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Wellenbrecher

Gezeitenwechsel 1

von Roxane Bicker (Autor:in)
304 Seiten

Zusammenfassung

Auf der winzigen Nordseeinsel Medderoog wird ein Skelett gefunden. Der örtliche Polizeichef versucht, den Fall zu vertuschen. Phillipa Berger, zwangsversetzte Großstadtpolizistin, beginnt heimlich zu ermitteln und stolpert in ein Komplott hinein, dessen Wurzeln tief in der Vergangenheit liegen. Dabei trifft Phil auf Harpo, hinter deren unscheinbarer Fassade einige Geheimnisse lauern. Dass sie sich in die junge Frau verliebt, macht die Sache nicht einfacher. Dann geschieht ein Mord ...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


PROLOG

1.      KAPITEL

2.      KAPITEL

3.      KAPITEL

4.      KAPITEL

5.      KAPITEL

6.      KAPITEL

7.      KAPITEL

8.      KAPITEL

9.      KAPITEL

10. KAPITEL

11. KAPITEL

12. KAPITEL

13. KAPITEL

14. KAPITEL

15. KAPITEL

16. KAPITEL

17. KAPITEL

18. KAPITEL

19. KAPITEL

20. KAPITEL

21. KAPITEL

22. KAPITEL

23. KAPITEL

24. KAPITEL

EPILOG

NACHWORT

DANKSAGUNG

DIE AUTORIN

Weitere Werke der Autorin

Hybrid Verlag

 

  1. KAPITEL

 

Polizeiobermeisterin Phillipa Berger stand am Medderooger Hafen — oder dem, was man auf der Insel landläufig so bezeichnete. Hier legte nur das Fährschiff an, das dreimal am Tag Gebrauchsgüter brachte und, zumindest in den Sommermonaten, Horden von Touristen an Land spie.

Als sie ihren Zigarettenstummel wegschnippte, hörte sie ein dezentes Hüsteln neben sich. Aus den Augenwinkeln sah sie hinüber zu ihrem Kollegen Alexander Gordon, der die verspiegelte Sonnenbrille in seine kurzen krausen Haare hochgeschoben hatte und mit den verschränkten Armen wie ein Bilderbuchpolizist aussah.

»Vorbildfunktion, Phil«, mahnte er spöttisch und hob eine Augenbraue. »Du bist heute das erste Mal mit am Anleger, also benimm dich.«

»Fick dich, Alex«, gab sie leise zurück und erntete einen missbilligenden Blick. »Ja, ist gut, ich weiß, dass ich an meinem Tonfall arbeiten muss. Sorry, kann die Großstadt halt nicht so einfach zurücklassen.«

Phil klaubte den Stummel auf und trug ihn demonstrativ zum Aschenbecher, wo sie ihn mit spitzen Fingern fallen ließ.

»Hast sie gut erzogen, die Kleine«, hörte sie eine raue Stimme hinter sich und knirschte mit den Zähnen. »Was willst du, Drecksack?«, fauchte sie. »Du kannst gerne mit mir direkt sprechen!«

»Mit dir will ich nicht sprechen, Mäuschen, mit dir will ich ganz andere Dinge tun.«

Noch bevor Phil zu einer Antwort ansetzen konnte, spürte sie Alex’ Hand auf ihrer Schulter. Er warf ihr einen warnenden Blick zu, als sie sich umdrehte. Nonchalant antwortete ihr Kollege: »Grüß dich, Henk. Jaja, die Erziehung. Man tut, was man kann. Aber du siehst, wir haben noch viel Arbeit vor uns.«

»Bei der Arbeit mit der Schnecke geh ich euch gern zur Hand.« Henk grinste süffisant.

Alex’ Finger bohrten sich in Phils Schulter, doch sie lächelte nur zuckersüß. Soweit hatte sie sich im Griff, dass sie diesem Henk nicht gleich eine reinhauen würde, auch wenn es ihr sehr in den Fäusten juckte. Sie schüttelte Alex’ Hand ab und ging einige Schritte beiseite, um durchzuatmen.

Mich erziehen! Zur Hand gehen! Hätte er wohl gerne … Was für ein Macho-Arschloch!

Mit halbem Ohr hörte Phil, wie Alex noch mit Henk herumflachste. Um dem Gelaber nicht weiter zuzuhören, ließ sie den Blick über die Menschen gleiten, die sich am Anleger versammelt hatten und warteten, dass sich das Tor öffnete und sie auf die Fähre konnten.

Wie gerne hätte sie sofort und auf der Stelle ihre Sachen gepackt und wie die Urlauber mit dem Schiff diese gottverdammte Insel verlassen.

Aber nein … ich sitze hier fest und bin kaltgestellt worden. Am Ende der Welt. Scheiße.

Henk schlug Alex freundschaftlich auf den Rücken und trottete in Richtung der Gepäckwagen davon. Auf seinem Weg zum Anleger drehte er sich nochmal um, musterte Phil mit einem gierigen, anzüglichen Blick von oben bis unten und wackelte mit den Augenbrauen, was er möglicherweise verführerisch fand, sie dagegen einfach nur eklig.

Gleich muss ich kotzen.

Phil lehnte sich grummelnd neben Alex an das Tor und sah hinaus aufs Meer, das in der Sommersonne glitzerte.

»Und das war …?«

»Henk. Von der Reederei.« Alex grinste und die Zähne leuchteten in seinem dunklen Gesicht. Mit einem kurzen Nicken beförderte er die Sonnenbrille aus den Haaren zurück auf die Nase.

Phil seufzte. So, wie er dort stand, hätte er in jedem Hollywoodstreifen mitspielen können.

Der Bilderbuchpolizist.

»Henk. Von der Reederei. Gibt’s vielleicht noch ein paar weitere Infos? Scheint mir ja ein echtes Schätzchen zu sein, der Kerl.«

»Er ist«, Alex zögerte einen Moment zu lang, »speziell. Musst vorsichtig mit ihm sein. Er ist schon des Öfteren handgreiflich geworden.«

»Aha.« Phil fischte sich eine weitere Zigarette aus der Hemdtasche und zündete sie an. Sie sollte aufhören, so viel zu qualmen, das sagte ihr nicht nur Alex’ kritischer Blick. »Und warum habt ihr ihn dann nicht eingebuchtet?«

»Du weißt, dass wir hier nicht viel mehr als eine Ausnüchterungszelle haben. Außerdem …«

»Ja?«

Er winkte ab. »Vergiss es. Betrifft dich nicht.«

»Bitte? Er bringt hier irgendwelche sexistische Kackscheiße an, von wegen mich erziehen und so, auf die du, mein Lieber, auch noch ohne Protest eingehst — darüber sprechen wir noch — aber es betrifft mich nicht?«

Alex lachte kurz auf.

»Was?«, schnappte sie und er gab leise zurück: »Du bist garstig.«

»Wundert dich das? Ich versauere hier im Nirgendwo und muss mich von abartigen Kerlen angraben lassen. Das ist meiner Stimmung nicht gerade zuträglich.«

Alex zuckte die Achseln. »Soll ich dir sagen, wie du das Problem mit Henk lösen kannst? Bei ihm ist es nur der Jagdtrieb. Hat er, was er will, lässt er dich in Ruhe. Du bist eigentlich gar nicht sein Typ. Zu wenig Hintern, zu kleine Oberweite.«

»Na danke. Ich soll mich von ihm flachlegen lassen, nur damit ich meine Ruhe hab’? Geht’s noch? Das kann’s ja wohl nicht sein.« Sie warf Alex einen zornfunkelnden Blick zu, doch erneut hob er nur die Schultern. »Hast du mal überlegt, wie du dich fühlen würdest in meiner Situation? Wenn du es wärest, den er anmacht, hm? Würdest du dich dazu herablassen, mit ihm ins Bett zu steigen, Alex?«

Jetzt drehte er sich herum und lehnte sich neben sie auf den Zaun, so dass er Henk im Blick behielt. »Wer sagt dir denn, dass ich es nicht getan habe?« Er lachte. »Augen zu und durch, das wäre, was ich machen würde.«

»Du bist ein Opportunist.« Phil drückte die Zigarette auf dem Gitter aus und schob den Stummel in die Hemdtasche. Vielleicht würde sie ihn nachher still und heimlich einfach auf den Boden fallen lassen, nur damit sie ihre Rache bekam.

Über den Rand der Brille warf ihr Alex einen Blick zu. »Geb’ ich unumwunden zu. Ich weiß, wo meine Ziele im Leben sind und tue alles dafür, dass ich die erreiche. Du siehst, wo man hinkommt, wenn man es sich mit anderen verscherzt, nicht wahr, Phillipa Berger?«

Mitläufer. Hat man ja gesehen, wie du mit Henk umgegangen bist, nicht wahr?

Sicher war es so für ihn einfacher, aber Phil wusste, dass sie diesen Weg nicht gehen konnte. Ja, gut, ihre Widerspenstigkeit bildete einen Teil des Problems und hätte sie damals einfach den Mund gehalten, wäre vielleicht alles anders gekommen.

Aber.

Sie würde sicher niemals den Weg des geringsten Widerstandes gehen und sich schon gar nicht von Henk angrapschen lassen, nur damit er Ruhe gab.

Soweit kommt’s noch.

Vielleicht sollte sie im Revier nach Henks Akte schauen. Sagte Alex nicht, dass er schon auffällig geworden war? Dann sollte sich dort etwas finden lassen.

Phil schwieg und ließ ihren Blick weiterwandern. Oben auf der Düne beim Leuchtturm hinter dem Dorf konnte sie eine Gestalt ausmachen, die dort unbeweglich stand.

»Wer ist das? Beobachtet er das Treiben hier unten?« Sie nickte mit dem Kinn in die betreffende Richtung.

Alex folgte ihrem Blick. »Nope. Die Fähre. Das ist der alte Käptn. Kommandiert zwar schon lange kein eigenes Schiff mehr und hat sich aus dem Dorf so gut wie zurückgezogen, aber er lässt es sich nicht nehmen, jede Fähre aus der Ferne zu grüßen. Solange ich hier bin, hat er keine Ankunft des Fährschiffes verpasst, egal, ob es in der Früh, mittags oder am Abend kam.«

»Krass.« Phil schüttelte den Kopf.

Als ein hagerer Mann mit Halbglatze auf dem Rad vorbeifuhr, hob Alex pflichtschuldig die Hand, erntete aber im Gegenzug nur ein kurzes, beiläufiges Nicken.

»Bekannter von dir?« Phil drehte den Kopf und spähte aufs Meer.

Wann kommt dieses blöde Schiff endlich?

»Bürgermeister Petersen, Phil. Den solltest auch du kennen und grüßen, so wie jeden anderen. Höflichkeit auf dem Dorf, verstehst du? Meine Güte, reiß dich halt mal ein wenig zusammen. Du bist hier, du bleibst hier, du könntest langsam mal damit aufhören, dich einzuigeln.«

»Ach ja? Zerbrich dir mal bitte nicht meinen Kopf. Erklär mir lieber nochmal, warum wir bei jeder verdammten Fähre herkommen müssen. Rechnet man mit Terroristen? Mit steckbrieflich gesuchten Personen? Die würden wohl kaum zur Erholung hierher ans Ende der Welt kommen, oder?«

Präsenz zeigen hatte Polizeichef Ahrends ihr in knappen Worten erklärt, doch sie wollte es gerne noch einmal von Alex hören.

