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Vater, Mutter, Kind

Thriller

von Stina Jensen (Autor:in) Ivonne Keller (Autor:in)
450 Seiten

Zusammenfassung

Ein Umzug. Eine neue Chance. Und dann der Albtraum.

Nach der unerwarteten Trennung von ihrem Mann wagt Anja mit Tochter Mina einen Neuanfang. Sie bezieht ein altes Siedlungshäuschen, organisiert sich eine Tagesmutter und lernt Karsten kennen, der sie endlich wieder zum Lachen bringt. Doch immer deutlicher klopft die Vergangenheit an ihre Tür: Vor elf Jahren ist aus dem Haus ein Kind spurlos verschwunden. Tagesmutter Nerina und ihr Sohn können sich gut an den Vorfall erinnern. Aber sagen sie die ganze Wahrheit? Warum wird Nerina von Tag zu Tag nervöser? Selbst Karsten scheint ein Geheimnis zu verbergen. Und wonach sucht die Mutter des vermissten Kindes so verzweifelt auf dem Dachboden des Hauses? Je mehr Anja versucht, Klarheit zu gewinnen, desto dichter wird der Nebel. Ist sie mit ihrem Umzug direkt in die Fänge von Verbrechern geraten? Verschwindet Mina bald als nächstes?

Neuauflage! Dieser Roman ist bereits im Knaur Verlag unter dem Titel „Unglücksspiel“ erschienen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Neuauflage

Bei diesem Roman handelt es sich um eine Neuauflage des bereits im Knaur Verlag unter dem Autorennamen Ivonne Keller erschienenen und inzwischen vergriffenen Titels „Unglücksspiel“. Sollten Sie dieses eBook versehentlich gekauft haben, wenden Sie sich unter info@ivonne-keller.de an die Autorin.

Das Buch

Nach der unerwarteten Trennung von ihrem Mann wagt Anja mit Tochter Mina einen Neuanfang. Sie bezieht ein altes Siedlungshäuschen, organisiert sich eine Tagesmutter und lernt Karsten kennen, der sie endlich wieder zum Lachen bringt.

Doch immer deutlicher klopft die Vergangenheit an ihre Tür: Vor elf Jahren ist aus dem Haus ein Kind spurlos verschwunden. Tagesmutter Nerina und ihr Sohn können sich gut an den Vorfall erinnern. Aber sagen sie die ganze Wahrheit? Warum wird Nerina von Tag zu Tag nervöser? Selbst Karsten scheint ein Geheimnis zu verbergen. Und wonach sucht die Mutter des vermissten Kindes so verzweifelt auf dem Dachboden des Hauses?

Je mehr Anja versucht, Klarheit zu gewinnen, desto dichter wird der Nebel. Ist sie mit ihrem Umzug direkt in die Fänge von Verbrechern geraten? Verschwindet Mina bald als nächstes?

Keller & Jensen

Die aus Hessen stammende Krimiautorin Ivonne Keller verfasst unter dem Pseudonym Stina Jensen Inselromane und -krimis – da bot es sich an, die beiden Namen für ihre Thriller miteinander zu verbinden.

Schon seit ihrer Kindheit liebt die Autorin das Spiel mit der Sprache. Bereits in der Schule begeisterte sie sich für englischsprachige Literatur und lernte später während eines Auslandsstudiums im andalusischen Granada Spanisch. Die Faszination für Sprache, gekoppelt mit dem Interesse für alles Menschliche, führte sie neben ihrer früheren Tätigkeit als Personalerin zum Schreiben. Dabei interessiert es sie besonders, was mit Menschen passiert, die kurz davor sind, auszuflippen: Wenn das Leben so anstrengend wird, dass die Fassade bröckelt und man auf das schauen kann, was dahinterliegt.

Nach Zwischenstopps in Granada und Offenbach lebt sie mit ihrer Familie seit vielen Jahren in der Wetterau.

www.ivonne-keller.de www.stina-jensen.de

Ku knon pula duhet knevin me ja hjek.


Mädchen, die pfeifen, und Hühnern, die krähen, soll man beizeiten die Hälse umdrehen.

1

Es gab Tage, da fühlte man sich wie in einem schlechten Film. Dieser war so einer.

Der unscharfe Ausdruck einer Internetseite, den Stefan mir an diesem Dienstagmorgen im Juli über den Tisch zuschob, zeigte ein Siedlungshäuschen aus den Fünfzigern mit der Überschrift Einzug sofort möglich.

Ich wusste überhaupt nicht, was ich davon halten sollte, und machte eine vage Handbewegung über unseren Wohn- und Essbereich hinweg, dann tippte ich auf das Blatt und hatte Mühe, ernst zu bleiben. »Wir sollen dahin ziehen? Von hier weg?«

»Genau«, bestätigte mein Mann. »Du und Mina. Ich möchte diesen Ballast loswerden.«

Ich konnte nur den Mund aufsperren. Stefan machte anscheinend wirklich keinen Witz. Auf einmal fühlte sich mein Gesicht taub an. Als hätte mein Vater, der Zahnarzt war, mir nicht nur eine Spritze ins Zahnfleisch gesetzt, sondern meh­rere Einstiche in meinen Wangen verteilt. Dann sah ich – abgelenkt von einem Geräusch – nach draußen zu Mina, unserer Tochter. Sie ließ auf der Wiese vor der Terrasse mit Hilfe des Gartenschlauchs Wasser in einen Eimer laufen, um es sich mit Madeleine von nebenan über den Kopf zu gießen.

Ich sah zurück zu meinem Mann, dann wieder auf das verschwommene Foto dieses heruntergekommen wirkenden Hauses.

»Ballast?«, hakte ich nach. »Meinst du damit mich und Mina?«

»Nein. Das Haus, Anja. Das ist der Ballast, den ich loswerden möchte. Ich verkaufe das Haus.« Stefan tippte auf den Ausdruck. »Dieses Häuschen hier in Bad Vilbel ist wirklich eine hübsche und günstige Alternative. Und eben kein Eigentum mehr. Von dort oben auf dem Heilsberg kannst du nach Frankfurt spucken – zu deiner Arbeit und zu Julia sind es nur zehn Minuten. Und eine Grundschule ist auch gleich um die Ecke.«

Er schien sich an einem aufmunternden Lächeln zu versuchen, das ihm aber gründlich misslang.

»Das Haus hat einen tollen Garten. Klein und schnuckelig«, fuhr er fort. »Damit hast du viel weniger Arbeit.«

Ich griff mir an den Kopf. Wann hatte ich mich über den Garten beschwert? Und Mina war doch schon auf der Montessorischule in Frankfurt angemeldet. Ich würde sie pro­blemlos jeden Tag hinfahren und wieder abholen. Das war seit Monaten so geplant. Meinen Job in Frankfurt bei einem Steuerberater erledigte ich an vier Tagen bis vierzehn Uhr – montags hatte ich frei –, danach war ich für meine Kleine da. Alles perfekt durchdacht. Und das Haus war doch kein Ballast, es war schuldenfrei! Stefan hatte es von seinen Eltern geerbt, nachdem sie und sein jüngerer Bruder bei einem Fährunglück in Italien ums Leben gekommen waren. Damals war er neunzehn Jahre alt gewesen.

Zugegeben, für uns drei war das Haus riesig. Wir hätten uns so etwas nie leisten können und vermutlich auch nicht ausgesucht, aber wir fühlten uns wohl. Ich wollte hier nicht weg.

Stefan schien mir die Zweifel anzusehen. »Schau mal, es ist wirklich viel praktischer.« Er tippte auf den Ausdruck und fuhr fort: »Und das Schulgeld sparen wir auch.«

Meine Kehle war trocken, und ich leckte mir über die Lippen. Wieso wollte er das Schulgeld sparen? Er würde doch durch den Verkauf seines Elternhauses jede Menge Geld bekommen. Was war denn mit dem Erlös?

In diesem Moment schallte das fröhliche Kreischen unserer Tochter durch die Terrassentür. Eine Ladung Wasser war auf ihrem Kopf gelandet. Ich griff nach Stefans Arm.

»Hör mal, was faselst du da? Hast du Sorgen in der Firma? Probleme? Du kannst es mir wirklich …«

Er ballte die Fäuste. Nicht wütend, eher so, als stünde er unter Hochdruck.

»Ich hab schon unterschrieben, Anja. Nächsten Monat zieht ihr beiden dort ein.« Er schob das Blatt Papier mit dem Foto des Häuschens noch ein Stückchen näher zu mir hin, als hätte ich ein tolles Geschenk noch nicht öffnen wollen.

Ich warf nicht einen Blick darauf, knabberte noch zu sehr an seinen Worten, die nur langsam zu meinem Verstand vordrangen.

»Was genau meinst du eigentlich mit ›zieht ihr dort ein‹? Kommst du etwa nicht mit?« Wir hatten erst vor acht Monaten geheiratet.

Stefan stand vom Tisch auf und drehte mir den Rücken zu, sah mit verschränkten Armen und ohne einen Ton zu sagen aus dem Küchenfenster, hinaus auf die Straße.

Ich wischte mir die schweißnassen Hände an meinen Shorts ab. Vielleicht kapierte ich einfach nicht, was er meinte. Es musste doch eine Erklärung geben für diese Sch…

»Ich werde für eine Zeitlang weggehen«, unterbrach er meine Gedanken. Dann drehte er sich wieder um, kam zu mir und hielt mich an den Schultern fest. »Vertrau mir, Anja! Bitte. Du musst mit Mina hier raus. Ich komme wieder, versprochen. Ich kann dir nur absolut nicht sagen, wann.«

Ich war fassungslos. Mir war danach, ihn anzubrüllen, ob er eigentlich noch ganz dicht wäre. Aber dann fielen mir diese Anrufe der letzten Wochen ein. Nie war jemand am anderen Ende der Leitung. Und die Angst kroch mir den Nacken hoch.

2

Mirë.

Gut.

Gut? Nein, nicht wirklich. Nerina Arifaj rupfte das letzte Fitzelchen Unkraut aus dem Blumenbeet, warf es in den von verwurzeltem Grün überquellenden Eimer an ihrer Seite und richtete sich auf. Sie wischte mit dem Unterarm den feinen Schweißfilm von der Stirn und schob eine herausgerutschte Strähne unter das Kopftuch.

