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Todeskunst

Mörderisches Ostfriesland

von Sören Martens (Autor:in)
290 Seiten

Zusammenfassung

Eine Leiche kommt selten allein… Der erste Fall für das Ermittler-Duo Jürgens und Alberts. Nach Jürgens Versetzung in eine idyllische Kleinstadt taucht auch schon die erste Leiche auf. Eine äußerst herausfordernde Woche für das Ermittler-Team und die SpuSi. Obendrein erschwert der Polizeikritiker Piet Müller die Ermittlungen. Als ob das nicht schon genug wäre, müssen die beiden die plötzlich verschwundene Polizeimeisterin Femke Claaßen finden, mit der Hoffnung, dass sie noch lebt. Die Geschehnisse überschlagen sich, als weitere Mordfälle bekannt werden…

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1) Kapitel

„Na, verschlafen?“ Jürgens, der gerade sein neues Büro betreten will, schaut in die Richtung, aus der die Stimme kam. An einem der beiden Schreibtische in dem Raum vor ihm sitzt ein Mann und schaut ihn, auf eine Antwort wartend, an.

„Wie meinen?“, antwortet Jürgens. Dabei mustert er den Schreibtischmann ausgiebig. Dieser scheint knapp sechzig Jahre alt zu sein und trägt seine wenigen, recht kurzen Haare als Kranz um die markante Glatze. Was ihm auf dem Kopf fehlt, wächst als Bart und bildet das optische Gegenstück zur Haarlosigkeit des Kopfes. Scheinbar ist sein Gegenüber auch körperlich nicht unbedingt ein sportlicher Typ.

Das beweist der sich abzeichnende Bauch, welcher aber größtenteils durch den Schreibtisch verdeckt ist. Eindeutig zu erkennen sind die Ärmelschoner an seinem in die Jahre gekommenen Jackett. Dies zeugt davon, dass er wohl den größten Teil seines Arbeitslebens mit Büroarbeit verbracht haben muss.

„Die Arbeitszeit beginnt um acht Uhr, nicht um halb neun“, erläutert der Büromensch. Währenddessen mustert auch er sein Gegenüber ganz genau. Geschätzt Ende vierzig, wirre, schlecht frisierte, längere Haare und schlank. Unkonventionell in Jeans und T-Shirt gekleidet. Auf letzterem sind ein Motiv und ein Bandlogo zu sehen. Dazu trägt er ausgelatschte Turnschuhe.

„Wer will das wissen?“, entgegnet Jürgens. „Was machen Sie in meinem Büro und vor allem wer sind Sie?“

Am Tag zuvor hatte ihn der Dienststellenleiter hier empfangen, Jürgens seinen neuen Arbeitsplatz gezeigt und ihm die Schlüssel übergeben, bevor er sich wieder auf den Weg in die Zentrale in der mehr als dreißig Kilometer entfernten Stadt machte. Bei seinem neuen Arbeitsplatz handelt es sich eigentlich um eine kleine Polizeidienststelle mit drei Polizisten sowie zukünftig Jürgens als Kommissar.

Warum er allerdings so weit entfernt von der Zentrale eingesetzt würde, erschloss sich ihm bisher nicht. Wobei, wenn er genau darüber nachdachte, dann konnte er es sich doch denken. Womit er allerdings nicht rechnet, ist ein Pünktlichkeitsfanatiker, mit dem er sich scheinbar das Büro teilen muss.

„Ich bin Kriminalkommissar Alberts, Ihr neuer Kollege“, antwortet der Mann am Schreibtisch. „Hat Ihnen das der Kriminalrat Buchtmann nicht mitgeteilt?“. Tatsächlich hatte Buchtmann nicht von einem weiteren Kommissar als Kollegen gesprochen. Überhaupt war nicht sonderlich viel im Vorfeld besprochen worden, da Jürgens hierher zwangsversetzt wurde. Es war mehr oder weniger eine Gnade, dass er nicht aus dem Polizeidienst entfernt wurde.

Zwar hatte Jürgens zuvor alles im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben bearbeitet, aber dabei eine klare Weisung seines damaligen Vorgesetzten ignoriert. Der ehemalige Vorgesetzte befindet sich nicht mehr im Dienst, da Jürgens ihm mit seinen Ermittlungen Korruption nachweisen konnte.

Dennoch war dessen Einfluss noch immer groß genug, um Jürgens in das kleinste und entfernteste Kaff zu versetzen, in dem es eine Polizeistation gibt: Öldenettel in den Tiefen Ostfrieslands, unweit der Nordseeküste. „Na dann, auf gute Zusammenarbeit“, murmelt Jürgens ironisch, dreht sich um und lässt seinen neuen Kollegen im Büro alleine zurück.

Auf dem Flur steht, dem Klischee eines TV-Krimis entsprechend, ein Getränkeautomat. Jürgens wirft ein fünfzig Cent Stück ein, wählt auf der Tastatur die Nummer für Kaffee mit Milch und wartet, dass sein Heißgetränk den Weg durch die verschlungenen Wege innerhalb des Automaten finden würde.

Als nach einer Minute noch immer nichts passiert, denkt Jürgens kurz darüber nach, dem Automaten mit einem Tritt zur Lieferung seines Kaffees aufzufordern, verwirft den Gedanken aber sofort wieder. Was in einem TV-Krimi funktioniert, funktioniert bestimmt nicht genauso in der Realität.

Vom Flur gehen vier Türen ab. Eine führt in Jürgens' Büro, eine weitere zu den Sanitärräumen, eine zum Bereitschaftsraum und die letzte zu einem weiteren Büro. Während Jürgens noch vor dem Automaten steht, tritt aus letzterer Tür eine junge, nicht unattraktive Frau. Sie kommt lächelnd auf ihn zu und sagt: „Hallo, Sie sind bestimmt unser neuer Kollege, Kriminaloberkommissar Jürgens?“.

Als sie den Automaten erreicht, verpasst sie diesem geschickt einen Fußtritt an die Seite und das Gerät beginnt unter seltsamen Geräuschen zu arbeiten. Kurze Zeit später steht im Entnahmefach ein Plastikbecher mit dampfendem Kaffee. „Guten Morgen. Ich bin Polizeimeisterin Femke Claaßen, Herr Kriminaloberkommissar Jürgens“, stellt sie sich freundlich vor.

Jürgens ist beeindruckt. Einerseits davon, dass die junge Kollegin genau wusste, wie sie mit dem Automaten umzugehen hat, anderseits, dass sie ihn mit seinem Dienstgrad und Namen anspricht. „Ich stelle Sie mal den beiden anderen Kollegen vor, wir werden ja wohl zukünftig alle zusammenarbeiten.

Wobei sich hier die Arbeit durchaus in Grenzen hält, schließlich sind wir eine Kleinstadt, die gerade den Sprung über die 20.000 Einwohnermarke geschafft hat. Außer ein paar betrunkenen Jugendlichen, die nachts gerne mal die Sau herauslassen, sowie einigen Falschparkern, passiert hier nicht sonderlich viel. Das letzte Gewaltverbrechen gab es vor 27 Jahren.“

„Ebenfalls einen guten Morgen, Frau Claaßen. Woran machen Sie fest, dass ich kein einfacher Besucher, sondern der neue Kollege bin?“.

„Ganz einfach, da Sie nicht durch den Vordereingang kamen und normale Besucher keinen Schlüssel für den Personaleingang haben, müssen Sie Herr Jürgens sein. Außerdem hat unser heutiger, zweiter Neuzugang, Kriminalkommissar Alberts, schon seit kurz vor acht Uhr vor dem Haupteingang gewartet. Somit mussten Sie es sein, der vor wenigen Minuten durch den Hintereingang kam. Des Weiteren gibt es hier im Gang eine Kamera, über die ich Sie hereinkommen sah. Kommen Sie doch bitte mit“, fordert Claaßen ihn auf.