»Vorbildfunktion«, antwortete Alex ruhig. »Wir begrüßen freundlich die Neuankömmlinge auf der Insel und erinnern sie, dass sie bei aller Erholung bitte nicht allzu sehr die Sau rauslassen.«

Die Polizei, dein Freund und Helfer. Pah.

»Ach, Scheiße. Kann mir alles gestohlen bleiben. Hier rumlungern und mir die Beine in den Bauch stehen für nichts und wieder nichts.« Phil löste die Finger, die sie um das metallene Absperrgitter gekrallt hatte.

»Außerdem«, Alex stieß ihr einen Ellbogen in die Seite und deutete auf die Uferpromenade. »Außerdem versammelt sich hier gerne das Volk des Dorfes und du lernst die Leute kennen, für die du verantwortlich bist, Frau Polizeiobermeisterin. Schau mal, da drüben, siehst du die alte Dame, die auf ihrem Rollator sitzt?«

Phil nickte. Viel mehr als die Oma interessierte sie die Frau an deren Seite.

Hübscher Hintern, dachte Phil, als diese sich vorbeugte, um der Dame die Strickjacke zuzuknöpfen.

»Das ist Frau Anderson. Sie ist dement, kann nicht mehr für sich selbst sorgen, kennt keinen, ist aber dummerweise noch recht mobil. Musst immer ein Auge auf sie haben. Bobbi, ihr voriger Pfleger, das war ’ne echte Trantüte. Er hat sie mal aus den Augen gelassen und da ist sie ihm entwischt. Wir haben sie gerade noch rechtzeitig gefunden, sie ist raus ins Watt gewandert und natürlich im Schlamm stecken geblieben, bis über beide Knie. Konnte sich nicht mehr selbst befreien. Und das bei Flut! Als wir sie rausgezogen haben, stand ihr das Wasser schon bis zur Brust. Echt eine knappe Sache.«

»Hmhm.« Phil hatte nur mit halbem Ohr zugehört. »Und wer ist die Frau neben ihr?«

»Bobbi haben sie nach dem Zwischenfall natürlich in die Wüste, also aufs Festland geschickt.« Alex lachte über seinen Scherz, Phil konnte sich nur ein schiefes Grinsen abringen. »Zum Glück hat man schnell Ersatz für ihn gefunden. Das ist ihre neue Pflegerin.«

»Hat sie auch einen Namen?«

Nicht zu interessiert klingen, mahnte sich Phil.

»Da fragst du mich was.« Alex fuhr sich mit der Hand über das Kinn. »Ich hab’ keine Ahnung. Muss ich rausfinden.«

Um die Spitze der Insel bog endlich das Fährboot und die Menge am Hafen begann schon zu winken, obwohl man noch gar keine Leute an Deck ausmachen konnte.

»Sie ist erst kürzlich auf die Insel gekommen«, nahm Alex den Gesprächsfaden wieder auf, »und dann geblieben, um sich um Frau Anderson zu kümmern.«

Phil schlug die Hände vors Gesicht und murmelte: »Warum kommen immer nur alle freiwillig auf diese blöde Insel und bleiben dann auch noch, ich versteh’ es nicht!« Sie nahm die Hände herunter und sah Alex an. »Was ist mit dir? Warum bist du hergekommen und geblieben? Scheinst ja auch noch nicht lange hier zu sein, die anderen Jungs nennen dich immer den Neuen.«

Alex deutete auf die Touristen, die sich am Anleger drängelten. »Ich war wie die da, bin vor zwei Jahren auf Urlaub hergekommen. Es gibt drüben auf der anderen Seite der Insel, zum offenen Meer hin, einen Teil vom Strand, wo du perfekte Surfwellen reiten kannst. Hab’ Toni kennengelernt und ein paar Wochen später, als ich schon längst wieder daheim war, ruft sie mich an und teilt mir mit, dass sie schwanger ist. Tja, netter Kerl, der ich bin, hab’ ich mich hierher versetzen lassen und sie geheiratet. Hätte es schlechter treffen können, aber das ist etwas, das du wohl nie verstehen wirst.« Alex schob die Sonnenbrille wieder in die krausen Haare und sah sie aus seinen dunklen Augen kritisch an, doch dann grinste er plötzlich. »Matilda hat nach dir gefragt! Hat ihr gut gefallen, dass du neulich auf sie aufgepasst hast. Also, wenn wir bei Gelegenheit nochmal auf dich zurückkommen dürften …«

Das lautstarke Tuten des Schiffes enthob sie jeder Antwort und dann lief die Fähre auch schon ein, legte an und wenige Minuten später ging das Gedrängel los. Leute kamen vom Schiff, wollten aufs Schiff, suchten Bekannte, fanden ihr Gepäck nicht, drängelten, schoben und schubsten. Und während sie mit Alex zusammen die ankommenden Besucher musterte, ein nichtssagendes, freundliches Lächeln aufgesetzt, fragte sie sich, wen aus dieser Meute sie im Laufe der kommenden Woche wohl wiedersehen würde.

 

Phil kippte den kalten Kaffee in einem Zug hinunter und verzog angewidert das Gesicht, aber mehr wegen der noch zu erledigenden Schreibarbeiten als wegen des — zugegebenermaßen ekligen — Gebräus.

… hat die Geschädigte von einer Anzeige abgesehen.

Sie speicherte den Bericht, druckte ihn aus, heftete ihn in den vorgesehenen Ordner und hakte ihn auf ihrer To-Do-Liste ab.

Der nächste.

Phil schaute auf den Zettel neben sich und wollte weinen. Es warteten noch Berichte über einen entlaufenen Hund und eine verlorene Geldbörse.

So ein Scheiß! Und das einzig Interessante hat sich Alex schon wieder rausgepickt.

Auf seinem Schreibtisch lag fein säuberlich der Bericht über die Ruhestörung vom vergangenen Abend, als einige Jugendliche am Strand drüben beim Jachthafen einen — oder mehrere — über den Durst getrunken hatten. Sie zog den Bericht zu sich herüber und heftete ihn zu den anderen. Als der Chef ihn vorhin zu sich ins Büro rief, ließ Alex alles stehen und liegen. Sie sah nur noch seine Rückseite, als er hinauseilte. Wie gern wäre sie mitgegangen, aber nein, die Wache musste besetzt sein.

Als würde die Kundschaft Schlange stehen.

Phil schob den Ordner zurück ins Regal, dann legte sie den Kopf auf die Tischplatte. Vielleicht würde noch etwas Kaffee helfen, ihre Motivation zu wecken.

Sie stieß sich mit dem Fuß vom Schreibtisch ab, rollte durch ihr kleines Büro zur Kaffeemaschine.

Leer.

Heute wandte sich gefühlt alles gegen sie. Also erhob sie sich und schlurfte in den Flur hinaus, um in der Teeküche neues Wasser zu holen. Aus dem Büro des Chefs drangen laute Stimmen und ließen sie innehalten. Laut, aber wegen der Tür so gedämpft, dass sie nicht alles verstand.

»… Touristen, und jetzt …«, hörte Phil, dann erwiderte Ahrends: »Aber denkst du, dass die Verrückte …«

Aus dem Augenwinkel sah sie, wie sich die Türklinke bewegte, und schlüpfte in die Teeküche. Gerade rechtzeitig. Durch die geöffnete Tür hörte sie nun alles klar und deutlich.

»Es wird keine Ermittlung geben, haben wir uns verstanden? Lass das Zeug wegschaffen und bring sie zum Schweigen. Das ist mein letztes Wort. Gerade du solltest wissen …«

Sie konnte die Stimme nicht zuordnen und spähte vorsichtig um die Ecke. Die hagere Gestalt hatte sie erst vorhin am Anleger gesehen und wie gut, dass Alex sie nochmal darauf hingewiesen hatte, um wen es sich handelte. Der Bürgermeister höchstselbst.

»Das brauchst du mir nicht zu sagen, Frank«, entgegnete der Chef.

»Kein Wort.« Petersen blieb im Flur stehen.

»Kein Wort.«

Danach schwiegen beide. Phil hörte Schritte und das Zuschlagen der Außentür. Sie wartete darauf, dass Ahrends seine Tür schloss, damit sie in ihr Büro zurückkonnte.

»Scheiße«, vernahm sie ihn murmeln. »Warum ausgerechnet jetzt? Verdammte Scheiße.«

Dann hörte sie die Tür. Leise stellte Phil die Kaffeekanne auf die Anrichte und lehnte sich an die Wand.

Was ist denn das bitteschön gewesen? Es wird keine Ermittlung geben? Wen zum Schweigen bringen? Gibt es etwa in diesem gottverlassenen Nest doch noch etwas Interessantes zu finden?

Es wäre nicht das erste Mal, dass sie ihre Nase in Dinge steckte, die sie nichts angingen und, gut, das letzte Mal hatte ihr fast das Genick gebrochen und letztendlich dafür gesorgt, dass sie hier festsaß.

Was haben Petersen und der Chef zu verbergen? Sollte ich Ahrends direkt darauf ansprechen, dass ich alles mit angehört habe? Oder wäre das eher kontraproduktiv?

Während sie noch hin und her überlegte, füllte Phil Wasser in die Kanne und schlich leise zurück in ihr Büro. Sie brühte neuen Kaffee auf, tippte ihre Berichte fertig und starrte aus dem Fenster auf die Straße, wo die Inselbesucher auf ihren gemieteten Fahrrädern vorbeifuhren. Noch immer kreisten ihre Gedanken um das Gespräch.

Wer ist die Verrückte, von der Petersen gesprochen hat?

Nun, sie wusste von vielen auf der Insel, die einen Hau weghatten. Eigentlich zählten alle dazu, denn wer bliebe schon freiwillig hier, wenn sie oder er ganz normal tickte? Aber das hatte Petersen wohl nicht gemeint. Es half nichts, sie musste Alex fragen, um wen es sich bei der Verrückten handelte.

In den paar Wochen, die sie auf der Insel war, hatte Phil zwar schon alle Bewohner irgendwann einmal gesehen, doch unmöglich konnte sie sich einen jeden von den rund tausend Menschen und ihre Eigenarten merken. Nicht zu reden von den Touristen, mit denen sie im Dienst am meisten zu tun bekam.

Phil fuhr den Computer herunter, griff nach ihrem Funkgerät und rief ihren Kollegen. »Alex, wo steckst du? Liegst du am Strand oder störe ich dich bei einem Schäferstündchen mit deiner Frau?«

Es knackte im Lautsprecher und dauerte, bis eine Antwort kam. »Weder, noch«, erklang schließlich Alex’ abgehackte Stimme. »Was ist los? Ich dachte, du hast so viele Berichte zu schreiben?« Im Hintergrund waren Stimmen zu hören.

»Wo treibst du dich denn rum?«, gab Phil zurück, ohne auf Alex’ Fragen einzugehen.

»In den Dünen und ich bin gerade ein wenig beschäftigt. Was willst du, Phil? Ist es dringend oder kann es warten, bis ich wieder im Dorf bin?«

Phil überlegte hektisch. Sollte sie ihn jetzt hier über Funk fragen?

Nein, wer weiß schon, wer noch in der Leitung drinsteckt und mithört und wer weiß, wer bei Alex ist. Was macht er überhaupt in den Dünen? Der Chef hat ihn losgeschickt.

Misstrauen breitete sich in ihr aus. Nein, sie würde ihn nicht fragen.

»Ist nichts Wichtiges«, schloss sie. »Ich war nur schneller fertig als gedacht. Wenn du noch zu tun hast, dann dreh ich eine Runde durchs Dorf.«

»Tu das. Bis später.« Er beendete die Verbindung abrupt.