Dann betrachtete sie das Beet, das sich von ihrer Gartenhütte am Zaun ihres Schrebergartens zum Nachbargrundstück hin erstreckte. Rote, gelbe und orangefarbene Blüten reckten ihre Köpfe der Sonne entgegen, als jubelten sie vor Freude. Diesen Blumen ging es gut. Doch wann hatte sie selbst das letzte Mal gejubelt? Vielleicht einmal vor vielen Jahren, als sie, Ajdin und Mirsad die Wohnung auf dem Bad Vilbeler Heilsberg, so nannte sich dieser Stadtteil, bekamen, in der sie seither lebten. Nerina hatte gedacht, dort könnte sie Frieden finden. Doch wenige Jahre später hatte Schwärze in ihr Leben Einzug gehalten. Eine Schwärze, in die sie immer wieder hineinfiel, unvermittelt und ohne Ankündigung. Als sei diese Schwärze hungrig und sperre ihr großes Maul auf, um sie zu verschlingen.

Abermals betrachtete sie das Beet. Sie hatte noch ein paar pinkfarbene Pflänzchen dazwischengesetzt, um Lücken zu füllen, in der Hoffnung, dem Unkraut ein wenig Einhalt zu gebieten, das in diesem Jahr besonders üppig spross. Genauso wie die Gurken und Zucchini, die sie ebenfalls anpflanzte, dazu Tomaten und Kopfsalat. Im Herbst gab es Kohl. Gedankenverloren griff Nerina nach einem der Kärtchen aus den Behältern der neuen Pflanzen. Teppichphlox Emerald Pink. Sie hatte noch immer die allergrößte Mühe, Deutsch zu lesen, selbst nach siebzehn Jahren. Das Wort winterhart verstand sie schon eher. Es drückte aus, wie sie sich in ihrem Herzen fühlte. Wenn man ihr den Prozess machte, würde diese Winterhärte ihr vielleicht helfen.

3

Wenn du wüsstest, wie es in mir aussieht. Immer, wenn ich dich so ansehe, packt mich unsägliche Wut. Du bist frei, und ich bin gefangen. Ich versuche wirklich immer, mein Bestes zu geben, »ein guter Junge« zu sein. Aber verdammt, es ist unendlich schwer, gut zu sein, wenn du siehst, wie sorglos andere durchs Leben gehen, während du selbst dich quälst mit diesen zwei Seelen in deiner Brust.

Wenn es dann aus mir herausbricht, bin ich zu allem fähig.

4

Heshtje.

Stille.

Nerina hielt ihr Ohr an Mirsads Zimmertür. Vermutlich schlief er noch. Es war mal wieder spät geworden – wo auch immer ihr zwanzigjähriger Sohn sich herumgetrieben haben mochte. Vermutlich in der Mulde, wie er jene Stelle am Fluss nannte. Sie war da noch nie gewesen, hatte nur aus Mirsads widerwilligen Antworten auf die Fragen seines Vaters geschlossen, dass er sich dort mit seinen Freunden traf. Nerina wusste nicht, wer die Jugendlichen waren, mit denen ihr Sohn verkehrte, sie kannte nicht einmal eine Handvoll von ihnen. Junge Männer, die ab und zu bei ihnen zu Hause auftauchten und durch Nerina hindurchzusehen schienen. Sie – dunkel gekleidet im dunklen Flur, schnell das Kopftuch übergeworfen, wenn es klingelte – war für sie gesichtslos. Mirsad war ohnehin meist unterwegs, und wenn nicht, saß er allein vor dem Computer. Er ließ sie nicht in sein Zimmer, schon lange nicht mehr. Einmal hatte sie einen Blick auf das werfen können, was er da trieb, kurz nachdem Ajdin den Computer ins Haus geholt hatte. Da war Mirsad dreizehn gewesen und in Ajdins Augen im richtigen Alter dafür. Allerdings hatte ihr Mann wohl eher an die Schule gedacht. Doch statt Zahlenreihen beherrschten vermummte Männer den Bildschirm, stürmten Häuser und schnitten anderen die Kehle durch, dass das Blut nur so spritzte. Damals hatte Nerina gedacht, dass sie anscheinend niemals in ihrem Leben weit genug weglaufen konnte, um solchen Bildern zu entfliehen. Aber Mirsad kämpfte nicht nur am Bildschirm. Mehrmals pro Woche ging er zum Karatetraining. Karate trieb er seit frühester Kindheit. Und offensichtlich erfolgreich, ein Dutzend Pokale zierten das verstaubte Regal in seinem Zimmer.

Als sich die Tür an ihrem Ohr mit Schwung öffnete, wich Nerina erschrocken zurück.

»Was willst du?«, fuhr Mirsad sie an. Er sprach Deutsch mit ihr, wie immer. Sein bulliger Körper füllte den Türrahmen. Kein Wunder, dass sie ihn in der Sicherheitsfirma, in der Ajdin arbeitete, ebenfalls haben wollten. Ajdin bewachte den Eingangsbereich eines Kaufhauses. Besaß einen sicheren Blick dafür, ob jemand für seine Einkäufe nicht bezahlen wollte. Und er war schnell. Wenn der Alarm losging, entkam ihm keiner. Mirsad wollte nicht arbeiten. Neben dem Karatetraining hatte er auch sonst »genug zu tun«. Wenn seine Eltern ihn fragten, was das war, wurde er wütend.

»Was willst du?«, fuhr Mirsad Nerina jetzt erneut auf Deutsch an.

Sie antwortete ihm, wie immer in ihrer Muttersprache: »Ich wollte nur …«

»Ich hab heute nichts für dich«, unterbrach er sie.

Als ob sie wegen einem seiner Umschläge hier herumstehen würde. »Ich wollte nur hören, ob du schon wach bist.«

»Das geht dich einen Scheiß an. Wenn ich penne, penne ich, wenn ich wach bin, bin ich wach. Willst du hören, ob ich mir da drin einen runterhole?«

Nerina traten augenblicklich die Tränen in die Augen. Sie hatte gehofft, dass ihr Sohn vielleicht mit ihnen zu Mittag essen würde, wenn Ajdin von seinem ausgiebigen Spaziergang mit ihrer Hündin Syno, einem Kampfhund, dessen korrekten Rassenamen sie sich nicht merken konnte, zurückkam. Doch als sie ihrem Sohn das vorschlug, schlug er ihr mit den Worten »Deinen Fraß kannst du allein essen« die Tür vor der Nase zu.

Sie musste sich das nicht sagen lassen, sie kochte gut. Fli mit Salat, oder Gemüse aus dem Garten, dazu Rind oder Huhn. Und ihre gefüllten Teigtaschen und Eintöpfe waren hervorragend. Auch Mirsad schaufelte täglich eine Menge von allem in sich hinein. Später, wenn sie im Schrebergarten war, um die Blumen und das Gemüse zu wässern, würde er in der Küche wieder an die Töpfe gehen. Manchmal nahm er den Topf auch einfach mit in sein Zimmer, und dort stand der dann tagelang herum, bis Nerina Mirsad bat, ihn wieder in die Küche zu bringen.

Sie klopfte leise an seine Tür, zwang sich, ruhig zu bleiben. Wenn sie ängstlich aussah, reagierte er noch unversöhnlicher.

»Was denn noch?«, fragte er mit lauerndem Gesichtsausdruck. Es roch nicht gut da drin. Er hatte sicher tagelang nicht gelüftet.

Sie sah auf ihre nackten Füße. In der Wohnung trug niemand von ihnen Schuhe. Strümpfe nur, wenn es kühl war.

»Hast du Wäsche? Du weißt, wir haben samstags …«

Er knallte ihr abermals die Tür vor der Nase zu, sie hörte ihn in seinem Zimmer rumoren, kurz darauf warf er ihr einen Berg Kleidungsstücke und zwei feuchte Handtücher vor die Füße. »Da.«

»Danke.« Sie hob alles auf und trug es ins Bad, wo der Wäschekorb war. Am besten stellte sie im Keller gleich eine Maschine an.

Als sie aus dem Bad trat, stand ihr Sohn vor ihr, die dunklen Augenbrauen zu einer Linie zusammengezogen. »Deinetwegen hab ich eben ein Spiel verloren. Weil du mich dauernd störst.«

Sie sah zu Boden. »Entschuldigung.«

Er stieß ein abfälliges Schnauben aus, dann schlug erneut seine Zimmertür hinter ihm zu.

Manchmal blieb es nicht beim Schnauben. Wenn Ajdin wüsste, wie Mirsad ihr zusetzte, würde er sonst etwas mit seinem Sohn anstellen.

Hauptsache, sie bekam keine Verletzungen im Gesicht. Aber darauf schien auch Mirsad zu achten. Dumm war er nicht.

5

Während ich meinen Golf über die A661 in Richtung Bad Vilbel lenkte, dachte ich an Stefan. Wie so ziemlich in jeder Minute der letzten vierzehn Tage. Neun Jahre kannte ich diesen Mann jetzt. Genauso lange, wie ich meinen Golf fuhr. Als wir uns kennenlernten, war ich sechsundzwanzig und er dreißig. Wir standen im Ausstellungsraum eines Autohändlers in Bad Homburg und betrachteten die Neuwagen. Sein altes Auto war kaputt – die Lichtmaschine. Eine Reparatur lohnte nicht mehr. Ich besaß Geld aus einem Bausparvertrag, den meine Eltern zu meiner Konfirmation für mich abgeschlossen hatten. Und da ich nicht vorhatte, zu bauen oder zu renovieren, kaufte ich mir von diesem Geld meinen ersten eigenen Wagen.

Stefan und ich fanden sofort Gefallen an demselben Auto. Und aneinander. Er sah wirklich schnuckelig aus. Jungenhaft. Ein bisschen schüchtern. Aber nicht unmännlich. Eher sensibel.

Er war Bauingenieur. Hauptsache, kein Arzt, wie Papa. Das hätte ich vermutlich nicht abgekonnt.