Die junge Frau gefällt ihm. Nicht wegen des Aussehens, das zugegebenermaßen auch recht ansprechend daherkommt, sondern wegen ihrer Auffassungsgabe und ihrer freundlichen Art. Jürgens nimmt den Kaffeebecher aus dem Automaten und folgt der Kollegin, die eigentlich seine Untergebene ist. Einzig bezüglich seines Dienstgrades irrt sie, denn er war auf die Position des Kriminalkommissars zurückgestuft worden und steht somit auf einer Stufe mit seinem älteren, bisher eher unsympathischen Bürokollegen.

Gemeinsam betreten sie den Dienstraum, in dem zwei junge Männer in Polizeiuniformen an ihren Schreibtischen sitzen. Der Raum wird durch einen Tresen im Verhältnis zwei Drittel zu einem Drittel getrennt. Hinter dem Tresen befindet sich vom Bürobereich aus gesehen der kleinere Bereich, der durch die Außentür zugänglich ist. Im Tresen selber befindet sich eine Vorrichtung zum Hochklappen eines Teils des Tresens, um so hindurch in den Dienstbereich zu gelangen.

„Das ist Helge Eilers.“ Die junge Polizistin zeigt auf einen noch jüngeren Mann mit neumodischem Undercut-Haarschnitt. „Er kommt frisch von der Polizeischule und wurde uns zugeteilt, damit er erste praktische Erfahrungen im Beruf sammeln kann. Wie gesagt, bei uns ist es ja nicht sonderlich gefährlich, darum beginnen viele Frischlinge ihre Karriere hier.“ Eilers nickt Jürgens höflich zu, dieser erwidert das Nicken.

„Wie lange sind Sie denn schon hier, Frau Claaßen?“, will Jürgens wissen.

„Seit drei Jahren bin ich in dieser Polizeistation. Ich leite hier den Betrieb, nachdem der vorherige Leiter vor einem Jahr in Pension gegangen ist. Ich weiß, dass das eher ungewöhnlich für mein Alter ist, aber die Entscheider trauen es mir zu.“

Der zweite Jungpolizist erhebt sich von seinem Platz am Schreibtisch und stellt sich selber vor: „Ich bin Polizeimeister Jannick Rosenbohm. Herzlich willkommen Herr Kriminaloberkommissar.“ „Guten Tag Herr Polizeimeister Rosenbohm. Bezüglich meines Dienstgrades bedarf es einer Korrektur, denn ich bin nur Kriminalkommissar.“

Von hinten naht Alberts, der die letzten Worte von Jürgens gehört hatte. „Somit wären wir dann gleichberechtigt und werden uns in allen Entscheidungen entsprechend der Vorschriften abstimmen.“

Jürgens dreht sich um, überlegt kurz, wie er antworten will und entscheidet sich für die höfliche Variante.

„Ah, Herr Kriminalkommissar Alberts, haben Sie den Weg aus dem Büro hierher nach vorne gefunden? Natürlich werden wir alles entsprechend der Vorschriften handhaben und uns genau daranhalten. Hatten Sie etwas anderes von mir erwartet?“.

Alberts schluckt hörbar. Er hatte aufgrund der Vita des Kollegen, der oftmals Alleingänge hingelegt hatte, eine andere Antwort erwartet. „Das ist schön, dass Sie das auch so sehen. Wir sollten uns gleich daran machen, die Dienstpläne zu optimieren.

Übrigens, ich lege sehr viel Wert darauf, dass man mich siezt und mit dem Dienstgrad anspricht. Schließlich ist das hier eine Polizeidienststelle und da bedarf es gewissen Respekt vor langjähriger Erfahrung. Auch entsprechende Hierarchien müssen zwingend eingehalten werden.“

Jürgens dreht sich in Richtung der anderen drei Kollegen und sagt: „Mich muss hier niemand aus der Truppe mit meinem Dienstgrad ansprechen. Ich sehe das als Teamarbeit, bei der jeder seinen Beitrag leistet. Auch Vorschlägen gegenüber bin ich offen, egal, von wem sie kommen. Gerne dürfen Sie mich auch duzen, das gehört in einem guten Team dazu.

Ich bin Wilbur oder besser kurz Wil. Wer über meinen Vornamen grinsen muss, der geht dann gleich zum Bäcker und holt das Einstandsfrühstück, das ich spendiere.“ Alberts schaut Jürgens hinter ihm stehend entrüstet an. Dann schüttelt er den Kopf und geht brummelnd zurück in das gemeinsame Büro.

Jürgens nimmt einen Zwanzig-Euro-Schein aus seiner Geldbörse. „Jannick, wärst Du so freundlich, eine große Auswahl an belegten Brötchen für uns alle zu holen?“. Rosenbohm nimmt das Geld und verlässt das Revier.

Im selben Augenblick klingelt das Telefon und Eilers nimmt das Gespräch an. Er hört, was auf der anderen Seite gesprochen wird und stammelt: „Ja, ja, wir schicken jemanden vorbei.“ Dann legt er auf, dreht sich zu Jürgens und Claaßen und sagt völlig schockiert: „Es wurde eine Leiche gefunden“. „Wie bitte?“, fragt Jürgens erstaunt.

„Eine Leiche wurde gefunden“, wiederholt Eilers monoton, noch immer nicht wirklich realisierend was er eben hörte. Jürgens erkennt, dass der junge Mann damit etwas überfordert ist.„Wo wurde die Leiche gefunden, Helge?“, redet Claaßen beruhigend auf ihren Kollegen ein. Eilers schaut sie an, antwortet aber nicht.

Claaßen geht zu ihm, nimmt seine Hand, schaut ihm ins Gesicht und wiederholt ihre Frage ganz langsam. Nach und nach erholt sich Eilers und besinnt sich auf das, was er in der Polizeischule lernte. „Eine weibliche Person wurde tot am Ententeich gefunden. Ein Gewaltverbrechen ist nicht auszuschließen.“

Jürgens schaut zu Claaßen und sagt: „Dann ist das jetzt unser erster Einsatz. Du fährst Femke. Sonderrechte sind zugelassen.“ Beide verlassen schnell die Polizeistation und steigen in den Polizeiwagen. Claaßen startet den Motor und aktiviert Blaulicht und Martin-Horn. Rasant fährt sie rückwärts vom Parkplatz, wendet geschickt und rast los.

Alberts hört in seinem Büro die Sirene und stürzt zum Fenster, von wo aus er nur noch den sich entfernenden Wagen sieht. Er rennt nach vorne in den Bereitschaftsraum und ruft Eilers zu: „Was ist los? Warum heizen die wie irre mit dem Polizeifahrzeug davon, Herr Polizeimeister Eilers?“.

Dieser schaut Alberts an und antwortet: „Leichenfund am Ententeich.“ Die Wut, die in Alberts aufsteigt, weil er nicht informiert wurde, ist klar zu erkennen.

„Polizeimeister Eilers, haben wir einen zweiten Einsatzwagen?“. „Ja Herr Kriminalkommissar Alberts, aber mit dem ist der Kollege Rosenbohm zum Bäcker gefahren.“

Alberts glaubt nicht, was er hört und geht im Geiste die Vorschriften durch, gegen die verstoßen wurde. Er würde wohl später im Polizeimeister Rosenbohms Dienstakte einen Vermerk notieren und ihn offiziell auf seine Verfehlung aufmerksam machen. Da Alberts bewusst ist, dass er nun Jürgens und Claaßen nicht direkt folgen kann, geht er zum Funkgerät.

„Polizeimeisterin Claaßen, bitte melden.“ Es knackt, rauscht und es erfolgt keine Reaktion. „Hallo, Polizeimeisterin Claaßen, melden Sie sich.“

„Die Kollegin hat jetzt keine Zeit, sie muss fahren. Wir sind gleich am Tatort und informieren Sie, soweit wir genaueres wissen. Jürgens Ende“, ertönt es aus dem Lautsprecher. Verärgert schüttelt er den Kopf und geht zurück in sein Büro. „Das wird Folgen haben. Gleich am ersten Tag wird eklatant gegen die Vorschriften verstoßen“, brummelt er vor sich hin.

