Anstalten, sich zu erheben.

„Nein“, wehrte sie schnell ab und ehe sie sich davon hätte abhalten können, hatte sie eine Hand auf seine Schulter gelegt und drückte ihn nach unten. Unter dem Stoff seines aufwendig gearbeiteten Hemdes konnte sie die harten Muskeln eines erfahrenen Kriegers spüren, die sich aufgrund ihrer Berührung sofort entspannten. Als hätte sie sich verbrannt, zuckte Chaja zurück und erntete erneut einen ratlosen Blick von ihm.

„Ich ... ich kann das allein, vielen Dank.“

Mit letzter Kraft drehte sie sich um und stakste aus dem Raum. Eine Magd brachte sie in ein großes Schlafzimmer, an dessen einer Wand ein wuchtiges Holzbett stand. Nachdem die Dienerin gegangen war, sah sie sich eingeschüchtert um. Wenn sie bei ihrem Volk wäre, dann würde sie jetzt nicht allein sein. Frauen würden sie umschwärmen und für die Nacht vorbereiten. Sie baden, teure Öle in ihre Haut einmassieren und damit die Angst vertreiben. Lachen würde sich mit Nervosität verbinden und wenn der Bräutigam käme und alle aus dem Zimmer scheuchte, wäre sie bereit dafür, ihn zu empfangen. Doch sie stand hier in einem Haus, dessen Weitläufigkeit sie einschüchterte. Um sich abzulenken, stellte sie sich den Palast König Salomos vor, der um ein Vielfaches größer gewesen war, bevor man ihn zerstört hatte. Ihn und den Tempel. Nach dem Tod jenes ersten Katholiken, diesem Jesus, nachdem der Vorhang vor dem Allerheiligsten entzweigerissen war, hatte sich vieles für ihr Volk verändert. Ihr Vater hatte manchmal gesagt, dass es sich anfühlte, als hätten sie irgendetwas verpasst. Als wäre etwas geschehen, das sie nicht verstanden hätten und das ihren Gott dazu veranlasst hatte, sich von ihnen abzuwenden. Denn er war nicht länger innerhalb der Mauern spürbar, wohnte nicht mehr unter ihnen. Seufzend schloss er mit dem Satz: „Dies sagte schon Euer Großvater zu mir und dessen Großvater zu ihm. Seit jenem Tag, als der Vorhang riss, wird dies in unserer Familie weitergegeben bis zum heutigen Tag. Der Gott, der unser Volk als Feuersäule bei Dunkelheit und bei Tag als Wirbelsturm durch die Wüste führte, der in der Bundeslade mit uns von Ort zu Ort zog, er hat uns vergessen. Aber wir richten alle Hoffnung auf jene Stunde, zu der der Messias kommt, um uns aus dem Exil zu führen.“

Das Flackern der Kerzen wirkte wie ein aufgewühlter Lichtsee inmitten von Felsen aus Dunkelheit. Chaja fröstelte und ihr Blick glitt zu einem Nachthemd, das über einer Stuhllehne hing. Auch, wenn sie nicht in wenigen Minuten mit dem Mörder ihrer Familie allein sein würde, hätte sie nicht die Kraft, es anzuziehen. Ihre Finger zitterten so heftig, dass sie nicht einmal die Knöpfe ihres Kleides öffnen konnte.

Sie wünschte sich, wieder in die Geschichten ihrer Vorfahren eintauchen zu können, um zu vergessen, was sie erwartete und wo sie war. Aber es gelang ihr nicht mehr. Wenn sie jetzt an ihren Vater dachte, würde sie zusammenbrechen.

Als sich Schritte näherten, ballte sie die Hände und hielt die Luft an. Viel zu schnell öffnete sich die Tür und ihr Gemahl trat ein. Seine Augen hefteten sich auf sie und er zog die Tür hinter sich zu, verriegelte diese. Langsam, als hätte er Angst, sie zu verscheuchen, kam er näher. In einigem Abstand blieb er stehen und betrachtete sie.

„Ich vermag mir nicht zu erklären, weshalb du dich derart heftig vor mir fürchtest“, murmelte er. „Was habe ich getan? An meiner Größe allein kann es nicht liegen.“

„Ich ... ich ... habe ...“ Es war ihr unmöglich, weiterzusprechen und sie taumelte auf den Stuhl mit dem Nacht-hemd zu, klammerte sich an dessen Lehne. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, sie brachte keinen Ton heraus und befürchtete, auf der Stelle zu ersticken.

„Felicitas“, versprach er sanft, „es wird nichts passieren, was dir Angst bereitet. Ich werde dich nicht verletzen, dir nicht weh tun. Vertraue mir!“

Das war zu viel. Die zärtlichen Worte vor dem Hintergrund jener schrecklichen Tat ergaben keinen Sinn. Unwillkürlich krümmte sie sich zusammen.

„Mir ist übel“, keuchte sie und sofort war er bei ihr, hob sie auf und brachte sie zu dem breiten Bett.

„Nein“, wehrte sie sich, „bitte! Bitte verlangt nicht von mir ...“

Er setzte sie ab und ließ sich neben ihr auf der Bettkante nieder, ergriff ihre eiskalten Hände.

„Natürlich nicht“, murmelte er und Sorge verdunkelte seine Züge. „Ist alles in Ordnung mit dir? Hast du unangenehme Erfahrungen mit Männern gemacht? Sollte das zutreffen, bitte ich dich, es mir jetzt zu sagen.“

Ja, die Hochzeitsnacht war bei den Juden ebenfalls die geeignete Nacht, um solche Gespräche zu führen. Wenn im Laufe dieser Stunden entdeckt wurde, dass die Braut befleckt war, konnte sich der Bräutigam am nächsten Tag von ihr trennen. Offensichtlich war es bei den Christen genauso.

„Nein,“ entgegnete sie. „Kein Mann hat mich jemals berührt.“

Die steile Falte zwischen seinen Augenbrauen trat noch deutlicher hervor. „Was ist es dann?“

„Ihr seid so groß“, versuchte sie Zeit zu gewinnen. „Ich befürchte, Ihr werdet mich erdrücken.“

Da begann er zu lachen und sah gänzlich anders aus als jener Centenar, der mit zusammengepresstem Mund darauf gewartet hatte, dass seine Soldaten das Grab für ihre Verwandten aushoben.

„Ich gelobe, dass dies nicht passieren wird“, lächelte er und legte eine Hand über sein Herz. „Gar nichts von alldem, was dir Angst bereitet. Bis du dich an mich gewöhnt hast.“

Ungläubig blinzelte sie, konnte sich nicht von ihm abwenden, da sie annahm, sich verhört zu haben.

„Was sagt Ihr da?“

„Ich werde mich dir erst nähern, wenn du mir vertraust.“

„Aber ...“

Er senkte den Blick und musterte die Bettdecke, dann beugte er sich vor und schlug sie auf.

„Fühlst du dich nun besser?“

„Ja“, hauchte sie, unfähig, ihr Glück zu fassen.

In der kommenden Nacht würde sie ihn ermorden, ohne sich ihm zuvor ausgeliefert haben zu müssen. Andererseits bestand kein Anlass, etwas zu überstürzen. Die halbe Stadt schlief hier und es wäre unklug, ihn im Kreise seiner Angehörigen zu töten. Da es nicht mehr notwendig war, schnell zu handeln, vermochte sie in Ruhe abzuwarten und einen Plan zu schmieden, wie sie sich seiner entledigen könnte, ohne den Verdacht auf sich zu lenken.

Eine Berührung an ihrer Wange holte sie in die Gegenwart zurück und sie bemerkte, dass seine Fingerkuppen zärtlich über ihr Gesicht glitten.

„Du siehst indessen schon um einiges gesünder aus“, stellte er mit einem Zwinkern fest und erhob sich. „Kleide dich um und geh zu Bett. Ich komme später.“

Als er gegangen war, beeilte sie sich damit, sich umzuziehen und schlüpfte schnell unter die Decke. Sie war überzeugt davon, nicht einschlafen zu können, da sie wusste, dass er zurückkehren würde. Doch die intensiven Gefühle, denen sie im Laufe des Tages ausgesetzt gewesen war, hatten sie erschöpft und sie schlief bald ein.

2. Kapitel

Martin Bonnet kehrte nicht mehr zur Hochzeitsgesellschaft zurück, sondern begab sich in den angrenzenden Salon. Er entledigte sich des breiten Gürtels, der sein Hemd an der Taille zusammenfasste und warf ihn auf einen Stuhl, der vor einem schweren Tisch stand. Auf dessen Platte stützte er sich auf und starrte in die zuckende Kerzenflamme, während er in Gedanken den Tag Revue passieren ließ. Als er Felicitas ansichtig geworden war, hatte ihn Glück durchflutet, welches sich mit jedem Fuß, dem sie sich ihm genähert hatte, steigerte. Ihr dunkelbraunes Haar unter dem Blumenkranz war dicht und weich, ihr Körper verfügte, so weit er das hatte erkennen können, über ein gebärfreudiges Becken. Dieses war nicht zu schmal und zierlich und somit kein Grund zur Besorgnis, wenn sie seine Kinder in sich tragen würde. Als sie aufgesehen hatte, blickte er in intelligente, grüne Augen und ihr Antlitz war, wie man es ihm versichert hatte, ein erfreulicher Anblick. Obwohl sie ihm ausgesprochen gut gefiel und er sie am liebsten nur stumm angesehen hätte, war ihm ihre Angst vor ihm nicht entgangen. Wie ein düsterer, dunkler Schatten, hatte sie sich über ihre Pupillen gelegt. Ihr Körper war zu Stein erstarrt und er hatte befürchtet, sie würde jeden Moment zusammenbrechen. Diese Furcht stand in krassem Gegensatz zu ihrem gesunden Körperbau und er wünschte, nicht der Grund für ihre Qual zu sein.