Phil steckte das Funkgerät an ihren Gürtel und starrte nachdenklich ins Nichts. Alex musste schwer beschäftigt und mit den Gedanken ganz woanders sein. Er hatte nicht protestiert, als sie ankündigte, auf Streife zu gehen, auch wenn dadurch die Wache unbesetzt blieb. Phil zuckte mit den Schultern und leitete das Telefon auf ihr Smartphone um. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass jemand anrief. Dann kritzelte sie »Komme gleich wieder« auf einen Zettel und klebte ihn an die Tür. Sie würde hier nicht untätig herum hocken. Wenn sie Alex nicht fragen konnte, fand sie eben eine andere Informationsquelle.

 

  1. KAPITEL

 

Als Phil am Nachmittag und dazu noch in Uniform in den Austernfischer kam, warf ihr Lola einen fragenden Blick zu und schob wortlos einen Kaffee über den Tresen. Dankbar griff Phil danach und sog den würzigen Duft ein. Definitiv besser als das Zeug, das ihre Maschine im Büro hervorbrachte.

»Ich nehme an, das ist kein Höflichkeitsbesuch.« Lola lehnte sich auf die Theke. »Was ist passiert?« Sie musterte Phil aus ihren tiefblauen Augen, die halblangen, roten Haare hatte sie sich hinter die Ohren gestrichen.

Phil versuchte jedes Mal, ihr Alter zu schätzen, und scheiterte immer. Lola musste jenseits der Vierzig sein, immerhin hatte sie eine erwachsene Tochter. So viel konnte Phil schon in Erfahrung bringen, aber direkt fragen würde sie Lola sicher nicht.

»Es ist«, murmelte Phil, »keine ernste dienstliche Angelegenheit.« Sie nahm einen vorsichtigen Schluck Kaffee. Oh ja, er schmeckte genauso gut, wie er roch. Stark und schwarz. »Lola, du kennst alle Leute hier auf der Insel. Wenn ich dich frage, wer mit die Verrückte gemeint sein könnte, wen würdest du nennen?«

Lola hob die schmalen Augenbrauen und grinste. »Außer dir und mir, natürlich.«

»Natürlich.«

Lola richtete einige Gläser hinter der Theke aus, die nach Phils Empfinden schon längst geradestanden und schwieg. Phil trank ihren Kaffee und wartete geduldig.

»Du weißt, dass es viele verschrobene Gestalten auf der Insel gibt«, antwortete sie schließlich und sah Phil direkt in die Augen. »Schau dich an, Phil. Und sind wir deiner Meinung nach nicht alle verrückt?«

Phil senkte verschämt den Blick.

Ertappt. War es nicht genau das, was ich vorhin gedacht habe?

Lola lachte leise. »Siehst du? Es kommt immer auf den Standpunkt an. Ich würde mit Sicherheit andere Leute verrückt nennen. Es wäre also hilfreich, zu wissen, von wem du die Bezeichnung hast.«

Nun war es an Phil, zu schweigen. Sie versteckte sich hinter ihrer Kaffeetasse und versuchte so, noch einige Momente herauszuschinden, in denen sie nachdenken konnte. Sie hatte es Alex nicht sagen wollen. Hielt sie es hier bei der Wirtin anders? Gab es einen Grund, ihr zu misstrauen? Andererseits würde sie ohne etwas Vertrauen wohl schon hier scheitern.

»Ahrends«, sagte sie leise.

»Hmhm.« Lola faltete die Hände und stützte sich auf den Tresen. »Wieso hast du ihn nicht gefragt, wen er damit meint?« Sie legte den Kopf etwas schief.

»Weil ich lieber dich frage, Lola.« Sie würde nicht alle ihre Geheimnisse preisgeben. Phil schob die Kaffeetasse zurück und schüttelte auf Lolas fragenden Blick den Kopf.

»Du willst also von mir wissen, wen unser lieber Polizeichef als verrückt bezeichnen würde.«

Phil verschränkte die Arme und wartete, während Lola nach einem kleinen Zettel griff und in schwungvollen Buchstaben etwas niederschrieb. Sie drehte das Papier um und schob es Phil über den Tresen hinweg zu.

»Sie wohnt in einem der Ferienhäuser, drüben auf der anderen Seite der Insel. Wenn du mich fragst, ist sie eine ganz Liebe, aber ich denke mir, dass Sören das nicht so sieht. Die beiden sind ein paar Mal aneinandergeraten, nichts Schlimmes und auch nichts Offizielles, sie liegen nur eindeutig nicht auf derselben Wellenlänge. Grüß sie von mir, wenn du bei ihr vorbeischaust.« Mit dem Kinn deutete Lola auf die Ausgangstür.

Phil erkannte den dezenten Rauswurf, wie auch, dass sie nun bei der Wirtin in der Schuld stand.

»Danke für den Kaffee«, sagte sie im Gehen und Lola erwiderte: »Pass auf, wo du da hineingerätst.«

 

»Mara Wellrich«, las Phil den Namen, den Lola für sie auf den Zettel geschrieben hatte, dazu kam die Bezeichnung eines der vielen Ferienhäuser, die sich an der Seeseite der Insel aufreihten.

Als sie mit ihrem Dienstrad die einzige Asphaltstraße der Insel entlang radelte, las Phil die mehr oder weniger blumigen Namen der Häuser, denn Straßennamen suchte man hier vergeblich. Die gab es zwar im Dorf, aber nicht in diesem weitläufigen Gebiet in den Dünen. Sperber, Bernstein, Strandhafer — alles nicht das, was sie suchte. Sie hielt Ausschau nach dem Haus Hagebutte.

So wie es den Anschein hatte, musste sie ihr Suchgebiet ausdehnen und sich auch die versteckt hinter Büschen und Bäumen oder mitten in den Dünen liegenden und nur über schmale Trampelpfade zu erreichenden Häuser vornehmen.

So dauerte es eine ganze Weile, bis Phil endlich das Hinweisschild fand, welches sie an ihr Ziel leitete. Das Haus Hagebutte lag hinter einer Hecke verborgen, fast wie ein Hexenhäuschen, denn daran erinnerte es Phil. Rote Backsteinmauern, ein tiefgezogenes Reetdach mit einem Schornstein, aus dem sich ein leichter Rauchfaden gen Himmel zog. Überall in den Bäumen und dem Geäst um Phil herum klingelte und raschelte es geheimnisvoll. Die Zweige trugen bunte Bänder, Kristallglasscheiben hingen herab und funkelten, wenn sie ein Sonnenstrahl traf. Phil blieb einen Moment stehen. Sollte dieses Äußere auf die Bewohnerin schließen lassen, dann konnte sie sich gut vorstellen, warum Ahrends nicht mit ihr auskam. Flatterhaft und esoterisch vertrug sich nicht besonders mit bodenständig und stoisch.

Langsam ging Phil den Pfad entlang, der zur Haustür führte. Weiter hinten im Garten erspähte sie ein Gemüsebeet, wo sich hohe Bohnenranken an Stäben emporwanden und Tomaten rot an den Zweigen hingen. Als plötzlich ein Schatten aus dem Gras aufsprang, schreckte Phil zurück und ertappte sich dabei, dass ihre rechte Hand an der Waffe lag.

Sie lachte verschämt, als sie sah, dass dort nur eine schwarze Katze hockte, die sie nun aus grünen Augen interessiert beobachtete. Phil ging an ihr vorbei und weiter, bis sie die Haustür erreichte. Der profane Klingelknopf störte das Bild des verzauberten Häuschens.

Phil läutete und hakte dann die Daumen in ihren Gürtel. Sie fühlte sich unwohl, denn schließlich trat sie in Uniform auf und kam doch gar nicht dienstlich hierher. Gut, das musste sie der Dame nicht gleich auf die Nase binden. Erst einmal schauen, ob sie herausfinden konnte, was überhaupt los war.

»Es ist offen«, erklang eine gedämpfte Stimme aus dem Inneren. Phil zögerte einen Moment, atmete tief durch, drückte gegen die Tür und trat ein.

Im Haus empfing sie zunächst eine Duftwolke aus schwerem Sandelholz. Rauchkringel zogen durch den Raum und Phil musste husten. Große Fenster gegenüber ließen das Sonnenlicht herein und boten einen ungestörten Blick auf den Garten und die Dünenlandschaft dahinter.

Das Haus sah auch von innen so urig aus, wie es von draußen den Anschein machte. Eine Holzdecke trennte den Raum vom oberen Geschoss, zu dem eine schmale Stiege empor führte. An den massiven Deckenbalken hingen Kräuterbündel und mischten ihren Geruch mit dem der Räucherstäbchen. Trotz der sommerlichen Temperaturen prasselte im offenen Kamin ein Feuer und heizte den Raum auf. Vor dem Feuer saß auf einem Fell eine Frau, die Beine untergeschlagen, die Hände auf den Knien, um den Kopf ein langes buntes Tuch geschlungen. Ansonsten war sie nackt.

Phil schluckte. Die Frau hielt die Augen geschlossen, ihre Lippen bewegten sich in einem stummen Gemurmel und sie zeigte keinerlei Anzeichen, dass sie Phils Eintreten wahrnahm. Phil räusperte sich und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Frau Wellrich?«, fragte sie.

Die Lippen der Frau hielten inne. »Presse oder Polizei?«, seufzte sie.

»Polizei«, antwortete Phil.

»Nun, es war abzusehen, dass noch jemand vorbeischaut. Zum Glück ist es nicht der alte Ahrends persönlich, das hätte mir heute den Rest gegeben. Würden Sie mir den Gefallen tun und ein Stückchen dort hinübergehen?« Die Frau deutete in Richtung der großen Fenster und Phil kam der Aufforderung nach, auch wenn sie sich fragte, was die Frau damit bezwecken wollte.

»Ja«, hauchte Frau Wellrich dann, »so ist es recht«. Sie hielt die Augen immer noch geschlossen, musste am Geräusch von Phils Schritten gehört haben, wo sie schließlich stehengeblieben war.

Die Sonne schien Phil auf den Rücken und heizte ihre dunkle Uniform auf. Sie begann zu schwitzen.

Nun endlich schlug die Frau ihre Augen auf und schaute zu Phil herüber. Für einen Moment dachte sie, dass die Frau auf dem Boden blind sei, dann ging ihr auf, dass deren Augen von einem so hellen Grau sein mussten, dass es fast weiß erschien. Große Pupillen verliehen ihrem Blick etwas Unheimliches und Eindringliches. Viel dürfte sie von Phil nicht erkennen können, im Gegenlicht der Sonne sah sie sicherlich nur einen dunklen Schatten vor dem hellen Fenster.

»Frau Wellrich, ich …«, setzte Phil ein weiteres Mal an und wollte einen Schritt beiseite machen.

Die Frau hob gebietend eine Hand. »Sch! Ich möchte zuerst Ihre Aura studieren, bevor Sie etwas sagen.«

»Meine was?«, fragte Phil verdattert, aber sie schwieg, als ihr Gegenüber einen Finger auf die Lippen legte. Vielleicht liegt Ahrends in seiner Einschätzung doch nicht ganz daneben. Normal scheint die gute Frau auf jeden Fall nicht zu sein.

Phil versuchte, dem musternden, intensiven Blick standzuhalten, ohne mit den Füßen zu scharren. Es fiel ihr schwer.

»Interessant«, murmelte Frau Wellrich schließlich. Es schien sie nicht im Geringsten zu stören, dass sie splitternackt vor Phil saß. »Ich nehme an, Sie sind die Neue, von der man sich so allerlei berichtet?«

Allerlei?