2) Kapitel

Derweil stoppt Claaßen das Fahrzeug abrupt vor einem Schlagbaum. „Von hier aus müssen wir zu Fuß weiter“, erklärt sie, während sie den Motor abschaltet und die Fahrertür öffnet. „Wir haben leider keinen Schlüssel für die Schranke.“

Jürgens nimmt das mobile Funkgerät an sich und steigt ebenfalls aus. „Na gut, dann laufen wir eben.“

Der Ententeich ist keine drei Minuten Fußweg entfernt und schon von weitem sehen sie, wo sich der Tatort befinden muss. Eine Gruppe von Schaulustigen steht am Ufer des Teichs und blickt in Richtung der kleinen Insel.

Einer der Anwesenden entdeckt die Polizisten und kommt gestikulierend auf sie zu. „Hallo, ich habe Sie verständigt. Die Leiche liegt dort vorne auf der Enteninsel. Kommen Sie schnell.“ Als Claaßen und Jürgens das Ufer erreichen, können sie beim Blick zur kleinen Insel einen Körper erkennen, der halb im Wasser und halb am Ufer liegt. Da die Person auf dem Rücken liegt, lässt sie sich, auch über die Entfernung von rund 20 Metern, eindeutig als Frau identifizieren.

Zu seiner Kollegen gerichtet sagt Jürgens: „Femke, könntest Du bitte den Uferbereich hier absperren und dafür sorgen, dass sich die Leute mindestens fünfzig Meter von hier wegbewegen. Danke Dir.“

Femke läuft zum Wagen, holt das notwendige Absperrband und beginnt den Bereich abzusperren und dabei die Schaulustigen wegzuschicken. Jürgens geht zu dem Passanten, der die Leiche gefunden hat.

„Sie haben die Leiche gefunden, Herr …?“ „Eggert ist mein Name, Hans Eggert. Ich ging hier wie jeden Morgen und jeden Abend eine Runde mit meinem Hund. Als wir hier vorbeikamen, bellte Troubador plötzlich. Troubador ist mein Labrador, müssen Sie wissen.“

Jürgens wundert sich kurz über die bescheuerte Namensgebung für den Hund und meint dann: „Herr Eggert, wenn Sie bitte kurz warten würden, ich muss die Kollegen verständigen. Ich bin gleich wieder bei Ihnen.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, geht er einige Schritte, um dann das Funkgerät zu bedienen: „Helge, kannst Du mich hören?“. Es dauert einige Sekunden, dann ertönt Helges Stimme. „Ja, klar und deutlich.“ „Perfekt. Ist Jannick mit dem Einsatzwagen wieder zurück?“.

„Ja, soeben angekommen. Ich habe ihn gerade informiert.“ „Okay. Dann hole mir bitte Herrn Alberts ans Gerät.“ „Einen Moment, bitte. “Kurze Zeit später meldet sich ein wütender Alberts. „Was fällt Ihnen ein? Sie können doch nicht einfach ohne, dass Sie mich informieren, losfahren. Schon gar nicht, wenn es um eine Leiche geht.“ Jürgens ignoriert den wütenden Ton und antwortet ruhig:

„Würden Sie bitte die Spurensicherung informieren und alle weiteren Maßnahmen einleiten, die in so einem Fall notwendig sind? Danke. Außerdem empfehle ich, dass Sie mit Herrn Rosenbohm hierherkommen. Er dürfte wissen, wo das ist. Und organisieren Sie einen Schlüssel für den Schlagbaum, damit wir dichter an den Tatort fahren können. Eilers kann dann ja die Stellung in der Dienststelle halten.“

Ohne die Antwort abzuwarten, schaltet er das Gerät aus. Bis zur Ankunft der Kollegen von der Spurensicherung kann er nicht viel Effektives tun. Zum Glück liegt die Leiche weit genug entfernt, sodass niemand den Tatort verunreinigen kann. Wobei Jürgens annimmt, dass der Tatort nicht inmitten des Teiches ist. Vermutlich wurde die Frau am diesseitigen Ufer des Ententeichs umgebracht, sofern es sich um einen Mord handelt. Sie konnte ja auch verunglückt sein, wofür aber bisher nichts spricht, besonders da sie mit nacktem Oberkörper daliegt.

Jürgens schaut sich ein wenig am Ufer um und entdeckt auf dem rund einen Meter breiten Grasstreifen zwischen Wasser und Weg, niedergedrücktes Gras. Scheinbar hatte hier jemand gelegen. Er winkt Claaßen zu sich.

„Femke, bitte sperr diesen Bereich zusätzlich ab und kennzeichne ihn für die Spurensicherung. Sie sollen hier auch Nachforschungen anstellen. Ich habe weder Handschuhe noch einen Tatort-Schutzanzug dabei. Wir müssen also warten, bis die Kollegen da sind.“ Claaßen nickt und beginnt den Bereich ebenfalls abzusperren, achtet dabei aber darauf, dem eventuellen Tatort nicht zu nahezukommen, um ihn nicht zu verunreinigen.

Jürgens nimmt die umsichtige Vorgehensweise erfreut zur Kenntnis. Die junge Frau weiß genau was sie tut und wie sie die Anweisungen professionell umsetzen muss. Aus ihr würde bestimmt eine erfolgreiche Polizistin, wenn nicht gar Kommissarin, werden. Jürgens wird aus seinen Gedanken gerissen, weil sich jemand rufend nähert. Ein etwas dicklicher Mann mit einer Fotokamera über der Schulter hängend kommt auf ihn zu. Etwas außer Atem sagt er: „Guten Tag, mein Name ist Piet Müller, ich bin von der »Umschau«.“

„Jürgens, Kriminalkommissar. Was ist denn die »Umschau«?“. „Sie sind nicht von hier? Die »Umschau« ist die Wochenzeitung für unsere Stadt und den Umkreis. Ich bin Herausgeber, Chefredakteur und Fotograf in einer Person.“

„Schön für Sie. Nun wollen Sie mal abseits der Kaninchenzüchter-Versammlungen und Kleingartenfesten über etwas Spannenderes berichten, richtig?“.

„Äh, ja, wenn Sie es so sehen, ja.“ Müller fühlt sich und seine Arbeit etwas herabgesetzt. „Haben Sie Informationen für mich?“. „Nein, gar nichts und nun muss ich Sie bitten, den abgesperrten Bereich zu verlassen. Sobald es offizielle Informationen gibt, werden wir eine Presseerklärung herausgeben.“

Verdutzt schaut Müller Jürgens an. „Wie bitte? Ich bin die Presse, so können Sie mich nicht abspeisen. Was ist passiert? Wer ist das Opfer? Wann ist es passiert? Früher wurde ich immer aus erster Hand informiert, wenn etwas passierte.“

„Wirklich? Randalierende Jugendliche und betrunkene Autofahrer bewegen sich allerdings auch auf einem niedrigeren Niveau, als ein vermutetes Gewaltverbrechen. Oder meinen Sie damals, als vor 27 Jahren aus Journalistensicht im Ort etwas Spektakuläres passierte?

Wenn Sie jetzt zwischen den Zeilen gehört haben, haben Sie ein paar Informationen bekommen, wenn nicht, Ihr Problem. Und nun bitte ich Sie erneut den abgesperrten Bereich zu verlassen.“

Müller will sich allerdings nicht abwimmeln lassen. „Wer sind Sie überhaupt, dass Sie hier so große Reden schwingen? Haben Sie hier überhaupt was zu sagen, Sie Wichtigtuer? Ihrer Kleidung nach sind Sie eher ein potenzieller Täter, als ein Ermittler.“

Jürgens ist bewusst, dass er nicht unbedingt wie einer dem Klischee entsprechenden Ermittler aussieht, aber dass sich ihm jemand so frech widersetzte, wo er sich als einziger an einem abgesperrten Tatort befindet und sich klar als Kommissar vorgestellt hat, war ihm zuvor auch noch nicht widerfahren.

Er greift in seine Gesäßtasche, holt seinen Dienstausweis heraus und hält ihn dem Journalisten in einem Abstand von zehn Zentimetern vor das Gesicht. „Reicht das als Legitimation?“.

