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Bei Anruf Tod

von Sören Martens (Autor:in)
275 Seiten

Zusammenfassung

Ein vermisster Kurier, ein vertuschter Mordanschlag und eine verbrannte Leiche … der zweite Fall für das ungleiche Ermittler-Duo Jürgens und Alberts. Die Zeit drängt für die Kommissare Jürgens und Alberts, als der Lieferant einer Pizzeria plötzlich vom Erdboden verschwindet. Als wäre der Zeitdruck nicht genug, mischt sich auch der polizeikritische Journalist Piet Müller in die Ermittlungen ein und erhöht den öffentlichen Druck auf die beiden Kommissare. Je näher sie dem Vermissten kommen, desto tiefer verstricken sie sich in einem Geflecht aus Missgunst und abgrundtiefem Hass, bis sie selbst ins Visier des Täters geraten. Als dann noch ein Brandermittler auftaucht und in einem abgebrannten Haus eine Leiche findet, läuft ihnen die Zeit davon. Jürgens und Alberts müssen über ihre persönlichen Probleme hinwegsehen, um ihren bisher kniffligsten Fall zu lösen

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1) Kapitel

Endlich die letzte Tour für heute. Die Idee als Pizzalieferant zu arbeiten war nicht unbedingt die schlechteste, wie Benny nun zugeben muss. Zunächst hatte er ja gezweifelt, doch jetzt ist er überzeugt davon, dass er sich richtig entschieden hat. Brauchbare Bezahlung, dazu ein Motorroller, den er auch privat nutzen darf. Nebenbei findet er ausreichend Zeit für sein Studium. Das Navigationsgerät reißt ihn aus seinen Gedanken. „An der nächsten Kreuzung rechts in die Straße 'Dorfrand' abbiegen“, plärrt ihn die elektronische Stimme an.

Er schaltet runter, bremst und biegt in die unbeleuchtete Nebenstraße ein. Nur noch wenige hundert Meter, dann würde er die letzte Pizza für heute ausliefern. Der junge Mann findet es zwar seltsam, dass hier in dieser einsamen Gegend jemand wohnen soll, aber das Navigationsgerät weiß es bestimmt besser als er. Hier ist er zuvor noch nie gewesen. „Sie haben Ihr Ziel erreicht“, ertönt es aus dem Lautsprecher seines Kopfhörers. Verwundert stoppt der junge Auslieferungsfahrer seinen Roller, schaltet den Motor aus, bockt den Roller auf den Ständer auf und steigt ab.

Er zieht die Handschuhe aus, nimmt den Helm ab und stopft die Handschuhe hinein. Immer noch misstrauisch, legt er seine Ausrüstung auf der Sitzbank ab. Hier soll jemand eine Pizza wollen? Noch als er darüber nachdenkt, ob er wohl einem Witzbold aufgesessen ist oder ihn seine Kollegen kurz vorm Feierabend noch mal reinlegen wollen, sieht er in einigen Metern Entfernung eine Lampe aufflackern. Benny ruft in die Richtung der Lampe: „Haben Sie eine Pizza bestellt?“

Eine männliche Stimme antwortet: „Ja, kommen Sie rüber. Ich habe hier eine Autopanne und warte auf den Abschleppwagen. Da es wohl noch über eine Stunde dauern soll, will ich mir die Zeit mit einer leckeren Pizza vertreiben.“

Benny schaltet die Taschenlampen-App seines Smartphones ein und beleuchtet damit seine Auslieferungstasche auf dem Gepäckträger des Zweirades. Er nimmt die Lieferung heraus. Das löst eine leichte Bewegung des Fahrzeugs auf dem Ständer aus, wodurch der Helm von der Sitzbank zu Boden fällt. Leicht genervt geht Benny um den Motorroller herum, hebt den Helm vom Grasstreifen neben der Straße auf und legt ihn nun in den Fußraum des Rollers. Er greift erneut die Pizza und geht in die Richtung, in der eben noch die Lampe zu sehen war.

„Hallo? Sind Sie noch da?“, ruft Benny in die Dunkelheit.

Im schwachen Schein der Smartphone Lampe geht er weiter und sieht nach wenigen Metern das Auto stehen. Doch der Besteller scheint nicht mehr da zu sein. Benny bewegt das Smartphone, um einen größeren Radius auszuleuchten. Es ist niemand zu sehen. Langsam kommt es ihm etwas unheimlich vor. Erneut ruft er: „Hallo, wo sind Sie? Sie wollen doch Ihre Pizza haben – oder etwa nicht?“

In diesem Moment hört er hinter sich ein Geräusch und dreht sich abrupt um. Im gleichen Augenblick spürt er einen stechenden Schmerz am Kopf. Scheinbar hat ihn jemand mit einem harten Gegenstand geschlagen. Benny beginnt zu taumeln. Ein weiterer Schlag trifft seinen Kopf und er fällt bewusstlos zu Boden.

2) Kapitel

Kriminalkommissar Jürgens betritt sein Büro in der kleinen Polizeidienststelle in Öldenettel. Kollege Alberts sitzt bereits am Schreibtisch. Jürgens erwartet ein „Na verschlafen?“ von seinem Kollegen, denn auch heute ist er nicht pünktlich zu Dienstbeginn im Büro. Doch Alberts blickt nur kurz auf, nickt seinem Kollegen zu und widmet sich dann wieder seiner Arbeit. Diese scheint daraus zu bestehen, eine Auflistung durchzugehen.

Auch Jürgens verspürt am heutigen Morgen keine große Lust auf Konversation. Noch immer sind die Eindrücke des Erlebten der vorvergangenen Woche präsent. Jürgens setzt sich an seinen Schreibtisch, wählt, wie er es seit acht Tagen jeden Morgen tut, am Telefon die Nummer des Krankenhauses in Sande und lässt sich mit dem für seine Kollegin Femke Claaßen zuständigen Arzt verbinden.

„Es tut mir leid Herr Kriminalkommissar Jürgens, aber Ihre Kollegin liegt noch immer unverändert im Koma. Sie hat die erneute Operation sehr gut verkraftet, aber alles andere muss sich erst ergeben. Wir haben aktuell keinen weiteren Einfluss auf Frau Claaßens Genesung.“ Jürgens bedankt sich für die Information und legt den Hörer auf.

Er steht auf, geht wie üblich zum Kaffeeautomaten, wählt einen Kaffee mit Milch und blickt, in der unsinnigen Hoffnung seine Kollegin käme aus der Richtung auf ihn zu, den Gang hinunter. Ebenfalls wie üblich braucht der Kaffeeautomat einen festen Hieb von der Seite, bevor er unter seltsamen Geräuschen, scheinbar widerwillig das gewählte Getränk herausgibt.

Eigentlich kannte Jürgens Femke Claaßen nur wenige Tage, bevor der gesuchte Mörder sie niederstach. Scheinbar war sie ihm aber doch schneller ans Herz gewachsen als je jemand zuvor während seiner Laufbahn bei der Polizei. Sie war ihm sofort sehr sympathisch und nun vermisst er sie. Ein Rufen reißt ihn aus seinen Gedanken:

„Wil, kannst Du bitte mal nach vorne kommen?“ Es ist Polizeimeister Jannick Rosenbohm, der ihn ruft.

Jürgens geht zum Bereitschaftsraum. Dort steht eine junge Frau mit dunklen Haaren. Ihr Alter schätzt Jürgens auf Ende zwanzig. Ihr Kleidungsstil wirkt eher edel und es scheint, dass sie viel Wert auf ein optisch perfektes Auftreten als Frau legt. Neben ihr steht Kriminalrat Buchtmann. Als er Jürgens sieht, kommt er auf ihn zu, streckt ihm die Hand entgegen und sagt: „Guten Morgen Herr Kriminalkommissar Jürgens. Ich möchte Ihnen die Kollegin Vanessa van Aken vorstellen. Sie wird ab sofort hier ihren Dienst verrichten. Auf der Polizeischule hat sie als Jahrgangsbeste die Ausbildung beendet. Erste Erfahrungen konnte sie bereits in einem anderen Revier sammeln, in dem sie zuletzt sechs Monate mitarbeitete.