»Ich glaube, bei dir ist das mit dem Auto dringender«, sagte ich damals auf Stefans flehenden Blick hin. Sein darauf folgendes Lächeln landete direkt in meinem Bauch.

Am Ende kaufte er den Golf, und ich bestellte einen anderen. Danach gingen wir zusammen etwas trinken, um auf die erfolgreichen Deals anzustoßen. Wir teilten uns die Rechnung, das fand ich gut. Wenn mich damals Typen einluden, fühlte ich mich immer blöd. Als sei ich nicht in der Lage, für mich selbst eine Cola zu kaufen.

Julia, die neben mir im Auto saß, zeigte auf das Stadthotel, an dem ich in diesem Moment vorbeifuhr, und ich zuckte zusammen. Wie so oft in letzter Zeit – ich war furchtbar schreckhaft geworden, seitdem Stefan weg war. Ein richtiges Nervenbündel.

»Sieht hier ja ganz nett aus «, bemerkte meine beste Freundin. Links neben dem Hotel lag ein großer Supermarkt.

Ich nickte nur. Mir war nicht nach reden. Wir waren kurz vor unserem Ziel: meinem neuen Zuhause. Ich hätte natürlich in den letzten vierzehn Tagen schon längst mal vorbeischauen können, aber es war einfach nicht gegangen. Seitdem Stefan mir den Ausdruck mit dem Haus gezeigt hatte, hatte ich irgendwie gehofft, aus diesem Alptraum aufzuwachen. Aber heute zog ich tatsächlich hierher. Auf den Heilsberg. Weil Stefan es so entschieden hatte. Dabei hatte sein »Nächsten Monat« im ersten Moment noch irgendwie so geklungen, als hätte ich Zeit, das alles sacken zu lassen – bis ich in den Kalender schaute und feststellte, dass er eigentlich »Nächste Woche« meinte. Sogar den Schlüssel hatte er schon gehabt.

Für meinen Mann war das völlig ungewöhnlich. Privat kümmerte ich mich normalerweise um alles. Großbauprojekte waren zwar Stefans Beruf, bei einem Wochenendeinkauf wurde es allerdings schon schwierig, wenn ich ihm nicht genaueste Anweisungen gab. Diesen Hausverkauf aber hatte er generalstabsmäßig organisiert. Hinter meinem Rücken.

Eine Viertelstunde nach seiner Ankündigung hatte es bereits geklingelt, und noch eine Stunde später musste ich ihm draußen auf der Straße dabei zusehen, wie er wildfremden, glücklichen Menschen die Hand schüttelte, die kurz zuvor mit einem Maßband bewaffnet durch alle Räume des Hauses getrampelt waren und sich zum Schluss wohlwollend über den »wirklich hervorragenden Zustand der Immobilie« geäußert hatten. Ich musste währenddessen gewirkt haben wie eine Autistin, ich war nicht in der Lage, irgendetwas zu sagen. In meinem Kopf kreiste in diesem Moment nur ein Gedanke: »Wie soll ich das Mama und Papa erklären?« Es war ganz klar, was meine Eltern antworten würden: »Haben wir es dir nicht schon immer gesagt?«

Tatsächlich hatten sie, nachdem ich ihnen Stefan irgendwann vorstellte, gemeint: »Der hat etwas an sich, das uns nicht gefällt.« Etwas, das sie »nicht greifen« konnten. Dass er ein eigenes Haus besaß, hatte sie nie nachhaltig beeindruckt. Das Misstrauen ihm gegenüber blieb.

Als Stefan an jenem Abend vor zwei Wochen von der Straße zurückkam, wirkte er total euphorisch.

»Vertrau mir.« Er gab mir einen Kuss auf die Stirn. Und am nächsten Tag war er verschwunden. Noch bevor ich meinen Schock verdauen, ihn zur Rede stellen und mit den tausend Fragen, die mir im Kopf herumschwirrten, konfrontieren konnte. Ich war an diesem schrecklichen Tag früh ins Bett gegangen, hatte ihn einfach nicht mehr sehen wollen. Er war untergetaucht, als sei er auf der Flucht. Etwa vor mir? Oder vor diesen Anrufen, die ich bis zu dem Tag für Kinderstreiche gehalten hatte? Ich meine, was sollte es sonst sein? Es hatte ja keiner gestöhnt oder gedroht. Nur geschwiegen. Aber seit er weg war, klingelte das Telefon nicht mehr.

Ich wusste gar nicht richtig, was mir mehr an die Nieren ging: dass er mir nichts von seinen Plänen erzählt hatte oder dass ich nicht gemerkt hatte, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Bei der Arbeit hatte er sich krankgemeldet. Mit Attest natürlich. Allerdings nicht von unserem Hausarzt in Bad Homburg, dort hatte ich nachgefragt. Ich hatte eigentlich überall nachgefragt. Aber keine Spur von ihm. Und sein Handy war tot.

Julia schreckte mich wieder aus meinen Gedanken.

»Über die Infrastruktur kannst du jedenfalls nicht meckern.« Sie deutete auf das Schild einer Arztpraxis an einer Ecke. »Supermarkt, Hotel, und zum nächsten Doktor ist es auch nicht weit.«

»Hm«, brummte ich. Wenn nur dieses flaue Gefühl in meiner Magengrube endlich vergangen wäre.

»Da vorn muss es sein«, bemerkte meine Freundin und zeigte geradeaus. Links und rechts säumten winzige Siedlungshäuschen die Straße, einige weiß gestrichen und umgebaut mit viel Stahl und Holz. Jedes verfügte über eine angebaute Garage, daneben ein Grünstreifen mit Zaun. Es war nicht Dornholzhausen – aber es war in Ordnung.

»Ach du lieber Himmel«, sagte Julia kurz darauf und machte ein betretenes Gesicht. »Hausnummer siebzehn? Das kann doch nicht stimmen.«

Ich ließ den Golf am Straßenrand ausrollen, bis wir vor der genannten Nummer zum Stehen kamen. Das war es also. Auf dem Bild hatte das Haus besser ausgesehen, so viel stand fest.

Die Häuser links und rechts wirkten zumindest so, als wohnte jemand darin. Menschen mit einer gewissen Ordnungsliebe. Die Vorgärten waren angelegt, hier ein Rosenstock, dort ein Busch, der Besitzer links schien ein Faible für Steine zu haben, die er kreisförmig angeordnet hatte. Die Haustüren waren neueren Datums, ebenso die geputzten Fenster.

Das Haus, in das ich einziehen sollte, wirkte jedoch irgendwie elend. Als sei ihm schlecht.

Wir stiegen aus, und ich sah Julia ratlos an. »Meinst du, es gibt hier irgendwo noch ein hässlicheres Haus?«

Meine Freundin schüttelte den Kopf.

Das Gartentor fehlte. Vielleicht war es mal bei einem Sturm abgerissen worden, jedenfalls ließen die verbogenen Angeln an den Pfosten darauf schließen. An einem Pfosten war einer dieser US-Briefkästen befestigt, mit Fahne zum Hochklappen. Der zumindest gefiel mir.

Am Giebelfenster hing ein einzelner windschiefer Fensterladen; der Vorgarten war überwuchert von kniehohem Unkraut. Drei Waschbetonstufen führten zur Haustür, eines jener hässlichen Ungetüme mit messingfarbenem Rahmen und geriffelter Glasscheibe.

Gott, war mir schlecht. »Ich trau mich da gar nicht rein«, flüsterte ich. »Sag, dass Stefan mir die falsche Adresse genannt hat.«

Julia schaute skeptisch. »Ich würde mal den Schlüssel probieren.«

Der Schlüssel passte. Als Julia die Tür öffnete, quietschte sie, als beträten wir ein Geisterschloss.

6

Liebe. Ein abstraktes Wort. Bei Wikipedia steht Folgendes dazu: »Form der Zuneigung und Wertschätzung«.

Mehr nicht. Bisschen wenig, oder?

Mir fällt noch viel mehr dazu ein:

Geborgenheit. Rücksichtnahme. Schutz. Irritation. Furcht. Unterdrückung. Verrat. Schmerz.

Wenn man beim Schmerz angekommen ist, verblasst übrigens alles andere. Ich weiß es aus eigener Erfahrung.

7

Lutje.

Gebet.

Sie sollte öfter beten, sie wusste das. Nicht nur, wenn sie unter Mirsad litt, so wie heute, oder wenn die Schwärze kam, sondern täglich. Fünf Mal. Gläubige Muslime, die, die alles richtig machten, hielten sich daran. Nerina hingegen ließ sich ablenken von den vielen Pflichten des Alltags. Und wenn es ihr gut ging – solche Tage gab es auch –, vergaß sie es ganz. Aber wenn sie betete, so wie jetzt, nahm sie sich gern viel Zeit dafür.

Schon ihre Waschungen beruhigten sie. Neben der Toilette stand eine Karaffe, die sie mit lauwarmem Wasser füllte, um sich nach dem Wasserlassen zwischen den Beinen zu säubern.

Kurz darauf stand sie am Waschbecken, das warme Wasser perlte in einem dünnen Rinnsal über ihre Finger, und Nerina griff nach der Seife, schäumte die Hände ein und spülte anschließend den feinen Schaum ab. Für die vorgeschriebenen beiden weiteren Male Händewaschen verwendete sie keine Seife. Es folgten die Arme, bis zu den Ellbogen, ebenfalls drei Mal. Nun war der Mund an der Reihe, drei Mal hintereinander nahm sie mit der rechten Hand Wasser auf, ließ es in den Mund fließen, spuckte es wieder aus. Danach kam die Nase an die Reihe, in die sie vorsichtig Wasser hineinsog und es wieder ausschnäuzte, anschließend wusch sie dreimal ihr Gesicht.

Die nächsten Waschungen erfolgten nur einmal: Sie fuhr sich mit den feuchten Handflächen über den Kopf, von der Stirn bis zum Nacken, reinigte die Ohrmuscheln mit dem Zeigefinger und strich über ihren Hals von innen nach außen.

Nerina stellte ihren rechten nackten Fuß auf den Rand des Waschbeckens und wusch sich mit langsamen Bewegungen weiter. Dreimal jeden Fuß mit Knöchel, auch den Zehenzwischenräumen widmete sie ihre Aufmerksamkeit. Nichts ließ sie aus.