Ohne eine Antwort abzuwarten, zeigt er mit der anderen Hand in die Richtung, in die sich Müller bewegen soll. Dieser murmelt: „Nicht zu fassen, was für seltsame Menschen heute bei der Polizei was zu sagen haben.“

Er entscheidet, dass es wohl zunächst besser ist, der Aufforderung Folge zu leisten. Jürgens steckt seinen Ausweis wieder ein und sieht Alberts und Rosenbohm kommen. Gerade übersteigt Alberts das Absperrband, als Müller ihn anspricht. „Sind Sie hier der leitende Ermittler?“, will Müller aufgebracht wissen. „Wer will das wissen?“.

„Ich bin Piet Müller, der Chefredakteur der »Umschau«. Als Mitarbeiter der Presse, erwarte ich, dass Sie mir alle relevanten Informationen mitteilen. Schließlich habe ich eine Verpflichtung meinen Lesern gegenüber.“ Alberts schaut ihn an, schüttelt kurz den Kopf und geht wortlos weiter. Müller bleibt verdutzt stehen. Gerade als er erneut auf Alberts einreden will, nimmt ihn Rosenbohm am Oberarm und führt ihn aus dem abgesperrten Bereich heraus. „Sie bleiben außerhalb der Absperrung, wie alle anderen Schaulustigen auch.“

„Ich bin kein Schaulustiger“, ereifert sich Müller. „Doch sind Sie, nur schreiben sie hinterher darüber. Das ist der einzige Unterschied.“

Alberts erreicht derweil seinen Kollegen. „Entsprechend der Vorschriften hätten Sie mich informieren müssen, Herr Jürgens.“

„Ja, worüber? Wir wussten ja gar nicht, was passiert ist und ob es falscher Alarm war. Da müssen wohl nicht beide Kommissare ausrücken.

Da Polizeimeister Eilers augenscheinlich von der gemeldeten Situation emotional überfordert war, konnte ich ihm nicht zumuten, dass er alleine zurückbleibt.

Deshalb entschied ich, mit der Leiterin der Station, Frau Polizeimeisterin Claaßen, hierher zu eilen. Alles entsprechend der Vorschriften und innerhalb meiner variablen Entscheidungskompetenz. Nun sind Sie ja auch hier und bisher haben Sie nichts verpasst. Wurden die Spurensicherung und der Pathologe informiert?“.

Alberts nickt. „Sie sind auf dem Weg hierher und sollten bald eintreffen. So lange müssen wir wohl warten.“

„Richtig, dann können wir uns jetzt mal den Brötchen widmen, die Kollege Rosenbohm sicherlich noch im Auto liegen hat.“ Jürgens geht in Richtung des Fahrzeugs. Augenscheinlich hatten sich Claaßen und Rosenbohm darum gekümmert den Schlagbaum zu öffnen, denn beide Einsatzfahrzeuge stehen nun nicht weit von der Tatortsabsperrung.

Alberts schluckt laut und vernehmlich und schließt zu Jürgens auf. „Wie können Sie denn jetzt an Brötchen denken?“. „Ganz einfach, es gibt aktuell nichts zu tun und da ich noch nicht gefrühstückt habe, werde ich die Wartezeit nutzen. Wer weiß, wann wir heute wieder zum Essen kommen werden, schließlich beginnen unsere Ermittlungen nach Eintreffen der SpuSi und des Pathologen. Gerne sind Sie auf ein Brötchen eingeladen.“

3) Kapitel

Rund eine halbe Stunde später treffen Mitarbeiter der Spurensicherung und der Pathologie ein. Ein sportlicher, braun gebrannter Mann, Anfang der vierziger kommt auf Alberts und Jürgens zu. „Moin, ich bin Udo Frost von der Spurensicherung.“ Zu Alberts gerichtet: „Sind Sie Kriminalkommissar Jürgens? Mir wurde gesagt, dass Sie hier verantwortlich sind.“

Alberts bewegt den Kopf leicht in Richtung Jürgens, der auf der Stoßstange des Einsatzfahrzeugs sitzt und gerade die letzten Bissen seines Brötchens verzehrt.

„Das ist der Kollege Jürgens, auch wenn er nicht nach einem Mitarbeiter unserer Behörde aussieht.“ Der Seitenhieb auf Jürgens' Kleidung musste sein, schließlich hatte man ihn statt seiner mit der Leitung des Falls betraut. Als Alberts vor einigen Minuten die Nachricht per Telefon erhielt, verbesserte das weder seine Laune noch seine Meinung über Jürgens.

Frost wendet sich Jürgens zu. „Was genau gibt es denn hier zu untersuchen? Eine Leiche sehe ich nicht.“ „Moin. Aus der Distanz wirkt das wie ein Gewaltverbrechen. Ihr Einsatzort befindet sich da drüben.“ Jürgens zeigt auf die kleine Insel im Teich. Frost schaut zur Insel, dann wieder zu Jürgens. „Wie sollen wir da bitte rüberkommen? Gibt es irgendwo ein Boot oder ähnliches?“. Von der Seite nähert sich Claaßen, die das Gespräch scheinbar mitgehört hat. „Der Teich ist nur 80 Zentimeter tief, da kann man hindurch waten.“

Frost schaut zu ihr, liest ihr Namensschild und sagt dann: „Und Frau Kollegin Claaßen, wie sollen wir dann mit nasser Kleidung den eventuellen Tatort absuchen, ohne die Spuren dabei zu verwischen?“. Jürgens schaltet sich ein. „Vielleicht fragen wir mal die Schaulustigen, ob irgendwer eventuell in der Nähe wohnt und ein Schlauchboot besitzt, welches er uns leihen kann.“

Er deutet Rosenbohm herzukommen und fordert ihn auf, die Umstehenden zu fragen. „Das führt doch zu nichts“, meint Alberts. „Wir werden ein Boot anfordern müssen. Polizeimeisterin Claaßen, würden Sie bitte in der Zentrale anrufen und ein Schlauchboot oder ähnliches anfordern. Vielen Dank.“ Claaßen nickt und beginnt umgehend zu telefonieren.

Jürgens geht zu Frost und sagt: „Bevor eure Ententeich-Kreuzfahrt beginnt, könnten Sie schon mal innerhalb des kleinen abgesperrten Bereichs da vorne nach Spuren schauen. Ich meine, dass ich da Blutspuren gesehen habe.“ Frost nickt und gemeinsam mit den drei Mitarbeitern geht er zu der genannten Stelle und beginnt mit der Arbeit.

Claaßen kommt zu Jürgens und meldet: „Ich habe bei der Zentrale angerufen, die versuchen, ein Schlauchboot zu organisieren. Es könne aber etwas dauern, da es eher unüblich wäre, dass eins angefordert wird. Sie verständigen die Feuerwehr und auch das THW. Mehr konnte ich nicht erreichen.“

„Ja, dann ist das eben so“, antwortet Jürgens. „Könntest Du bitte unauffällig mit Deinem Smartphone die Schaulustigen fotografieren? Eventuell ist ja unser Täter dabei. Besser noch, nimm auch eine kurze Videosequenz auf, dann fällt auf, wenn sich jemand verdächtig verhält.“ „Ja Chef, ich mache mich direkt dran“, antwortet Claaßen.

Alberts hat den letzten Satz gehört. „Was heißt hier Chef? Wir sind immer noch gleichberechtigt, merken Sie sich das, Frau Polizeimeisterin Claaßen. Aber die Idee von Kommissar Jürgens ist nicht schlecht, auch wenn wir uns da in einer Grauzone bewegen.“

„Kommissar Jürgens, können Sie mal bitte kommen?“, ruft Frost ihm zu. Jürgens und Alberts gehen die wenigen Meter zu Frost. Dieser hält ihnen ein Wattestäbchen mit dunklem, klebrigem Blut entgegen. „Sie hatten recht, wir haben hier Blutspuren gefunden. Allerdings sind die schon angetrocknet und entsprechend sind sie schon einige Stunden alt. Genaueres kann ich erst sagen, wenn ich sie im Labor untersucht habe.“

„Na wenigstens“, antwortet Alberts. „Es dauert mir hier alles viel zu lange. Die Leiche liegt dort drüben und wir kommen nicht dahin, weil sonst Spuren verfälscht werden könnten. Es ist doch echt nicht auszuhalten hier in der Provinz.“ „Wo kommen Sie denn her, Herr Kollege“.