Mit einem schweren Seufzen stieß er sich von der Tischplatte ab und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Ganz gewiss würde es nicht lange dauern, bis sie Vertrauen zu ihm gefasst hatte und seine Anwesenheit sie nicht mehr in Angst und Schrecken versetzte. Seine überwältigende Größe hatte Menschen, die ihn nicht kannten, abgeschreckt, seit er weit über die Köpfe der anderen hinausgeschossen war. Er konnte dies nachvollziehen. Den einzigen Vorteil, den er daraus in all den Jahren hatte ziehen können, war, dass er seine Gegner bereits einschüchterte, bevor er das Schwert gezogen hatte. Oft hatte er den Sieg schon vor Beginn des Kampfes in der Tasche.

Wenn er einen Raum betrat, entging ihm nicht, wie jeder im Kopf überschlug, ob er zu seinen Freunden oder seinen Feinden zählte. Kein Wunder, dass Felicitas bei seinem Anblick nahezu in Ohnmacht gefallen war.

Er hielt mitten in der Bewegung an und starrte auf seine Hände, die golden im matten Kerzenlicht schimmerten. Vor seinem inneren Auge sah er sie zum Gebet gefaltet. Dafür waren sie bestimmt gewesen. Oder dafür, alte Schriften zu übertragen, sie aus dem Hebräischen zu übersetzen und diese niederzuschreiben. Oder dafür, Weihrauch zu schwenken, sich zu bekreuzigen und Almosen an Arme zu verteilen. Der Weg, den er für sich gesehen hatte und auf den er sich bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr vorbereitet hatte, war ein anderer als der, den man ihn zu gehen zwang. Letzterer hatte ihn staubige Wüstenstraßen entlang geführt und an orientalischen Städten vorbei, über Ebenen, die von Leichen übersät waren. Er hatte in weinende Kindergesichter geschaut und sein Herz vor bettelnden Frauen verschlossen, die sich ihm für eine Nacht angeboten hatten; für ein Stück Brot, der Saum ihrer zerrissenen Kleider blutdurchtränkt. Und als er nach Jahren in die Heimat zurückgekehrt war, stand fest, dass er eine Gemahlin bräuchte, ein Weib, das seinen Haushalt führte und ihm Kinder gebar. So wünschte es sein Vater für den jüngsten Sohn.

Ein jeder hätte über den Gedanken gelacht, dass man einen Koloss wie ihn zu etwas zwingen konnte. Doch trotz seiner Stärke fühlte er sich, als hätte man ihm die Hände gebunden und ein Kreuz auf seine Schultern geladen, das er, als guter Christ, anzunehmen und zu tragen hatte.

Sein Leben lang hatte er sich nach einem Seelenverwandten gesehnt, einem Menschen, der ihn verstand, mit dem er seine Gedanken, Träume teilen konnte. Doch aufgrund seiner gesellschaftlichen Stellung wagte keiner, ihm gegenüber ehrlich zu sein und als Oberbefehlshaber einer Truppe behandelte man ihn ohnehin mit größter Zurückhaltung.

Die Idee, sich ein Weib zu nehmen, hatte ihn zuerst durcheinandergebracht, doch er hatte sich schnell daran gewöhnt. Wenn seine zukünftige Gattin ein redliches, sanftes Herz besaß, würde sie den Haushalt in seinem Sinne führen. In der Kirche zu erkennen, dass sie außerdem schön war, dass seine Augen bei ihrem Anblick Ruhe finden konnten, hatte sich wie ein Geschenk angefühlt, eine Zugabe, mit der er nicht gerechnet hatte. Sein Blick glitt zu jener Tür, die ins Schlafzimmer führte und mit einem Mal sehnte er sich danach, zu ihr zu gehen. Sich neben sie zu legen und sie so lange zu betrachten, bis ihm die Augen zufielen. Er beschloss, nicht weiter zu warten, deswegen zog er sich das Hemd über den Kopf und warf es zum Gürtel, dann stieg er aus der Hose und schlüpfte in ein Nachthemd, das bis zu seinen Waden reichte. Leise, um Felicitas nicht zu wecken, trat er ein und schlich näher. Die Kerzen auf dem Nachttisch waren hinuntergebrannt und würden bald verlöschen. Vorsichtig legte er sich neben sie, zog die Decke bis zur Hüfte hinauf und schob das Kissen unter dem Kopf zurecht, während er sich auf die Seite drehte. Lächelnd studierte er ihre entspannten Gesichtszüge, die hin und wieder zuckten, als trübte ein Unwetter die helle Wiese ihrer Träume.

Eine nach der anderen erstarben die Lichter und Martin schloss die Augen. Felicitas hatte ihm einen Ort der Ruhe geschaffen. Es genügte, ihrem leisen Atem zu lauschen, um die Schreie seiner Albträume zu vertreiben. Ein, aus. Stille. Mühelos glitt er ins Reich der Träume, fand sich auf den Straßen Jerusalems wieder. Um ihn pulsierte das Leben, aus einem Haus drang Musik. Etwas weiter vorne schoben sich unzählige Menschen zwischen Marktständen hindurch, das Feilschen der Händler vermengte sich mit den Stimmen greiser Männer, die abseits saßen und einer kleinen Zuhörerschar alte jüdische Geschichten erzählten. Dabei drehte es sich unentwegt um jenes Ereignis, als Gott Israel aus Ägypten gerettet und durch die Wüste geführt hatte. Wie er ihnen ihre Feinde in die Hand gegeben hatte. Stets endeten sie mit den Prophetien über einen Messias, der sein Volk retten und endlich seine göttliche Herrschaft aufrichten würde.

Martin lachte ausgelassen, insgeheim mochte er die Lebensart der Orientalen und er setzte sich zu ihnen ans Feuer. Es wurde schnell dunkel und die Männer um die Feuerstelle weniger. Träge lehnte er sich an die Mauer zurück und blickte in den Himmel empor, an dem unzählige kleine Lichter entzündet worden waren.

„Gott sagte zu Abraham: Deine Nachkommen werden so zahlreich sein, wie die Sterne“, rezitierte eine greise Stimme neben ihm und Martin wandte den Kopf, musterte einen betagten Juden, der sanft lächelte und in eine Ferne zu blicken schien, die weitab der Realität lag.

„Ja, so steht es in der Thora, nicht wahr?“

Als der alte Mann ansetzen wollte, erhellte ein Feuerball die Finsternis und Martin sprang auf. Noch bevor er fassen konnte, was geschah, regneten weitere heiß züngelnde Fackeln auf den Platz nieder. Er hörte Schreie, sah Menschen wie lebendige Feuersäulen durcheinanderlaufen. Sein Herz setzte einige Schläge lang aus und er erstarrte, als die Stirn seines Gesprächspartners von einem brennenden Pfeil durchbohrt wurde. Dann holte er tief Luft und schrie.

Chaja fuhr erschrocken in die Höhe, ihr Herz raste, während sie versuchte, sich zu orientieren. Obwohl es dunkel war, bemerkte sie, dass sie nicht in ihrer Zelle im Kloster lag. Als jemand direkt neben ihr stöhnte, sprang sie aus dem Bett, wobei sie über die Decke stolperte und mit einem Schmerzensschrei zu Boden stürzte. Ihre Knie schlugen hart auf, doch sie ignorierte das taube Gefühl und kroch weiter von dem Schlafplatz fort. Das Stöhnen verebbte und Stille legte sich über den Raum. Lauschend hielt sie inne, überlegte, wie sie entkommen könnte, als sie sich daran erinnerte, dass sie sich im Brautgemach befand und es demnach ihr Gemahl war, der diese schrecklichen Laute von sich gab. Zitternd rappelte sie sich auf und tastete sich zum Nachtkästchen zurück. Sie fand einen Kerzenständer und eine unverbrauchte Kerze, taumelte damit zur Tür und auf den Gang, welcher von zuckenden Fackeln erhellt wurde. Sie entzündete den Docht und kehrte ins Zimmer zurück. Erst als sie das kleine Licht abgestellt hatte, warf sie einen kurzen Blick zu ihrem Bräutigam und fuhr erschrocken zusammen, als sie bemerkte, dass er sie beobachtete. Sofort brachte sie größeren Abstand zwischen sich und ihn.

„Habe ich dich geweckt?“, wollte er heiser wissen und setzte sich auf.

Sein Nachthemd stand etwas offen und sie wusste nicht, wohin sie schauen sollte, deswegen wandte sie sich ab und zuckte mit den Achseln.

„Das tut mir leid“, sagte er und erhob sich.

Angst vor dem, was er jetzt unzweifelhaft zu tun gedachte, ließ sie bis an die Wand zurückweichen. Er tat, als bemerkte er es nicht und steuerte die Tür an.

„Ich will deine Nachtruhe nicht ein weiteres Mal stören und werde in einem anderen Zimmer schlafen.“

Verblüfft beobachtete sie, wie er den Raum verließ und die Tür leise hinter sich zuzog. Nur langsam beruhigte sie sich und die Kälte der Mauersteine an ihren Handflächen ließ sie frösteln. Schnell huschte sie zum Bett zurück und kroch unter die Decke. Aber sie konnte nicht mehr einschlafen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in die Dunkelheit und versuchte, die Erinnerungen zu verdrängen, die nur darauf warteten, sie zu überwältigen. Sie hatte angenommen, der Mörder ihrer Familie wäre ein Turkopole. Seit hunderten von Jahren waren sie Israels Erzfeinde, allerdings nicht so lange wie die Philister. Aber sie hatte sich geirrt. Es war kein Söldner gewesen, der sich hinter dem Emblem der Kreuzritter versteckt hatte. Nein, ihr Feind entstammte dem Römischen Reich und das machte die Sache keineswegs besser.

„Madame, wacht auf, die Frühmesse beginnt bald!“

Chaja blinzelte und betrachtete das blasse Gesicht einer Magd, das einige Zoll über ihr schwebte und sie eindringlich ansah.