Im Flur zog sie ihren mantil an, das lange, bodenlange Kleid, sowie ihre shami, die sie wie eine Kapuze über den Kopf zog. Dann lauschte sie noch einmal, doch sie hörte nichts von Mirsad.

Im Wohnzimmer nahm sie ihren Gebetsteppich aus der Ecke und rollte ihn aus, stellte sich in Position.

Hörst du mich, Allah?, richtete sie ihre Gedanken auf Gott. Dann begann sie mit den Worten: »Allâhu akbar.« Gott ist größer. Alle Muslime beteten die Suren auf Arabisch, auch wenn es nicht ihre Muttersprache war. Doch wegen allem anderen wandte sich Nerina auf Albanisch an Ihn. Wie sehr sie sich wünschte, dass aus Mirsad ein guter Junge wurde. Dass er auf den rechten Weg zurückfand. Dass Gott ihr ihre eigenen Sünden vergab, wagte sie kaum zu hoffen. Für sich selbst wünschte sie nur, dass Er die Schwärze vertrieb, wenn diese nach ihr griff.

8

Neben der Küche im Eiche-rustikal-Dekor und dem mintgrün gefliesten Bad im Erdgeschoss gab es vier Zimmer: das Wohnzimmer und ein kleineres unten, unter dem Dach zwei größere, die man über eine schmale Treppe erreichte. Dass das Haus mich so deprimierte, lag nicht an seiner Größe. Ich verabscheute mich selbst dafür, dass ich mich so unwohl fühlte. Ich kam mir vor wie eine verwöhnte Zicke. Es lag zum einen an dem wirklich muffigen Geruch – das Haus war vermutlich seit Jahren nicht gelüftet worden – und zum anderen an dem trostlosen Allgemeinzustand. Dabei musste hier mal eine Familie gewohnt haben: In einem Zimmer oben war eine Clowns-Bordüre angebracht.

Aber ich scheute mich gar nicht mal davor, es hier wohnlich zu machen. Was mich an der ganzen Sache am härtesten traf: Ich würde alles allein tun müssen. Wo war Stefan?

Diese Frage ließ mich auch nicht los, während ich mit Julia den Kleinkram aus meinem Auto ins Haus trug. Meine Freundin versuchte, über meine neue Situation zu scherzen. »Andere gehen ins Dschungelcamp, du hierher.«

Ich rang mir ein Lächeln ab. »Oder wir sind bei der Versteckten Kamera. Bestimmt kommt gleich Guido Cantz um die Ecke.«

Als wir einander beim nächsten Mal auf der Außentreppe begegneten, sagte Julia: »Gegenüber drückt sich irgendwer die Nase an der Scheibe platt. Nach der Haarfarbe zu urteilen, ist die Dame nicht mehr berufstätig. Benimm dich gut, sonst kommst du ins Gerede.«

Ich warf einen Blick zur anderen Straßenseite. Tatsächlich wackelte die Gardine. »Das ist so ziemlich meine letzte Sorge«, erwiderte ich.

Stefans einziges Gepäckstück war offenbar eine Sporttasche gewesen – die hatte neben ein paar wenigen Kleidungsstücken gefehlt. Am Abend vor seiner plötzlichen Abreise hatte er Mina zu Bett gebracht und ihr gesagt, dass er für eine Weile fortmüsse und ihr etwas Schönes mitbringen würde. Von mir hingegen hatte er sich nicht verabschiedet. Nicht einmal mit einem Brief.

Julia stellte eine neue Kiste mit Kleinkram neben mir im Flur ab und stemmte die Hände in die Hüften. »Kannst du mir mal verraten, wo du alles unterbringen willst?«

Wir beide waren nur die Vorhut, der Lkw mit den Möbeln war auf dem Weg und musste jede Sekunde eintreffen. Auch den Umzug hatte Stefan schon organisiert, als ich noch gar nichts von dieser Wendung in meinem Leben wusste.

Ich ließ mich auf die Kiste sinken und legte den Kopf in die Hände. Nur nicht verzweifeln. Nicht wegen eines Umzugs. Obwohl mir danach war, besonders, seit meine Eltern Mina vor ein paar Tagen für eine schon lange geplante Fahrt in den Schwarzwald abgeholt hatten. Ich musste unbedingt verhindern, dass die beiden mein Kind Ende nächster Woche persönlich hier vorbeibringen würden und dabei das Haus und den Garten sahen, noch bevor alles halbwegs in Schuss war. Mit ein bisschen Zeit würde ich das vielleicht hinkriegen. Irgendwie. Ein wenig Farbe, Raumspray … vielleicht würde doch alles gut werden?

Ich zog mein Handy heraus, drückte die Wahlwiederholung, lauschte in die Stille.

»Der Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar.«

Immer dieselbe Ansage.

Wann war »vorübergehend« vorbei?

Tatsächlich befürchtete ich inzwischen fast, mein Mann könne doch eines Tages rangehen.

Wo würde er sein?

Was würde er sagen?

»Tut mir leid, Anja, aber ich bin verrückt geworden«?

Und immer wieder mogelte sich ein weiterer furchterregender Gedanke in meinen Kopf: Vielleicht hat er sich umgebracht? Oder jemand anders ihn? Vielleicht war vorübergehend längst für immer? Und es rief deshalb keiner mehr an?

Doch dann hätte man ihn bestimmt gefunden.

Angenommen, er trug keine Papiere bei sich. Wie sollte man ihn identifizieren, wenn ich ihn nicht als vermisst meldete? Vermisst – das traf es natürlich nicht. Es war ein Verschwinden mit Ansage gewesen. Er war ein freier Mann. An einen Mord glaubte ich in Wahrheit nicht. Todesängste hatte er nun wirklich nicht ausgestrahlt. Auch nicht, als ich ihm mal von den Anrufen erzählte. Das hatte er mit einer Handbewegung abgetan. Vermutlich würde mir die Polizei erklären, dass mehr Männer davonliefen, als ich mir vorstellen konnte.

Natürlich hatte ich mir in den letzten vierzehn Tagen das Hirn über unsere Beziehung zermartert. Was hatte ich übersehen? Stefan hatte doch nie unglücklich gewirkt. Ich fragte mich inzwischen nur, ob wir überhaupt ein Paar geworden wären, wenn ich nicht alles in die Hand genommen hätte. Ich war immer die treibende Kraft gewesen. Der erste Kuss, der erste Sex, das Zusammenziehen in sein Haus, unsere Tochter.

Oder sah ich gerade alles zu schwarz? Stefan war eben ein passiver Typ. Er redete nicht besonders viel, er machte vieles mit sich selbst aus. Das war es auch, was meine Eltern so störte. Dass man Stefan nicht »durchschauen« konnte, wie sie es nannten.

Immerhin war Stefan sehr häuslich gewesen – das war doch ein Zeichen dafür, dass man sich wohl fühlte? Er war abends meistens zu Hause, zumindest am Anfang. Stundenlang hatte er Mina vorgelesen, mit ihr geschmust. Ein liebevoller Papa. Mir gegenüber, seiner Frau … da war eine gewisse Distanz gewesen. Ich hatte mir das bislang nie eingestanden. Aber es stimmte.

Stefan hatte mir nie gesagt, dass er mich liebte. Wir hatten es uns nie gesagt. Sagte das nicht etwas Schreckliches aus? Doch wenn ich mich ehrlich fragte, ob ich Stefan tatsächlich liebte, konnte ich es nicht mit voller Überzeugung bestätigen. Verliebt war ich gewesen, ja. Am Anfang hatte ich mich wahnsinnig zu ihm hingezogen gefühlt. Und dann, etwa vor zwei Jahren musste es gewesen sein, hatte er sich verändert. Oder war es schon länger her, dass er abends fortblieb? Er sagte, es läge an der Arbeit. Natürlich war es am Abend im Büro ruhiger, und er konnte Dinge abarbeiten, zu denen er nicht kam, wenn er tagsüber auf der Baustelle herumhampelte. Auch wenn es unwahrscheinlich war, dass er ausgerechnet samstags bis tief in die Nacht über Bauplänen brütete. Und wenn er nach Hause kam, wirkte er nicht mal zufrieden mit dem, was er erreicht hatte. Stattdessen schien er ständig außer Atem zu sein. Auf dem Sprung. Knabberte an einem Fingernagel – auch eine neue Angewohnheit.

Er sagte, es läge an der Arbeit.

Und ich? Ich hatte lieber nicht weitergefragt. Zu unheimlich war mir sein Benehmen gewesen. Ein böser Fehler, das wurde mir jetzt erst klar.

Genauso wie das Gespräch mit meinen Eltern. Ich hatte ihnen auf keinen Fall gestehen können, dass Stefan das Haus einfach verkauft hatte und verschwunden war, ohne mir zu sagen, wohin. Ich hatte bei Mama angerufen und ganz nebenbei davon gefaselt, dass Stefan zu einem längeren Auslands­einsatz fort sei. Immerhin war das nicht völlig unwahrscheinlich – als Ingenieur war er schon viel gereist. Und dann gab ich vor, wir bräuchten dringend einen Tapetenwechsel aus dem versnobten Dornholzhausen in etwas Bodenständigeres. Tat so, als sei ich vollkommen einverstanden mit Stefans Entschluss über meinen Kopf hinweg; genau genommen sagte ich sogar, wir hätten das Häuschen auf dem Heilsberg zusammen ausgesucht.

»Ihr seid nicht mehr zu retten«, hatte Papa in den Hörer geschnaubt. Ihr, das sagte er immer, wenn er eigentlich Stefan meinte. Mir traute er noch immer keine wohlüberlegten Entscheidungen zu, vermutlich auch noch nicht, wenn ich hundert war. Und am Wochenende danach, also genau vor einer Woche, nahmen meine Eltern Mina dann auf die Fahrt in den Schwarzwald mit. Nach den Sommerferien kam Mina in die Schule – Stefan und ich hatten uns die Ferien mit meinen Eltern aufteilen wollen. Aber jetzt war alles anders, wir konnten uns nichts mehr aufteilen, Stefan war … wo auch immer. Und wenn Mina Ende nächster Woche wieder da war, musste ich zusehen, wie ich die Betreuung organisiert bekam. Es blieben ja immer noch vier Wochen Schulferien, in denen ich keinen Kita-Platz mehr hatte. Immerhin hatte ich für die letzten beiden Wochen Urlaub eingereicht.