Nun möchte ich, dass Sie sie gemeinsam mit dem Kollegen Alberts weitergehend und tiefer in die Polizeiarbeit einführen. Langfristig soll sie zur Kommissarin ausgebildet werden. Setzen Sie sie bitte für einfache aber ebenso auch für anspruchsvolle Tätigkeiten ein. Es liegt in Ihrem Ermessen. Sollte, was ich allerdings nicht erwarte, ein erneutes Gewaltverbrechen geschehen, so lassen Sie sie auch an den Ermittlungen teilhaben. Auch darf sie gerne Einblick in die aktuelle Suche nach dem dritten Mann im Fall Harmsen bekommen.

Frau van Aken wird zunächst für sechs Monate hierbleiben und bis zu ihrer Genesung auch, sofern aufgrund ihrer Erfahrung möglich, die Arbeiten von Frau Claaßen übernehmen. Die Leitung der Dienststelle habe ich Ihnen ja bereits letzte Woche übertragen. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie Frau van Aken anfänglich in die tägliche Arbeit und die Abläufe in diesem Revier einführen und Ihre beruflichen Erfahrungen mit ihr teilen. Kollege Alberts wird ihr dann den Bereich der Einhaltung von Dienstvorschriften und die üblichen Vorgehensweisen erläutern und ihr alles Wichtige in dieser Richtung beibringen. Das ist ja nicht so ganz Ihre Stärke.“

Den letzten Teil von Buchtmanns Erklärung ignoriert Jürgens. „Dann herzlich willkommen bei uns im Revier. Ich denke, dass Sie bei uns einiges lernen können.“

„Guten Morgen Herr Kriminalkommissar Jürgens. Auch ich freue mich, dass ich hier meinen Dienst beginnen kann“, begrüßt Vanessa van Aken ihren neuen Vorgesetzten etwas sehr förmlich und zurückhaltend.

„Ich werde dann ja hier nicht mehr gebraucht“, merkt Buchtmann an. „Den Kollegen Alberts stellen Sie ihr dann bitte vor. Ich muss zurück ins Präsidium. Tschüss und einen angenehmen Tag.“ Buchtmann nickt beiden nochmals zu und verlässt dann den Dienstraum.

Jürgens bedeutet der jungen Frau, ihm in sein und Alberts Büro zu folgen. Als sie das Büro betreten, blickt Alberts zu ihnen auf.

„Herr Kollege Alberts, das ist unser Neuzugang Polizeimeisteranwärterin Vanessa van Aken. Sie soll langfristig Kommissarin werden und wir beide haben die Aufgabe, ihr die praktische Arbeit näherzubringen. Kriminalrat Buchtmann möchte, dass sie von uns beiden die jeweiligen Fähigkeiten und Tricks erlernt, um zukünftig sehr gute Polizeiarbeit machen zu können.“

„Von uns beiden?“, hakt Alberts nach.

„Ja, das waren die Worte von Herrn Buchtmann. Ihre genauen Kenntnisse von Vorschriften und entsprechend konformen Vorgehensweisen soll sie ebenso lernen, wie meine intuitiven und manchmal etwas außergewöhnlichen Varianten der Polizeiarbeit“, antwortet Jürgens.

Alberts schaut Jürgens verwundert an. Es ist das erste Mal, dass Jürgens selber zugibt, dass seine Methoden oftmals nicht der Norm entsprechen. An die neue Kollegin gerichtet sagt er: „Herzlich willkommen, dann werden wir mal sehen, ob wir Ihnen das praktische Grundwissen unserer Arbeit vermitteln können und Sie eines Tages eine Kommissarin sind, die unserer beiden Stärken in sich vereint.“

Nun ist es an Jürgens, verwundert zu schauen, denn es ist das erste Mal, dass Alberts Jürgens teilweise unkonventionelle Arbeitsweise, wenn auch nur indirekt, als Stärke darstellt. Vielleicht gibt es ja noch Hoffnung, dass sich Alberts ein wenig aus der Deckung der Vorschriften und ordnungsgemäßen Vorgehensweisen heraus bewegen wird.

„Ich weiß nicht, was Sie bevorzugen Frau Kollegin, ich halte die Verwendung des `Sie´ für die korrekte Anrede, Kollege Jürgens duzt die Kollegen gerne.“

„Ich passe mich dem an, was hier üblich ist, habe aber gegen das Duzen eigentlich nichts einzuwenden“, entgegnet van Aken schon etwas entspannter.

„Gut, ich bin Wilbur, kurz Wil. Kollege Alberts hat zwar auch einen Vornamen, dieser ist hier aber bisher niemanden bekannt. Vermutlich ist der noch seltsamer als meiner und deshalb neigt er zum 'Sie'“, stichelt Jürgens ein wenig in Richtung des Kollegen.

„Ich weiß nicht, was an dem Vornamen Roman seltsam sein soll. Ich halte es eben eher mit den weniger persönlichen Umgangsformen und fühle mich dabei besser. Aber, da sich hier alle mit dem Vornamen ansprechen, will ich es ausnahmsweise nicht verkomplizieren und bin ab sofort damit einverstanden, dass Sie mich mit Roman ansprechen.“

Jürgens ist sprachlos. Er fragt sich, was in dem sonst so steifen Kollegen vorgeht, dass er einen solchen Schritt macht. Jürgens beschließt aber nicht weiter darauf einzugehen, um diese winzige menschliche Annäherung ans Team nicht wieder zu zerstören.

„Vanessa, ich denke Du kannst in dem vorderen Büro, den Gang runter, links vor dem Dienstraum, Deinen Arbeitsplatz einrichten. Das Büro wird flexibel genutzt, aber aktuell ist es ja nicht besetzt. Jannick wird Dir helfen den PC für Dich einzurichten und Dir alles Weitere erklären.

Üblicherweise würde es an die eher langweilige Arbeit gehen. Wir bekommen einiges an Beschäftigungstherapie, solange hier nichts passiert. In solchen Fällen arbeiten wir Akten durch, suchen irgendwelche Informationen für die Kollegen in der Stadt oder ergänzen Datensätze. Alles nicht sonderlich spannend, aber wir sollen eben nicht nur sitzen und auf das nächste Verbrechen warten.

Insofern sind wir so eine Art Truppe für alles, was gemacht werden muss und keinen Präsenz in anderen Dienststellen bedarf, dem Internet sei Dank,“ erklärt Alberts. „Wir sind eben keine TV-Kommissare, die nur arbeiten, wenn ein Fall anliegt. Wir müssen auch abseits davon tätig werden.“

„Da wir aber aktuell nach einem Tatbeteiligten suchen, der gemeinsam mit zwei Komplizen eine Frau tötete oder zumindest ihren Tod billigend in Kauf nahm und einen seinen Kumpanen erschoss, gibt es reichlich „echte“ Polizeiarbeit zu erledigen“, klärt Jürgens über die aktuelle Lage auf. „Auch in diesem Fall soll Jannick Dir die vorhandenen Informationen zugänglich machen.“

Van Aken nickt verstehend. „Ich gehe dann nach vorne und melde mich bei Jannick. Er und Helge haben sich mir schon kurz vorgestellt, als Polizeirat Buchtmann und ich auf Wil warteten.“

„Eines noch“, fügt Alberts hinzu. „Sie, äh, Du weißt, dass alle Informationen streng vertraulich sind und zu keiner Zeit außerhalb der Dienststelle erwähnt oder besprochen werden dürfen. Weder mit Deinem Freund, Deiner Familie, Deiner besten Freundin noch mit Pressevertretern. Ich denke, Du hast eine entsprechende Erklärung unterschrieben, richtig?“

„Ja, diese wurde mir von Herrn Buchtmann vorgelegt und ich wurde über die Geheimhaltungspflicht aufgeklärt“, bestätigt die junge Frau.

Sie verlässt das Büro und geht den Gang hoch nach vorne.