„Aus Hannover, dort waren wir perfekt ausgerüstet. Aber hier an der Grenze von Ostfriesland scheint es wohl ein ermittlungstechnisches Notstandgebiet zu sein. Nur Amateure“, wobei er in die Runde schaut. Frost liegt eine Antwort auf der Zunge, doch mit einem eindeutigen Blick fordert Jürgens ihn auf zu schweigen.

Ein Wortgefecht an der Absperrung erweckt die Aufmerksamkeit der beiden Kommissare. Polizeimeister Rosenbohm diskutiert heftig mit einem älteren Mann in der Arbeitskleidung eines Gärtners. Jürgens und Alberts gehen hinüber. „Was genau ist hier nun los?“, will Alberts wissen. „Der Mann behauptet, er könne uns helfen und will Sie sprechen Herr Kommissar. Als er unter der Absperrung durchklettern wollte, habe ich ihn aufgehalten.“

„Sie können uns helfen, weil …?“, fragt Alberts an den Mann gerichtet. „Ich bin hier der zuständige Landschaftsgärtner der Gemeinde. Meine Aufgabe ist es auch, den Ententeich und die Insel von Müll zu befreien, die Pflanzen zu versorgen und eben alles in Ordnung zu halten.“

„Okay, und wie können Sie uns nun tatsächlich weiterhelfen?“ „Ich habe gehört, dass auf der Insel wohl jemand liegt und Sie mangels eines Bootes nicht dort hinüberkommen können.

Es gibt auf der Seite, an der die Entfernung zum Ufer am kürzesten ist, einen Steg von 50 Zentimeter Breite, der allerdings so nicht zu erkennen ist, da er ungefähr fünf Zentimeter unter der Wasseroberfläche liegt, damit nicht jeder sieht, dass es den Übergang gibt. Hilft Ihnen das weiter?“.

Alberts schaut den Mann an, dann Jürgens. Sofort dreht er sich in Richtung Frost und seine Truppe und ruft über die zwanzig Meter Entfernung: „Frost, kommen Sie her und bringen Sie Ihre Mannschaft mit, es gibt Arbeit für Sie.“

4) Kapitel

Angeführt vom Gärtner bewegen sich Frost und seine Mitarbeiter sowie das zweiköpfige Pathologie Team, in Tatort-Schutzanzügen gekleidet, hintereinander über den tatsächlich nicht sichtbaren Steg. Auch Jürgens hat sich einen solchen Einweganzug geben lassen und begleitet das Team auf die Insel.

Die Entfernung, die sie zurücklegen müssen, beträgt geschätzte acht Meter, sodass sie nach Erreichen der Insel nur noch wenige Schritte in Richtung der Leiche machen müssen.

Frost tippt dem Gärtner auf die Schulter: „Vielen Dank für Ihre Hilfe, aber ab hier müssen wir ohne Sie weiter gehen, damit es nicht versehentlich zur Verunreinigung des vermutlichen Tatorts kommt.

Gehen Sie bitte wieder zurück ans Ufer.“ Der Gärtner nickt. „Verunreinigungen gibt es auch ohne mich, denn hier halten sich viele Enten auf und scheißen alles dicht. Passen Sie also auf, wohin Sie treten.“ Der Gärtner geht über den Steg zurück.

Als die Gruppe bei der Leiche ankommt, fliegen erschreckt einige Enten davon. Die Leiche liegt auf dem Rücken inmitten von Entenkot. Vorsichtig beginnen die Pathologen mit der Erstuntersuchung der weiblichen Leiche. Ihr Oberkörper ist nackt, am Unterkörper ist sie mit einer Jeans bekleidet.

„Sie scheint schon seit gestern Abend hier zu liegen“, meint einer der Pathologen. „Woran machen Sie das fest“, will Frost wissen. „Zum einen sehe ich hier angetrocknetes und verkrustetes Blut, zum anderen relativ viel Entenkot auch auf der Leiche. Genaueres kann ich aber erst nach der Obduktion sagen.

Das wird eine scheiß Arbeit werden, denn wir werden die Fäkalien von der Frau entfernen müssen, bevor wir uns an die Untersuchungen machen können. Eventuell finden wir darunter eine Stichwunde“, mutmaßt der Gerichtsmediziner.
„Kann man ein Sexualdelikt ausschließen?“, will Jürgens, der etwas abseitssteht, wissen.

„So wie es sich jetzt darstellt, spricht nichts für ein Sexualdelikt“, entgegnet der Pathologe. Während Frost und seine Leute nach Spuren suchen widmet sich der Pathologe noch einige Zeit dem toten Frauenkörper. Jürgens fotografiert währenddessen mit seinem Smartphone die Auffinde-Situation.

Schließlich sagt der Pathologe: „Ich denke, wir können sie jetzt umdrehen.“ Er deutet seinem Kollegen ihm zu helfen und gemeinsam drehen sie die Tote auf den Bauch. „Was ist das?“, entfährt ihm der Ausruf beim Anblick des Rückens der Toten. Auch Jürgens sieht sofort, was der Pathologe meint.

Auf dem Rücken befindet sich, trotz des Drecks, in dem die Tote lag, klar sichtbar, eine viereckige Wunde. Sie ist auf voller Breite oben zwischen den Schulterblättern und reicht rund 15 Zentimeter den Rücken hinunter.

Frost schaut, durch den Ausruf des Pathologen aufmerksam geworden, ebenfalls auf diese seltsame Wunde. „Was ist das denn bitte? So etwas habe ich noch nie gesehen.“ Der Mediziner untersucht vorsichtig die Wunde und meint dann: „Es sieht so aus, als habe hier jemand fein säuberlich ein Stück Haut abgetrennt.“

„Wer macht den so etwas?“, fragt Jürgens eher rhetorisch. „Auf jeden Fall war das nicht die Todesursache. Auch wenn es sicherlich sehr schmerzhaft war, so wird die Frau nicht daran gestorben sein. Besonders, da sie sich bestimmt gewehrt hätte, wenn sie beim Abtrennen der Haut noch gelebt hätte. Sehr seltsam“, erläutert der Pathologe.

„Okay, ich denke mal, dass wir jetzt nicht viel mehr von Ihnen erfahren können. Wie lange dauert es, bis Sie in der Pathologie weitere Details herausfinden?“. „Kommt darauf an, wann wir sie hier wegschaffen können. Ich denke nicht, dass das über den Steg gehen wird. “In dem Moment erreicht Alberts die Gruppe. Er hatte auch den Weg über den Steg genommen. „Die DLRG ist nun mit einem Boot da. Sie werden es gleich zu Wasser lassen und hier herüberkommen.

Ist das in Ordnung oder sollen Sie wegen der Tatortuntersuchung noch warten?“. „Ich denke nicht, dass die Frau hier umgebracht wurde. Wir haben alle Spuren soweit gesichert. Alles, was unter der frischen Entenscheiße liegt, werden wir kaum finden“, erklärt Frost.

„Okay, dann wird der Kriminalkommissar Alberts hier die Bergung betreuen. Ich mache mich mal auf den Weg.“ „Wie bitte? Ich soll hier im Entendreck herumstehen? Was machen Sie in der Zeit?“.