Phil konnte sich denken, dass nicht nur ein Gerücht über sie in Umlauf war. Aber mit Sicherheit entsprach keines auch nur annähernd der Wahrheit. So nickte Phil kurz und bestätigend.

»Mein Name ist Phillipa Berger. Ich würde gerne mit Ihnen über den …«, sie schluckte, schließlich hatte sie bisher keine Ahnung, worum es überhaupt ging, »den Vorfall sprechen.«

Mara Wellrich stand auf und stellte sich direkt vor Phil hin, stemmte die Hände in die Hüften, sodass Phil gar nicht anders konnte, als ihr auf die Brüste zu starren, und entgegnete in einem vorwurfsvollen Ton: »Ich hingegen würde mit Ihnen viel lieber über Ihre Aura sprechen, Frau, ähm«, ein unsicherer Ton schwang nun in ihrer Stimme mit, »Kommissarin?«

Innerlich stieß Phil einen Seufzer aus.

Zu viele Krimis im Fernsehen gesehen. Oder vielleicht in Büchern gelesen. Was auch immer.

»Nein«, gab sie betont ruhig zurück und versuchte, nicht zu starren. »Ich bin Polizeiobermeisterin. Sagen Sie einfach Frau Berger, dann passt das schon.«

Frau Wellrich fing sich erstaunlich schnell wieder und musterte Phil aus ihren beunruhigenden Augen. »Nun, Ihre Aura, Frau Berger. Wussten Sie, dass …«

»Möchten Sie«, fragte Phil mit belegter Stimme, »sich nicht vielleicht erst einmal etwas anziehen?« Sie riss sich zusammen, damit ihre Augen nicht schon wieder auf Wanderschaft gingen.

»Stört Sie etwa mein Erscheinungsbild?« Mara Wellrich trat noch einen Schritt auf Phil zu und stand nun unmittelbar vor ihr.

Phil spürte, wie ihr der Schweiß den Rücken hinunterlief und kam nicht umhin, zu bemerken, dass auch auf Mara Wellrichs Dekolleté einige Schweißtropfen standen, von denen einer nun herabrann in Richtung Bauchnabel, direkt zwischen den wohlgeformten … Phil hustete und merkte, wie ihre Wangen brannten. Als sie ihre Augen wieder auf Frau Wellrichs Gesicht richtete, grinste diese, trat zwei Schritte zurück und griff nach einem Kleid, das über einem Sessel lag. Sie drehte sich um und gab Phil damit Gelegenheit, sich zu sammeln. Diese löste die Finger, die sie bis dahin ineinander verkrampft hinter ihrem Rücken hielt.

Gute Güte, dass die Frau es so schnell schafft, mich aus der Fassung zu bringen. Scheinbar ist es schon viel zu lange her, dass ich …

Bevor sich ihre Gedanken wieder in unerwünschte Richtungen bewegen konnten, räusperte sie sich nochmal. »Frau Wellrich, wenn wir meine Aura einmal außen vor lassen würden, schildern Sie mir doch bitte die heutigen Geschehnisse aus Ihrer Sicht.«

Die Angesprochene ging zum Kamin und schob mit einem Schürhaken die brennenden Holzscheite auseinander, sodass sie nur noch schwelten und bald darauf erlöschen würden. Dann trat sie an den Kaminsims und pustete eine Reihe von Räucherstäbchen aus, die dort vor sich hin glommen. Zum Schluss schob sie sich an Phil vorbei und öffnete eines der bodentiefen Fenster, welche auf eine kleine Veranda führten.

»Mit den Bemühungen, meine Chakren wieder zu richten, komme ich heute sowieso nicht weiter. Nichtsdestotrotz, über Ihre Aura müssen wir bei Gelegenheit sprechen, ja?« Bevor Phil zustimmen oder ablehnen konnte, hatte Frau Wellrich sie bereits auf die Veranda in einen Korbstuhl bugsiert und ihr gegenüber Platz genommen. Sie schlug die Beine übereinander, lehnte sich zurück und sah Phil auffordernd an. »Haben Sie keinen Block dabei? Wollen Sie sich keine Notizen machen?«

Phil grinste. »Mein Gedächtnis funktioniert normalerweise recht gut. Wenn nötig, werde ich mitschreiben, seien Sie versichert.« Sie zog ihr Smartphone aus der Tasche und spähte auf die Uhrzeit. Das hier dauerte schon viel zu lange. Wer wusste, wann Ahrends jemanden schicken oder wann Alex auffallen würde, dass sie im Dorf nicht Streife lief. »Was ist passiert?«

Mara Wellrich schlug die Beine unter, richtete sich auf und nahm eine ganz ähnliche Position ein, wie vorhin vor dem Kamin. Sie schloss die Augen. »Ich war unten im Wald, in der Nähe des Alten Hags und habe Brombeeren gesammelt. Ich koche daraus Marmelade und verkaufe sie, verstehen Sie? Ist ein nettes Zubrot und meine Gäste wissen es zu schätzen. Nun, auf jeden Fall bin ich ziemlich weit in den Wald vorgedrungen. Da unten wächst alles so dicht, da ist ja normalerweise kaum jemand unterwegs. Tja, und dann bin ich auf etwas getreten, das im weichen Waldboden lag und als ich genau hinschaue, merke ich, dass es ein Knochen ist — und nicht nur einer. Dort oben im Brombeerdickicht lag ein ganzes Skelett.«

»Von einem Menschen?«

»Frau Berger, von einem Kaninchen stammt es bestimmt nicht. Vielleicht war es ja ein Primat. Ich habe mir sagen lassen, dass die Unterschiede nicht so groß sind. Aber ja, ich bin mir ziemlich sicher, dass es einmal ein Mensch gewesen ist.«

»Und dann?«

»Und dann? Ich habe meine Brombeeren fallen lassen, mir die Seele aus dem Leib gebrüllt und bin zurückgerannt. Ich musste mich erst etwas sammeln, ehe ich die Polizei anrufen konnte.«

Ahrends. Sie muss Ahrends an der Strippe gehabt haben und er hat Alex damit beauftragt.

Phil lag auf der Zunge, nach dem Alter des Skeletts zu fragen, aber woher sollte Frau Wellrich das wissen?

Frisch war der Körper mit Sicherheit nicht mehr. Bis eine Leiche im Waldboden, nun, besser Sandboden, denn aus nichts anderem besteht die Insel, bis sie also im Sandboden verrottet, dauerte es … wie lange?

Phil wusste es nicht. Zu den Aufgaben der Schutzpolizei gehörte es nur, die Leiche zu sichern, den Vorfall aufzunehmen, aber nicht, zu ermitteln. Dafür waren andere Stellen zuständig. Stellen, welche es hier auf Medderoog nicht gab. Zumal, wenn Ahrends und Bürgermeister Petersen den Fall vertuschen und Frau Wellrich zum Schweigen bringen wollten. Aber wieso? Was konnte an diesem Skelett so interessant sein, dass sich die beiden mächtigsten Männer der Insel im Zugzwang sahen?

»Woran denken Sie, Frau Berger?«, drang die ruhige Stimme von Mara Wellrich an ihr Ohr und Phil stellte fest, dass sie schon eine ganze Weile schweigend ins Nichts gestarrt haben musste.

»Wie lange leben Sie bereits auf der Insel?« Phil stützte das Kinn in die Hand und sah ihr Gegenüber nachdenklich an.

»Seit gut fünf Jahren, wieso fragen Sie?«

»Wissen Sie, ob es in dieser Zeit vermisste Personen gab?«

»Sollten Sie darüber nicht besser Bescheid wissen? Schließlich sind Sie die Polizei.«

Phil hob die Hände. »Bevor ich mich durch die Datenbank wühle, ist es manchmal schneller, die Menschen zu befragen.«

Mara Wellrich legte den Kopf schief und lächelte. Wenn sie lächelte, wirkten ihre Augen längst nicht mehr so beunruhigend und Phil ertappte sich dabei, wie sie vorsichtig zurücklächelte.

»Aber ich muss sie enttäuschen, Frau Berger. Ich weiß von keinen vermissten Personen in den letzten Jahren. Die Insel ist klein und ich bin mir sicher, dass so etwas einen größeren Aufruhr verursacht hätte. Auch aus der Zeit davor ist mir nichts bekannt und solche Gerüchte halten sich in der Bevölkerung bekanntermaßen sehr lange.«

»Es sei denn …«, begann Phil und unterbrach sich. Mara Wellrich beugte sich vor.

Die Augen, mahnte sich Phil, schau ihr in die Augen.

»Es sei denn?«, fragte die Frau.

»Jemand versucht, etwas zu verbergen.«

Frau Wellrich verschränkte die Arme. »In einer eingeschworenen Gemeinschaft wie hier, wo die Touristen nur vorübergehend da sind und Zugezogene es schwer haben, akzeptiert zu werden. Ist es das, was Sie sagen wollen, Frau Berger?«

»Möglich.« Inwieweit konnte sie der Frau vertrauen? Aber sie sollte sie vorwarnen. »Frau Wellrich«, begann sie vorsichtig.

»Bitte«, unterbrach sie die Frau. »Sie dürfen auch gerne Mara zu mir sagen.«

»Mara.« Phil zog ihre Schirmmütze ab und legte sie auf den Tisch. »Es mag sein, dass noch jemand von der Dienststelle kommt, um Ihnen Fragen zu stellen. Oder um Sie dazu zu bewegen, nichts mehr zu dem Fall zu sagen.«

Mara Wellrich schaute nachdenklich auf die Mütze.

»Machen Sie sich keine Gedanken.« Ihre Stimme klang ganz ruhig. »Es wäre nicht das erste Mal, dass ich mit der örtlichen Polizei aneinandergerate. Ich weiß mit ihnen umzugehen.« Sie schlug die Hände vors Gesicht und als sie sie wieder herunternahm, schwammen ihre blassen Augen in Tränen. Sie schluchzte. »Ein wenig gut gespielte Verzweiflung, vielleicht bin ich sogar nahe an einem Nervenzusammenbruch!« Sie wischte sich die Tränen weg, lachte kurz und wurde wieder ernst. »Um mich brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.«

Frau Wellrich stand auf und auch Phil erhob sich.

Ob noch genug Zeit bleibt, bei der Fundstätte vorbeizuschauen, um mir selbst ein Bild zu machen? Oder sind die anderen schneller gewesen?

Sie beschlich der Verdacht, dass sie Alex vorhin dort aufgestöbert hatte. Wenn Frau Wellrich den Vorfall Ahrends gemeldet hatte, musste dieser Alex losgeschickt haben. »Das beruhigt mich, Mara.«

Die Frau verschränkte die Arme. »Eines noch, bevor Sie gehen.«

Erneut fühlte sich Phil dem irritierenden Blick ausgesetzt.

»Wieso waren Sie hier, wo Sie doch keine Ahnung hatten, worum es ging? Und wieso warnen Sie mich vor Ihren Kollegen?«

Phil schob wieder die Daumen hinter den Gürtel.

So durchschaubar bin ich also?