Im ersten Moment meinte sie, wieder im Kloster zu sein. Allerdings hatten die Glocken nicht geläutet, um sie zu wecken und die Frau, welche sie sanft anstupste, holte sie schlagartig in die Wirklichkeit zurück.

„Das verstehe ich nicht. Wieso gibt es hier eine Früh-messe?“

„Wenn der junge Herr da ist, wird jeden Morgen eine gelesen. Er hat mich geschickt, um Euch zu wecken.“

„Der junge Herr?“, wiederholte Chaja schläfrig und rieb sich die Augen.

„Martin Bonnet, Euer Mann.“

Martin Bonnet. Die Müdigkeit fiel von ihr ab und unbändiger Hass zerrte an ihren Eingeweiden. Bis zu diesem Augenblick hatte sie verdrängt, dass er ebenfalls einen Namen hatte. Im Laufe der Trauung war sie zu abgelenkt gewesen, um ihn zur Kenntnis zu nehmen. Umso erschütterter war sie, ihn jetzt zu hören. Martin Bonnet. Martin Bonnet ist des Todes.

Ihr Zorn steigerte sich, als ihr bewusst wurde, was die Worte der Dienerin zu bedeuten hatten. Chaja war übermäßig froh gewesen, dem Kloster entronnen zu sein, nur um wieder in das starre Korsett der Kirche gezwängt zu werden.

Kochend vor Wut wusch sie sich und schlüpfte in ein Kleid, das ihr die Magd hergerichtet hatte. Die trichterförmigen, feinplissierten Unterärmel fielen über ihre Handgelenke und fühlten sich weicher an, als alle Stoffe, die sie auf Feindesboden je berührt hatte. Das Dienstmädchen schlang ihr einen zweifachen Gürtel sowie eine Schärpe um die Taille und flocht ihr Haar zu zwei Zöpfen, in welche sie Bänder einarbeitete. Als sich Chaja kurze Zeit später in einem Spiegel betrachtete, meinte sie, einer fremden Frau gegenüber zu stehen: einer französischen Edelfrau, genau genommen. Entsetzt stieß sie die Luft aus. Um sich zu beruhigen, tröstete sie sich damit, dass dieses Kleid tausendmal schöner als die triste Kluft der Novizinnen war. Um Welten besser.

Als sich die Tür eine Weile später öffnete, fuhr sie herum und Angst zerriss ihr Herz, als sie ihren Mann erkannte. Er blieb auf der Türschwelle stehen und musterte sie lächelnd, woraufhin sie den Kopf senkte und ihre Finger ineinander verschränkte.

„Wie ich sehe, bist du bereit“, stellte er fest und streckte ihr seine Hand entgegen.

Oh, wie gerne hätte sie diese zurückgewiesen! Ihn angespuckt! Doch es wäre unklug, ihm ihre Abneigung zu zeigen. Er würde Verdacht schöpfen und dies ihren Plan gefährden.

„Ich nehme an, dass du es gewöhnt bist, erst nach der Messe zu essen.“

„Ja, Monsieur“, erwiderte sie und reichte ihm ihre Hand.

Er zog sie in die Höhe, beugte sich darüber und deutete einen Handkuss an. Einzig sein Atem streifte ihre Haut, seine Lippen berührten sie nicht. Dann hängte er ihren Arm bei sich ein und führte sie aus dem Zimmer, über den schmalen Flur und die Treppe in den unteren Stock hinunter. Danach folgten sie einem weiteren langen Gang und erreichten endlich eine kleine Kapelle.

Du Scheinheiliger, du Mörder, da beugst du dein Knie demütig vor Gott, nachdem du im Blut meines Volkes gebadet, Kinder abgeschlachtet und Frauen geschändet hast. Der Gott der Christen kann niemals der Gott der Juden sein, denn Israels Feinde, sind JHWHs Feinde.

Während sie neben ihrem Mann auf dem harten Betschemel kniete, verfluchte sie ihn in ihren Gedanken. Nur so vermochte sie diese Stunde zu überstehen, zu schweigen, anstatt zu schreien.

„Wir werden einige Tage hier verweilen, bevor wir in die Stadt und in mein Haus zurückkehren“, erklärte Bonnet und beobachtete, wie sie ihm Suppe auf einen Teller schöpfte und diesen vor ihn stellte. „Vielen Dank.“

Sie schwieg und nahm sich ebenfalls. Bonnet bekreuzigte sich und sie tat es ihm widerwillig gleich. Dann begann er zu essen.

„Im kommenden Monat wirst du lernen, dich in meinem Haushalt zurechtzufinden. Ich werde dich in deine Aufgaben einweisen, damit du ihm problemlos vorstehen kannst, wenn ich nicht mehr da bin.“

Chaja legte den Löffel neben den Teller und sah ihn fragend an. „Ihr plant, die Stadt zu verlassen, Monsieur? Für längere Zeit?“

„Mein Urlaub währt nicht ewig“, erklärte er. „Der König hat mich vor die Tore Jerusalems befohlen.“

Ein Glück, dass der Löffel neben ihrem Teller lag, denn er wäre ihr zweifellos aus der Hand gefallen. Schock ließ sie erstarren und sie verdrängte die Vorstellung von ihm, wie er weitere Menschen abschlachtete, ihr Volk jagte und hinrichtete. Frauen vergewaltigte. Ihr wurde schlecht und sie beugte sich vor, bohrte unbewusst eine Faust in ihren Bauch.

„Ist dir nicht wohl, Felicitas?“, wollte er besorgt wissen und legte eine Hand auf ihren Unterarm.

„Es ist alles in Ordnung“, quetschte Chaja heraus. „Der Gedanke, allein in Eurem Haus zu bleiben, ängstigt mich.“

Er zog seine Hand zurück und lächelte freundlich.

„Es besteht kein Grund zur Sorge. Du hast ein Heer an Dienstboten, das dich unterstützen wird.“

Chaja nickte, und griff nach dem Löffel, den sie krampfhaft umschloss. Wie sollte sie ihn töten, wenn er nicht hier war? Es musste eine Möglichkeit geben ... Nein, sie hatte keine andere Wahl, als es davor zu erledigen. War er erstmal tot, rettete sie vermutlich hunderte Menschenleben. Aber wie konnte sie es anstellen, ohne, dass der Verdacht auf sie fiel?

„Ich bin überzeugt davon, dass du dich schnell einleben wirst“, fuhr er fort, nichts wissend von dem Hinterhalt, der in ihrem Kopf Formen annahm.

Obwohl ihre Gedanken rasten, zwang sie sich, zu essen. Erst eine rettende Idee vermochte ihre Stirn zu glätten. Jetzt galt es nur noch, ihren Mann zu überzeugen. Wenn er einwilligte, wäre ihre Bahn geebnet und ihr Dolch steckte so gut wie in seinem harten Herzen.

„Monsieur, es war schon immer mein Wunsch, Palästina zu bereisen“, murmelte sie und umschloss seinen Unterarm. „Bitte, erfüllt mir den Gefallen und nehmt mich mit Euch!“

Mit eisernem Willen hob sie ihm ihr Antlitz entgegen und sah ihn flehentlich an. Ihr entging die Überraschung in seinem Gesicht nicht. Doch im nächsten Moment schüttelte er unwillig den Kopf.

„Niemals. Das Heilige Land ist zu gefährlich für eine Frau.“

Betroffen verzog sie den Mund.

„Und wenn Ihr mich nur bis zu einer der befestigten Städte, die dem Römischen Reich unterstehen, mitnehmt und dort zurücklässt? Es würde mir helfen, Euch zu verstehen und ... mich an Euch zu gewöhnen. Wenn ich weiß, wie man im Gelobten Land lebt, gelingt es mir sicherlich, Euch näherzukommen. Ich könnte außerdem besser nachvollziehen, was Ihr von Euren Kämpfen erzählt.“

„Du lebst längst in einer befestigten Stadt“, erinnerte er sie und zog die Augenbrauen zusammen, sodass sich eine steile Falte über seinem Nasenrücken bildete. „Tripolis untersteht dem Franzosen Guy de Lusignan, der abgesehen davon auch der König Jerusalems ist. Genaugenommen sind wir nur sieben Tagesreisen von Jerusalem entfernt. Du wirst kaum eine Abweichung im Klima oder in der Lebensweise feststellen.“

Jetzt drückte sie ihn sanft und sah ihn mit großen, sehnsüchtigen Augen an. So schnell würde sie nicht aufgeben.

„Bitte, ich wünsche es mir über die Maßen!“

Er erwiderte ihren Blick und sein Unmut fiel sichtbar in sich zusammen, seine Gesichtszüge wurden weich, als er sie intensiv musterte. Wärme schimmerte in seinen Augen, als er ungläubig fragte: „Du willst die Strapazen der Reise auf dich nehmen, um mich zu verstehen? Um mir eine bessere Ehefrau zu sein?“

„Ja, mein Herr“, bestätigte sie und errötete nicht einmal aufgrund ihrer Lüge.

Während all der Jahre, in denen sie ihre Herkunft verleugnet hatte, hatte sie es gelernt, die Unwahrheit zu sagen, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu empfinden. „Ich möchte die Luft atmen, die Eure Lunge füllt. Bitte nehmt mich mit, Ihr werdet es nicht bereuen!“

Er hob die Hand und strich ihr sanft über die Wange. Doch er musste erkannt haben, wie stark sie dagegen ankämpfte, nicht zurückzuweichen, deshalb ließ er den Arm sinken.

„Gib mir etwas Zeit“, bat er und wandte sich wieder seinem Teller zu. „Ich werde darüber nachdenken.“

Chaja atmete tief durch und schloss sekundenlang die Augen. Innerlich beschwor sie seinen Geist. Er musste zustimmen! Er musste es einfach tun!