„Roman, das ist doch kein schlechter Name“, meint Jürgens zu Alberts. „Also sind wir jetzt beim 'Du'.“

„Ja, ich denke, dass es in einem solch kleinen Team schon wichtig ist, etwas näher zusammenzurücken. Das bedeutet aber nicht, dass wir beide jetzt jeden Abend in der Kneipe sitzen und etwas gemeinsam trinken. Unser Aufenthalt im Nachtclub am vorletzten Freitag, auch wenn er nur beruflich begründet war, reicht mir zunächst für weitere Aktivitäten dieser Art. Wir werden weiterhin nur Kollegen sein, die miteinander arbeiten. Durch diesen etwas persönlicheren Umgang werden sich bestimmt auch bessere Ergebnisse erzielen lassen. Zumindest habe ich das gerade ihn einer Studie gelesen.“

„Ah, daher weht der Wind. Du bist so entgegenkommend, weil es in einer Studie steht. Wie auch immer, wenn es was bringt, soll mir der Grund egal sein. Hast Du aktuell was Neues bezüglich des durchgeknallten Tätowierers herausgefunden?“

„Ja und nein. Ich habe einige Informationen über ihn von den Kollegen aus Berlin erhalten, aber darin ließ sich nichts Neues finden. Allerdings haben die Kollegen ermittelt, dass er wohl irgendwo im Umland der Stadt einen Lagerraum gemietet hatte. Sie wollen den demnächst mal in Augenschein nehmen. Wenn sie was finden, dann melden sie sich bei uns und halten uns auf dem Laufenden. Sobald wir da weitere Informationen haben, können wir ihn damit konfrontieren und vielleicht bekennt er sich ja doch zu seinen Taten.“

„An letzterem zweifle ich ehrlich gesagt. Unser erstes Gespräch mit ihm war ja auch nur von Hass und Verachtung geprägt. Dennoch bin ich gespannt, welche weiteren grausigen Details noch herauskommen werden, denn schließlich haben wir bisher ja nur zwei von den Leichen, bei denen er die Tattoos herausgeschnitten hat, gefunden. Irgendwo müssen ja auch die sein, deren Tattoos bei ihm in seiner Sammlung an der Wand hingen.“

„Ich mache mich jetzt wieder an unsere zugeteilten Aufgaben und befürchte, dass wir die nächsten Jahre hier als Aushilfskräfte für unliebsame Arbeiten missbraucht werden“, sagt Alberts mit etwas genervten Unterton und schluckt vernehmlich, wie er es immer macht, wenn ihn was ärgert. Scheinbar hatte ihm der Einsatz trotz des unerwarteten Endes besser gefallen, als er bislang durchblicken lässt. Es ist immer ein Zwiespalt, in dem die Kommissare stecken. Natürlich will ein Kommissar ermitteln, andererseits ist es natürlich besser, wenn es nichts zu ermitteln gibt. Verbrechen sind für gewöhnlich kein Grund zur Freude.

„Bezüglich unseres „dritten Mannes“ gibt es keine neuen Erkenntnisse?“, hakt Jürgens nach.

„Nein, die Ermittlungen sind in einer Sackgasse. Auch Fischer hatte, wie Du ja weißt, bei der offiziellen Vernehmung letzte Woche nicht mehr über die Person zu erzählen als schon an dem Abend, als er bei uns seine Seele erleichterte. Ich bin die schriftliche Aussage nun schon dreimal durchgegangen, aber es gibt da keinerlei Anhaltspunkte, die uns zu „Louis Lustmolch“ führen könnten“, fasst Alberts zusammen. „Wenn sich nicht durch Zufall etwas ergibt, werden wir ihn wohl nie erwischen“, resigniert der Kriminalkommissar.

„Irgendwann macht er einen Fehler und wird wiederauftauchen, denn wer einmal bei solchen Sexpartys dabei war, der wird es auch in Zukunft nicht lassen können. Er weiß ja auch nicht, dass wir nach ihm suchen. Laut offizieller Pressemitteilung waren es ja nur zwei Täter und davon ist einer tot und der andere, Fischer, sitzt in Haft. Meine langjährige Erfahrung und mein Bauchgefühl sagen mir, dass wir in absehbarer Zeit wieder mit ihm zu tun haben werden“, ist sich Jürgens sicher.

Alberts schaut ihn an, überlegt, was er antworten will, besonders auf das Bauchgefühl bezogen, nickt dann aber nur bestätigend und meint: „Warten wir ab, ob Du richtig liegst.“

„Während Du Dich an die langweiligen, zugeteilten Arbeiten für die Zentrale machst, werde ich nochmal mit Fischer reden, eventuell ist ihm ja doch noch was eingefallen. Hatte er eigentlich eine Personenbeschreibung abgegeben?“, will Jürgens wissen. Alberts schaut in die Akte und sagt: „Nein, dazu hat er nichts gesagt. Meinst Du, dass er doch weiß, um wen es sich handelt und er uns Informationen vorenthält?“, wird Alberts nachdenklich.

„Er hat den Mann mindestens zweimal getroffen, einmal bei der bizarren Sexparty und später, als sie gemeinsam ihren Komplizen entsorgt haben. Louis Lustmolch wird kaum einen schwarzen Sack über dem Kopf getragen haben“, meint Jürgens.

„Wil, ich denke, dass die langweilige Arbeit warten kann und wir ihn gemeinsam erneut verhören. Vielleicht sollten wir ja auch seine weiteren Angestellten im Finanzamt nochmals unter die Lupe nehmen. Sie wurden zwar von einem Kollegen aus Wilhelmshaven befragt, aber der ist noch recht jung. Alte Füchse wie wir, können da eventuell mehr herausbekommen“, ist Albert hoch motiviert.

Jürgens schaut ihn an. „Echt, Du willst Dir zugeteilte Aufgaben einfach auf später schieben?“, fragt er mit leicht ironischem Unterton.

Alberts schaut ihn an und erkennt die Ironie. „Ja, denn aktuelle Ermittlungen, die unsere Fälle betreffen, sind definitiv vorrangig zu behandeln. Ich denke, ich finde dazu auch die passende Dienstvorschrift“, antwortet Alberts ungewohnt aufsässig.

„Du erstaunst mich immer wieder“, antwortet Jürgens. „Machen wir uns auf den Weg.“

„Ja, gleich. Ich werde unseren Besuch in der JVA ankündigen, dann geht es etwas schneller, wenn wir dort ankommen.“

3) Kapitel

Rund eine Dreiviertelstunde später erreichen sie die JVA in Wilhelmshaven. Auch wenn sie noch neu in der Gegend sind, so erkennen die Pförtner sie bereits. Optisch fällt das Kommissaren-Duo sofort ins Auge.

„Hallo, Sie kennen ja das Prozedere“, begrüßt sie einer der beiden Pförtner. „Herr Fischer ist bereit mit Ihnen zu sprechen. Einen Anwalt wollte er nicht hinzuziehen“, informiert er die beiden Beamten aus Öldenettel.

„Davon waren wir ausgegangen, da uns Herr Fischer vollste Unterstützung zugesagt hat. Er scheint noch etwas Anstand zu besitzen und versucht, seine Verfehlungen wenigstens ansatzweise wiedergutzumachen“, antwortet Alberts.

Die beiden Kommissare legen ihre Waffen, Telefone sowie Gürtel, Schlüssel und sonstige Sachen, die beim Durchschreiten der Sicherheitsschleuse einen Alarm auslösen könnten, in eine Kunststoffbox. Hinter der Schleuse nehmen sie bis auf ihre Dienstwaffen alles wieder an sich.

In einem Verhörraum wartet bereits Fischer in Begleitung eines Justizvollzugsbeamten auf sie. Er sitzt an der einen Seite eines in der Mitte des Raumes stehenden Tisches.

Jürgens und Alberts setzen sich ihm gegenüber an den Tisch.

„Guten Tag Herr Fischer. Wie geht es Ihnen hier?“, fragt Alberts.

„Guten Tag die Herren. Wie soll es einem im Gefängnis schon gehen? Mittlerweile ist mir in vollem Umfang bewusst geworden, an welchen üblen Dingen ich beteiligt war. Ich hatte viel Zeit nachzudenken und rückwirkend erkenne ich mich selber nicht wieder. Es war irgendwie, als würde ich von außen gelenkt und konnte mich nicht entziehen“, antwortet Fischer.