»Ich habe ein Gespräch mit angehört, dass mir Bauchschmerzen bereitet hat. Und Lola hat mir Ihre Adresse gegeben. Im Übrigen soll ich noch Grüße von ihr ausrichten.«

»Hmhm.« Der Blick ihres Gegenübers ließ an Intensität nach. »Ich verstehe. Ich gebe Ihnen gerne meine Nummer, falls Sie weitere Informationen brauchen. Oder um über Ihre Aura zu sprechen. Verstehen Sie mich nicht falsch. Sie mögen es als Spinnerei abtun. Ich nicht. Es ist wichtig.«

Phil nickte kurz und tippte die Nummer, die Mara diktierte, in ihr Smartphone. Auch wenn es nur dazu diente, sich nach Maras Befinden zu erkundigen. Ihren Besuch im Brombeerdickicht müsste sie verschieben — bis sie wieder im Dorf eintraf, wäre es schon bald 18 Uhr und damit Zeit für den Schichtwechsel. Sie musste zur Übergabe an die Nachtschicht auf der Wache sein. Vielleicht ergab sich eine Möglichkeit, Alex nach seinen Aktivitäten zu befragen. Unauffälliger, als sie hier vorgegangen war.

Phil streckte die Hand aus. »Danke für Ihre Mithilfe, Mara. Ich melde mich.«

Die Frau ergriff ihre Hand und drückte kräftig zu. »Passen Sie auf sich auf.«

»Das Gleiche gilt für Sie.« Phil nickte Mara noch einmal zu, dann lief sie durch den Garten zurück zu ihrem Fahrrad.

 

  1. KAPITEL

 

Phils Abwesenheitsnotiz an der Tür fehlte. Jemand musste sie abgenommen haben. Phil trat in die ruhige Polizeistation. Chef Ahrends befand sich noch immer in seinem Büro. Durch die angelehnte Tür sah Phil, dass er telefonierte und recht entspannt schien, die Füße auf den Schreibtisch gelegt. Von weiter hinten vernahm sie das Klackern einer Tastatur, das verriet, dass Alex sich bereits zurück an seinem Platz befand. Er sah nicht auf, als sie eintrat, hielt die Augen auf den Bildschirm geheftet.

»Wo warst du, Phil?«, fragte er und der Hauch eines Vorwurfes schwang in seiner Stimme mit.

»Im Dorf, auf Runde, wie ich gesagt habe«, gab sie zurück. In der Kaffeekanne herrschte Ebbe und natürlich kam niemand auf die Idee, neuen zu kochen. Irgendwie blieb das immer an ihr hängen und sie fragte sich, wie die anderen dieses Problem gelöst hatten, bevor sie hier ankam. Durch Lose? Knobeln? Hölzchen ziehen? Sie griff nach der Kanne, um frisches Wasser zu holen.

Das Klackern der Tastatur verstummte und als sie sich umdrehte, blickte Alex sie an. »Wie kommt es dann, dass ich dich weder per Funk noch übers Handy erreicht habe?«

Shit. Darauf hab’ ich nicht geachtet.

In den Dünen gab es immer mal wieder Funklöcher und die Netzabdeckung ließ in manchen Teilen der Insel zu wünschen übrig. Mara Wellrichs Haus schien allgemein abgelegen zu sein.

»Unter Umständen war ich ein bisschen weiter draußen.« Phil trat auf den Flur, um den Fortgang des Gespräches etwas hinauszuzögern.

Was ist nur los mit mir? Erst gebe ich mich bei Mara Wellrich durchschaubar wie nichts und jetzt auch noch Alex. Ich muss echt aufpassen, sonst fällt mir die Sache verdammt schnell auf die Füße und ich hab den nächsten Ärger an der Backe.

Während sie das Wasser in die Kanne laufen ließ, überlegte sie, wie sie sich erklären konnte, oder ob sie das überhaupt musste. Ihre Überlegungen wurden unterbrochen, als sich die Eingangstür öffnete und die Ablösung hereinkam. Kollege Schmidt steckte die Nase in die Küche, sah die Kaffeekanne in ihrer Hand und grinste breit. »Du weißt, was sich gehört, Mädchen!«

»Und du bist ein Arschloch«, murmelte sie vor sich hin, als er wieder draußen war.

»Wenn du eh grad in der Küche bist«, erscholl Schmidts Stimme aus dem Flur, »dann bring doch gleich den Besen mit und kehr hier auf, ja, Mädchen?«

Sie holte tief Luft, um nicht loszubrüllen, und trat aus der Küche. Überall auf dem Boden lag Sand. An Schmidts Stiefeln klebte Sand. Bei dem kurzen Gespräch über Funk mit Alex hatte sie noch mindestens eine andere Stimme im Hintergrund gehört.

Schmidt? Definitiv einer von Ahrends Vertrauten. Shit, die stecken hier doch echt alle unter einer Decke. Die Situation ist so verzwickt, verdammt.

»Klausimausi«, flötete sie, als sie ins Büro trat, »du kannst deinen Scheiß allein wegmachen. Meine Schicht ist jetzt zu Ende. Oder frag doch den Yannik.«

Kollege Westorf zeigte ihr nur schweigend den Mittelfinger, dann wandte er sich wieder Alex zu, der die beiden Männer auf den aktuellen Stand brachte.

Phil gab nur zwei kleine Löffel Kaffeepulver in den Filter. Soll er doch die Plörre trinken, wenn er zu faul ist. Etwas zu fest drückte sie auf den Schalter, sodass die Kaffeemaschine einige Zentimeter nach hinten hüpfte und ein erschrecktes Keuchen von sich gab.

Phil verschwand in der Umkleide, schlüpfte aus der Uniform und zog Jeans und T-Shirt an. Sie löste ihre langen, dunklen Haare aus dem festen Zopf, den sie für den Dienst immer flocht und drehte sie zu einem lockeren Dutt zusammen. Ihr Smartphone steckte sie in die Hosentasche. Das Display hatte drei Nachrichten von Alex angezeigt. Drei! Als sie ins Büro schaute, brodelte die Kaffeemaschine leise vor sich hin. Schmidt und Westorf saßen bereits am Schreibtisch. Sie wurde wohl nicht mehr gebraucht und nickte den Kollegen zum Abschied kurz zu.

Auf dem Flur holte Alex sie ein, legte ihr die Hand auf die Schulter und schob etwas in ihre hintere Hosentasche. Im Vorbeigehen murmelte er: »Ich weiß, dass du Ärger anziehst wie Scheiße die Fliegen lockt. Hätte dich gerne offiziell informiert, doch das hat man mir untersagt. Tu, was du für richtig hältst, aber lass mich raus, ok?« Ohne einen weiteren Blick verschwand er in der Umkleide.

Phil widerstand dem Drang nachzuschauen, was er ihr gegeben hatte. Es juckte ihr in den Fingern, aber sie spürte Schmidts Blick. Neugierig war er vom Schreibtisch zurückgerollt und hatte ihren Austausch beobachtet. Das musste bis zu Hause warten.

Phil schwang sich auf ihr altes, rostiges Damenrad, das bei jedem Tritt rasselte und schepperte. Sie hatte es gefunden, lieblos neben einem Abfallcontainer entsorgt. Ein wenig Arbeit mit Werkzeug und Schmierfett hatten es wieder leidlich fahrtüchtig gemacht. Wenn es auch nie mehr eine Schönheit werden würde, so war es dadurch wenigstens vor Diebstahl geschützt. Nach einem so schäbigen Drahtesel schaute niemand zweimal. Natürlich wäre sie mit ihrem Dienstrad deutlich schneller und komfortabler vorangekommen, aber Medderoog war nicht groß. Dafür reichte es allemal. Sie fuhr hinunter zur Anlegestelle der Fähre, bog dann ins Dorf selbst ab und erreichte nur wenige Minuten später ihr Haus, das in einer der schmalen Seitengassen lag.

Mein Haus.

Phil musste grinsen. Auf weltliche Besitztümer legte sie nie viel Wert. In der Stadt hatte ihr ein kleines Zimmer genügt. Als sie vor einigen Wochen auf Medderoog angekommen war, führte sie nicht mehr als die zwei Koffer mit ihren Klamotten bei sich. Damit zog sie bei Frau Hansen ein, ihrer Vermieterin und Nachbarin in Personalunion.

Die ältere Dame fegte gerade das Kopfsteinpflaster vor ihrem eigenen Haus, gegenüber auf der anderen Straßenseite, und ein Blick zeigte, dass auch die zwei Stufen vor Phils Haustür sauber waren.

»Dankeschön und guten Tag, Frau Hansen«, grüßte Phil höflich und stieg von ihrem Rad.

Ihre Vermieterin schnaufte nur, wischte sich einige verirrte, blondierte Strähnen aus der Stirn und stemmte eine Faust in die rundliche Hüfte. »Ist der Container endlich da?«

Phil lehnte das Fahrrad an die Backsteinmauer, in der ein hölzernes Tor zu ihrem winzigen Garten im Hinterhof führte. »Bisher nicht.« Sie hob die Schultern. »Hab’ vor ein paar Tagen nochmal nachgefragt, aber es hieß nur, dass es dauert.«

»Sie sind doch bei der Polizei, machen Sie da doch mal Druck. Das kann doch nicht sein, dass Sie da drin in leeren Zimmern hausen.«

Phil grinste. Sie hatte sich eine Matratze organisiert und einen Schlafsack gekauft. Auf die paar Möbel, die sie besaß, konnte sie gut verzichten. »Glauben Sie wirklich, dass es dadurch schneller geht? Ich denke, Sie überschätzen unseren Einfluss.« Sie kramte ihren Schlüssel aus der Hosentasche, um das Fahrrad auf den Hinterhof zu schieben.

Gartenmöbel wären vielleicht nett.

Bisher standen auf der Terrasse nur eine mit Zigarettenkippen überquellende Dose und eine umgedrehte Getränkekiste.

»Na ja«, grummelte die Vermieterin. »Immerhin haben Sie die Küche, da müssen Sie wenigstens nicht hungern.«

Wenn sie wüsste …

Die Küche blieb quasi ungenutzt. Im Kühlschrank herrschte grundsätzlich Ebbe. Nur Bier und Tiefkühlpizza fristeten dort ein einsames Dasein.

»Und waschen kann ich auch. Also ist doch alles in Ordnung.« Phil schloss das Tor auf. »Danke nochmal fürs Fegen.« Schnell schob sie von innen den Riegel vor und entging so weiterer Konversation. Dem Knurren ihres Magens Folge leistend, heizte Phil den Backofen vor, öffnete und exte währenddessen das erste Bier. Dann erst schaute sie nach, was Alex ihr in die Tasche geschoben hatte. Ein USB-Stick.

Hat er tatsächlich …?

Sie wagte kaum, zu hoffen. Mit zitternden Fingern steckte sich Phil eine Zigarette an, kramte ihren Laptop hervor und setzte sich auf die Getränkekiste im Hof. Es dauerte ewig, bis das Gerät hochfuhr, dann musste sie den Stick dreimal drehen, bis sie ihn einstecken konnte. Die zweite Zigarette wanderte zwischen ihre Lippen, bis sich der einzige Ordner auf dem Datenträger öffnete.

»Alex«, murmelte Phil. »Du alter Fuchs.«

Er war an der Fundstelle des Skeletts gewesen und hatte ihr Kopien aller Fotos gemacht.

 

Irgendwann konnte Phil sich von den Bildern losreißen und holte die Pizza aus dem Backofen. Dann schickte sie eine E-Mail mit einigen Fotos an die Gerichtsmedizinerin, mit der sie früher zusammengearbeitet und eine enge Freundschaft gepflegt hatte. Sie hoffte, dass diese ihr zu dem Skelett eine erste Einschätzung liefern konnte; aber auch auf echte Ergebnisse, sollte sie an die Knochen selbst herankommen. Das setzte voraus, die Pathologin für die Sache zu begeistern. Die Bilder auf dem Stick zeigten, dass das Skelett sich nicht mehr vor Ort befand. Alex und der oder die anderen hatten die Fundstelle gründlich dokumentiert und alles mitgenommen. Phil leckte die restliche Tomatensoße von ihren Fingern.