„Ermitteln, recherchieren und dabei versuchen, Informationen zu bekommen. Zum Beispiel ob es schon zuvor Fälle gab, bei denen die Haut des Opfers fein säuberlich abgetrennt wurde. Ich übergebe Ihnen den Tatort und alles was dazu gehört in Ihren Verantwortungsbereich. Sie übernehmen doch gerne Verantwortung und halten sich an Regeln. Wir treffen uns dann später im Revier wieder.“

Jürgens lässt Alberts stehen und begibt sich über den Steg wieder ans Ufer. Dort zieht er den Einweganzug aus, knüllt ihn zusammen und bringt ihn zum Einsatzfahrzeug, wo er ihn in eine Plastiktüte stopft. Anschließend zieht er auch die Einweghandschuhe aus und packt sie ebenfalls in die Tüte, die er dann in den Kofferraum legt. Claaßen sieht ihn und kommt zu ihm. „Was gab es auf der Insel zu sehen?“, will sie wissen.

„Eine Frauenleiche mit unbekleidetem Oberkörper. Auf dem Rücken ist ein großes Stück Haut abgetrennt worden. Kein schöner Anblick. Komm, wir fahren ins Revier zurück.“ Die beiden steigen in den Wagen und erneut sitzt Claaßen am Steuer.

„Was hast Du inzwischen getan?“, fragt Jürgens. „Ich habe die Zeugenaussage von dem Herrn mit dem Hund aufgenommen, der die Frau auf der Insel liegen sah. Außerdem habe ich mich bei den Schaulustigen umgehört, ob jemand etwas gesehen hat.

Bisher keine brauchbaren Ergebnisse. Von einigen der Umstehenden habe ich die Personalien aufgenommen, da sie laut eigener Aussage schon kurz vor uns eintrafen. Zwei Jogger, eine ältere Dame mit Hund und ein Spaziergänger, der täglich seine Runde um den Teich macht.

Alles nicht sonderlich ergiebig. Jannick sichert weiterhin die Absperrung, bis der Bereich wieder freigegeben ist. Ah, da kommt das Boot.“ Claaßen zeigt in die Richtung, aus der die DLRG-Mitarbeiter das Boot in Richtung des Ufers transportieren.

„Schön, dann ist die Aufregung hier ja bald vorüber, spätestens, wenn die Leiche abtransportiert ist. Gute Arbeit übrigens, Du hast die Zeit sinnvoll genutzt.“ Langsam fahren sie den kurzen Feldweg herab, bis sie an die Straße gelangen. Ein scheinbar betrunkener Radfahrer fährt ihnen beinahe in die Seite.

Als er sieht, dass es ein Polizeiwagen ist, den er fast gerammt hätte, versucht er schnell davon zu fahren. Allerdings gelingt ihm das aufgrund seiner offensichtlichen Alkoholisierung nicht sonderlich gut und so kippt er wenige Meter weiter mit dem Fahrrad auf die Straße und bleibt benommen liegen. Jürgens und Claaßen schauen sich an. Claaßen schaltet den Motor aus und beide steigen aus dem Fahrzeug.

„Hey Sie, alles in Ordnung?“, ruft Claaßen dem Mann am Boden zu. Sie läuft die wenigen Meter zu ihm hinüber. Der Mann versucht sich aufzurappeln, schafft es aber nicht und strauchelt erneut. Claaßen erreicht ihn und will ihm aufhelfen. Er sträubt sich aber dagegen, sodass die Polizistin etwas härter zugreift und ihm mit Nachdruck auf die Beine hilft.

Gerade als der Mann sich losreißen will, erreicht Jürgens die beiden und hält den nach Alkohol riechenden Mann fest. „Hiergeblieben!“

Der Mann merkt, dass Widerstand nun zwecklos ist und hört auf, sich zu wehren. „Ich denke, dass wir ihn mitnehmen und auf dem Revier ausnüchtern lassen. Gibt es dort eine Arrestzelle?“, will Jürgens von Claaßen wissen. „Ja, wir haben sogar zwei Zellen im Keller. Da sie nicht direkt oben in der Wache sind, gibt es eine Videoüberwachung.“

„Na dann mal los.“ Jürgens legt dem Betrunkenen Handschellen an und geleitet ihn zum Polizeiwagen. Mit leichtem Druck befördert er ihn auf den Rücksitz und schiebt ihn weiter ins Fahrzeug. Selber nimmt er direkt neben dem Gefangenen Platz.

„Ich halte den Mann hier mal unter Kontrolle. Man weiß ja nie, auf welche Ideen er kommt.“ Claaßen nickt. Sie hat das Fahrrad dabei, öffnet den Kofferraum und bugsiert es mit dem Hinterrad hinein, sodass Gabel und Vorderrad heraushängen. Mit einem kurzen Spanngurt sichert sie die Kofferraumklappe an der Stoßstange.

„Sollte gehen, es ist ja nur eine kurze Strecke.“ Claaßen geht zur Fahrertür und nimmt hinter dem Steuer Platz. Weder sie, noch Jürgens bemerken, dass der örtliche Medienmogul, für den sich Piet Müller scheinbar hält, die beiden während der Aktion aus einem Gebüsch heraus beobachtete und auch Fotos aufnahm. Claaßen startet den Wagen und sie fahren zum Revier.

5) Kapitel

Alberts ist inzwischen damit beschäftigt, die Situation am Teich im Griff zu behalten und die „Überfahrt“ des Opfers zu organisieren. Etwas gereizt gibt er seine Anweisungen an die Mitarbeiter der DLRG und die Kollegen von der Spurensicherung. Er würde sich den Kollegen im Revier vornehmen, schließlich wurde er von ihm nicht korrekt behandelt.

Etwas, das Alberts auf den Tod nicht ausstehen kann. Nachdem die Tote im Transportsarg an Land gebracht worden ist und auch das Team der Spurensicherung die Arbeit beendet hat, machen sich Alberts und Rosenbohm ebenfalls auf den Weg zum Revier zurück

Dort befindet sich der Betrunkene mittlerweile in der Arrestzelle. Es hat sich herausgestellt, dass es sich bei dem Mann um einen Asylbewerber handelt, der in der örtlichen Asyleinrichtung gemeldet ist. Warum er sturzbetrunken mit einem Damenfahrrad, das ihm nicht gehört, durch den Ort radelte, lässt sich nicht ermitteln. Also beschließt Claaßen, abzuwarten, bis er ausgenüchtert ist, um ihn dann zu befragen. Letztlich gibt es aktuell auch wichtigeres zu tun, als einen Menschen, der sowieso am unteren Ende der Gesellschaft steht, unnütz hart anzugehen.

Jürgens telefoniert in seinem Büro derweil mit der Zentrale in der Stadt. Er berichtet dem Vorgesetzten über die Auffinde-Situation, darüber, dass es sich vermutlich um ein Gewaltverbrechen handelt und das Opfer eine Frau zwischen 30 und 35 Jahren ist. „Eine Sache noch, die uns sehr seltsam vorkommt, auf dem Rücken fehlt ein Stück Haut mit einer Kantenlänge von ungefähr 15 mal 15 Zentimetern.

Gab es in letzter Zeit Gewaltverbrechen, bei denen ähnliches vorkam?“, fragt Jürgens.

„Mir ist da nichts bekannt, Herr Jürgens. Ich werde in den Abteilungen noch einmal nachfragen, aber so etwas Eindeutiges wäre sicherlich bekannt. Vielen Dank, dass Sie mich auf den aktuellen Stand gebracht haben.

Sehen Sie zu, dass Sie den Fall schnellstens lösen. Sie wissen ja, wenn sich die Presse auf uns einschießt, ist das für alle Beteiligten unangenehm.“ Der Gesprächspartner legt auf und auch Jürgens legt den Hörer auf die Gabel.

Alberts stürmt herein und fährt Jürgens in hartem Ton an. „Was war das denn bitte eben? Vor allen Anwesenden geben Sie mir Anweisungen, was ich wie zu tun habe? Glauben Sie nicht, ich habe den ironischen Unterton bezüglich Einhaltung der Regeln nicht gehört. Wir sind gleichberechtigt, aber irgendwie scheinen Sie das nicht zu akzeptieren. Das wundert mich nicht, bei Ihrer Vergangenheit.“ Jürgens schaut Alberts gelassen an. Das bringt ihn noch mehr in Rage.