„Sie erwarten jetzt aber nicht, dass wir Ihr Vorgehen verstehen und Sie womöglich bedauern, oder?“, antwortet Alberts.

„Nein natürlich nicht. Ich stehe zu den Dingen, die ich gemacht habe und auch zu der Aussage, dass ich Sie bei der Suche nach Louis Lustmolch unterstütze.“

„Gut, genau deswegen sind wir hier. Sie sagten ja selber, dass Sie viel Zeit hatten, um nachzudenken. Können Sie uns nun doch nützliche Informationen zu seiner Person sagen? Aussehen, Sprache, Bewegungen, irgendwelche Auffälligkeiten?“, fragt Jürgens. „Vielleicht kennen Sie den Mann ja doch aus Ihrem Alltag. Oder wollen Sie etwa jemanden schützen?“

Fischer schüttelt vehement den Kopf. „Nein, ich will niemanden schützen, das sagte ich doch schon. Ich kenne den Mann nicht. Ich habe ihn zweimal gesehen. Einmal bei unserer Sexparty, das andere Mal, als wir gemeinsam Jack zur Rede stellten und Louis ihn letztlich tötete. An die Sexparty kann ich mich, außer an das Unglück, kaum und wenn, dann nur verschwommen erinnern. Ich hatte ja Alkohol und Kokain in großen Mengen intus. Louis trug, genau wie ich, während der gesamten Sexparty eine Maske vor dem Gesicht. Das waren solche Masken aus Papier, die man in jedem Spielzeugladen bekommt.“

„Die haben unsere Leute gefunden. An der Katzenmaske waren Ihre DNA-Spuren, an der Hundemaske die von Jack, dessen Identität wir ebenfalls noch nicht kennen. An der Eselmaske waren unbekannte DNA-Spuren, vermutlich die von Louis, sofern stimmt, was sie erzählt haben. Hieß Ihr Motto des Abends „Bremer Stadtmusikanten“ oder wie?“, will Jürgens wissen.

Fischer überlegt kurz und sagt dann: „Ja, im weiteren Sinn tatsächlich. Wir hatten den Account, über den wir gestreamt haben, tatsächlich „Bremer Stadtmusikanten“ genannt. Einer von den beiden anderen hatte die Masken besorgt und weil es vier Masken unter dem Motto waren, dachten wir uns, es wäre lustig und gleichzeitig unverdächtig, wenn wir die Übertragung so nennen würden. Ehrlich, das hatte ich vergessen. Es fiel mir eben erst wieder ein, als Sie das Motto erwähnten.“

Jürgens und Alberts schauen sich an. Dann poltert Alberts los: „So eine wichtige Sache haben Sie vergessen? Dennoch behaupten Sie, dass Sie uns helfen wollen. Was haben Sie sonst noch vergessen?“

Erschreckt rutscht Fischer etwas mit dem Stuhl zurück. Dann antwortet er kleinlaut: „Sie haben ja recht, ich hätte mich erinnern müssen, aber mein Gedächtnis hat bei all den Ereignissen dichtgemacht.“

„Gut, dann öffnen Sie Ihr Gedächtnis mal schnellstens wieder, sonst müssen wir annehmen, dass Sie doch vorsätzlich an einem Mord beteiligt sind“, fordert Alberts ihn mit harter Stimme auf.

„Können Sie mir sagen, bei welcher Plattform Sie sich angemeldet haben, um die Sexparty zu streamen?“, will Jürgens mit ruhiger Stimme von Fischer wissen.

„Nein, das hat alles Annegret organisiert. Sie kannte sich da besser aus als ich. Vielleicht hat sie ja was auf ihrem Rechner im Finanzamt gespeichert“, antwortet Fischer.

„Laut Aussage Ihrer Mitarbeiterin Frau Jacobi, soll das nicht möglich sein, da abends alle lokalen Daten wieder gelöscht werden“, entgegnet Jürgens.

„Ja, das ist richtig. Aber wir haben eine kleine Partition einrichten können, die das nicht betrifft. Das war zwar illegal, aber so konnten wir Daten behalten, die wir lokal dort gespeichert haben. Ich schreibe Ihnen den Pfad und das Passwort auf, dann bekommen Sie dort Zugriff. Eventuell sind dort ja auch noch Sicherheitskopien hinterlegt, die Annegret angefertigt hat.“

Jürgens hält Fischer sein Smartphone hin und fordert: „Tippen Sie das bitte in die Notizfunktion ein, da ich keinen Block und Schreiber dabeihabe.“

„Warum haben Sie uns das nicht gleich gesagt?“, will Alberts wissen. „Irgendwie habe ich immer mehr das Gefühl, dass Ihre Hilfe bei der Aufklärung immer nur so weit geht, wie es sich nicht verhindern lässt, weil wir Erkenntnisse haben, die Sie nicht leugnen können. Also, ich fordere Sie final auf, mit jeglicher Information rauszurücken, die Licht in diesen Fall bringt. Ansonsten werde ich mit dem Staatsanwalt reden und ihm mitteilen, dass Sie der Drahtzieher der ganzen Angelegenheit sind und entsprechend zwei Todesfälle zu verantworten haben“, herrscht Alberts Fischer erneut sehr laut an.

Jürgens schaut zu Alberts, sagt aber nichts, obwohl er denkt, dass Fischer bei so harscher Ansprache abblocken und es sich anders überlegen könnte. Mit etwas Einfühlungsvermögen besteht wenigstens eine geringe Chance weitere Informationen zu bekommen.

Fischer sieht Alberts an und sagt: „Wissen Sie was, Herr Kommissar Alberts, ich werde gar nichts mehr sagen. Sie schnauzen mich an, obwohl ich Sie in Ihrer Arbeit unterstütze. Vergessen Sie nicht, dass ich Leiter einer behördlichen Außenstelle war und einen gewissen Umgangston erwarten kann. Ja, ich habe einen großen Fehler gemacht, das steht außer Frage.

Dennoch lasse ich mich nicht von Ihnen anfahren wie ein kleiner Drogendealer vom Bahnhof. Ich kann wohl trotz allem einen gewissen Respekt vor meiner Person erwarten. Jegliche weiteren Gespräche finden nur in Anwesenheit eines Anwaltes statt. Von nun an endet meine Bereitschaft, mich an Details zu erinnern und entsprechende Auskünfte zu geben“, erklärt Fischer mit Nachdruck. Zu dem Justizvollzugsbeamten gerichtet sagt er: „Bitte bringen Sie mich zurück in meine Zelle.“

Der Schließer schaut zu Jürgens, der bestätigend nickt. Ihm ist klar, dass Alberts durch seine harte Art der Gesprächsführung die Chance auf Fischers weitere Mithilfe zunichtegemacht hat.

Ohne ein weiteres Wort verlässt Fischer in Begleitung des Wachtmeisters den Verhörraum.

Alberts schweigt, denn ihm wird bewusst, dass er Schuld daran trägt, dass Fischer nun nicht mehr zur Aufklärung des Falles beitragen will.

„Mist, war das nötig?“, fragt Jürgens den Kollegen.

Alberts schluckt vernehmlich. Dann sagt er: „Nein, das war es wohl nicht. Ich dachte, ich könnte ihn aus der Reserve locken und wir müssten ihm nicht jegliche Information aus der Nase ziehen“, versucht sich Alberts in einer Erklärung.

„Falsch gedacht. Wie auch immer, fahren wir zurück nach Öldenettel und suchen die Außenstelle des Finanzamtes auf. Eventuell hilft uns Fischers Hinweis auf die versteckte Partition weiter“, meint Jürgens.

„Wir können doch nicht einfach so an den Computer im Finanzamt gehen und etwas suchen. Dafür brauchen wir einen Beschluss von der Staatsanwaltschaft“, gibt Alberts zu bedenken.