Warum wollen Ahrends und der Bürgermeister, dass über den Fund des Skeletts nichts bekannt wird? Warum wollen sie das alles geheimhalten und vertuschen?

Die Knochen schienen alt. Nicht nur ein paar Jahre. Das konnte selbst sie erkennen. Und es lag ein Mord vor. Die Bilder zeigten Detailaufnahmen des Schädels. Mit dem zertrümmerten Hinterkopf und so, wie das Skelett im Boden gelegen hatte, konnte es keine zufällige Zerstörung sein. Nur, wo haben die Jungs die Knochen hingebracht? Wenn ich an die Überreste rankommen könnte …!

Phil stützte sich auf die Arbeitsfläche ihrer Küchenzeile. Verdammt, was mache ich hier eigentlich? Warum muss ich mich schon wieder in Dinge einmischen, die mich nichts angehen? Kann ich nicht einmal die Klappe halten und wegsehen? Sie seufzte. Nein, kann ich nicht.

Wenn dort ein Mord geschehen war, wenn jemand eine Leiche in diesem Brombeerdickicht versteckt und verscharrt hatte, dann würde sie ihn — oder sie, eine Frau als Täterin wollte sie nicht ausschließen — zur Rechenschaft ziehen, selbst nach all den Jahren. Mord verjährt nicht. Das Opfer sollte seine Genugtuung bekommen.

 

  1. KAPITEL

 

Freitagabend, der Austernfischer wie immer gerammelt voll. Neben den Einheimischen drängten sich auch einige Touristen und Phil schob sich mühsam bis zur Theke vor. Sie trat auf diverse Füße, erntete pikierte Blicke, als sie ihre Ellbogen einsetzte, aber das machte ihr nichts aus. Sie schaute, ob sie Alex irgendwo entdecken konnte. Ab und an gab ihm seine Frau abends frei und dann traf man ihn entweder hier oder am Strand. Phil erkannte Henk von der Reederei in der Menge und duckte sich, als er in ihre Richtung schaute. Das fehlte ihr noch, dass der Kerl das Gedränge dazu nutzte, sich an sie zu pressen.

»Lola!«, rief Phil, um die Wirtin auf sich aufmerksam zu machen.

Lola nickte ihr knapp zu. Sie hatte sich die roten Haare mit einem Band aus der Stirn gebunden und trug nur ein kurzes Top. Viel war zu tun und das meiste blieb an ihr hängen. Die zwei Bedienungen, die hier arbeiteten, waren draußen auf der Straße an den Tischen zugange. Hier drinnen wäre für sie kein Durchkommen gewesen und so bestellten die Gäste direkt an der Theke. Lola zapfte gekonnt ein Bier, drückte Phil das Glas in die Hand und rief über die Schulter einem anderen Gast zu: »Geduld! Hier ist noch niemand verdurstet!«

»Ich will dich auch gar nicht lange aufhalten«, brüllte Phil über den Lärm hinweg. »Danke für den Tipp mit Mara, das war sehr hilfreich!«

Lola nickte knapp. »Ich komm bei Gelegenheit drauf zurück.«

Phil zog Geld aus der Tasche, schob es Lola zu, schnappte sich ihr Bier und manövrierte sich in eine ruhigere Ecke. Es wäre gut, wenn Alex hier auftauchen würde. In dem Gedränge könnten sie leicht ungehört und unverfänglich ein paar Worte wechseln. Sie zog ihr Smartphone aus der Tasche und textete Alex das Bild eines Austernfischers, des namensgebenden Vogels, mit einem Fragezeichen. Wenn er hier wäre, würde er sich sicher bald bemerkbar machen. Sie schaute auf die Nachricht. Zugestellt, aber noch nicht gelesen. Sie rief ihr Mailprogramm auf, um zu schauen, ob sie schon Rückmeldung wegen ihrer Anfrage hatte. Das nicht, doch ihre Mutter hatte geschrieben. Phil scrollte augenrollend durch die nahezu unendlich lange Nachricht mit der Ankündigung eines Besuches auf dem ›zauberhaften Stückchen Erde‹, als sie von der Seite angerempelt wurde.

»Fuck, pass doch auf!«, entfuhr es ihr. Sie warf dem jungen, ziemlich angetrunkenen Kerl einen bösen Blick zu.

»Sorry«, rief er, hob die Hand und taumelte weiter Richtung Toilette.

»Arschloch.« Phil steckte das Smartphone weg. Sie hatte jetzt eh keinen Nerv, sich um ihre Mutter zu kümmern, außerdem hatte ihr der Rempler das Bier über die Finger gekleckert. Sie nahm das Glas in die andere Hand, wischte die linke am Hosenbein ab und trank einen kräftigen Schluck, solange noch etwas da war. Phil schob sich weiter an der Wand entlang, bis sie an der Ecke der Theke ankam. Hier würde sie wenigstens niemand anrempeln und sie konnte auch in Ruhe ihr Bier abstellen. Sie zog das Smartphone aus der Tasche.

Verdammt, Alex hat die Nachricht immer noch nicht gelesen. Entweder steckte er hier mitten im Gedränge oder er war doch daheim. Phil tat einen kräftigen Zug, stellte sich auf die Zehenspitzen, aber zwischen den ganzen Menschen konnte sie nicht wirklich etwas erkennen. Unentschlossen ließ sie sich wieder an die Wand sinken. Sollte sie warten? Schauen, ob sie sich durch die Menge drängen konnte? Es wäre so wichtig, mit Alex zu reden, und sie wollte ihn nicht daheim aufsuchen. Lieber auf neutralem Boden. »Zieh mich in nichts rein«, hatte er gesagt. Ihr Handy summte und sie zog es so schnell hervor, dass es ihr fast aus den Fingern gerutscht wäre. Alex? Nein. Aber mindestens genauso gut. Die Antwort auf ihre E-Mail. Kurz und knapp. »Ruf. Mich. An.«

Rudi, wie sie leibt und lebt.

Phil grinste.

Sicherlich würde sie nicht hier telefonieren. Phil warf ihrem halben Bier einen bedauernden Blick zu. Ob es noch da stand, wenn sie zurückkam? Denn hier in dem Gewühl und bei der Lautstärke würde sie ein so wichtiges Gespräch nicht führen. Auch vorne auf der Dorfstraße nicht. Da sie immer noch Hoffnung hatte, dass Alex auftauchte, wollte sie auch nicht nach Hause gehen. Es gab also nur eines. Den kleinen Hinterhof der Gaststätte.

Phil drängte sich durch die Leute, an den Toiletten vorbei. Sie wischte sich über den Mund. Eine leichte Übelkeit breitete sich in ihrem Magen aus. Schwindel erfasste sie. Bei den vielen Menschen hier drin und der stickigen Luft kein Wunder. Vielleicht war die Pizza schon abgelaufen gewesen? Aber sie hatte sie im Backofen gehabt, das überlebten Keime eigentlich nicht, oder? Sie öffnete die schmale Tür und trat hinaus in die Finsternis. Stille, Dunkelheit und die frische Meeresluft umgaben sie.

Phil lehnte sich mit dem Kopf gegen die morsche Bretterwand, die den Hinterhof vom nächsten Garten trennte. Himmel, sie fühlte sich, als müsste sie gleich kotzen. Phil versuchte, gleichmäßig und ruhig zu atmen, um ihren rebellierenden Magen wieder unter Kontrolle zu bekommen.

Der Schlag in den Rücken traf sie vollkommen unvorbereitet. Der Zaun bebte und knirschte, als sie dagegen gedrückt wurde. Sie spürte warmen Atem an ihrem Ohr und roch die Alkoholfahne, als Henk ihr ins Ohr säuselte.

»Ich hab’ gehört, du steckst deine Nase in Angelegenheiten, die dich nichts angehen, Süße. Du solltest das lassen, verstehst du mich?«

Der deutlich stämmigere und kräftigere Kerl drückte sie mit seinem ganzen Gewicht gegen die Bretter, sodass sie kaum noch Luft bekam. Andererseits, hätte er sie nicht festgehalten, so wären Phil wohl die Beine weggeknickt. Ihr war übel und schwindelig. Henk schob seine Hüfte ein wenig vor und Phil spürte, wie sich sein harter Schwanz in ihren Rücken presste. Wäre ihr nicht schon schlecht gewesen, das wäre der Moment, der sie zum Kotzen gebracht hätte. Seine freie Hand schob sich unter ihr T-Shirt, fuhr ihr über Bauch und Brüste. Er keuchte ihr ins Ohr. Als er sich an ihrer Hose zu schaffen machte, lief es ihr kalt den Rücken runter. Sie fühlte sich hilflos und ausgeliefert. Unfähig, etwas zu tun. Die Welt verschwamm vor ihren Augen und wie von weit her hörte sie eine Stimme rufen: »Lass sie los!«

Henk hielt einen Moment inne, Phil spürte, wie er den Kopf wendete, sich umschaute. »Hau besser ab. Das geht dich nichts an, Mädchen«, knurrte er, wandte sich wieder Phil zu und drehte sie um, so dass sie mit dem Rücken am Zaun lehnte.

»Du lässt sie los!«, wiederholte die Stimme mit einem peitschenden Klang.

Kurz lockerte sich Henks Griff. Auch wenn Phil nicht mehr klar denken konnte, ihre Umgebung verschwamm, soweit funktionierten ihre Reflexe noch. Sie zog mit Schwung das Knie hoch, rammte es Henk zwischen die Beine und holte ungezielt mit dem Ellbogen aus. Der Zufall wollte, dass sie Henk direkt auf die Nase traf. Er sackte stöhnend zusammen und als er sie losließ, ging auch Phil neben ihm zu Boden. Sie keuchte, als sie Hände auf ihrer Schulter spürte, machte eine halbherzige Abwehrbewegung.

»Shhh«, wisperte die Stimme einer Frau. »Ich will nur helfen. Alles ist gut.«

Phil sah hoch und erkannte durch die Schleier vor ihren Augen die Pflegerin von Frau Anderson. Sie hatte sie am Nachmittag noch an der Fähre gesehen.

Was macht die jetzt hier?

Sie starrte die Frau an, ohne sie wirklich zu sehen.

Das Bier.

Irgendwie musste Henk ihr etwas in das Bier gemischt haben. Phil schob sich den Finger in den Rachen und spuckte die Reste von Bier und Pizza, die sich noch in ihrem Magen befanden, in den Hof des Austernfischers. Befriedigt bemerkte sie, dass ein Gutteil davon auf Henks Hemd landete, bevor ihr schwarz vor Augen wurde.

 

Dunkelheit umgab Phil, als sie erwachte. Nein, nicht ganz. Irgendwo brannte eine kleine Lampe, sodass sie einige Schemen erkennen konnte. Sie blinzelte, bis sich ihr Blick klärte. Ein Zimmer. Nicht ihres, denn schon die flauschige, duftende Bettdecke verriet ihr, dass sie nicht daheim war. Ihr Kopf lag in jemandes Schoß, Finger strichen ihr leicht durchs Haar. Keine unangenehme Berührung, im Gegenteil, es beruhigte sie, genauso wie das tonlose Summen, dass die Person von sich gab. Das Geschehen im Hinterhof des Austernfischers erschien Phil wie ein Albtraum, aber sie merkte, dass ihr Ellbogen schmerzte, wo er mit Henks Gesicht kollidiert war.