Dann, nach einer für Alberts ewig zu scheinender und nicht zu ertragender Pause antwortet Jürgens: „Herr Kriminalkommissar Alberts, wenn ich Ihnen im Rahmen der üblichen Vorgänge Anweisungen erteile, dann haben Sie diese auszuführen. Ich leite den Fall und habe insofern die Befehlsgewalt und erwarte dann, von einem erfahrenen Mitarbeiter wie Ihnen, dass Sie entsprechend professionell handeln.

Zwar haben wir den gleichen Dienstgrad, aber aktuell bin ich hier der Leitwolf, dem Sie folgen. Wie es bei anderen Fällen sein wird, wird sich herausstellen. Erlauben Sie mir noch eine Anmerkung, bevor Sie sich an die Arbeit machen. Die Kollegin Claaßen arbeitet um Längen professioneller und überlegter, als Sie es tun.

Eventuell nehmen Sie sich an ihr ein Beispiel. Nun zurück an den Fall, was hat sich bei der Spurenanalyse bisher ergeben?“ Alberts schluckt vernehmlich, eine auffällige Eigenart, die immer dann auftritt, wenn ihm klar ist, dass er der Unterlegene ist. Etwas, dass im Laufe seiner Dienstjahre des Öfteren vorgekommen war.

Er zügelt seine Wut und antwortet etwas entspannter als noch zuvor: „Frost und sein Team haben neben Blutspuren auf der Insel noch Fußabdrücke gesichert. Ich habe diese dann gleich mit dem Profil des Gärtners verglichen. Seine sind es nicht, da seine Schuhgröße drei Nummern kleiner ist. Es muss also ein größerer Mann gewesen sein.

Der Gärtner versicherte mir, dass außer ihm eigentlich niemand die Insel betritt, da der Boden dort immer mit Entenkot und vielen Federn bedeckt ist. Dorthin kommen nicht mal romantische Pärchen, da es einfach zu dreckig ist.

Insofern können wir davon ausgehen, dass die Schuhabdrücke vom Mörder stammen müssen.“ „Okay, dann müssen wir ja nur noch im ganzen Ort die Schuhe kontrollieren“, meint Jürgens etwas flapsig. „Gibt es Hinweise auf das Tatwerkzeug?“. „Tatsächlich wurde das Opfer mit einem gezielten Stich ins Herz zu Tode gebracht. Das Messer dazu haben wir noch nicht gefunden. Ich habe Taucher angefordert, die den Grund absuchen. Auch wenn er nur 80 Zentimeter tief ist, so kann man maximal 10 Zentimeter in die Tiefe schauen. Das liegt an dem moorigen Untergrund und dem braunen Wasser.“

„Hervorragend Herr Kollege, so schätze ich Ihre Arbeit. Ich bin gespannt, ob die Taucher etwas finden. Weiß man bereits, wer das Opfer ist?“. „Bisher noch nicht, aber die Kollegen wollen, wenn die Leiche von den Verunreinigungen durch die Enten gesäubert ist, Finger- und Zahnabdrücke nehmen und sie entsprechend abgleichen.“

„Wissen Sie Herr Kollege Alberts, ich denke, auf so einer Basis können wir perfekt zusammenarbeiten. Lassen wir dieses Machtgehabe beiseite und schon sind wir ein gutes Team. Was denken Sie?“. „Abwarten, ob wir ein Team werden. Dafür sind wir viel zu verschieden. Ich melde mich zur Mittagspause ab, auch wenn es schon spät ist. Ich habe heute noch nichts gegessen.“

„Einverstanden. Sie wollten ja keins meiner Einstandsbrötchen. Wir sehen uns dann nachher.“ Alberts verlässt das Büro und das Revier und geht zum nur wenige hundert Meter entfernten Bistro nahe dem Bahnhof.

6) Kapitel

Jürgens verschweigt Alberts absichtlich, dass ein betrunkener Asylbewerber in der Arrestzelle eingesperrt ist. Letztlich ist das nicht wesentlich für den aktuellen Fall. Außerdem würde dieser, nachdem er seinen Rausch ausgeschlafen hätte, sowieso wieder entlassen werden.

Im Dienstraum geht Eilers, der sich mittlerweile von dem Schock, den die Meldung des Leichenfundes bei ihm ausgelöst hatte, erholt hat, den üblichen Tätigkeiten nach. Diese bestehen hauptsächlich daraus, die Zeit bis zum Feierabend zu vertreiben, da es für ihn, außer auf Bürger zu warten, die ein Anliegen an die Polizei haben, nichts zu tun gibt.

Außerdem muss er aktuell die Videobilder aus der Arrestzelle überwachen, denn der Gefangene darf nicht einfach ohne regelmäßige Kontrolle in der Zelle sein.

Claaßen wählt die Nummer der Asylunterkunft, um Informationen über den in der Arrestzelle sitzenden Mann zu bekommen. Am anderen Ende nimmt eine Frau ab. „Guten Tag, Aufnahmeeinrichtung Öldenettel. Mein Name ist Schröder. Was kann ich für Sie tun?“. „Guten Tag, Polizeimeisterin Claaßen vom Revier Öldenettel. Ich wüsste gerne etwas über einen Ihrer Bewohner. Können Sie mir da weiterhelfen?“. „Leider darf ich am Telefon keinerlei Auskünfte geben. Sie müssten schon direkt hier vorbeikommen, Frau Claaßen.“ „Ah, okay. Passt es Ihnen in einer halben Stunde?“.

„Ich bin bis 17 Uhr hier. Wenn Sie bis dahin hier eintreffen, sehe ich, was ich für Sie tun kann.“ „Okay, mein Kollege und ich machen uns gleich auf den Weg.“ „Bis dahin, auf Wiedersehen.“ „Bis dann.“ Zu den Kollegen gewandt sagt sie: „Ich bin mal eben auf einem Außentermin. Nicht, dass Ihr mich sucht.“ Eilers und Rosenbohm nicken.

Claaßen geht zu Jürgens ins Büro. Auch wenn sie die Dienststelle leitet, ist er der Vorgesetzte, den sie über ihren Außentermin informieren muss. „Ja, Femke, was gibt es?“, Jürgens blickt vom Computerschirm auf. Auf ihm ist die interne Suchseite der Polizei geöffnet. „Ich fahre zur Aufnahmeeinrichtung, um genaueres über unseren Gast im Keller zu erfahren. Ich denke, dass Du mitkommen möchtest.“

„Gute Idee, ich werde Dich begleiten. Denn wenn wir weitere Informationen zum Todesopfer haben, sollte sein Fall erledigt sein. Wir brauchen dann eventuell alle Kräfte, um uns auf die Ermittlungen zu konzentrieren.“ „Ja, das dachte ich mir auch. Je schneller er uns wieder verlässt, desto weniger Mühen haben wir mit ihm. Trunkenbolde gehören ja nun mal zum Tagesgeschäft.“

„Eventuell können wir dann noch einmal zum Tatort fahren und uns umsehen. Womöglich ist da jetzt weniger los. Apropos, hast Du die Fotos auf den PC geladen?“.

„Ja, und die Videos auch. Jannick schaut sie sich gerade detailliert an und wertet sie nach den vorgegebenen Kriterien aus.“

„Super. Ich kann gut verstehen, warum man Dich hier zur Leiterin ernannt hat. Du denkst mit, gibst klare Anweisungen und verteilst die Aufgaben sinnvoll. Genau so funktioniert Teamführung.“

Er steht auf und beide verlassen die Dienststelle durch den Personaleingang. Dieser führt auf den Hof, von wo aus ein Fußweg um das Gebäude zur Straße führt. Gerade als sie in den dort abgestellten Streifenwagen steigen wollen, sehen sie einen jungen Mann, der in die Wache geht.

„Mächtig was los heute“, kommentiert Claaßen. „So viele fremde Menschen betreten unsere Wache sonst innerhalb einer Woche nicht. Heute sogar gleich zwei an einem Tag. Langsam wird es stressig“, fügt sie lachend hinzu. „Dann wollen wir mal hoffen, dass sich die Kollegen nicht überarbeiten“, scherzt Jürgens ebenfalls. Sie fahren los in Richtung der Aufnahmeeinrichtung.