„Na und? Bis wir da sind, kann der Beschluss auch vorliegen. Schließlich hat die Aufklärung dieses Verbrechens eine hohe Priorität, insbesondere, da ein Mörder frei herumläuft. Also, sobald wir im Auto sind, kümmerst Du Dich telefonisch darum. Solche Dinge sind ja dann eher Deine Kompetenz. Außerdem kannst Du so den Fauxpas von eben ausbügeln“, fordert Jürgens den Kollegen zum Handeln auf. „Achja, die sollen das auch gleich an die Außenstelle des Finanzamtes faxen und wenn möglich auf mein Smartphone als PDF schicken. Meine Nummer hast Du ja, oder?“

Alberts nickt bestätigend.

Kaum, dass sie durch die Sicherheitsschleuse durch sind, nimmt Alberts sein Handy und telefoniert mit der Staatsanwaltschaft.

Jürgens setzt sich ans Lenkrad des Einsatzfahrzeuges. Alberts nimmt telefonierend auf dem Beifahrersitz Platz.

Nach rund zehn Minuten ist das Telefonat beendet und Alberts informiert Jürgens über das Ergebnis: „Die Staatsanwaltschaft zweifelte zunächst daran, ob ausreichend Verdachtsgründe vorliegen würden, um einen entsprechenden Beschluss zu erlassen. Nachdem ich ihnen aber glaubhaft versichern konnte, dass dort wichtige Hinweise zur Ergreifung des Mörders liegen würden, erklärten sie sich letztlich bereit. Der Beschluss wird direkt an die Außenstelle gefaxt werden. Bis wir vor Ort sind, sollte er dort vorliegen.“

„Gut gemacht“, lobt Jürgens seinen Kollegen. „Wenn es um Vorschriften, Regeln und Organisation geht, ist auf Dich wirklich Verlass.“

Alberts schaut verwirrt zu Jürgens herüber und ist sich nicht sicher, ob er es ernst meint oder ihn wieder aufziehen will.

Jürgens deutet den Blick richtig und sagt: „Ich meine das so, wie ich es gesagt habe. Mir wäre das nicht so souverän gelungen, da ich so meine Probleme habe, wenn ich eine Entscheidung benötige und dafür lange diskutieren muss. Bei mir muss so etwas zackig gehen, ich bin da sehr ungeduldig. Du hast Deinen Fehler von vorhin wieder wettgemacht.“

„Danke“, antwortet Alberts, völlig verblüfft über die echte Anerkennung.

4) Kapitel

Nach knapp vierzig Minuten fahren sie beim Finanzamt in Öldenettel vor. Als sie durch die Tür in den Eingangsbereich treten, kommt ihnen bereits Frau Fricke entgegengelaufen. Sie hat ihren Platz an der Information verlassen und hält ein Fax in der Hand, mit dem sie den beiden Kommissaren zuwinkt.

„Hallo Herr Kommissar Jürgens“, begrüßt sie ihn. „Ich habe hier Ihren Beschluss, er ging eben per Fax bei mir ein. Niemals hätte ich gedacht, dass unser Chef ein Verbrecher sein würde. Und ich war immer besonders nett und aufmerksam zu ihm. Ganz schlimm, man kann niemanden mehr trauen ...“

Jürgens beendet den scheinbar endlos werdenden Redefluss damit, dass er Fricke fordernd die Hand entgegenstreckt und sagt: „Hallo Frau Fricke, bitte geben Sie mir den Beschluss und öffnen Sie die Durchgangstür. Heute muss ich meine Pistole nicht ziehen, oder?“

Fricke hält mit dem Sprechen inne, errötet leicht ob der Erinnerung des letzten Zusammentreffens und gibt Jürgens das Fax. Dann begibt sie sich zurück an ihren Arbeitsplatz. Dort betätigt sie den Türöffner und die beiden Kommissare gehen wortlos weiter in den Gang.

„Pistole ziehen?“, fragt Alberts verwundert. „Hattest Du den Punkt bei der Erzählung ausgelassen?“

„Wie Du weißt, hatten Femke und ich bei unserem ersten Besuch leichte Schwierigkeiten mit der Dame. Sie bewachte einem Drachen gleich die Tür, als wäre dort ein Goldschatz versteckt. Irgendwann war ich die Diskussion leid und legt meine gesicherte Waffe vor ihr auf den Tresen, um sie davon zu überzeugen, dass wir wirklich von der Polizei sind. Na ja, den Rest kennst Du ja“, klärt Jürgens auf.

„Komme mir jetzt aber nicht mit irgendwelchen seltsamen Vorschriften, es war nicht korrekt, aber es war auch nicht gefährlich für sie“, erstickt Jürgens einen eventuellen Vortrag über Vorschriften im Keim. Dabei schaut er Alberts nachdrücklich an.

Dieser entgegnet nichts weiter zu dem Thema.

Als sie das ehemalige Büro von Annegret Harmsen erreichen, will Jürgens gerade anklopfen, als die Tür von innen bereits geöffnet wird. Frau Jacobi, die Kollegin von Harmsen, erwartet die beiden Beamten bereits.

„Guten Tag die Herren Kommissare“, begrüßt sie Jürgens und Alberts. „Ich bin schon informiert, dass Sie kommen. Den Computer von Annegret habe ich bereits für Sie hochgefahren. Ist es nicht unfassbar, dass ich jahrelang mit einer Sexsüchtigen zusammengearbeitet habe? Nicht zu fassen so etwas. Ich habe davon nichts mitbekommen“, ereifert sich die Büroangestellte.

„Wieso, hätten Sie mitmachen wollen?“, unterbricht Jürgens die Tirade. Entrüstet unterbricht sie ihren Wortschwall, um dann zu antworten: „Nein, natürlich nicht, was denken Sie von mir?“

„Nur das Beste, Frau Jacobi“, antwortet Jürgens freundlich. Da er nicht möchte, dass sie ihnen über die Schulter schaut, sagt er in einschmeichelndem Ton: „Denken Sie, dass Sie uns einen Kaffee besorgen können? Wir sind schon den ganzen Morgen unterwegs, da wäre das jetzt sehr hilfreich.“

„Aber natürlich Herr Kommissar. Wir haben eine kleine Teeküche neben dem Aufenthaltsraum. Ich werde Ihnen Kaffee bringen. Eventuell auch noch ein paar Kekse dazu?“

„Das wäre herzallerliebst“, schleimt Jürgens weiter. Frau Jacobi dreht sich nach dieser Charmeoffensive um und verlässt fröhlich summend das Büro.

Alberts schaut Jürgens verdutzt an. „Herzallerliebst? Willst Du was von der Bürotante?“

„Ja, will ich. Nicht den Kaffee, sondern meine Ruhe während wir den PC inspizieren. Die Frau platzt doch förmlich vor Neugier. Jetzt ist sie kurzzeitig beschäftigt. Schließe mal bitte die Tür ab“, fordert Jürgens den Kollegen auf. Dieser geht zur Tür und dreht den Schlüssel im Schloss.

Jürgens setzt sich auf den Bürostuhl, auf dem vermutlich üblicherweise Frau Harmsen gesessen hatte und ruft das interne Startmenü auf. Durch eine spezielle Tastenkombination gelingt es ihm, auf die Systemoberfläche zu gelangen. Dann kann er in die geöffnete Konsole den Pfad für die versteckte Partition eingeben. Nachdem er die Eingabe bestätigt hat, öffnet sich ein Fenster, in dem nach Benutzername und Passwort gefragt wird.

Alberts beobachtet seinen Kollegen staunend. „Wieso weißt Du, was Du da machen musst? Ich bin schon überfordert, wenn ich im Büro unter Windows eine Einstellung tätigen soll.“

Während Jürgens die gewünschten Daten eingibt, sagt er: „Ich habe vor meinem Polizeidienst Informatik studiert. Im Speziellen ging es dabei um Systemprogrammierung unter Unix. Da heute die Computersysteme in Behörden letztlich noch immer darauf basieren, kann ich mit meinen Kenntnissen die Oberfläche umgehen und ins System gelangen.“

Anerkennend sagt Alberts: „Respekt. Ich dachte, wir müssten einen von diesen Hipster-IT-Fachleuten hinzuziehen, die uns dann von oben herab wie dumme Jungen behandeln.“

Jürgens blickt zu Alberts. „Hast Du da etwa schlechte Erfahrungen gemacht?“

Alberts schluckt hörbar. „Das tut jetzt nichts zur Sache. Mache lieber weiter, bevor Deine neue Freundin mit dem Kaffee kommt.“

Jürgens widmet sich der Partition und entdeckt einige Ordner. Er überfliegt die Inhalte und meint dann: „Wir müssen jemanden von der IT hierherschicken, damit er die Daten kopiert. Ich habe zwar immer einen USB-Stick bei mir, aber das passt da nicht alles drauf. Ich werde die, aus meiner Sicht, für uns wichtigen Daten kopieren, sodass wir die Textdateien und auch einige Videos sichten können.“

Jürgens beginnt die entsprechenden Daten auf den USB-Stick zu kopieren.