Der verdammte Drecksack, wie konnte er es nur wagen!

Sie fühlte, dass sie zu zittern begann.

»Shhhh«, machte die Stimme über ihr. Die Pflegerin, die ihr zu Hilfe gekommen war. »Du bist in Sicherheit.«

»Und das ist wo?«, murmelte Phil. Ihre Zunge fühlte sich pelzig an. Wie gerne hätte sie jetzt etwas Wasser getrunken, aber sie konnte sich nicht aufraffen, danach zu fragen.

»Bei mir zu Haus. Hab’ dich hergebracht. Wusste ja nicht, wo du wohnst und du warst nicht ansprechbar.«

Phil merkte, wie sie wieder wegdämmerte. Wahrscheinlich das Beste in ihrem Zustand. Sie musste das Zeug wegschlafen, das sich noch in ihrer Blutbahn befand.

»Wie heißt du eigentlich?« Wenn sie schon im Bett der Frau schlief, schien es doch nur recht, deren Namen zu erfahren.

»Harpo«, antwortete die Frau leise.

»Harpo?«, murmelte Phil, schon wieder am Rande des Schlafes. »Was ist das’n für ein Name?« Sie spürte das leichte Lachen mehr, als dass sie es hörte. »Mir genügt er vollauf. Schlaf! Ich pass auf dich auf.«

Diese Versicherung beruhigte Phil irgendwie. Sie schloss die Augen und dämmerte erneut in den Schlaf hinüber.

 

  1. KAPITEL

 

Der nächste Morgen brachte einen Schädel mit sich, wie Phil ihn schon lang nicht mehr gehabt hatte. Sie stöhnte auf, als ihr das helle Licht der Morgensonne in die Augen stach und vergrub den Kopf wieder im Kissen. Sie musste aufs Klo.

Wär’ vielleicht gut, in einen Becher zu pinkeln. Irgendwo auf der Wache ist sicher noch ein Drogentest.

Möglicherweise waren K.o.-Tropfen im Bier gewesen. Zwar konnte sie es niemandem nachweisen bei dem chaotischen Gedrängel im Austernfischer, aber immerhin gab es mit Harpo eine Zeugin für die versuchte Vergewaltigung durch Henk.

Damit krieg ich ihn dran. Der entkommt mir nicht.

Vielleicht würde Henk versuchen, den Spieß umzudrehen und sie wegen Körperverletzung anzeigen?

Soll er doch. Hoffentlich leidet der Arsch richtig, so wie ich ihm in die Eier getreten hab. Phil grinste in das Kissen hinein. Vollgekotzt hab ich ihn auch noch.

Immerhin verschaffte ihr das eine gewisse Befriedigung.

Es half nichts, sie musste aus dem Bett. Phil raffte sich hoch. Das Bett stand in einem kleinen, freundlichen Zimmer unter dem Dach. Ein Schrank, Sessel, Tisch und Stuhl vervollständigten die schmucklose Ausstattung. An der gegenüberliegenden Wand sah sie eine Stiege hinab ins Untergeschoss, aus dem Phil leise Stimmen hörte. Die Tür daneben führte ins Bad, wo sie nach einigem Suchen ein leeres Fläschchen fand, in dem sie die Probe bis zur weiteren Untersuchung aufbewahren konnte.

Danach entledigte Phil sich T-Shirts und Unterhose und sprang unter die Dusche. Das warme Wasser, das auf ihren Kopf plätscherte, weckte ihre Lebensgeister etwas und wenn es unten vielleicht noch einen Kaffee gab und eine Kippe, dann würde sie sich schon fast wieder wie ihr altes Ich fühlen. Phil fand ihre Hose und Socken säuberlich gefaltet auf dem Stuhl. Ihre feuchten Haare ließ sie offen. Vorsichtig ging sie die Treppe hinab.

Sie landete in einem schmalen Flur, von dem eine gute Stube abging, wie sie diese noch von ihren Großeltern kannte und die nur zu Festtagen oder Familienfeiern genutzt wurde. Hinter der geschlossenen Tür daneben lag wohl das Schlafzimmer gegenüber einer großen Wohnküche. Sie befand sich im Haus von Frau Anderson, in dem auch Harpo wohnte, um der alten Dame nahe zu sein. Beide Frauen saßen in der Küche auf einer Eckbank. Durch das halb geöffnete Fenster drang frische Luft, die das Rauschen der Wellen und den Geruch von Seetang mit sich führte.

»Guten Morgen.« Phil fühlte sich peinlich berührt. Sie war schon lange nicht mehr in einem fremden Bett aufgewacht und hatte sich morgens dem strengen Blick der Eltern der Liebschaft stellen müssen. Auch wenn die Situation sich völlig unterschied, das Gefühl blieb nach wie vor dasselbe.

»Gut geschlafen?«, fragte Harpo, stand auf und schenkte einen großen Becher mit Kaffee voll. »Milch, Zucker?«

»Schwarz. Danke.«

Frau Anderson lächelte Phil an, als wäre deren Anblick in ihrer Küche normal, dann wandte sie den Blick ab und schaute wieder aus dem Fenster. Die alte Dame litt an Demenz, sie sprach nicht mehr und nahm nur noch wenig am Geschehen um sie herum teil. Doch sie schien auf ihre ganz eigene Art und Weise zufrieden zu sein. Phil verbarg ihr Gesicht hinter dem Kaffeebecher und musterte die Frau, in deren Bett sie die Nacht verbracht hatte. Harpo war ihr bisher nur als Anhängsel von Frau Anderson aufgefallen und bisher schenkte sie ihr nie besondere Aufmerksamkeit. Das erwies sich wohl gerade als Versäumnis. Wie immer trug Harpo ein Kopftuch, unter dem sie ihre Haare verbarg. Sie hatte große, sturmgraue Augen, ein liebevolles Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie Frau Anderson über die Wange strich.

»Komm, iss noch ein wenig«, bat sie die alte Dame. Phil wickelte sich eine Strähne ihrer feuchten Locken um einen Finger und erinnerte sich, wie Harpo ihr in der Nacht durch die Haare gefahren war.

Als Frau Anderson einen Bissen von ihrem Brot genommen hatte, wandte sich Harpo wieder Phil zu und musterte sie eingehend. Ihr Blick blieb an deren rechtem Ellbogen hängen.

»Zeig mal her«, bat sie und Phil kam es nicht in den Sinn, sich dem Wunsch zu widersetzen. Kühle schlanke Finger strichen über ihre Haut, wo sich ein dunkelroter Fleck abzeichnete. Sie musste Henk doch stärker getroffen haben, als gedacht. Phil bedauerte es ein wenig, als Harpo ihre Hand wieder wegzog.

»Und sonst?«, fragte sie und Phil zuckte die Schultern. Sicherlich würde sie ihr Seelenleben nicht vor dieser fremden Frau ausbreiten, so besorgt und hilfsbereit sie sich auch zeigte.

»Wird schon«, antwortete sie knapp. »Ich komm drüber weg. Danke fürs Eingreifen.«

Harpo presste kurz ihre Lippen zusammen, für einen Moment blitzte es in ihren Augen auf. »Spiel das bitte nicht herunter. So war es nicht. Fast hätte dich dieser Mistkerl …«

»Hat er aber nicht«, unterbrach Phil. »Ich werde mich schon um ihn kümmern, keine Sorge.«

»Phillipa, du …«

»Phil. Nur meine Mutter und mein Chef nennen mich Phillipa.«

Harpo schloss die Augen und atmete einmal tief durch. »Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du mich nicht ständig unterbrechen würdest.«

»Sorry, dumme Angewohnheit. War schon immer etwas vorlaut. Was wolltest du sagen?«

Harpo lachte. »Ich weiß es nicht mehr. Phil, wenn ich noch irgendetwas für dich tun kann, wenn du noch etwas brauchst, und sei es nur jemanden zum Reden, dann weißt du, wo du mich findest, ja?«

»Wird’ gegebenenfalls drauf zurückkommen.« Phil stellte ihre Tasse in die Spüle. »Danke für den Kaffee — und das Bett.«

»Jederzeit wieder.«

Phil schaute Harpo über die Schulter hinweg an. Hatte sie das so gemeint, wie sie dachte, dass sie es meinte?

Harpo grinste und streckte ihr kurz die Zunge heraus.

»Frau Anderson, hat mich gefreut.« Phil nickte der alten Dame zu und trat hinaus auf den Flur, wo sie ihre Schuhe gesehen hatte.

Fuck. Ich brauch’ ’ne Kippe … und ich muss telefonieren.

 

Zwei Zigaretten später erreichte Phil ihr Haus. Auf dem Weg checkte sie ihr Smartphone. Natürlich hatte Alex, die treue Seele, auf ihre Nachricht vom vergangenen Abend geantwortet.

»Sorry, wird nix, Antonia hat Mädels-Wochenende, muss auf die Kleine aufpassen. Hab’ mir freigenommen. Komm vorbei, wenn dir langweilig ist.«

Freigenommen. Das dämpfte ihre Stimmung massiv.

Heißt, dass ich heut’ Abend in der Schicht mit einem von den anderen Kerlen eingeteilt bin. Freude.

Sie blickten immer noch ein wenig auf sie herab. Eine Frau als Polizistin war zwar generell nichts Neues, hier auf Medderoog aber wohl schon. Phil seufzte, als sie die Haustür aufsperrte und eintrat. Dann hielt sie inne. Da stimmte etwas nicht. Sie blieb stehen, fuhr mit den Fingern über das Schloss der Eingangstür, doch dort sah alles soweit normal aus. Auch in ihrem Wohnzimmer, der offenen Küche. Bis auf …

Mit zwei großen Schritten gelangte sie an die Anrichte in der Küche, wo sie ihren Laptop abgelegt hatte. Ja, eine dumme Angewohnheit, aber sie stellte ihn immer an dieselbe Stelle, richtete ihn immer exakt parallel zur Kante von Tisch oder Ablage aus. Doch hier stand nichts. Die Arbeitsfläche war leer.

»Shit«, entfuhr es ihr.

Hab’ ich ihn woanders hingestellt?

Viele Möglichkeiten gab es nicht. Hektisch durchwühlte sie ihr Bett, sogar die Klamotten, die auf unordentlichen Haufen lagen. Sie schaute in alle Schränke, im Bad, bis sie sich eingestehen musste, dass sich wohl jemand in der Nacht Zutritt zu ihrer Wohnung verschafft und ihren Laptop sowie den Stick mit den Bildern vom Tatort mitgenommen hatte. Frustriert hieb Phil mit der flachen Hand auf die Arbeitsplatte.

Verdammt. Woher wusste jemand, dass ich im Besitz der Fotos war? Wieso sagte Henk, dass ich mich nicht in Dinge einmischen sollte, die mich nichts angingen?

Sie lehnte den Kopf gegen die kühle Tür des Oberschrankes und atmete bewusst ein und aus. Gedanken rasten durch ihren Kopf und nur mühsam konnte sie sie ordnen.

Soll ich Ahrends sagen, was ich weiß? Was Henk mir antun wollte?

Phil stieß ein abgehacktes Lachen aus, das genauso gut ein Schluchzen sein konnte.

Mich jemandem anvertrauen, der einen Mord vertuscht? Ich weiß doch, wie das läuft. Die Kerle schützen sich gegenseitig und nachher bin ich an allem Schuld. Schöne Scheiße. Aber nicht mit mir.