Ihr Ansinnen beschäftigte ihn und er schwieg während des restlichen Mahls. Als er sich erhob, trafen die ersten Hochzeitsgäste ein, die im Laufe des Vormittags abreisen würden. Bevor sie sich einen Platz suchten, hielten sie an, um mit dem frischgebackenen Ehemann ein paar Worte zu wechseln. Da es der Anstand so wollte, blieb Chaja an seiner Seite und lauschte den kurzen Gesprächen widerwillig. Dabei musste sie feststellen, wie ausnehmend Martin Bonnet geschätzt wurde. Kaum hatte er sich von jemandem verabschiedet und einige Schritte in Richtung Tür gesetzt, wurde er schon wieder aufgehalten. Trotzdem vermittelte er den Eindruck, dass er sich über jeden, der ihnen gegenübertrat, freute. Als genösse er es, Zeit mit den Gästen zu verbringen. Ab und zu lenkte er seinen Blick auf die junge Braut und zwinkerte ihr zu. Chaja sah schnell weg, niemals würde sie eine solche Vertraulichkeit erwidern.

Als sie den Saal endlich verlassen hatten und dem Gang zu ihren Räumlichkeiten folgten, atmete Chaja erleichtert auf. Vermutlich würde er sie jetzt in ihr Zimmer bringen, wo sie ihre Stickarbeit zur Hand nehmen könnte, um sich die Zeit zu vertreiben. Was sie allerdings unterlassen würde. Stattdessen wollte sie sich ihre rosige Zukunft ausmalen und wie sie dorthin gelangte. Doch anstatt sich an der Tür zu verabschieden, trat er hinter ihr ein.

„Ich habe ein Geschenk für dich“, erklärte er und seine Augen blitzten, „meine Morgengabe. Warte einen Moment.“

Kurz verschwand er im Nebenzimmer, nur um Augenblicke später zurückzukehren.

„Schließe die Augen“, forderte er, nachdem er vor ihr stehengeblieben war.

Chajas Herz setzte für einen Schlag aus und ein dicker Kloß bildete sich in ihrem Hals.

„Los, hab keine Angst!“

Zitternd senkte sie die Lider, fühlte seine Hand nach ihrer greifen. Er hob sie höher und schob ihr dann einen Ring auf den Finger. „Öffne die Augen!“, bat er und sie befolgte seine Anweisung.

Er hielt ihre Hand so, dass der schmale Reif sofort in ihr Blickfeld kam. Es war ein zarter, goldener Ring, mit einem blauen Edelstein in der Mitte. Kleine, durchsichtige Diamanten waren um diesen wie Blütenblätter angeordnet. Es war ein bezauberndes Geschenk und käme es nicht von ihm, würde ihr Herz vor Freude höher schlagen. Die Aussicht, die Gabe ab jetzt immer in seiner Gegenwart tragen zu müssen, verursachte ihr indessen Übelkeit. Trotzdem zwang sie sich zu einem Lächeln.

„Er ist wunderschön“, stellte sie fest und betrachtete ihn eingehend, um sich von ihrem inneren Aufruhr abzulenken. „Woher wusstet Ihr, dass er mir gefallen würde? Ihr kanntet mich doch nicht.“

Da sie ihm die Hand entzogen hatte, verschränkte er die Arme vor der Brust und lehnte sich mit den Hüften gegen den pompösen Fußteil des Bettes.

„Man hat mir von dir berichtet, Felicitas, und ich stellte mir dich als zarte Blume vor, betörend, sanft und doch widerstandsfähig genug, um dem Wind zu trotzen. Als ich diesen Ring sah, dachte ich an dich. Es war, als hätte er mich gerufen.“

Die Wärme in seiner Erwiderung brachte Chaja durcheinander. Sie konnte nicht begreifen, dass er über ein derartig ausgeprägtes Einfühlungsvermögen verfügte. Er war ein blutrünstiger Centenar, ein brutaler Mann des Krieges.

Langsam ließ sie die Hand sinken.

„Ich danke Euch“, sagte sie schlicht.

„Es ist nicht der Rede wert“, wiegelte er ab und stieß sich vom Bett ab.

Behutsam näherte er sich ihr wieder, umschloss ihre Hände und streichelte ihre Handrücken mit den Daumen. Chaja reagierte nicht, hielt ihr Antlitz nach wie vor gesenkt. Plötzlich gab er eine Hand frei, legte sie unter ihr Kinn und hob es an. Sie wünschte, ihn nicht ansehen zu müssen, doch hatte sie keine Möglichkeit, ihm zu entkommen. Aufgrund seiner Größe lag ihr Kopf weit im Nacken, ihre Kehle war vollkommen entblößt und wieder packte sie Angst. Niemals würde sie sich an seine Berührung gewöhnen! Forschend sah er ihr in die Augen.

„Du fürchtest mich noch immer“, stellte er ernst fest. „Weshalb? Was habe ich getan?“

Chaja schwieg unbehaglich. „Ich habe in den letzten Jahren kaum einen Mann zu Gesicht bekommen“, erklärte sie leise, da er beharrlich auf eine Antwort wartete. „Umso einschüchternder seid Ihr, Monsieur.“

„Was kann ich tun, um dir die Angst zu nehmen?“

„Ihr könntet mir ein wenig Ruhe gönnen. Vorerst würde ich vorschlagen, dass wir uns nur zu den Mahlzeiten sehen.“

Überrascht hob er die Augenbrauen, löste den Blick dessen ungeachtet nicht von ihr.

„Welch ungewöhnlicher Rat. Normalerweise zähmt man ein Tier, indem man es an die eigene Gegenwart gewöhnt.“

„Aber ich bin kein Vieh, mein Gemahl, sondern Eure Braut. Nur langsam vermag ich mit Euch vertraut zu werden.“

Noch immer sah er sie eindringlich an, dann beugte er sich tiefer und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Ein entsetzter Schrei löste sich von ihren Lippen und er gab sie sogleich frei. Als hätte man sie gejagt, beschleunigte sich ihre Atmung und ihre Brust hob und senkte sich in hektischen Stößen. Ihr Puls raste. Ihm entging ihre Reaktion nicht und er zog sich zurück. Schnell wirbelte sie herum, kehrte ihm den Rücken zu, schlang die Arme um ihren Oberkörper. Tränen brannten in ihren Augen. Es war so still, dass sie befürchtete, beim kleinsten Laut zu sterben.

„Bei allen Heiligen“, stieß er nach einer Weile, die ihr wie eine Ewigkeit erschienen war, aus, „ich sehnte mich nach einem Weib, das mich respektiert, aber keinesfalls fürchtet. Deren Herz im Einklang mit meinem schlägt und nicht vor Schreck erstarrt.“

Chaja wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Denn diese Frau würde sie ihm niemals sein. Abgesehen davon wollte sie es fernerhin nicht werden.

Da sie schwieg, zog er sich zur Tür zurück.

„Ich gebe dir eine Stunde, um dich zu fassen. Danach hole ich dich zu einem Spaziergang ab.“

Einen Wimpernschlag später war sie allein. Sie ballte die Hände, wünschte sich, sich mit ihren Racheplänen ablenken zu können. Doch die Haut, welche er mit seinem Mund berührt hatte, brannte so schmerzhaft, dass sie an nichts anderes denken konnte. Sie stellte sich vor, wie sich genau diese Lippen zu einem lüsternen Lachen verzogen hatten, bevor er sich in ihrer Mutter versenkt hatte. Es tat so weh, dass sie sich zusammenkrümmte und verzweifelt zu weinen begann.

3. Kapitel

Chaja war nicht die erste Frau, welche in seiner Gegenwart vor Angst erstarrte. Martin Bonnet erinnerte sich an ihre unzähligen Gesichter, wenn sie bei dem Einnehmen einer Stadt die Häuser plünderten und die Einwohner zusammentrieben. Frauen und Kinder hatten sie mit reichlich Proviant zurückgelassen, die Männer als Gefangene weggeführt oder, je nach Befehl, getötet. Stets hatte er tiefes Mitleid mit den schwächsten Gliedern der Gesellschaft gehabt, die, von unterschiedlichen Überfällen traumatisiert, nicht wussten, wohin mit ihrer Angst. Bei Gott, er hatte sein Bestes gegeben, ihnen die Furcht zu nehmen. Es gelang ihm besser bei denjenigen, die nie Opfer der Seldschuken geworden waren, die nie die Gräuel hatten mitansehen müssen, welche mit ihren Beutezügen einhergingen. Das Römische Reich und alle mit ihm verbündeten Länder führten einen Krieg Mann gegen Mann. Die Araber hatten diesen auf Frauen und Kinder ausgedehnt. Kein weibliches Wesen das dergleichen erlebt hatte, würde jemals wieder einen Mann empfangen können, ohne tausend Tode zu sterben. Wenn er es nicht besser wüsste, würde er vermuten, Felicitas war im Laufe ihres Lebens Zeuge jener Grausamkeiten geworden. Aber wie hätte das zugehen sollen? Als Französin wäre sie niemals in die Nähe eines Muselmanen gekommen und als Novizin eines Klosters erst recht nicht. Deswegen konnte er sich keinen Reim auf ihre Zurückhaltung ihm gegenüber machen. Abgesehen davon, vermochte er sich nicht an eine einzige Situation zu erinnern, in der er sich in ihrer Gegenwart übermächtig, hart oder uneinsichtig verhalten hätte. Deshalb würde er, um ihr zu beweisen, wie viel ihm an ihrem Wohlergehen gelegen war, ihrem Wunsch stattgeben und sie auf seine Reise mit sich nehmen. Er plante, sie in sicherem Abstand zu Jerusalem, die Stadt Lod wäre ein geeigneter Ort dafür, zurückzulassen – vielleicht bestand sogar die Möglichkeit, sie hin und wieder zu besuchen.