Währenddessen poltert es vor der Tür. Frau Jacobi versucht die Tür zu öffnen, dabei fällt ihr ein Tablett mit Tassen, einem Teller mit Keksen sowie Zucker- und Milchdöschen auf den Fußboden. Die Kommissare vernehmen auf der anderen Seite das Fluchen von Frau Jacobi. Dann hört man, wie sie schimpfend den Gang in Richtung Teeküche geht.

Jürgens nimmt den USB-Stick mit den Daten an sich. Bevor er das System wieder herunterfährt, vergibt er sicherheitshalber ein neues Passwort für die versteckte Partition.

Als der PC ausgeschaltet ist, dreht Alberts mit einem für ihn unüblichen verschmitzten Lächeln den Schlüssel im Schloss wieder zurück, sodass sich die Tür nun ohne Schwierigkeiten öffnen lässt.

Kurz darauf geht die Tür auf und Jacobi steht völlig aufgelöst vor ihnen. „Hatten Sie die Tür abgeschlossen?“

„Nein, wieso sollten wir? Sie wollten uns doch Kaffee bringen“, antwortet Jürgens höflich.

„Weil mir alles auf den Boden geknallt ist. Ich wollte, so wie ich es immer mache, die Türklinke mit dem Unterarm herunterdrücken und mit der Schulter aufdrücken. Doch sie ließ sich nicht öffnen und so geriet das Tablett in meiner anderen Hand aus dem Gleichgewicht und donnerte zu Boden“, erläutert Jacobi sehr bildlich das Geschehene.

„Eventuell klemmt die Tür, das Gebäude ist ja nicht mehr das Neueste. Wie auch immer, tut uns leid, aber wir müssen nun wieder los. Später kommt ein Experte von uns und nimmt sich des Computers an“, entgegnet Jürgens.

„Das heißt, Sie haben nichts gefunden?“, will Jacobi neugierig wissen.

„Nein. Haben Sie denn Kenntnisse davon, was wir hätten finden können?“, fragt Jürgens zurück.

Erneut entrüstet sie sich: „Glauben Sie etwa, dass ich von dem Schweinkram gewusst hätte? Ich bin ein anständiger Mensch.“

„Dann ist ja gut. Wir machen uns dann jetzt wieder auf den Weg. Schade, dass das mit dem Kaffee nun nichts wird. Vielleicht beim nächsten Mal. Einen angenehmen Tag noch“, verabschiedet sich Jürgens von Jacobi. Alberts nickt ihr zum Abschied zu und dann steigen die beiden vorsichtig über die Scherben und Pfützen aus Kaffee und gehen den Flur herunter in Richtung Ausgang.

Dort wartet Frau Fricke und spricht Jürgens schon von Weitem an: „Und, haben Sie was gefunden?“

„Nein, außer ein paar Scherben vom Kaffeegeschirr und dampfenden Kaffee auf dem Boden gibt es da nichts“, antwortet Jürgens im Vorbeigehen. Fricke bleibt verdutzt zurück.

Als sie am Fahrzeug ankommen meint Jürgens während des Einsteigens zu Alberts: „Kommt mir das nur so vor oder sind weibliche Büroangestellte extrem neugierig?“

„Vermutlich passiert in ihrem Leben nicht ausreichend, sodass sie nach jeglicher Ausnahme aus der Langeweile gieren“, antwortet Alberts.

„Kennst Du Dich damit aus oder woher weißt Du das?“

„Erfahrungswerte aus meiner Zeit in Hannover“, bestätigt der oftmals sehr bürokratische Beamte.

5) Kapitel

Im Revier angekommen spricht sie Rosenbohm an. „Wir haben Informationen bezüglich des Toten aus dem Hafenbecken. Der DNA-Abgleich hat einen Treffer ergeben. Hier habe ich den Bericht, der vor wenigen Minuten kam.“ Rosenbohm hält Jürgens ein Din A4 Blatt entgegen, welches dieser an sich nimmt.

„Danke, Jannick. Wir haben in diesem Fall auch einige interessante Erkenntnisse erlangen können. In einer halben Stunde ist Teambesprechung“, ordnet Jürgens an.

Auf dem Weg in ihr gemeinsames Büro, liest Jürgens seinem Kollegen die wichtigsten Informationen vor: „Bei dem Toten handelt es sich um einen 33-jährigen Mann. Sein Name ist Luca Gerber, verheiratet, zwei Kinder und er lebte seit zwei Jahren in Carolinensiel. Ursprünglich kommt er aus Lemförde. Das liegt kurz vor Osnabrück am Dümmer. Scheinbar ist seine Frau mit den Kindern auf einer Mutter-Kind-Kur, sodass er noch nicht vermisst wurde. Als sie ihren Mann mehrere Tage nicht erreichen konnte und er auch nicht bei seiner Arbeit erschien, meldete sie sich bei den Kollegen in Wilhelmshaven. Diese nahmen die Suche auf und fuhren zu ihm nach Hause. Da die Nachbarn ihn auch nicht gesehen hatten, betraten unsere Kollegen die Wohnung.“

Dann überfliegt Jürgens murmelnd die nächsten Zeilen. „So, ab hier wird es wieder interessant. Die Kollegen führten einen DNA-Abgleich mit nicht identifizierten Toten durch und hatten bei unserem Opfer sofort einen Volltreffer. Die Ehefrau ist informiert und wird ihre Kur abbrechen und vermutlich morgen wieder zu Hause sein.“

„Das bringt unsere Ermittlungen mächtig voran. Ich denke, wir sollten nun nach ... wie heißt das, fahren?“ schlägt Alberts vor.

„Carolinensiel heißt der Ort. Moment, ich schaue mal eben, wo das ist.“ Jürgens gibt den Ort bei Google-Maps ein, dann sagt er: „Laut Internet brauchen wir rund 20 Minuten bis dort hi. Gerber hat da in einem Fischgeschäft als Verkäufer gearbeitet. Die Adresse liegt mir auch vor. Wir fahren nach der Besprechung los, ich will vorher noch das kopierte Material von Frau Harmsens PC auf die Schnelle durchsehen. Eventuell findet sich was Hilfreiches, das uns auf die Spur von Louis Lustmolch bringt.“

Jürgens setzt sich an seinen PC, steckt den USB-Stick in den entsprechenden Port und öffnet dann den ersten Ordner des Sticks. Die erste Datei, die Jürgens öffnet, ist eine Übersicht der Einnahmen, fein säuberlich sortiert nach Datum. Nicht verwunderlich, schließlich arbeitete Harmsen ja beim Finanzamt und wusste, wie man so etwas genau dokumentiert. Diese Datei wäre wohl nur für die Steuerfahndung interessant, würde Harmsen noch leben. Jürgens klickt sich durch weitere Ordner und stößt dabei auf eine Videodatei, die das Datum der Todesnacht trägt.

„Roman, willst Du Mitschauen? Ich denke, ich habe hier das Video aus der Todesnacht gefunden“, sagt er über seinen Schreibtisch in Richtung des Kollegen.

„Wirklich? Okay, ich schaue mit, auch wenn ich befürchte, dass wir da Dinge sehen werden, die wir nicht sehen wollen“, antwortet Alberts.