Der Mann betritt das Revier. Eilers erhebt sich von seinem Platz und geht zum Empfangstresen.

„Guten Tag, was kann ich für Sie tun?“. „Guten Tag, mein Name ist Janßen von der Volkshochschule. Ich möchte jemanden als vermisst melden.“ „Sind Sie mit der Person verwandt?“ „Nein, sie ist eine Mitarbeiterin von uns. Sie unterrichtet Asylbewerber in deutscher Sprache.“ „Wie kommen Sie darauf, dass sie vermisst ist?“. „Obwohl sie immer sehr zuverlässig ist, ist sie heute nicht zur Arbeit erschienen. Ich habe schon versucht sie telefonisch zu erreichen, doch sie ging nicht ran. Dann bin ich bei ihrer Wohnung gewesen. Ihr Auto steht vor dem Haus und alle Vorhänge sind offen. Dennoch reagierte sie nicht auf mein Klingeln.

Ein Nachbar meinte, sie wäre gestern Abend nochmal ausgegangen. Heute Morgen habe er sie, wie sonst üblich, nicht gesehen.“ „Ich weiß nicht, ob wir da schon etwas machen können. Sie kann ja einfach nur mal blau machen oder ist, warum auch immer, anderweitig unterwegs.“

„Das habe ich befürchtet. Da sie Single ist, gibt es auch keinen Partner, denn ich hätte fragen können. Eigentlich kenne ich auch niemanden aus ihrem Umfeld namentlich.“ „Ich nehme einfach mal die Personalien und eine Personenbeschreibung von ihr auf. Wenn sie bis morgen nicht wiederauftaucht oder sich bei Ihnen meldet, dann geben wir eine erste Suchmeldung an unsere Kollegen raus. Mehr kann ich nicht tun.“

7) Kapitel

Claaßen und Jürgens fahren in Richtung der Aufnahmeeinrichtung. Der Weg führt sie direkt durch die Straße, in der sie zuvor den betrunkenen Asylbewerber aufgelesen hatten. Außerdem führt sie nicht weit am Tatort vorbei. „Unser betrunkener Gast war wohl auf dem Weg nach Hause“, meint Jürgens. „Wir sollten nachher mal prüfen, ob er auch unter den Schaulustigen am Tatort war.

Vielleicht war es aber auch nur ein Reflex, dass er vor uns abhauen wollte.“ „Ich habe ihn da nicht stehen sehen, was aber ja nichts heißen muss. Eventuell war er ja nur kurz vor Ort und wollte den Weg am Teich nutzen. Der führt hinten durch den Wald und kommt nahe der Unterkunft wieder raus. Eignet sich gut als Abkürzung.“

„Ich bin mit den örtlichen Gegebenheiten noch nicht so vertraut, gut, dass Du Dich auskennst.“

„Woher kommst Du eigentlich?“.

„Ursprünglich bin ich in einem Dorf zwischen Hamburg und Bremen aufgewachsen. Später zog es mich nach Frankfurt und von dort wurde ich dann hierher versetzt. Komplizierte Geschichte, auf die ich jetzt nicht näher eingehen will. Vielleicht erzähle ich es Dir ja mal bei einem Bier, irgendwann.“

„Dein Vorname ist wirklich Wilbur? Ich glaube, dass ich diesen Namen noch nie zuvor gehört habe.“ „Ist ja auch nicht so gängig in Deutschland. Mein Vater ist ein Fan der Fliegerei und ganz besonders der Gebrüder Wright. Er weiß alles über die beiden Flugpioniere. Zum Glück hat er mich nicht Orville genannt, das wäre noch übler gewesen. Aber wenn man Wil zu mir sagt, ist das okay.“

Sie erreichen die Einrichtung. Diese ist in einer ehemaligen Waldschule abseits vom Ort untergebracht.

„Jahre lang stand die alte Schule leer. Als dann vor vier Jahren die Flüchtlingsströme kamen, hat die Gemeinde das Gebäude angeboten und so Geld für die Renovierung bekommen. Der Bürgermeister hat das geschickt eingefädelt“, erläutert Claaßen. „Sieht aber ganz angenehm aus. Ich habe da schon ganz andere Örtlichkeiten gesehen.“

Die beiden steigen aus und begeben sich zum Eingang der Unterkunft. An einer Art Empfang sitzt ein junger Mann. „Was kann ich für Sie tun?“, fragt er. „Das ist Kriminalkommissar Jürgens, ich bin Polizeimeisterin Claaßen. Ich hatte vorhin mit Frau Schröder telefoniert. Ist sie noch im Hause?“. „Ja, sie hat mir Bescheid gesagt. Gehen Sie den Gang dort links herunter, letzte Tür links ist ihr Büro.“

„Danke.“ Die Beamten folgen der Wegbeschreibung und erreichen das Büro von Frau Schröder. Sie klopfen an die angelehnte Tür und werden aufgefordert, das Büro zu betreten. „Sie sind bestimmt von der Polizei“, begrüßt Schröder sie. „Ja, das ist Kriminalkommissar Jürgens und wir haben vorhin telefoniert. Mein Name ist Claaßen.“

„Worum genau geht es denn?“, will die Leiterin der Einrichtung wissen. „Wir haben einen stark alkoholisierten Mann aufgegriffen, der angibt hier zu wohnen.“

„Da wir nur zwölf Bewohner haben, wird es nicht schwer sein, ihn zu identifizieren. Haben Sie ein Bild von ihm?“. Claaßen nimmt ihr Smartphone und zeigt eine Aufnahme des Betrunkenen. „Ja, der wohnt bei uns. Eigentlich ein ganz friedlicher Geselle. Sein Name ist Muhab Essam Baba, wird aber von allen nur Ali Baba gerufen und er sollte jetzt eigentlich beim Deutschunterricht in der Volkshochschule sein“, erklärt Schröder.

„Da ist er definitiv nicht. Denn in unserer Arrestzelle findet kein Sprachunterricht statt“, meint Jürgens. „Wann hat er denn heute Morgen die Einrichtung verlassen?“.

„Oh, das weiß ich gar nicht. Da muss ich mal den Pförtner fragen.“

Sie nimmt den Telefonhörer, tippt auf eine Taste und spricht mit dem jungen Mann am Eingang. Dann legt sie auf. „Seltsam, er ist gestern Abend gar nicht wieder hierher zurückgekehrt. Entsprechend ist er heute Morgen auch nicht von hier losgegangen.“

„Sie sagten gegangen?“, hakt Claaßen nach.

„Ja, er ist immer die Strecke durch den Wald gelaufen“, bestätigt Schröder. „Wir haben ihn mit einem Damenfahrrad aufgegriffen“, erwidert Claaßen.

„Das ist seltsam, denn er besitzt kein Fahrrad und ich glaube, dass er sogar gar nicht richtig damit fahren kann.“ „Vielen Dank, dann wissen wir ja jetzt, um wen es sich handelt. Wir werden in Erfahrung bringen, woher das Fahrrad stammt und ihn dann vermutlich wieder frei lassen. Heute wird er aber wohl weiter bei uns in der Zelle bleiben und auch die Nacht dort verbringen müssen.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752143331
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
spannung ostfriesland norddeutschland krimi detektiv krimi ostsee ermittler krimi nordsee Krimi Ermittler Cosy Crime Whodunnit Thriller Spannung

Autor

  • Sören Martens (Autor:in)

Sören Martens, geboren und aufgewachsen in Norddeutschland, genauer, in Heide. Er liebt Norddeutschland für das gewisse Etwas, sei es die raue Nordsee, die sanfte Ostsee oder die netten Menschen. Oder einfach nur die gute Luft. Seine Leidenschaft ist Krimis und Thriller zu schreiben. Für Sören ist nichts spannender als (Mord)Fälle zu konstruieren und Menschen durch diese Krimis in den Bann zu ziehen.
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Titel: Todeskunst