Martin erinnerte sich an ihren Schrecken, als Felicitas ihm das erste Mal in die Augen gesehen hatte. Es war ihm so vorgekommen, als wäre sie aus einem Albtraum aufgeschreckt und hätte erkannt, dass sie ihn nicht abschütteln konnte, weil er Realität war. Er dachte an ihre volle Unterlippe, die wie Rosenblätter im Wind gezittert hatte und die Tränen in ihren Augen, welche ihre Pupillen wie geschliffenes Glas schimmern ließen. Zärtlichkeit für sie stieg in ihm auf und er schwor sich, alles dafür zu tun, damit sie die Angst vor ihm überwand und in seinen Armen Geborgenheit fand.

Als er sie für den Spaziergang abholte, erkannte er, dass sie geweint hatte. Obwohl sie sich krampfhaft darum bemühte, ihren Kummer vor ihm zu verbergen, entging ihm dieser nicht. Schweigend führte er sie vor das Anwesen und war dankbar, dass die Mittagshitze noch nicht eingesetzt hatte. Felicitas wirkte in dem Kleid überaus vornehm, von dem sich ihre Zöpfe dunkel abhoben, weich wie chinesische Seide und glänzend wie schwarzer Onyx. Wenn er ihr mit seinen Blicken keine Angst bereiten würde, hätte er sie stundenlang angesehen. Doch um sie nicht zu beunruhigen, schaute er geradeaus.

„Erzähle mir etwas von dir“, bat er, um sie von ihren düsteren Gedanken abzulenken.

Es wunderte ihn nicht, dass sie sich weiter anspannte. Ihr Unbehagen zu bereiten, war keineswegs seine Absicht gewesen. „Man erzählte mir, dass du das erste Jahr im Kloster nicht gesprochen hast. Ist das wahr?“

„Ja“, flüsterte sie.

„Weshalb?“

„Hat man es Euch nicht berichtet?“, wollte sie zögernd wissen.

„Ich möchte es von dir hören.“

Er drehte den Kopf und musterte sie interessiert. Wie meistens in seiner Gegenwart, hatte sie ihr Antlitz gesenkt. Gegen die Sonne hatte sie ein Tuch umgelegt, das Teile ihres Gesichts verbarg.

„Man hat mich bewusstlos am Straßenrand aufgelesen und ins Kloster gebracht. Als ich erwachte, konnte ich mich an nichts mehr erinnern, weder an meine Familie, meine Heimat oder Muttersprache. Man vermutete, dass ich aus der Nachbarstadt stammte. Erst als meine Erinnerungen nach einem Jahr zurückkehrten, vermochte ich diese Annahme zu bestätigen und fand damit zu meiner Sprache zurück.“

Lügen, Lügen, alles nur Lügen, dachte Chaja. Aber sie hatte damals wie heute nicht vorgehabt ihren Feinden von ihrer wahren Herkunft zu berichten. Als sie im Kloster erwacht war, war ihr sofort klar gewesen, dass ihr Überleben davon abhing, Christin zu sein und ihre jüdischen Wurzeln zu verleugnen. Um sich nicht zu verraten, schwieg sie so lange, bis sie Französisch verstehen und akzentfrei sprechen konnte. Das Rätsel um ihre Herkunft lieferte ihr den perfekten Vorwand für ihr Schweigen.

„Hat man deine Familie je ausfindig gemacht?“, hakte er nach.

„Nein. Wir sprachen nie über meine Vergangenheit, da man befürchtete, meinem Geist zu schaden.“

„Das war zweifellos die richtige Entscheidung“, stimmte er zu. „Doch mittlerweile müsste sich dein Zustand stabilisiert haben. Wenn du es wünschst, werde ich Nachforschungen anstellen.“

Chaja wurde eiskalt.

„Nein, das ist nicht nötig. Ist es wichtig für Euch, zu erfahren, welcher Familie ich entstamme?“

Nervös sah sie auf und zuckte zusammen, als sie direkt auf seine aufmerksamen Augen traf.

„Nein. Aber vielleicht willst du wissen, wie es ihnen ergeht?“

Vehement wehrte sie ab und schüttelte den Kopf.

„Es ist bedeutungslos. Ihr Tod war der Grund, weshalb ich die Stadt verlassen hatte.“

„Raffte sie eine Krankheit dahin?“, hinterfragte er mitfühlend.

Chaja zuckte nachlässig mit den Achseln und erwiderte schlicht: „Ja.“

Er hielt an einer Quelle an, die zwischen zwei Felsen hervorsprudelte und wechselte das Thema, da er den Ein-
druck hatte, sie wollte nicht länger über die Vergangenheit sprechen.

„Darf ich dir zu trinken geben?“

Chaja lehnte mit einer Handbewegung ab und starrte auf den glitzernden Wasserlauf. Sie erinnerte sich an die Geschichte von Mose, der mit seinem Stock auf einen Felsen schlug, den Gott ihm gezeigt hatte. Sofort war Wasser aus ihm gesprudelt und hatte ihr Volk vorm Verdursten bewahrt.

In Gedanken versunken, löste sie sich von ihrem Mann und trat zu dem funkelnden Wasserstrahl. Davor sank sie unwillkürlich in die Knie und lehnte ihre Stirn an den überraschend kühlen Felsen. Es war Jahre her, seit sie einen Ort wie diesen gesehen hatte. Heimweh stülpte sich über sie und sie vergaß, wo sie war, dass ihr Feind nur wenige Fuß hinter ihr stand und sie nicht aus den Augen ließ. Ihre Finger tasteten sich näher und sie wimmerte leise, als Nässe darüber spielte und ihren Ärmel tränkte. Weinend atmete sie den Geruch ihres Landes ein und wünschte, sich in diesem Stein verkriechen zu können, um endlich zu vergessen, woher sie stammte und was sie für immer verloren hatte.

Ratlos beobachtete Martin das rätselhafte Verhalten seiner Frau. Er konnte nicht nachvollziehen, was sie dazu bewog, sich an einen Felsen zu schmiegen und gleichzeitig zu ignorieren, dass sich Wasser in ihre Kleidung sog. Obwohl er ihr freie Hand lassen wollte, hatte er keine andere Wahl als einzuschreiten. Immerhin wäre es unschicklich, wenn sie patschnass nach Hause käme. Deswegen trat er hinter sie, bückte sich, umschloss ihr Handgelenk und zog es aus dem Wasserlauf. Sie fuhr herum, richtete sich gleichzeitig mit ihm auf und starrte ihn an, als hätte sie vergessen, wo sie war. Doch anstatt sich bei seinem Anblick zu beruhigen, erbleichte sie und begann heftig zu zittern.

„Du wirst nass“, murmelte er entschuldigend und strich ihr mit einer Hand die Tränen von den Wangen. „Um Himmels willen, was ist los mit dir?“

Chaja schloss die Augen und wünschte, sie könnte für eine Sekunde vergessen, wo sie und wer er war. Sie war dermaßen außer sich, dass sie den Kampf einstellte und beschloss, es einfach zu tun. Als er die Arme um sie legte und sie sanft an sich zog, leerte sie ihren Kopf. Die Wärme seines Oberkörpers auf ihrer Wange tröstete sie und sie beruhigte sich. Minutenlang standen sie still, bewegten sich nicht. Er bot ihr Schutz und das erste Mal seit vielen Jahren fühlte sie sich geborgen. Der Schmerz über den Verlust ihrer Familie, den sie seit jenen schrecklichen Ereignissen tief in sich verschlossen hatte, brach auf und sie begann hemmungslos zu weinen. Sie hob die Hände und krallte ihre Finger in den Stoff seines Hemdes, unfähig länger gegen die überwältigenden Emotionen anzukämpfen, die in ihr, hervorgerufen durch das Wiedersehen mit ihm, tobten. Er schwieg, hielt sie fest und strich ihr tröstend über den Rücken. Minuten zogen vorbei und als sie endlich ihre Fassung zurückerlangte, lag Verachtung über ihre eigene Schwäche wie ein bitterer Belag auf ihrer Zunge. Er sagte nichts, als sie sich aus seinen Armen löste, musterte sie nur sorgenvoll. Chaja schämte sich ins Bodenlose. Wie hatte sie sich nur so gehen lassen können? Was dachte er gegenwärtig von ihr? Bereute er schon, sie geheiratet zu haben? Überlegte er mittlerweile, ob er sie ins Kloster zurückbringen sollte? Beunruhigt lugte sie unter dem Vorhang ihrer Wimpern zu ihm auf und beobachtete, wie er den Mund öffnete und ansetzte, etwas zu sagen.

„Fragt nicht“, flehte sie leise und er presste die Lippen aufeinander und zuckte mit den Achseln.

Er biss die Zähne so fest zusammen, dass seine Wangenmuskeln hart hervortraten. Fiel es ihm so schwer, zu schweigen? Er bewegte sich nach wie vor nicht, als wollte er abwarten, was sie zu tun wünschte. Sein Verhalten gab ihr Rätsel auf. Weshalb hielt er sich derart ehrenhaft zurück, stellte sein Recht auf Antworten hinten an, um sie zufriedenzustellen? Sie hatte ihm den Mund verboten und er es akzeptiert. Er war der körperlich größte Mann, den sie jemals gesehen hatte und demütigte sich selbst, als wäre er der Kleinste und Unbedeutendste. Sie konnte sich keinen Reim aus ihm machen. Für sie war er ein wandelnder Widerspruch.

Obwohl sie ihm entrinnen wollte, verlangte es sie nicht danach, zum Anwesen zurückzukehren. Da es schien, als überließe er ihr die Wahl, raffte sie ihr Kleid bis zur Hälfte der Waden und machte einen großen Schritt über das plätschernde Bächlein zu ihren Füßen. Dann spazierte sie über den staubigen, aufgesprungen Boden und hörte, dass er sich hinter ihr in Bewegung setzte.

„Wenn wir in diese Richtung weitergehen, stoßen wir auf die Weinstöcke“, erklärte der Kreuzritter, nachdem sie minutenlang geschwiegen hatten.