 

Phil fischte ihr Smartphone aus der Hosentasche. Ruth, die Gerichtsmedizinerin, hatte um Rückruf gebeten. Vielleicht gab es an der Stelle wenigstens Positives zu vermelden. Phil knirschte mit den Zähnen und ärgerte sich, dass sie Ruth nicht gleich alle Bilder geschickt hatte, sondern nur eine Vorauswahl. Das Display ihres Handys leuchtete kurz auf, nur um sofort wieder zu verblassen. Leerer Akku.

Wenn Scheiße, dann wenigstens richtig.

Phil schloss die Augen und atmete tief ein und aus, um dem Drang zu widerstehen, das Gerät einmal quer durchs ganze Zimmer zu schleudern. Das würde die Sache auch nicht besser machen. Sie suchte das Ladekabel, steckte das Smartphone an und stellte sich darauf ein zu warten, bis es genug Saft hatte, damit sie Ruth anrufen konnte.

Einbruch. Stick weg, Laptop weg. Ein Mord, der vertuscht werden sollte. Eine versuchte Vergewaltigung. Innerhalb eines Tages ging Phils ganzes Leben den Bach runter und sie fühlte sich echt am Arsch.

 

»Phil Berger, erst wenn ein Skelett deinen Weg kreuzt, dann erinnerst du dich wieder an mich? Ich hätte ja gedacht, du meldest dich viel früher mal nach deinem plötzlichen Abgang.«

»Hi, Rudi. Ich freu mich auch, mal wieder von dir zu hören. Es ist nicht so, dass du meine Nummer nicht gehabt hättest, wenn deine Sehnsucht so groß war, nicht wahr?« Phil saß gemütlich auf ihrer Matratze; auf einem Karton, gehalten von einem T-Shirt, das dringend mal wieder gewaschen werden musste, stand ihr Smartphone. Auf dem Display konnte sie Ruths Gesicht nur halb erkennen, aber die gepiercte Augenbraue und die in dieser Woche grünen, kurzen Haare verrieten eindeutig ihre Identität. Jetzt erschien ihr Kinn im Bild, dann nur der Haarschopf.

»Könntest du bitte mal stillhalten?«, bat Phil. »Was tust du denn da?«

»Ach, Schätzchen, es ist nicht so, dass ich mich danach verzehre, dass du mir Arbeit schickst, ja?« Für einen Moment stabilisierte sich Ruths Gesicht, sie stützte das Kinn in die Hände und fixierte die Kamera. »Ich weiß nicht, was grad los ist, aber Sommerhitze und Sonne scheinen gerade allen aufs Hirn zu schlagen. Ich hab’ ein Dutzend Leichen hier rumliegen, die nach meiner Aufmerksamkeit schreien, bildlich gesprochen. Und jetzt kommst du mit deinem Skelett.«

»Ja, Rudi, ich hab’ dich auch schmerzlich vermisst.«

»Hör zu«, die Gerichtsmedizinerin griff neben sich und setzte eine schmale Brille auf, dann konnte Phil einige Zettel erkennen, die sie hochhielt. »Es schien ja mehr als dringend zu sein, was du mir gestern Nachmittag hast zukommen lassen. Und da ich dich nicht erreicht habe und du dich auch nicht zurückgemeldet hast, hab’ ich die Ergebnisse gleich an deine Dienststelle geschickt. In vorauseilendem Gehorsam sozusagen. Es scheint aber, als würdet ihr nicht miteinander sprechen, wenn du dich jetzt erst meldest. Eigentlich liegen meine Einschätzungen bereits seit gestern Abend auf deinem Schreibtisch. Was tut ihr da bitteschön auf der Insel? Ich hatte ausdrücklich um noch mehr Bilder gebeten und unbedingt auch um eine Probe des Skelettes, wenn nicht sogar das Ganze. Aber von eurer Seite aus nur Schweigen im Walde, wenn es so etwas wie Bäume bei euch da oben überhaupt gibt. Also, was ist jetzt? Bekomm ich das Skelett? Du musst wissen, diese eine Elle, deren Spongiosa sieht an den Bruchkanten sehr seltsam aus, aber um mehr sagen zu können, müsste ich …«

Phil legte die Hände vors Gesicht.

Ja, stimmt, ich hab’s dringend gemacht.

Dummerweise hatte sie Ruth nicht geschrieben, dass es keine offizielle Ermittlung war und sie unter der Hand arbeitete und dass sie sich mit etwaigen Erkenntnissen nur an sie wenden sollte.

Jetzt hab’ ich mir den ganzen Bockmist selbst eingebrockt. Jemand auf dem Revier weiß, dass ich Bescheid weiß. Hat mir einer der Kollegen etwa Henk auf den Hals gehetzt? Meinen Laptop geklaut? Oder klauen lassen? Scheiße, ich muss Alex warnen! Was, wenn er selbst mit drinsteckt? Aber warum hat er mir dann den Stick gegeben?

Diese Gedanken rasten in Sekundenbruchteilen durch ihren Kopf und sie versuchte, sich zu sammeln, sich vor Ruth nichts anmerken zu lassen.

»Rudi, es ist so chaotisch hier, da kann schon mal was untergehen, ich sag dir das. Kannst du mir den Bericht nochmal direkt zuschicken? Ich kümmere mich darum, dass du die Knochen bekommst, versprochen!«

Die Gerichtsmedizinerin wandte sich schon wieder halb ab und sprach mit jemandem hinter sich.

»Ist gut, Phil, machen wir so. Du meldest dich! Und schick mir die Knochen, ich will mir das unbedingt genauer ansehen. Ehrlich, diese Spongiosa, sowas hab’ ich noch nicht gesehen!«

»Wenn du mir den Bericht schickst und für jetzt zwei Sätze, ganz kurz, zur Zusammenfassung?«

Ruth drehte sich herum, schob sich die Brille in die Haare und sah Phil direkt an. »Weiblich, zwischen zwanzig und vierzig, Tod durch die Verletzung am Hinterkopf. Hast du dir sicher auch schon gedacht. Liegt bereits länger in dem Sandboden, schätze etwa fünfzig Jahre, vielleicht auch weniger. Und natürlich die Spongiosa …«

»Rudi, nerv nicht mit solchen Fachbegriffen. Pack’s in den Bericht, ja?«

»Zu Befehl, Ma’am. Ich sag’s nur gleich, es ist schwierig, so eine Ferndiagnose. Reicht dir das fürs erste?«

»Du bist die Beste, Rudi, das weißt du.«

»Na klar, aber ich höre es immer wieder gerne. Falls es Probleme gibt mit dem Verschicken, dann sag mir Bescheid. Ich gebe meine Leichen hier in andere Obhut, wenn ich die Knochen da in die Finger bekomme. Ich komm vorbei, versprochen.«

Phil fuhr sich nachdenklich durch die Haare.

Das wäre sicher auch noch eine Option. Wenn Ruth hierherkäme, direkt vor Ort, um sich die Knochen anzuschauen, dann muss ich sie nur in die Hände bekommen. Ich muss mit Alex sprechen, nicht nur deswegen.

»Geh zurück zu deinen Leichen. Ich halt dich auf dem Laufenden! Danke!«

Phil beendete den Anruf, schob mit dem Fuß den Karton von ihrem Bett und ließ sich rücklings auf die Matratze fallen. Ahrends hatte sie nicht einbestellt, hatte sie noch nicht direkt zum Gespräch gebeten. Vielleicht war sein Interesse, den Fall geheim zu halten, groß genug, dass sie umeinander herum arbeiten konnten.

Ich muss immer einen Schritt voraus sein. Ich steck’ knietief in der Scheiße und es wird nicht ganz einfach, da wieder rauszukommen.

 

»Komm her, Zwergin!« Phil hockte sich hin und breitete die Arme aus.

Vor Begeisterung quietschend wackelte Matilda, Alex’ Tochter, mit ihren kurzen Beinen auf sie zu. Ein ausgesprochen hübsches Kind, die Haut einige Schattierungen heller als die von Alex, doch die Augen genauso schwarz und funkelnd wie die seinen. Ihre lockigen Haare standen ihr heute wild vom Kopf ab. Alex besaß nie die Geduld seiner Frau, dem Mädchen aufwändige Frisuren zu verpassen. Phil schloss Matilda in ihre Arme und das kleine Mädchen drückte sich an sie. Oh, sie liebte Kinder, doch selbst welche in die Welt zu setzen gehörte aus verschiedenen Gründen nie zu ihren Optionen.

»Wenn du Babysitter spielen willst, gerne an einem Abend, wenn meine Frau auch da ist und nicht gerade am Samstagmorgen, Phil.« Alex stand mit verschränkten Armen im Wohnzimmer, zu seinen Füßen zwei Taschen, aus denen Handtücher, Matten und Sandspielzeug herausschauten. Der strahlendblaue Morgenhimmel versprach einen ausgesprochen schönen Sommertag.

Sie drückte Matilda noch einmal an sich, setzte sie wieder auf den Boden und gab ihr einen liebevollen Klaps auf den dicken Windelpopo. »Geh packen, Zwergin«, grinste sie und wandte sich dann an Alex. »Jemand war bei mir zu Hause. Mein Laptop ist weg und auch der Stick. Außerdem bin ich gestern Abend«, sie zögerte kurz und rieb sich den Ellbogen, »mit Henk aneinandergeraten.«

Alex machte einen Schritt auf sie zu. »Was hab’ ich dir gesagt, Phil?«, zischte er. »Zieh mich da nicht mit rein! Was daran hast du nicht verstanden?«

Sie schob ihr Kinn vor und versenkte die Hände in den Hosentaschen. »Hab’ ich nicht vor, keine Panik, Mann. Ich wollt’ dir nur Bescheid geben, dass irgendjemand weiß, dass ich an der Sache dran bin, damit du im Zweifelsfall alles abstreiten kannst. Wer war bei dir, als ich dich angefunkt habe?«

Alex starrte sie an und Phil zweifelte schon daran, dass er antworten würde, doch schließlich murmelte er: »Der Schmidt.«

»Ahrends hat euch zum Stillschweigen verpflichtet.«

Abwehrend hob Alex eine Hand und trat einen Schritt zurück. »Genug. Diese Unterhaltung ist vorbei. Ich hab’ schon viel zu viel getan. Bei allem, was du anstellst, Phil, halt den Ball flach, ja? Du bist hier nicht mehr in der Stadt!«

»Recht und Unrecht machen keinen Unterschied zwischen Insel und Stadt. Und wenn ich mitkriege, dass hier was schiefläuft, dann grätsch’ ich da rein, um bei deinem Bild zu bleiben.«

Alex senkte seine Stimme. »Ich musste auch lernen, dass es hier ein wenig anders funktioniert. Dir würde ich diese Erfahrung gerne ersparen.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783967410990
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Mai)
Schlagworte
Wellen Mord Komplott Gezeiten Nordsee Medderoog Skelett Insel Polizei Wellenbrecher Krimi Ermittler Historisch

Autor

  • Roxane Bicker (Autor:in)

Roxane Bicker wurde 1976 in Kassel geboren. Nach dem Studium der Ägyptologie, Koptologie und Ur- und Frühgeschichte arbeitet sie seit 2005 als Museumspädagogin im Staatlichen Museum Ägyptischer Kunst und lebt mit Mann, Sohn und Katze in München. Neben der Geschichte hegt sie auch eine Leidenschaft für die Astronomie, den Weltraum und die Sterne. Im Hybrid-Verlag ist mit »Inepu«, »Aset« und »Usir« ihre Trilogie »Herren des Schakals« erschienen.
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Titel: Wellenbrecher