Ach, über diese ganze Angelegenheit konnte ich mir Gedanken machen, wenn es so weit war. Eins nach dem anderen.

9

Shumë informata.

Zu viele Informationen.

Die meisten ihrer Informationen bekam Nerina von Mirsad, obwohl sie ihn gar nicht danach fragte. Als bereitete es ihm Vergnügen, zu sehen, wie sie sich innerlich krümmte. In der Welt schien an allen Fronten das Chaos ausbrechen zu wollen. Sie hatte das schon einmal erlebt. Die Medien verbreiteten so lange Unwahrheiten, bis einer ein Telegramm schrieb oder ein Knöpfchen drückte. Und dann fielen sie in Scharen über das Land her, nahmen einem alles, was man besaß: zuerst die Autonomie, dann die Arbeit, schließlich das Leben. Sie besaß ihres noch, im Gegensatz zu ihren Eltern und Geschwistern.

Bis sich die Situation der Albaner im Kosovo so verheerend änderte, hatte Ajdin jahrelang Seite an Seite mit serbischen Kollegen bei der Polizei gearbeitet. Doch plötzlich wurden aus ehemaligen Kollegen Feinde. Ausnahmezustand. Als schließlich auch in den Nachbargebieten die nationalistischen Kräfte immer stärker wurden und Jugoslawien auseinanderbrach, machte sich Ajdin auf in die Berge, dahin, wo Nerina mit ihrer Familie lebte. Er hatte dort Verwandte mit kleiner Landwirtschaft und hoffte, mitarbeiten zu können.

Die Familien kannten einander. Papa war froh, dass dieser Mann für seine Tochter in Frage kam.

Sie lebten eine Weile gemeinsam bei den Eltern, dann erhielt Ajdin eine Stelle in Prizren, über Beziehungen. Einer der wenigen Albaner, die arbeiten durften. Langsam holte man sich seine Rechte zurück. Im Untergrund zumindest – Ajdin hatte sich einer Vereinigung angeschlossen, über deren Vorgehen er seine Frau kaum unterrichtete. In dieser Zeit in Prizren wurden Nerina und Ajdin Eltern. Sie waren so voller Staunen über das Wunder, das Gott ihnen geschenkt hatte! Doch Gelegenheit, diese Zeit zu genießen, hatten sie nicht. Die Serben kesselten Dörfer ein und gingen mit aller Macht gegen die albanische Bevölkerung vor.

Damals, 1998, hatte Nerina tagelang nichts von ihrer Familie gehört, die noch in den Bergen lebte. Normalerweise telefonierten sie einmal pro Woche – aber seitdem es Kämpfe rings um ihren Heimatort gab, waren die Telefonverbindungen unterbrochen. Nerina war voller Angst. Die Hände knetend, lauschte sie auf jede Neuigkeit aus Radio und Fernsehen. Aber man erfuhr nichts Genaues. Und sie bekam weiterhin kein Lebenszeichen von ihrer Familie.

Eines Tages, nicht viel später, wurde Ajdin gewarnt. Einer seiner ehemaligen Kollegen bei der Polizei gab den Tipp, ein Serbe, Bojan, ein rotgesichtiger Kollege, ein Mann, der gern scherzte. Er sagte zu Ajdin: »Es kann sein, dass in eurem Viertel etwas passiert. Bald.«

Ajdin sorgte sofort dafür, dass Nerina und Mirsad aus Prizren abgeholt wurden. Er telefonierte und erteilte Befehle am Telefon, während Nerina ihren Dreijährigen an sich presste. Sie packte ihre wichtigsten Besitztümer zusammen, darunter ihren Pass und das Gold aus ihrer Aussteuer, ein paar Tücher und Laken. Bis heute wusste sie nicht, wer der Fahrer gewesen war, der sie an der Grenze zu Albanien ihrem Onkel übergab. Ajdin blieb zurück, tauchte unter. Fünf Monate lang kämpfte er an der Seite der UÇK, er wollte nicht aufgeben, woran er glaubte. Es war doch auch sein Land. Ihr Sohn war ihr einziger Trost in dieser Zeit. Als Ajdin sie endlich abholen kam, war dieser Mann für Mirsad inzwischen ein Fremder, er klammerte sich an seine Mutter, wollte sich nicht von ihm auf den Arm nehmen lassen. Doch Nerina war unendlich froh, nicht mehr allein zu sein. Ajdin kümmerte sich um sie. Wenn es auch nichts war, was den romantischen Ideen aus ihrer Jugend nahegekommen wäre: Es gab keinen anderen Menschen, der ihr näherstand als Ajdin. Ohne diesen Mann wären sie und Mirsad vielleicht gar nicht mehr am Leben.

Auch wenn ihre Verwandten geduldig und großzügig waren, auf Dauer konnten sie keine ganze Familie beherbergen, dort in dieser Ecke im Wohnzimmer. Ein Schlepper nahm das Gold aus Nerinas Aussteuer.

Sie betrachtete ihre Finger. Wohin konnte man eigentlich aus Deutschland fliehen, wenn in Europa Bomben fielen? Sie durfte gar nicht darüber nachdenken.

10

Kann ich irgendwie behilflich sein?«, fragte der Mann, der in dem Moment auf dem Bürgersteig auftauchte, als ich eine Pflanze ins Haus brachte. Ich schätzte ihn auf Mitte vierzig. Seine dunklen Augenringe ließen auf ein bewegtes Leben oder Schlafmangel schließen. Sein rotes Haar war stoppelig kurz geschnitten, und er trug einen Blaumann. Aus der Brusttasche ragte ein Zollstock.

Wo kam der denn auf einmal her?

Julia reagierte schneller als ich und lief auf den Ankömmling zu. »Und ob Sie helfen können«, sagte sie und streckte dem Typen die Hand hin. Sie deutete auf den Umzugswagen, der in diesem Moment mit quietschendem Keilriemen auf der Straße anhielt. »Hier kommen unsere Umzugsleute. Wenn Sie mit anpacken könnten, wäre das super.«

Der Rothaarige machte ein bedauerndes Gesicht. »Ich hab Rückenprobleme. Ich dachte eher an die Elektrik. Vielleicht haben Sie auch etwas zu dübeln, oder die Spülmaschine muss angeschlossen werden?«

Ich starrte ihn an. Spülmaschine? Gab es in dem Haus überhaupt eine? Unsere Küche in Dornholzhausen hatte Stefan gleich mit verkauft. Ich trat jetzt auch näher.

»Anja Schwehn«, stellte ich mich vor und reichte dem Blaumannträger die Hand. Er nickte anerkennend. Täuschte ich mich, oder taxierte er meinen ganzen Körper, während er weitersprach?

»Herzlich willkommen in unserer Straße. Ich bin der Bernd.« Er zeigte den Bürgersteig hinunter. »Ich wohne da vorn an der Ecke und hab gesehen, dass sich hier was bewegt. Haben Sie das Haus vom Pfarrer gekauft oder gemietet?«

Ihr Vermieter war ein Pfarrer? Auf dem Vertrag stand nur Clemens Mahler.

»Ja … also … gemietet.« Ich sah unschlüssig zu dem Lkw, aus dem eben die zwei Männer ausstiegen, die gestern meine Einrichtung eingepackt hatten.

Der Größere der beiden sagte: »Hier sind wir doch richtig, oder? Sudetenring?« Er deutete zu dem Haus hinter mir. »Sie wollen doch nicht sagen, dass wir das alles da reinkriegen sollen?« Er hob die Schultern und grinste. »Also … wir kriegen alles rein, keine Frage. Aber dann müssen Sie draußen bleiben.«

»Schauen wir mal«, erwiderte Julia und warf mir einen alarmierten Blick zu. Der Mann, der sich als Bernd vorgestellt hatte, deutete auf die Garage an der Seite des Hauses. »Zur Not gibt ja auch noch die zum Unterstellen. Oder den Keller. Ziehen zwei Haushalte zusammen?«

»Nein, nein.«

»Verstehe.« Er sah mich neugierig an, als erwarte er Details.

Ich setzte ein unverbindliches Lächeln auf. »Sie könnten tatsächlich mal in der Küche nach dem Rechten sehen. Ich habe keine Ahnung, ob da überhaupt irgendetwas funktioniert.«

Bernd Reuther, so lautete der volle Name des Mannes, ackerte wie ein Tier, das musste man ihm lassen. Kaum hatte ich eine Kiste ausgeräumt, stand er schon mit der nächsten neben mir. Kartons konnte er trotz lädiertem Rücken tragen, nur keine Möbel. Zwischendurch orderte ich Pizza und holte beim Supermarkt an der Ecke einen Kasten Wasser und ein Sixpack Bier. Und dann ging’s weiter.

Probleme gab es mit dem Sofa: Das passte weder ins Haus noch in die Garage. Bernd wusste eine Lösung: Die Leiterin einer Kita konnte es »super gebrauchen«. Und ehe ich mich’s versah, hatte ich ein erst drei Jahre altes Fünftausendeurosofa verschenkt. Aber was hätte ich sonst tun sollen? Bei Mama und Papa konnte ich es derzeit nicht unterstellen, und ich hätte auch wieder zu viel diskutieren müssen.

Ohne meinen neuen Bekannten wäre ich im Haus niemals so schnell so weit gekommen. Im Laufe des Nachmittags gingen wir zum Du über. Während er schuftete, schilderte er Julia und mir im Schnelldurchlauf sein Leben. Getrennt lebend. Tochter Franzi war in Minas Alter und wohnte bei Mama. Beide noch bis morgen im Urlaub. Einen Teil der Ferien verbrachte das Mädchen bei ihm und Sohn Pascal, zwanzig. Früher war Bernd Elternbeirat im Kindergarten gewesen. Brauchte immer was zu tun. Er kochte gern. Und er besaß kräftige Finger. Eigentlich hätte er Masseur werden können. Ab diesem Punkt fing Julia für den Rest des Tages immer wieder unbeherrscht an zu kichern, und wenn ich nicht grundsätzlich so schlecht drauf gewesen wäre, hätte ich auch viel zu lachen gehabt.