„Befürchte ich auch, aber das ist nun einmal Teil unseres Jobs.“

Als Alberts neben ihm steht, startet Jürgens das Video. Der Player zeigt an, dass es eine Länge von über vier Stunden hat. „Vier Stunden und zwölf Minuten dauert das Video. Ich denke, ich beschleunige das mal. Wir können uns die Szenen auch im Schnelldurchlauf ansehen.“

„Äh, ja, mach es, wie Du meinst. Ich habe noch nie ein Video auf dem PC geschaut. Ich habe nur DVDs und einen dazugehörigen Abspieler“, erklärt Alberts.

Jürgens schaut ihn überrascht an. „Du besitzt privat keinen Computer?“

„Nö, wozu denn?“

„Nun gut, es würde zu lange dauern Dir die Vorteile eines eigenen Computers näherzubringen. Widmen wir uns dem Film“, Jürgens zieht den Balken über die Zeitleiste und beschleunigt so die Ansicht des Videos. Wenn er meint, im kleinen Vorschaubild etwas Interessantes zu erkennen, dann lässt er den Film in Echtzeit ablaufen. Sofern nichts Relevantes die Tat betreffend zu sehen ist, beschleunigt er die Abspielgeschwindigkeit erneut. Dann, der Zeitstempel zeigt eine vergangene Spielzeit von rund zwei Stunden an, scheint es zum Todesfall zu kommen. Tatsächlich ereignete sich der Todesumstand so, wie von Fischer beschrieben. Jürgens stoppt das Video mit der Pausenfunktion. Ein Standbild ist nun zu sehen.

„Echt abstoßend, was da passiert ist“, kommentiert Alberts das Gesehene. „Aber zumindest hat Fischer die Wahrheit gesagt. Es war kein Mord, aber das dilettantische Verhalten, als die drei Männer bemerken, dass Harmsen keine Luft mehr bekommt und im Begriff ist zu ersticken, spottet wirklich jeder Beschreibung. Sie hätten sie nur losbinden und aufrecht setzen müssen, dann wäre sie eventuell noch am Leben. Luftröhrenschnitt mit einem Paketabroller ist sicherlich die dämlichste Idee, die man in einem solchen Moment haben kann.“

„Da stimme ich Dir voll und ganz zu. Aber richte doch mal bitte Deinen Blick auf den Mann ganz links im Bild. Der hat doch eindeutig eine sehr große Tätowierung auf dem Arm. Außerdem scheint er einen dicken Bauch und eine Glatze zu haben. Das sind doch schon einmal Anhaltspunkte zu unserem fehlenden Mörder“, richtet Jürgens das Augenmerk von Alberts auf den Mann im Bild.

Alberts schaut genau hin und sagt dann: „Ja, das muss er sein, denn der Mann in der Mitte sieht aus wie Fischer und der Mann rechts außen dürfte von der Statur und den dunklen Haaren her, Gerber sein.“

„Wenn wir ihn also irgendwann finden, können wir ihm zumindest den Tathergang nachweisen. Aber leider ist seine DNA in keiner Datei vorhanden und auch seine Fingerabdrücke sind nirgends erfasst worden. Ich denke mal, dass die Kollegen von der kriminaltechnischen Abteilung das Material sichten sollten, um mehr Anhaltspunkte zu bekommen“, schlägt Jürgens vor. „Dennoch will ich noch einmal kurz in den Ordner namens E-Mails hineinschauen, eventuell findet sich ja dort noch was.“

Jürgens öffnet den Ordner und listet diverse E-Mailkopien auf. Er sortiert sie nach Eingangsdatum, dabei fällt ihm ein Absender besonders auf: Louis Lustmolch. „Bingo, er hat im E-Mailverkehr mit Harmsen gestanden, vielleicht führt das ja zu ihm“, freut sich Jürgens. Als er die E-Mail öffnen will, verlangt das Programm nach einem Passwort. „Mist, es wird ein Passwort benötigt, also muss doch erst einmal die Kriminaltechnik sich der Sache annehmen“, ärgert sich Jürgens.

„Ich hatte dort bereits Bescheid gegeben, die wollten sich heute noch um den PC im Finanzamt kümmern“, entgegnet Alberts.

„Sehr gut, dann geht es in der Sache ja voran. Komm, die angesetzte Besprechung ist jetzt“, fordert Jürgens den Kollegen auf.

Im Besprechungsbüro warten bereits van Aken, Eilers und Rosenbohm auf die Kommissare.

„Wir haben ein paar Updates bezüglich des Falls Harmsen“, eröffnet Jürgens die Besprechung. Er bringt die drei jungen Kollegen auf den aktuellen Stand. Dann verteilt er noch einige Recherchearbeiten an van Aken und Rosenbohm.

„Wir werden jetzt nach Carolinensiel fahren und uns in der Wohnung des Opfers umsehen. Außerdem werden wir seinen Arbeitgeber befragen, vielleicht kann der uns weiterhelfen“, erläutert Jürgens das weitere Vorgehen.

Knapp eine halbe Stunde später stehen sie vor dem Haus von Gerber. Es ist ein kleines Einfamilienhaus im Baustil der Sechziger Jahre, das irgendwann in den letzten zehn Jahren renoviert wurde. Im Vorgarten ist eine ältere Frau mit Gartenarbeit beschäftigt. Als sie das Polizeifahrzeug wahrnimmt, hält sie inne und schaut zu den beiden Kommissaren herüber. Diese kommen geradewegs auf sie zu. Kaum in Hörweite fragt die Frau: „Wollen Sie zu Familie Gerber? Die sind im Urlaub.“

Jürgens stellt sich und seinen Kollegen der Frau vor und fragt dann: „Gehören Sie auch zur Familie?“.

„Ja, ich bin die Mutter von Frau Gerber. Mein Name ist Gudrun Faber“, stellt sich die ca. fünfzigjährige Frau vor. „Worum geht es denn?“

„Es geht um Ihren Schwiegersohn“, beginnt Alberts vorsichtig.

„Haben Sie den Nichtsnutz gefunden?“, will Faber wissen.

„Äh, ja, das haben wir“, antwortet Alberts ein wenig zurückhaltend.

„Hat er was angestellt? Würde mich nicht wundern, besonders da meine Tochter mit den Kindern unterwegs ist“, macht die Frau keinen Hehl aus ihrer Haltung den Schwiegersohn betreffend.

„Er wurde erschossen aufgefunden“, überbringt Alberts nun schonungslos die Nachricht.

Frau Faber schaut erst Alberts und dann Jürgens an. Sie überlegt kurz und sagt dann: „Sieht ihm ähnlich, dass er so stirbt. Er hat sich ja auch mit genügend Kroppzeug herumgetrieben.“

„Sie scheint das nicht sonderlich mitzunehmen“, merkt Jürgens an.

„Nö, wieso denken Sie wohl, ist meine Tochter mit den Kindern auf Kur? Damit sie mal Ruhe vor dem Verlierer hat, der sie schwängerte.“

„Ihre Reaktion ist dann doch etwas unerwartet“, sagt Alberts. „Aber vielleicht können Sie uns ja bezüglich des Umgangs Ihres Schwiegersohnes weiterhelfen. Sie scheinen da ja im Bilde zu sein. Wir vermuten, dass er seinen Mörder kannte.“

„Versuchen Sie es doch mal im Umfeld der Spielhallen und Wettbüros. Er hat doch jeden Cent, den er in der Tasche hatte, dort gelassen. Wenn ich meiner Tochter nicht regelmäßig Geld zugesteckt hätte, dann wären sie alle verhungert“, zeigt sich die Frau sehr mitteilungsbereit.

„Können Sie uns da genauere Informationen geben?“, bohrt Alberts nach.

„Wenn Sie Namen meinen, nein. Ich kenne das Gesocks nicht, mit dem er sich herumtrieb. Vielleicht weiß sein Arbeitskollege Frank ja was. Die hingen doch immer zusammen“, weiß Faber zu berichten.

„Danke. Haben Sie einen Schlüssel für das Haus? Wir müssten mal kurz einen Blick hineinwerfen“, sagt Alberts.

„Die Hintertür ist offen, gehen Sie einfach hinein. Die Sachen, die meinem Schwiegersohn gehörten, können Sie gerne alle mitnehmen, die braucht niemand mehr“, zeigt Faber auf einen kleinen Weg, der hinter das Haus führt.