Sie nickte, als Zeichen, dass sie verstanden hatte. Chaja hatte nicht geahnt, ihrer eigenen Kultur hier so nahe zu sein. Seit sie im Kloster erwacht war, hatte sie angenommen, Welten lägen zwischen ihr und Jerusalem. Dass es nicht so war, erschütterte sie.

Die Reben hingen schwer an den Stöcken, doch vermochten diese nicht, ihre Aufmerksamkeit zu fesseln. Es waren die kleinen, mit Wasser gefüllten Furchen, wegen derer sie in die Hocke ging.

„Es ist das Bewässerungssystem der Juden“, erklärte ihr Mann und Chaja grub ihre Finger in die trockene Erde daneben. Ließ sie durch diese rieseln.

Es ist das Land meiner Vorfahren.

„Obwohl wir Feinde sind, weil sie unseren Heiland gekreuzigt haben, verstehen sie eine ganze Menge davon, wie man in der Wüste überlebt. Die Juden sind ein hart arbeitendes Volk. Es gibt einiges, was man von ihn lernen kann.“

Überrascht sah Chaja auf. Diese Worte aus seinem Mund ...

Als er bemerkte, dass sie ihn musterte, lächelte er verschmitzt. „Ich bitte dich, über meine Äußerung stillschweigen zu bewahren. Diese in den falschen Ohren könnten bewirken, dass mir jemand Verrat unterstellt.“

Chaja nickte und erhob sich. „Was kann man außerdem von ihnen lernen?“, wollte sie neugierig wissen, dankbar, endlich wieder über ihr Vertrautes sprechen zu können.

„Hm.“ Martin kraulte sich nachdenklich das Kinn. „Die Art, wie sie mit Fremden in ihrer Mitte umgehen, ist bewundernswert. Wenn jener Zwischenfall in Jerusalem damals nicht passiert wäre ...“ Er brach ab und starrte in die Ferne.

„Was?“

Doch er winkte ab. „Trotz allem, was man das jüdische Volk erleiden ließ, verhalten sie sich Fremden gegenüber ehrbar. Das bewundere ich sehr. Weißt du, Felicitas, dieser Krieg ...“ Wieder hielt er inne, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.

„Ja?“ Chaja hing an seinen Lippen, wollte wissen, was er noch zu sagen hatte, doch er schüttelte den Kopf.

„Das ist kein Thema für eine Frau“, erklärte er, streckte seine Hand nach einer Rebe aus und pflückte sie.

Dann bot er ihr die Trauben mit einem spitzbübischen Lächeln an. Sie konnte nicht widerstehen, zog eine ab und steckte sie sich in den Mund. Der Geschmack entfaltete sich auf ihrer Zunge und sie schloss die Augen. Dabei lächelte sie verträumt und wirkte, als wäre sie an einem anderen Ort. Doch als sie die Augen wieder aufschlug, verschluckte sie sich und hustete.

Um nicht erneut darüber nachdenken zu müssen, weshalb er sie dermaßen beunruhigte, sagt er: „Ich habe mich entschieden, deinen Wunsch zu erfüllen und dich auf die Reise mitzunehmen.“

Sie blinzelte, klopfte sich zweimal auf die Brust, um dann über das ganze Gesicht zu strahlen. „Ist das wahr?“

Statt einer Antwort nickte er und beobachtete wie ihre Augen einen triumphierenden Glanz annahmen. Als hätte sie in einer schweren Schlacht gesiegt.

„Ja“, bekräftigte er und überlegte, ob er gegenwärtig einen Fehler beging.

„Ich danke Euch!“, sagte sie schlicht und er verwarf sein Unbehagen.

Ihr aufrichtiger Dank, mehr noch, ihre Freude waren ihm überaus lieb. Hoffnung, ihr bald die Angst vor ihm genommen zu haben, flackerte in seinem Herzen auf und verströmte angenehme Wärme. Eines nicht allzu fernen Tages würden sie sich Seite an Seite für die Armen der Stadt einsetzen und den Kampf mit der Trostlosigkeit aufnehmen. Er müsste sich nicht sorgen, wenn er fernab in den Krieg zog, denn bei ihr wäre sein Haushalt bestens aufgehoben. Kein Bettler, der an seine Tür klopfte, würde von ihr abgewiesen, kein Kind, das Unterschlupf suchte, von ihr vertrieben werden.

Nein, sie hatte das Herz am rechten Fleck und er könnte beruhigt von dannen ziehen. Den Rückweg legten sie schweigend zurück und er zerbrach sich den Kopf darüber, was sie wohl gerade dachte. Stets wirkte sie angespannt und weit entfernt.

„Nun, Martin, ich hoffe, die Nonnen haben zufriedenstellend auf deine Braut aufgepasst“, neckte Frederic seinen jüngeren Bruder, der ihm gegenüber am Esstisch saß.

Er und Bonnets gemeinsame Eltern lebten als einzige in Tripolis, während die restlichen Geschwister und Verwandten, auf den Gütern des Vicomtes in Frankreich zu Hause waren.

Chaja hatte ihren Blick auf den Teller gerichtet, fühlte aber, wie sie errötete. Wenn irgendjemand ahnen würde, dass sie die Ehe nicht vollzogen hatten! Es wäre weitaus peinlicher als diese Anspielung.

„Das haben sie“, erwiderte der Angesprochene gelassen und warf ihr einen schnellen Seitenblick, der auf ihrer Wange brannte, zu.

Trotzdem sah sie ihn nicht an und tunkte Brot in eine würzige Sauce. Dabei blitzte ihr neuer Ring auf.

„Die Diener behaupten Gegenteiliges. Euer Bettlaken soll nach wie vor unbefleckt sein.“

Unbehaglich biss Chaja die Zähne zusammen. Sie konnte den Argwohn des anderen Mannes verstehen. Bei ihrem Volk war es üblich, das blutbefleckte Leintuch für jeden sichtbar zu schwenken. Diese Zeremonie fand sie weniger unangenehm, als die Nachfrage ihres Schwagers. Mittlerweile dröhnte der Herzschlag in ihren Ohren.

„Ich kann dir versichern, dass alles seine Richtigkeit hat“, beteuerte Martin ungerührt und warf seinem Bruder einen drohenden Blick zu.

Der lüpfte eine Augenbraue und fixierte seine junge Schwägerin.

„Es passt zu Martin, sich eine Frau, ohne Stammbaum zu suchen. Ihm genügt es nicht, Bettler von der Gasse zu retten, nein, er muss außerdem einem beliebigen Weib seinen Namen geben, um damit ihr Leben zu verbessern.“ Frederic beugte sich etwas vor und Chaja musste ihn ansehen, wenn sie nicht unhöflich erscheinen wollte. „Welcher Familie entstammt Ihr doch gleich, Felicitas?“

Martin legte eine Hand auf ihren Unterarm, drückte diesen sanft, um ihr mitzuteilen, dass er an ihrer Stelle antworten würde.

„Für mich zählt das Herz, nicht der gesellschaftliche Rang, Frederic. Meine Frau wird meinen Haushalt mir zur Ehre führen. Dein Spott ist unangebracht.“

„Sprach der heilige Martin“, höhnte der andere Mann. „Ich habe letzte Woche eine Depesche nach Rom geschickt, mit der Bitte, dir einen Altar zu errichten.“

Chaja spürte, wie sich ihr Gemahl anspannte.

„Nimm dich in Acht, Bruder, Gotteslästerung ist eine Sünde!“

Frederic lachte auf und schüttelte den Kopf. „Wann habe ich mich ihrer schuldig gemacht? Bei deiner Heiligsprechung? Ist es tatsächlich schon so weit, dass du annimmst, Gott zu sein?“

Chaja entzog ihrem Mann den Arm und verschränkte die Finger unter dem Tisch. Sie fühlte sich zunehmend unbehaglich. Martin entging es nicht. Er erhob sich und wartete darauf, dass Chaja seinem Beispiel folgte. Als sie neben ihm stand, neigte er sein Haupt und verabschiedete sich mit der Begründung, noch einiges vorzuhaben. Nebeneinander verließen sie den Speisesaal eiligen Schrittes.

Als Martin ihre Zimmertür hinter sich zugezogen hatte, sah er sie entschuldigend an.

„Es tut mir außerordentlich leid. Das Verhalten meines Bruders solltest du dir nicht zu Herzen nehmen. Er meint es nicht so.“

Chaja zuckte mit den Achseln und trat zum Fenster, blickte hinaus.

„Da er momentan dem äußeren Anschein nach zu urteilen auf Streit aus ist, schlage ich vor, schon heute abzureisen. Hast du etwas dagegen einzuwenden?“

„Nein“, erwiderte sie, obwohl es sie nicht gestört hätte, einige Tage zu bleiben.

Sie hätte dem Weinberg gerne einen neuerlichen Besuch abgestattet.

„Formidabel, dann werde ich alles für unsere Abreise veranlassen.“

Im nächsten Moment war sie allein.

„Wie vertraut ist dir Tripolis?“, wollte Martin auf dem Heimweg wissen.

Er saß neben ihr in der Kutsche, immer wieder streifte sein Arm ihre Schulter, was ihm augenscheinlich entging. Chaja zuckte jedoch jedes Mal innerlich zusammen.

„Ich kenne nur die Kirche des Vikariats und die Suppenküche.“

Überrascht lüpfte er die Augenbrauen und warf ihr einen flüchtigen Seitenblick zu. „Wie ich sehe, hast du über die Maßen zurückgezogen gelebt. Als dein Gemahl bin ich diesbezüglich überaus erleichtert.“

Chaja biss sich auf die Zunge. Es erweckte durchweg den Anschein, dass ein Christenmann sich kaum von einem Juden unterschied, was die Unschuld seine Gattin betraf.