Später am Abend, nachdem sich Bernd verabschiedet hatte, saßen Julia und ich auf der Außentreppe. Ich ließ frustriert den Kopf hängen. Den ganzen Tag hatte ich versucht, mich mit diesem Haus anzufreunden, aber es gelang mir einfach nicht. Der Gedanke, dass Stefan mich in dieser Situation allein gelassen und mir nicht einmal die Gelegenheit gegeben hatte, die Hintergründe zu erfahren, nagte immer mehr an mir.

»Du suchst dir einfach in aller Ruhe eine neue Wohnung«, erklärte Julia. »Du musst nicht hierbleiben. Kein Mensch kann das von dir verlangen.« Meine Freundin legte den Arm um mich, zog mich an sich und küsste mich auf die Wange.

Nein, verlangen konnte das niemand. Aber ich hatte keine Kraft für eine Wohnungssuche. Ich musste das Beste aus meiner Situation machen. Nur wie? Und allein?

»Lass uns reingehen, so langsam wird es frisch«, schlug Julia vor und vertrieb eine Mücke. »Und die Viecher hier werden mir zu aufdringlich.«

»Fahr ruhig heim, den Rest schaff ich schon«, wehrte ich ab.

»Ich helf dir noch beim Bettbeziehen.«

»Ich weiß gar nicht, wo die Bezüge sind. Lass mal.« Ich wollte allein sein. Vielleicht noch ein bisschen Musik hören und ein bisschen heulen. Abschied zu nehmen war so verdammt schwer.

Julia sah mich liebevoll an. »Grüble nicht zu viel. Irgendwann wird Stefan schon wieder auftauchen, dir sein süßestes Lächeln schenken, und du wirst ihm verzeihen.«

So wie damals, als er mich vor der Hochzeit sitzengelassen hatte. Nicht vor acht Monaten, nein, vor sieben Jahren, als ich mit Mina schwanger gewesen war. Er hatte kalte Füße bekommen und alle Gäste ausgeladen, ohne es mir zu sagen. Schon damals hatte ich meinen Eltern erklärt, dass wir das gemeinsam entschieden hätten, weil es mir durch die Schwangerschaft nicht so gut ging und ich außerdem viel lieber mit flachem Bauch und hohen Pumps heiraten wollte. Und so wenig ich mir das bislang hatte eingestehen wollen: Seitdem hatte ich immer, wenn Stefan etwas tat, von dem ich glaubte, dass es meinen Eltern nicht gefiel, versucht, es entweder zu vertuschen oder als unsere gemeinsame Entscheidung zu verkaufen.

Nach der geplatzten Hochzeit fragten Mama und Papa Jahr für Jahr nach unseren »Plänen«. Dass Stefan und ich dann tatsächlich heirateten, nämlich am einunddreißigsten Dezember letzten Jahres, hatte alle erstaunt. Nur Julia und ein Arbeitskollege von Stefan waren als Trauzeugen eingeweiht. Danach hatte Stefan ins Steigenberger eingeladen und war abends vor dem Fernseher eingeschlafen.

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihm das jemals verzeihen kann, Julia«, widersprach ich meiner Freundin. »Diesmal ist er echt zu weit gegangen.«

Als wir aufsahen, lief ein Mann mit Hund am Pfosten des nicht vorhandenen Gartentors vorbei, Tier und Herrchen im Gleichschritt. Das Vieh war eine dieser Kampfmaschinen, ein Staffordshire Terrier oder wie die Rasse hieß. Der Hund starrte stur geradeaus, genauso wie sein Herrchen, dessen Oberarme tätowiert waren. Beide hatten einen kräftigen Nacken.

Ein silberfarbener SUV fuhr in langsamem Tempo am Haus vorbei, zuerst dachte ich, es sei Petra, meine Nachbarin aus Dornholzhausen, die fuhr doch den gleichen, und ich fragte mich schon, was die jetzt hier wollte. Doch es saß ein Mann am Steuer, den ich nicht kannte. Er schien einen Parkplatz zu suchen. Oder nein, eher fixierte er den Herrn mit Hund – an mir und Julia konnte er wohl kaum Interesse haben.

Julia grinste mich an. »Super Umfeld! Hier gibt es alles, was du brauchst. Eine Nachbarin, die die Lage überwacht, einen Kerl für die Hausmeisterarbeiten und welche für den Schutz.«

So konnte man es natürlich auch sehen.

11

Hast du gesehen? Drüben ist jemand eingezogen. Zwei Frauen. Sind die ein Liebespaar, was meinst du? Früher hätte es das nicht gegeben. Hat schon so lange keiner mehr da drüben gewohnt. Und so wie die beiden angezogen sind, kann ich mich nur wundern. Schicke Leute in einer Blechhütte. Ob die das Haus gekauft haben? Dann kehren die Mahlers wohl doch nicht zurück. Normalerweise kommt die Frau vom Pfarrer am ersten August und bringt Blumen ins Haus. Heute hab ich sie noch nicht gesehen. Wäre ja auch Unsinn, jetzt, wo da andere Leute wohnen. Vermutlich haben die Mahlers die Hoffnung aufgegeben, dass ihr Früchtchen zurückkommt. Irgendwann muss man die Trauer loslassen und nach vorn schauen, was? Wohin aber soll eine alte Frau wie ich noch schauen, wenn nicht zurück?

Ich hätte einiges zu erzählen. Aber was ich über die Dinge denke, die da drüben geschehen sind, hat ja noch nie jemanden interessiert.

12

That.

Leere.

Sonntags war es besonders schlimm. Es gab nicht viel, womit sie sich ablenken konnte. Ablenkung war wichtig, damit nicht die Gedanken daran überhandnahmen, was passieren würde, wenn die Schwärze sie wieder übermannte. Diese namenlose Angst vor etwas.

Die Angst konnte überall über sie hereinbrechen.

Im Supermarkt.

Auf ihrem Botengang für Mirsad.

Im Garten.

Und auch an einem Sonntag zu Hause.

Meist begann es damit, dass ihr übel wurde. Auf eine seltsame Weise übel. Nicht im Magen oder in der Kehle. Diese Übelkeit breitete sich über den ganzen Körper aus. Als fließe aus einer Kanne zähflüssiges Öl über sie. Und damit einher kam die Angst, dass ihr etwas Schreckliches widerfuhr. Dass sie sterben würde. Es dauerte nie lange, bis sie nicht mehr richtig schlucken konnte. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Es war ein Ausgeliefertsein, das sie kaum zu beschreiben vermochte.

Es war schwer, einmal nicht an diese Angst zu denken. Oder überhaupt nichts zu denken. Sie fragte sich, wie andere Leute das so spielend schafften. Ajdin zum Beispiel. Wenn sie manchmal wissen wollte, was er dachte, antwortete er: »Nichts.« Sie glaubte ihm nicht. Vielleicht sah es in seinem Kopf nicht ganz so schlimm aus wie in ihrem, doch sie wurde den Eindruck nicht los, als sei er einfach nur perfekt in der Lage, alles Negative auszublenden. Wenn ihr das nur auch gelänge! Heute, zum Sonnenaufgang, als sie ihre Suren sprach und sich auf die Worte konzentrierte, war es ihr für einen kurzen Moment geglückt.

Nerina warf einen Blick auf Syno unter dem Tisch. Die Hündin war Ajdins Ein und Alles. Sein treuester Freund. Aber sie machte viel Arbeit, jedenfalls für Ajdin, auf Nerina hörte der Hund nicht. Genau genommen ignorierte das Tier Nerina. Sie selbst hätte sich niemals einen Hund angeschafft. Allein, weil man hier so viel für Tiere bezahlen musste. Steuern, Hundefutter. Ajdin scherte sich nicht um diese Regeln, er fand es unsinnig, sich um Dinge wie Hundehaufen Gedanken zu machen.

»Deshalb wird keiner von uns abgeschoben, Nerina, du machst dir zu viele Sorgen«, versuchte Ajdin sie zu beruhigen.

Er hatte ja keine Ahnung, wie viele Sorgen sie sich tatsächlich machte. Genug Sorgen für hundert Leben. Die Angst vor Abschiebung schwebte seit siebzehn Jahren über ihr, aber Ajdin tat das mit einer Handbewegung ab, als verscheuche er eine lästige Fliege. Er fühlte sich sicher. Sie besaßen schließlich diese Karte, die ihnen dauerhaftes Bleiberecht bescheinigte, seit ein paar Jahren. Niederlassungserlaubnis nannte sich das, ein schwieriges Wort. Die wurde einem nicht wegen Hundehaufen abgesprochen. Nur wegen Straffälligkeiten. Und in der Hinsicht, so dachte Ajdin, konnte ihnen rein gar nichts passieren.

Ajdin war ohnehin in diese Gesellschaft integriert. Er hatte durch seine Arbeit deutsche Bekannte, die ihm versicherten, man merke gar nicht mehr, dass er aus einem anderen Kulturkreis kam. Dass seine Frau ein Kopftuch trug, konnten die vermutlich kaum glauben. Ajdin war nicht religiös. Er hielt sich gerade mal an den Ramadan, der vor vierzehn Tagen zu Ende gegangen war, ansonsten gehörte seine Religion zu ihm wie seine Nationalität. Wäre es nach ihm gegangen, würde Nerina keine shami tragen, geschweige denn den mantil. Aber sie trug Kopftuch und Überkleid nicht nur, weil es in der Schrift des Propheten stand, sondern auch, weil es sie schützte. Die traditionelle Kleidung baute Distanz auf – sie wurde nicht oft angesprochen.

Wäre es nach Nerina gegangen, bräuchte sie gar keine Konversation. Solange keiner sie ansprach, konnte sie auch nichts Falsches sagen.

Als Ajdin plötzlich vor ihr stand, schreckte sie hoch. Ihr Mann war noch im Schlafanzug. Erstaunt sah sie ihn an.

»Du bist ja schon auf.«

»Konnte nicht mehr schlafen. Hab schlecht geträumt.« Seine dunklen Haare standen in Büscheln von seinem Kopf ab.