„Sie sind ja sehr großzügig mit Dingen, die Ihnen nicht gehören“, meint Alberts.

Während sie mit den Schultern zuckt, gibt sie ein „Pfft“ von sich und beginnt wieder mit ihrer Gartenarbeit.

Alberts schüttelt den Kopf und gemeinsam geht er mit Jürgens den Weg neben dem Haus zum Hintereingang. Beide ziehen sich Einweghandschuhe an, bevor sie das Haus betreten.

Die Hintertür führt in einen kleinen Hauswirtschaftsraum, durch den sie in die penibel aufgeräumte Küche gelangen. Die Kommissare teilen sich auf und während Alberts die beiden Räume im unteren Teil des Hauses nach einem PC oder Laptop absucht, geht Jürgens die enge Holztreppe in den ersten Stock hoch. Oben befinden sich drei Schlafräume und ein Badezimmer. Der Raum rechts neben der Treppe ist das Schlafzimmer der Eltern, die beiden anderen sind die Kinderzimmer.

Jürgens schaut sich im Schlafzimmer um und entdeckt neben dem linken der beiden zu einem Doppelbett kombinierten Betten, eine an den Nachtschrank lehnende Tasche. Jürgens öffnet die Tasche und findet darin einen Laptop. Er schließt sie wieder und nimmt sie an sich. Dann geht er nach unten zu Alberts.

„Ich habe einen Laptop gefunden, der an der Seite eines ungemachten Bettes stand. Ich vermute, dass das Gerät Gerber gehört. Wie sieht es bei Dir aus?“, will Jürgens von Alberts wissen.

„Nichts, was von Interesse für uns sein könnte. Die Wohnung ist eben typisch für die einer kleinen Familie. Hier deutet auch nichts auf das bizarre Hobby des Hausherrn hin“, merkt Alberts an.

Gemeinsam verlassen sie das Haus durch die Vordertür. Als sie Frau Faber erreichen, dreht diese sich zu ihnen um und fragt: „Und, haben Sie was gefunden?“

„Wir beschlagnahmen diesen Laptop. Eine entsprechende Quittung dafür geht Ihrer Tochter noch zu. Wann ist Ihre Tochter zur Kur gefahren?“, interessiert sich Jürgens für den Abfahrttag.

„Das war Samstag vor einer Woche. Mein Schwiegersohn hat sie morgens gegen elf Uhr zum Bahnhof nach Öldenettel gebracht. Ich erwarte die drei am nächsten Samstag zurück. Länger als zwei Wochen zahlt die Kasse den Aufenthalt nicht“, teilt Faber mit.

„Gut, vielen Dank. Ihre Tochter wurde bereits von uns alarmiert und wird morgen zurückkommen. Apropos, was fährt Luca Gerber für ein Auto?“, will Jürgens wissen.

„Gar keins. Manchmal fährt er mit einem Firmenwagen, so einem Kastenwagen, seines Chefs. Der Loser kann sich doch gar kein eigenes Auto leisten“, gibt die Frau erneut Einblick, was sie von dem Ehemann ihrer Tochter hält.

„Vielen Dank Frau Faber, Sie konnten uns gut weiterhelfen. Hier ist meine Karte. Wenn Ihre Tochter morgen wieder zurück ist, soll sie bitte bei uns im Revier anrufen“, bittet Jürgens.

Die Frau nickt. „War's das jetzt?“

„Ja, das war's fürs Erste. Einen angenehmen Tag noch“, verabschiedet sich Jürgens.

Die Kommissare gehen zurück zum Einsatzfahrzeug. „Na, die mochte ihren Schwiegersohn ja mal gar nicht“, eröffnet Alberts das Gespräch im Auto.

„Sympathie äußert sich anders, da hast Du wohl recht. Man könnte fast meinen, sie hätte angeordnet den Mann zu erschießen“, meint Jürgens.

„Wohl eher nicht, auch wenn sie es begrüßt, dass er nicht mehr lebt“, antwortet Alberts.

Wenige Minuten später erreichen sie das Fischgeschäft, in dem Gerber gearbeitet hat. Es befindet sich unweit des kleinen Fischerhafens. Da es keine Zufahrtsmöglichkeit zu »Svens Fisch und Meer« gibt, stellen sie ihren Wagen etwas abseits ab. Die beiden Kommissare gehen am Hafenbecken zwischen den vielen Touristen entlang.

„Warst Du schon mal hier?“, will Alberts wissen.

„Ja, als Kind. Wir haben eine Klassenfahrt hier in die Gegend gemacht und sind in irgendeinem Ort mit „Siel“ im Namen mit dem Ausflugskutter gefahren. Lang ist es her“, erinnert sich Jürgens. „Und Du?“

„Nein, ich war bisher selten an der Küste und hier noch nie. Als ich ein Kind war, sind wir immer in den Harz oder irgendein anderes Mittelgebirge zum Wandern gefahren. Im Erwachsenenalter hatte ich nie Zeit irgendwohin zu fahren. Ich habe schon sehr früh bei der Polizei angefangen, damals noch als Streifenpolizist. Ah, wir sind da“, beendet Alberts die Erzählungen aus seiner Vergangenheit.

»Svens Fisch und Meer« ist ein für die Region typisches Fischgeschäft. Es gibt einen Außerhausverkauf und im Innenraum einen großen, gläsernen Verkaufstresen, in dem die frische Ware gut sichtbar ausgelegt ist. Darüber hinaus gibt es ein paar Tische mit Stühlen, um Fischgerichte vor Ort zu genießen.

Als das Kommissaren-Duo das Geschäft betritt, befindet sich gerade keine Kundschaft im Raum. Am Außentresen steht eine junge Frau und ist mit dem Verkauf beschäftigt. Eine weitere Frau, geschätzt Mitte fünfzig, mit einer blauen, mit dem Firmenlogo in Weiß bedruckten Schürze begrüßt sie. „Moin, was darf es denn sein?“

„Moin, wir hätten gerne den Chef gesprochen“, erwidert Jürgens den Gruß. Dabei zeigt er seinen Dienstausweis und die Polizeimarke. „Ich bin Kriminalkommissar Jürgens, das ist mein Kollege Alberts.“

Verdutzt schaut die Frau auf den Ausweis, dann fragt sie: „Worum geht es denn? Mein Mann ist gerade in der Kühlkammer, vielleicht kann ich ja helfen.“

„Es geht um Ihren Mitarbeiter Luca Gerber“, teilt Jürgens ihr mit. „Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?“

„Den Luca? Das war vorletzte Woche Freitag. Er hat zwei Wochen Urlaub und ist mit seiner Frau und den Kindern zur Kur. Normalerweise gibt es während der Saison keinen Urlaub, weil immer so viel zu tun ist, aber da die Kur jetzt genehmigt war, haben wir eine Ausnahme gemacht“, erläutert sie.

Zwischenzeitlich betreten Kunden das Geschäft und die Frau widmet sich ihnen. Die Kommissare warten derweil. Gerade als der Verkauf getätigt ist und die Kunden das Geschäft verlassen, kommt ein Mann mit einer dicken, weißen Gummischürze durch eine Seitentür.

„Das ist mein Mann, Sven Bläker“, sagt Frau Bläker in Richtung der Kommissare. Zu ihrem Mann gewandt sagt sie: „Die Herren sind von der Polizei. Es geht wohl um Luca.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752143379
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
ostfriesland norddeutschland ostsee krimi nordsee Krimi Thriller Spannung Psychothriller

Autor

  • Sören Martens (Autor:in)

Sören Martens, geboren und aufgewachsen in Norddeutschland, genauer, in Heide. Er liebt Norddeutschland für das gewisse Etwas, sei es die raue Nordsee, die sanfte Ostsee oder die netten Menschen. Oder einfach nur die gute Luft. Seine Leidenschaft ist Krimis und Thriller zu schreiben. Für Sören ist nichts spannender als (Mord)Fälle zu konstruieren und Menschen durch diese Krimis in den Bann zu ziehen.
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Titel: Bei Anruf Tod