„Wie dem auch sei“, fuhr er fort, als sie nicht reagierte, „frage ich mich, wo du mit den Kindern in Kontakt gekommen bist, von denen mir die Mutter Oberin berichtete.“

„In der Klosterküche“, erwiderte Chaja, „und im Garten.“

„Das leuchtet ein.“

Bonnet deutete aus dem Fenster und sie folgte seiner Geste und musterte die heruntergekommenen Hausruinen, die sie gegenwärtig passierten.

„Ich plane, diese Häuser wieder bewohnbar zu machen“, erklärte er. „Bettler bevölkern die Straßen, werden mit jedem Tag mehr und hier verfallen ganze Straßenzüge.“

„Wie wollt Ihr das anstellen?“

Es war Chaja nicht bewusst, dass sie vollständig vergessen hatte, mit wem sie sprach, so intensiv inspirierten sie seine Absichten.

„Wenn möglich, mit deiner Unterstützung. Bis jetzt hatte ich keine Zeit, mit einem Handwerker darüber zu sprechen und die Kosten zu überschlagen.“

Mit ihrer Hilfe? Hatte er soeben angedeutet, dass sie Teil dieses Projekts sein würde? Ihr Herz machte einen freudigen Satz. „Ich würde Euch liebend gerne helfen“, erklärte sie inbrünstig. „Wisst Ihr, ob hinter den Häusern Gärten angelegt sind?“

„Vermutlich. Aber sicher bin ich mir nicht.“

„Plant Ihr außerdem, eines der Häuser als Kinderheim umzubauen?“

Er lehnte sich entspannt zurück und ließ seinen Kopf nach hinten sinken, bis er damit anstieß.

„Das derzeitige Kinderheim ist zu klein, wie ich gehört habe“, fuhr Chaja eifrig fort.

„Eine ausgezeichnete Idee. Wir werden die kommenden Tage dafür nutzen, uns die Stadt genauer anzusehen und zu überlegen, wo die größte Not herrscht und was wir tun können, um diese zu lindern.“

Vorfreude ließ Chaja lächeln. Wenn sie sich vorstellte, wie die kleinen Kindergesichter sie anstrahlen würden, wurde ihr warm ums Herz. Nur zu gut erinnerte sie sich daran, wie sie sich als Waise gefühlt hatte. Zu ihrem Glück war sie, als sie ihre Eltern verloren hatte, einige Jahre älter gewesen, als die meisten Kinder, die das Heim bewohnten.

„Versprecht mir, dass Ihr nur sanfte Frauen einstellen werdet, keine Nonnen.“

Sie hatte so leise gesprochen, dass er zuerst annahm, er hätte sich diese merkwürdige Bitte nur eingebildet. Doch als sie sich ihm zuwandte und ihn flehentlich ansah, erkannte er, dass er nicht fantasierte.

„Nur Nonnen können eine derartige Herausforderung zufriedenstellend ausführen. Wichtiger als die täglichen Mahlzeiten ist das geistliche Heil der Kinder. Es ist heilsnotwendig, dass sie in der Lehre der Kirche unterwiesen und zu rechtschaffenen Christenmenschen herangezogen werden, damit ihre Seele nicht auf Abwege gerät.“

Bei diesen Worten zog sich in Chaja alles zusammen. Es hatte keine Liebe unter der Aufsicht der Ordensschwestern gegeben. Nur Tadel und Zurechtweisung. Was würde sie dafür geben, dass den Kindern ihres Heimes dergleichen erspart blieb!

„Würdet Ihr mir zutrauen, einer solchen Einrichtung vorzustehen?“, fragte sie, angesichts der düsteren Zukunftsprognose, mutig.

„Dir?“, wiederholte er und sah sie an, bohrte seine Augen in ihre. „Du wünschst, das Heim zu leiten?“

„Ja“, erwiderte sie und hielt seiner Musterung stand. „Ich habe im Kloster gelernt, wie man einem solchen Haus vorsteht. Außerdem weiß ich, was diesen Kindern fehlt und wonach sie sich sehnen. Ich habe es am eigenen Leib erfahren, doch war ich zu alt, um in ein Heim gesteckt zu werden. Deswegen brachte man mich in den Orden.“

Verwirrt stellte sie fest, dass seine Gesichtszüge weich wurden und Wärme in seine Augen stieg, je länger er sie betrachtete. Er hob eine Hand und strich sanft über ihre Schläfe.

„Du bist ein Geschenk des Himmels, Felicitas“, murmelte er. „Ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um dir jeden Wunsch zu erfüllen. Sogar diesen.“

Ihr lag die Frage auf der Zunge, ob er sich fernerhin selbst umbringen würde, um ihr einen Gefallen zu tun. Doch sie schluckte die Bemerkung hinunter und senkte den Kopf. Flüchtig wie Salznebel über dem Toten Meer stieg die Erinnerung daran, wie sich seine Arme anfühlten, wenn er sie tröstend an sich drückte, in ihr auf. Entsetzt zuckte Chaja zurück. Wie gelang es ihr, so schnell zu vergessen, wer er war? Wie konnten die wenigen Erfahrungen, die sie mit ihm gesammelt hatte, die Eindrücke verdrängen, welche sie seit Jahren quälten? Wieso war er so freundlich, komplett anders, als der Mann der ihr Heim verwüstet und ein Schlachtfeld hinterlassen hatte?

Seine Fingerkuppen ruhten noch immer an ihrer Wange und sie konnte an seinem Blick erkennen, dass er sich über ihre Reaktion auf seine liebevollen Worte wunderte. Langsam ließ er die Hand sinken und wandte sich ab. Nicht lange und sie hielten vor einem zweistöckigen Haus, europäischer Bauweise. Der Gedanke, dass dieses Gebäude ebenfalls ihr Feind sei, geisterte durch ihren Kopf.

Da schwang die Tür auf und ein Diener eilte ihnen entgegen, um ihr Gepäck abzuladen. Hinter ihm erschien eine sanfte Frau mit olivfarbener Haut auf der Schwelle, deren Haare im Nacken streng in einen Knoten geschlungen waren, der sich deutlich unter ihrer enganliegenden Kopfbedeckung abzeichnete. Trotz ihres korrekten Erscheinungsbilds lächelte sie.

„Das ist Alia“, stellte Bonnet sie einander vor. „Meine Gemahlin, Madame Bonnet.“

„Ich freue mich sehr“, murmelte die Dienerin und neigte demütig das Haupt.

Chaja schwieg. Es war ihr unmöglich, ein nettes Wort für die andere Frau zu finden, die zweifellos jenem Volk entstammte, welches Jerusalem vor mehr als hundert Jahren überfallen und eingenommen hatte.

„Zeige deiner Herrin ihr Zimmer und sei ihr behilflich“, instruierte der Hausherr die Araberin.

Alia verbeugte sich und sah zu Chaja. Diese nickte und folgte ihr steif. Während sie die Stufen in den ersten Stock erklommen, spürte sie den Blick ihres Mannes in ihrem Rücken.

4. Kapitel

Da er ihr die Wahl überließ, wo sie das Abendessen einnehmen wollte, entschied sich Chaja für ihr Zimmer. Obwohl man die Fensterflügel wegen der Hitze verriegelt hatte, fiel das Sonnenlicht geriffelt auf den dunklen Holzboden im Inneren. Vom Meer her wehte eine leichte Brise und blähte die hellen Vorhänge. Der Geruch nach Salz lag in der Luft und die junge Frau leckte sich schmerzlich über die Lippen, auf der Suche nach dem Geschmack ihrer Kindheit.

Nachdem man die Speisen abserviert hatte, half ihr Alia aus dem Kleid, brachte ihr parfümiertes Wasser für die Waschschüssel, in dem Rosenblätter schwammen und ein weiches Tuch. „Danke“, presste Chaja mühsam heraus. „Du kannst gehen.“

Nachdem sich die Dienerin zurückgezogen hatte, holte Chaja tief Luft, bereit, sich zu waschen. Der flüchtige Duft der Rosen schürte ihre Sehnsucht und sie schloss die Augen, barg ihr Gesicht in dem Tuch und atmete langsam ein. Leise begann sie zu weinen und sie fragte sich zum wiederholten Mal, ob sich derzeit all der Kummer, den sie während der letzten Jahre tief in sich verschlossen hatte, Bahn brach. Die Gegenwart ihres Mannes war außer Zweifel dafür verantwortlich, dass in ihr alles aufgerissen und durcheinandergeraten war.

Als sie fertig war, schlüpfte sie zitternd in ihr Nachtgewand und kroch unter die Decke. Ob Bonnet kommen würde, um sich für die Nacht zu verabschieden?

Sie hatte nicht zu Ende gedacht, als es klopfte und er eintrat. Mit einem Lächeln auf den Lippen durchquerte er den Raum und setzte sich neben sie auf die Bettkante. „Hast du alles, was du brauchst?“, wollte er besorgt wissen.

„Ja, danke.“

Sie rappelte sich auf, achtete aber darauf, dass die Decke nicht von ihrer Brust rutschte. Sein Blick ruhte nach wie vor auf ihr und er schien es zu genießen, sie intensiv zu betrachten. Röte überflutete ihr Gesicht und sie senkte ihr Antlitz.

„Gute Nacht“, sagte er schließlich, beugte sich vor und küsste sie flüchtig auf die Stirn.

Dann erhob er sich. Obwohl ihr eine Erwiderung auf den Lippen lag, konnte sie diese nicht aussprechen. Ehrlicherweise wünschte sie ihm keine angenehme Bettruhe, sondern den Tod. Etwas anderes zu behaupten wäre heuchlerisch.

„Meine Güte, der Stein zerbröselt zwischen den Fingern“, stellte Bonnet fest und betrachtete den grobkörnigen Sand auf seiner Handfläche. Er hatte die Handschuhe ausgezogen und unter einen Arm geklemmt, war neben einer Hauswand in die Hocke gegangen, an der er sich mit der anderen Hand abstützte. Obwohl er sich weit herabgelassen hatte, war sie nur einen Kopf größer als er.