Sie fragte nicht, wovon er geträumt hatte, sie konnte es sich vorstellen. Im Schlaf funktionierte das mit dem Verdrängen doch nicht so gut.

»Soll ich dir einen Kaffee machen?«

Die Wäsche war bereits gewaschen, die Wohnung geputzt. Ajdin mochte es nicht, wenn seine Frau um ihn herumwuselte, es machte ihn nervös. Er klopfte Synos bulligen Körper durch und nickte. »Hm.«

Als er sich an den Tisch setzte, fragte er: »Schläft Mirsad noch?«

»Es war gestern spät.«

Ajdin zog die Blechtasse, in der Nerina den Kaffee immer direkt auf dem Herd zubereitete, zu sich heran und rührte so lange darin herum, dass sie ihn schon fragen wollte, ob er vorhabe, den Kaffee heute kalt zu trinken. Statt die Tasse zum Mund zu führen, sagte er: »Mirsad muss arbeiten, nicht so viel feiern.«

Nerina war ganz seiner Meinung. Die Frage war nur, wie sie ihren Sohn dazu bringen konnten. Und wie oft sie dieses Gespräch noch würden führen müssen.

»Er muss Bewerbungen schreiben. Für eine Ausbildung. Mit einer Ausbildung hat er eine bessere Zukunft.«

Nerina sah ihren Mann an und fragte sich, weshalb er ihr das sagte. Es klang wie ein Auftrag. Sollte sie mit ihrem Sohn Bewerbungen schreiben? Sie hätte das nicht einmal für sich selbst gekonnt. Seit Mirsad mit sechzehn von der Schule gegangen war, hatte sie gehofft, dass er eines Tages die Reife besäße, sich um sich selbst zu kümmern. Bisher hoffte sie vergeblich.

13

Es roch anders. Wie in dem Wohnwagen, in dem ich mal mit Mama und Papa nach Jugoslawien gereist war. Mein Gott, hatte ich auf dieser Reise einen Hunger! So schlimm, dass ich mich krümmte. Weit und breit kein Restaurant, keine Tankstelle, wo man etwas hätte kaufen können. Der Reiseproviant schon seit vielen Stunden aufgebraucht, weil Papa die Strecke unterschätzt hatte. Ich war sechs.

Mama motzte die ganze Zeit, dass Papa auf sie hätte hören sollen. Dass kein Mensch nach Jugoslawien in den Urlaub fuhr und dass sie ohnehin kein Cevapcici mochte. Aber Papa antwortete, er sei der Fahrer und wolle auch mal bestimmen, wohin es in den Urlaub ging. Nicht immer nur nach Italien.

Wir fanden schließlich eine Art Bar, in der es etwas zu essen gab: in Plastikfolie eingeschweißtes Toastbrot und ein Tütchen Sonnenblumenkerne. Papa und ich stürzten uns darauf, während Mama sich auf der Toilette übergab. Reisekrankheit. Danach fuhren wir nach Italien, ich schlafend auf der Rückbank, geplagt von Magenkrämpfen, die mich immer wieder aufweckten, ebenso wie das Gezanke meiner Eltern.

In Italien war es schön. So, wie ein Sommerurlaub sein sollte: volle Strände, die eine oder andere Plastiktüte im Wasser, ein Schnitzellokal und eine Pizzeria auf dem Campingplatz, ein Stellplatz in der hintersten Ecke neben den Sanitäranlagen. Wir fuhren nie wieder mit dem Wohnwagen irgendwohin.

Ich schlug die Augen auf und atmete den Wohnwagengeruch in meinem neuen, fremden Schlafzimmer ein. Vermutlich kam das von den Holzpaneelen an der Wand hinter dem Bett. Vielleicht sollte ich dieses hässliche Ding von Bernd Reuther abreißen lassen, dachte ich. Aber es war ja nicht mein Haus, vermutlich musste ich dafür den Eigentümer fragen. Und diesen Pfarrer kannte ich nicht einmal.

Durch die Fensterladenritzen blitzte Tageslicht, die Vögel zwitscherten.

Ich schwang die Beine aus dem Bett, lief zu dem Tischchen im Flur und schaute auf mein Handy. Mist, der Akku war schon wieder leer. Ich nahm das Mobiltelefon mit in die Küche und hängte es ans Ladekabel. 7:12 Uhr zeigte das Display.

Wenige Minuten später ging ich mit einer Tasse dampfendem Kaffee durchs Haus, in dem noch überall Kisten herumstanden. Den unteren kleinen Raum hatte ich abends spontan zum Schlafzimmer erklärt; vorn lag das Wohnzimmer, von dort führte eine Flügeltür auf die Terrasse. Die Fläche war mit Waschbetonplatten ausgelegt; meine Teakholzmöbel wirkten darauf so deplatziert wie mein modernes Geschirr in der altmodischen Küche.

Ich betrachtete den Raum, der zukünftig mein Wohnzimmer sein sollte. Die Möbelpacker hatten die antike Kommode und den grobschlächtigen Kirschholz-Garderobenschrank aus unserer ehemaligen Diele hineingestellt. Es sah ein bisschen seltsam aus. Als hätte man in ein Miniaturpuppenhaus die Möbel aus einem anderen, größeren Modell platziert.

Unterm Dach war es stickig, das war mir gestern schon aufgefallen. Ich öffnete die Dachfenster der beiden mit Kisten vollgestellten Räume, und sofort wehte kühle Morgenluft durch die beiden Zimmer, die ein schmaler Flur trennte. In einem der beiden Räume baumelten Blumensträuße von einem Holzbalken, ehemals gelbe und rote Rosen, auch weiße und pinkfarbene, zumindest ließen sich die Farben noch erahnen, und alle vollkommen vertrocknet. Sie waren mit ebenso verblichenen Wollfäden befestigt. Durch den Luftzug der geöffneten Fenster rieselten Blütenblätter nach unten, leisteten den Wollmäusen auf dem hellen Laminatboden Gesellschaft. Ich guckte über den Garten hinweg zum Nachbargrundstück, dessen bilderbuchmäßig saftiges Grün an die verdorrte Hecke meines neuen Heims grenzte. Hoffentlich wohnten da drüben nette Leute.

Gähnend stieg ich die Treppe hinab, wobei ich mich an der Kordel festhielt, die als Handlauf diente. Dann stellte ich meine Tasse auf einer freien Stelle in der Küche ab.

Bernd wollte heute Mittag Minas Zimmer – das mit den Blumensträußen – streichen. Ich kam nicht darum herum, vorher ein bisschen sauber zu machen, also stieg ich wieder nach oben, pflückte die Blumensträuße vom Balken und zog eine Spur alten Blattwerks hinter mir her bis zur Mülltonne vorm Haus. Ich legte die verwelkten Gebinde neben der Tonne ab, sonst war die gleich voll.

Anschließend schleppte ich den Staubsauger nach oben, schob Minas Kisten in der Mitte des Zimmers zusammen und fuhr mit der Düse über das Laminat, saugte knisternde Blütenblätter und tote Fliegen ein.

Als ich mit der Staubsaugerdüse gegen die niedrige Wand unter der Dachschräge stieß, fiel mir polternd eine Klappe entgegen. Ich stellte den Staubsauger ab und hob das Teil auf. Die Klappe war ebenfalls tapeziert, ich hatte sie überhaupt nicht bemerkt. Vielleicht verbarg sich dahinter ein Sicherungskasten. Ich kniete mich auf den Boden und linste in die Öffnung. Fast hätte ich das kleine Tütchen übersehen, das da völlig verstaubt am Boden lag. Ich zog es aus dem Hohlraum hervor, wischte mit dem Zeigefinger über die Oberfläche. Eine Tüte Gummibärchen. Uralt. Ich stand auf und ging in den Flur, legte das Päckchen an den Treppenabgang, um es später unten zu entsorgen. Zurück im Zimmer, ging ich noch einmal auf die Knie und schaute erneut in den Hohlraum, der sich offenbar über die gesamte Längsseite des Raums bis zum Giebel zog. Lag dahinten etwas? Eine Decke? Ich setzte mich wieder hin. In welchem der vielen Kartons steckte eigentlich meine Taschenlampe? Ach, egal. So interessant war es auch wieder nicht. Ich drückte die herausgefallene Klappe wieder auf die Öffnung. Bestimmt gefiel Mina dieses Geheimversteck für ihre Schätze.

14

Das Ticken der Küchenuhr erschien Marlies Mahler an diesem Morgen wieder einmal ohrenbetäubend laut. Sie betrachtete das Exemplar aus eierschalenfarbener Keramik, das Clemens und sie in Italien gekauft hatten. Am Gardasee. Frisch verliebt waren sie gewesen, Clemens hatte gerade sein Theologiestudium beendet, und sie stand kurz vor ihrem Abschluss als Germanistin. Später stellte sich heraus, dass er das Studium nicht aus tiefem Glauben heraus, sondern aus Interesse begonnen hatte. Dennoch nannte ihn heute jeder einen Pfarrer, weil die Leute dachten, Theologe und Pfarrer seien dasselbe.

Marlies hatte neben dem Studium bei der Caritas im Büro ausgeholfen, als sie sich kennenlernten, kopierte Anträge und gab Kleider an Bedürftige. Sie lebte ihre soziale Ader aus, die sie schon als Kind in sich getragen hatte: helfen um des Helfens willen. Ihr hatte später allerdings niemand geholfen. Gut, Frau Sievers vielleicht, die Therapeutin, die ihr in ihrer schwersten Zeit zur Seite gestanden hatte, aber die war ja auch dafür bezahlt worden.

Als Marlies ein Geräusch hinter sich hörte, wandte sie sich um. Sie hatte ihren Mann nicht hereinkommen hören.

»Was sitzt du hier so tatenlos?«, fragte er.