Nach der Morgenmesse und dem Frühstück waren sie zu den verfallenen Häusern aufgebrochen, die er wieder in Stand setzen wollte. Auf dem Weg hatte Bonnet erklärt, dass er keine Zeit zu verlieren hatte, da sie in wenigen Wochen in Richtung Jerusalem abreisen mussten.

„Vermutlich werden wir alles neu bauen müssen.“

Er richtete sich auf und rieb die Handflächen aneinander, um den Staub abzuschütteln. Chaja trat an ihm vorbei und durch einen Türrahmen wieder ins Freie. Da dem Haus das Dach fehlte, machte es kaum einen Unterschied. Während sie die verdorrte Fläche vor sich betrachtete, überkam sie die Gewissheit, dass hier einst ein Garten angelegt gewesen war. Wer hier wohl früher gewohnt hatte?

Sie hörte ihn hinter sich, wandte sich aber nicht zu ihm um. Er schritt an ihr vorbei und sie bemerkte, dass er den Boden konzentriert absuchte. Wieder bückte er sich, fuhr mit den Fingern über die trockene Erde.

„Hier haben einst zweifellos Juden gelebt“, erklärte er. „Mohammedaner legen keine Gärten an.“

Chaja taumelte, machte einen unauffälligen Schritt zurück und hielt sich hinter ihrem Rücken an den brüchigen Mauerresten fest. Sie schloss die Augen und sah die Bilder vor sich, wie man die Angehörigen ihres Volkes aus dem Haus gejagt und niedergemetzelt hatte. Ihr wurde schwindlig. Konnte es denn niemals aufhören?

„Siehst du?“, fragte er von weiter weg und sie öffnete die Augen. „Ein Brunnen.“

Als würde das irgendetwas beweisen, zwinkerte er ihr gutgelaunt zu. Chaja stieß die Luft aus und nickte, als hätte sie den Zusammenhang verstanden. Während er seinen Blick abermals über die Ruine gleiten ließ, näherte er sich ihr erneut. „Es wird Jahre dauern, bis man hier wieder wohnen kann. Traust du es dir zu, die Arbeiten voranzutreiben, wenn ich weg bin?“

Chaja nickte. „Ja, mein Herr und sollte es zu langsam vorangehen, greife ich zur Peitsche.“

Es sollte ein Scherz sein, doch er sah sie irritiert an.

„Selbstverständlich tue ich das nicht“, erklärte sie schnell und fügte hinzu: „Der Pharao hat auf diese Weise dereinst riesige Pyramiden errichten lassen.“

Da schenkte er ihr ein flüchtiges Lächeln, trotzdem blieb ihr nicht verborgen, dass er für jene Art von Witzen nichts übrig hatte.

„Sklaverei ist ein Übel“, erklärte er ernst und sie nickte unbehaglich.

Warum vermochte er einen Scherz nicht als das zu nehmen, was er war? Ein Unsinn, keine Sonntagspredigt.

„Ich könnte mir vorstellen, dass dich dieses Vorhaben einige Nerven kosten wird. Sobald du ausreichend Abenteuerluft geschnuppert hast, werde ich deine Rückreise hierher veranlassen.“ Er hob eine Hand und strich über die unebene Wand. „Bis zu unserer Abreise werde ich Männer organisiert haben, die sofort mit den Arbeiten beginnen, wenn du wieder da bist.“

Du wirst nie sehen, wie es hier in ein paar Jahren aussehen wird.

Sie unterdrückte die Genugtuung, die sie bei dem Gedanken in Aufruhr versetzte.

Du wirst niemals mehr hierher zurückkommen. Aber ich.

„Komm!“, forderte er sie auf und sie folgte ihm zwischen den Mauerresten hindurch und auf die von Furchen durchzogene Straße.

Während er laut Überlegungen anstellte, schritt sie neben ihm her und verlief sich in den Gängen der Gebäude, die er vor ihrem inneren Auge erschuf. Seine Stimme entführte sie in eine andere Welt, in ein besseres Leben, in eine hoffnungsvolle Zukunft. Und sie vergaß für einen Nachmittag, dass er ihr größter Feind war.

Nachdem sie etliche Tage lang verschiedene Orte und Einrichtungen besucht hatten, blieb Chaja zu Hause, während sich Bonnet mit Bauleuten traf und die Einzelheiten für die Renovierung durchging. Die junge Frau nutzte die Zeit, um sich mit der Haushaltsführung vertraut zu machen. Schnell stellte sie fest, dass Alia ungenau arbeitete und außerdem kaum schreiben konnte. Es würde Wochen benötigen, bis sie Ordnung in das Chaos gebracht hätte. Hinzu kam, dass die Speisekammer ebenfalls nicht annehmbar aufgeräumt war und Staub unzählige Regale überzog, sich auf Schränken und in Winkeln sammelte. Es war Zeit, diese Nachlässigkeiten zu beenden.

Als Bonnet am Abend heimkehrte, erwartete Chaja ihn mit einem Becher Zitronenwasser. Erfreut nahm er ihn ihr ab und trank ihn mit einem Zug leer.

„Danke“, lächelte er und strich ihr zärtlich eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht. „Das war genau das Richtige. Ich bin wie ausgedörrt.“

„Das wundert mich nicht. Ihr seid den ganzen Tag in der Hitze unterwegs“, erwiderte sie freundlich.

Immer öfter vergaß sie ihre Feindseligkeit ihm gegenüber. Er war von sanftem, nachsichtigem Wesen und machte es ihr schwer, ihn mit jenem Mörder längst vergangener Tage in Einklang zu bringen.

„Welch glücklicher Mann bin ich doch, von einer besorgten Frau erwartet zu werden, die sich um mich kümmert.“

Die Warmherzigkeit in seinen Augen schwächte sie. Es war unerklärlich.

„Möchtet Ihr zu Abend essen?“, fragte sie und erwiderte seinen Blick.

„Gerne. Ich werde mir aber zuvor den Staub von den Händen waschen.“

Bevor er sich abwandte, glitt er mit den Fingerknöcheln zärtlich über ihre Wange, folgte der Linie ihres Kiefers bis zu ihrem Kinn und stupste ihre Unterlippe mit dem Daumen an. „Ich bin gleich zurück.“

Reglos sah sie ihm nach und legte einen Finger auf ihren Mund, als würde ihn dies zurückholen.

„Bitte verzeiht, dass ich jetzt darauf zu sprechen komme“, fing Chaja ein Gespräch an, als sie einander am Esstisch gegenübersaßen.

Sofort richtete er die komplette Aufmerksamkeit auf sie und vermittelte ihr damit den Eindruck, der wichtigste Mensch des Erdkreises zu sein, das Zentrum seiner Welt. Aufgrund seiner ungeteilten Zugewandtheit errötete sie verlegen.

„Was ist es, worüber du mit mir reden willst?“, fragte er sanft nach und sah sie aufmunternd an.

„Über Alia.“

Überrascht schossen seine Augenbrauen in die Höhe.

„Berichte!“

Chaja holte tief Luft. „Sie ist eine Araberin, nicht wahr?“

„Ja.“

„Ich finde, wir sollten sie wegschicken und jemand Neuen einstellen.“

Chaja hatte nicht bemerkt, dass die Dienerin soeben den Raum betreten hatte, um einen Weinkrug zu bringen. Als sie mitten in der Bewegung innehielt, wurde Chaja auf sie aufmerksam. Aber wenn die Araberin dachte, dass sie sich für ihre Worte schämte, irrte sie sich gewaltig. Bonnets Blick wanderte von seiner Frau zu dem Hausmädchen und wieder zurück. Dann deutete er der Untergebenen, einzuschenken und wartete, bis sie gegangen war.

„Weshalb?“, wollte er wissen, als sie unter sich waren.

Er nahm einen großen Schluck.

„Allein wegen ihrer Herkunft. Ihr Volk war es, das uns aus Jerusalem vertrieb. Araber waren schon immer unzivilisiert und blutrünstig. Ich will keinen von ihnen in meinem Haus haben und ich frage mich, wie Ihr sie ertragen könnt, oder ist sie Eure Sklavin? Habt Ihr sie als Beute mitge-nommen?“

Er stellte den Becher ab, dann musterte er sie eindringlich. Unbehaglich versuchte sie, in ihm zu lesen, doch es misslang.

„Sie ist nicht meine Sklavin“, antwortete er, ging aber nicht weiter auf ihre Anschuldigungen ein. „Was hat sie, außer ihrer Herkunft, sonst noch verbrochen?“

„Sie ist faul und hält den Haushalt nicht in Ordnung.“

„Ich war mit ihr bisher zufrieden.“

Sein Lob fühlte sich für Chaja wie eine Ohrfeige an und ihr Blut geriet noch mehr in Wallung.

„Dann hättet Ihr Euch doch wohl kaum ein Weib zugelegt, oder?“, schnappte sie und wieder zuckten seine Augenbrauen in die Höhe.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752143003
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
Rache dem Feind ausgeliefert Kreuzzüge Mörder heiraten ausgeliefert Jerusalem Liebe über Grenzen wahre Liebe Hass und Liebe Ritter

Autor

  • Junia Swan (Autor:in)

Die 1978 in Salzburg geborene Autorin Junia Swan entdeckte schon als Kind ihre Leidenschaft zu schreiben. Sie wohnt in einer historischen Kleinstadt mit italienischem Flair, in der Nähe ihrer Geburtsstadt. In ihrem Alltag kommt sie mit Themen in Kontakt, die sie zutiefst bewegen. Mittlerweile hat die begeisterte Self-Publisherin über 30 Romane geschrieben, davon mehrere Bestseller. Außerdem zählte sie über mehrere Monate hinweg zu den meistgelesenen Amazon-All-Star-Autoren.
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Titel: Vor den Toren Jerusalems