Sie sah über die Tischplatte und die Sitzbank hinweg nach draußen. »Ich denke nur ein bisschen nach.«

»Worüber?«

»Kannst du dir das nicht vorstellen?«

»Immer noch darüber, dass ich das Haus vermietet habe?«

»Du hast mich nicht gefragt, was ich davon halte.«

»Nein.«

Sie wandte den Kopf zu ihm um. Er hatte wie immer eine dunkle Anzugshose und einen blauen Pullover mit V-Ausschnitt an. Darunter ein weißes Poloshirt. Er trug das sommers wie winters. So erkannten ihn die Leute. Hier in Steinau und auch im Krankenhaus in Gelnhausen, wo er als Seelsorger arbeitete, seitdem er vor acht Jahren seinen Job in der JVA in Frankfurt aufgegeben hatte.

Ihr Mann hob die Schultern. »Du wirst dich schon an den Gedanken gewöhnen.«

Marlies lauschte wieder auf das Ticken der Uhr. Laura wäre heute einundzwanzig Jahre alt geworden. Das war es, woran sie gedacht hatte. Clemens hatte es anscheinend vergessen. Aber sie nicht. Sie konnte nicht einmal Blumen an ein Grab bringen. Stattdessen hätte sie wie jedes Jahr einen Strauß in Lauras altem Zimmer an den Deckenbalken gehängt, an dem ihre Tochter so gern herumgeturnt war. Dieses Jahr ging das nicht. Das Haus war vermietet.

Clemens fasste sie bei den Schultern und knetete ihre verspannten Muskeln.

»Das Haus verfällt, Marlies. Es wird Zeit, dass mal wieder jemand darin lebt und sich darum kümmert.«

»Und wenn sie wiederkommt?«

»Wenn sie wiederkommt, ziehen wir ganz sicher nicht nach Bad Vilbel zurück.«

Das stimmte vermutlich. Aber Marlies hatte weder von ihrer Tochter noch von ihrem gemeinsamen alten Zuhause Abschied nehmen können.

Nachdem Laura anderthalb Jahre verschwunden und nicht wiedergekommen war, waren sie in das fünfzig Kilometer entfernte Steinau gezogen, um den Erinnerungen zu entfliehen. Was Clemens nicht bedacht hatte: In Steinau tummelten sich wegen des bekannten Puppentheaters und wegen des Freizeitparks täglich Hunderte Kinder. Anfangs hatte das Marlies gequält. Sie vermisste Laura noch mehr als zuvor. Doch dann, nach einiger Zeit, hatte sie es als Chance begriffen. Vielleicht war es kein Zufall, dass sie dieses Haus gefunden hatten? Fortan verbrachte sie unzählige Tage im Ort, um unter den zahlreichen herumspringenden Kindern nach ihrem blonden Engel zu suchen. Und im Laufe der Jahre hatte es auch zwei- oder dreimal einen Moment gegeben, in dem sie sicher gewesen war, Laura vor sich zu haben. Doch sie hatte sich natürlich jedes Mal getäuscht. Die Statistik besagte, dass verschwundene Kinder in der Regel binnen kurzer Zeit wieder auftauchten. Aber was war mit den wenigen, bei denen das nicht zutraf? Für die Eltern war das Schlimmste die Ungewissheit. Lebte ihr Kind noch? Hielt jemand es in einem Kellerverlies gefangen?

Am schlimmsten waren die Bilder im Kopf. Ein verschwitzter Männerkörper, dickbäuchig, fettig, auf ihrer zarten Tochter. Das Gesicht der Kleinen tränenüberströmt. Oder mit leeren Augen, die an die Decke blickten. Es gab Tage, da wünschte Marlies sich sehnlich, dass Laura tot war und nichts dergleichen erleben musste. Erlebt hatte.

Vielleicht hatte sie auch jemand geholt, dessen Kinderwunsch so groß war, dass er selbst vor einer Entführung nicht zurückschreckte? Doch diese Variante schien nicht sehr wahrscheinlich. Eine Zehnjährige riss man nicht einfach aus ihrer gewohnten Umgebung und führte sie am nächsten Tag woanders spazieren.

Mit der Zeit wurde es besser, aber dann tauchte zwei Jahre später dieses Mädchen in Österreich auf, das über acht Jahre verschollen gewesen war, und seither war der Schmerz zurück. Und der Hass auf die unbekannte Person, die für Lauras Verschwinden verantwortlich war. Frau Sievers hatte gemeint, dass diese Wut vielleicht dazu beitragen konnte, Laura endlich loszulassen. Doch das war ihr nie gelungen. Und jetzt war Marlies mehr denn je damit beschäftigt, die Gedanken an ihre verschwundene Tochter festzuhalten. So dachte sie an die Blumensträuße an dem Balken. Sie wollte nicht, dass die Mieter die Blumen in den Müll warfen. Doch Marlies konnte sie unmöglich holen. Man würde ihr Fragen zur Vergangenheit stellen und in altem Schmerz wühlen. Die Leute fragten immer, wie es einem ging.

Ihr Mann schreckte Marlies auf. »Ich muss los. Bis später, ja?« Er hielt heute den Gottesdienst im Krankenhaus.

Sie nickte. »Fahr nur.«

Gedanklich war sie noch immer in Lauras Zimmer. Nicht nur bei den Blumen. Da war mehr. Wie lange hatte sie daran nicht gedacht? Sie kam gar nicht darum herum, hinzufahren. Sie musste das Schreiben holen. Obwohl … Vermutlich war nicht davon auszugehen, dass irgendwer der Klappe Beachtung schenkte. Und wenn doch? Sie hatte den Umschlag von innen an die Wand geklebt. Da entdeckte ihn niemand. Und selbst wenn sie den Brief fanden und lasen – welche Rückschlüsse konnten sie daraus ziehen? Dennoch, sie war eine dumme Gans. Warum hatte sie den Brief von Jochen Stenzel damals nicht vernichtet? Von diesem schrecklichen Mann, der ihr Leben zerstören wollte. Diesem Erpresser.

Weil sie ein Beweismittel haben wollte, falls er es noch einmal tat.

Bei einem weiteren Brief wäre sie zur Polizei gegangen.

Aber wäre sie das wirklich?

Zu viel hatte auf dem Spiel gestanden. Stand es noch heute. Nicht einmal Frau Sievers wusste von der Sache. Vermutlich war das der Grund, warum sie in den Therapiegesprächen jahrelang festgesteckt hatten. Frau Sievers hatte immer gemutmaßt, dass da noch etwas im Verborgenen lag. Womit sie natürlich recht gehabt hatte. Doch Marlies war nicht verrückt genug gewesen, dieses Fass aufzumachen.

15

Burri im.

Ihr Mann.

Nerina sah Ajdin aus dem Wohnzimmerfenster nach. Er machte seinen Sonntagmorgenspaziergang, lief mit Syno an der Leine den Bürgersteig entlang. Ajdins breite Schultern, die er regelmäßig mit Gewichten stählte, wippten im selben Rhythmus wie Synos Hüften. Sie bildeten eine Einheit. Mann und Hund, ein starkes Team. Manche Leute hatten Angst vor Ajdin, Nerina erkannte es an den Blicken. Und Mitleid mit ihr. Er sah aus, als trüge er eine ganze Batterie Waffen unter der Jacke und warte nur darauf, eine davon zücken zu dürfen. Auf seinen linken Arm waren Mirsads und ihr Name tätowiert, das hatte er machen lassen, nachdem er Vater geworden war.

Nerina räumte die Tasse ihres Mannes in die Spüle. Sie blickte aus dem Fenster zum Himmel. Kein Wölkchen zu sehen. Vielleicht sollte sie schon einmal in den Garten gehen und die Blumen gießen.

Gleich als sie auf die Straße trat und die ersten Schritte machte, fühlte sie sich besser. Merkwürdig, wie Bewegung ihre Gedanken beruhigte. Auch die Sonne auf ihrer Kleidung tat ihr gut.

Natürlich hätte Ajdin sie fragen können, ob sie ihn begleiten wollte, aber das tat er schon lange nicht mehr. Sie hatte vermutlich zu oft nein gesagt, in der Zeit, als sie Mirsad keine Minute hatte allein lassen wollen, vor Sorge, er könnte etwas anstellen, das ihn in Gefahr brachte. Das Kind auf Spaziergänge mitzunehmen wäre auch nicht möglich gewesen. Dafür hätte man ihn schon an die Leine nehmen müssen.

Einmal hatte er unbemerkt den Herd angemacht, und die Feuerwehr kam angerast – einer der schwärzesten Tage ihres Lebens. Sie hatte unten am Kiosk gestanden, um für ihren unberechenbaren Sohn den eingeforderten Schokoriegel zu kaufen, hatte nach oben zu den Rauchwolken gestarrt und gedacht: Jetzt ist es so weit. Nach all der Mühe. Aber es war nichts Schlimmes passiert, man hatte sie sogar richtig nett behandelt und ihr beruhigend auf die Schultern geklopft. Es kostete noch nicht einmal etwas, dabei hatte sie damit gerechnet, dass ihre gesamten Ersparnisse für diese eine Unachtsamkeit draufgehen würden.

Nerina eilte durch die Straßen. Von ihrer Wohnung bis zum Schrebergarten war es ein guter Kilometer, wenn sie den Abstecher über den kleinen Park machte, um Mirsads Umschlag zu hinterlegen, ein paar Meter mehr. Aber nicht heute. Heute lief sie direkt Richtung Friedhof, dem gegenüber sich der Kleingartenverein befand. Das Grundstück lag auf Frankfurter Gelände, doch der Verein war in Bad Vilbel ansässig. Über solche Dinge waren sie anfangs, als sie noch kaum ein Wort Deutsch sprachen, aufgeklärt worden. Auch über die Möglichkeit, dass ihnen beim Umgraben die eine oder andere Patronenhülse begegnen könne, da es sich bei dem Gelände um einen ehemaligen Truppenübungsplatz handelte. Nerina war überfordert davon gewesen, wie dieses Land funktionierte, doch Herr Lorenz, ihr Gartennachbar und Ombudsmann des Vereins, hatte sie und Ajdin unermüdlich über Wissenswertes aufgeklärt, ihnen mit Händen und Füßen die Satzung erklärt: Dinge, die zu beachten waren, wenn sie ihren Garten behalten wollten. In Deutschland galt es vor allem, sich an die Regeln zu halten. Nerina störte das keineswegs, sie mochte Regeln, sie gaben ihr die Sicherheit, alles richtig zu machen.

Eben war Nerina an der Kleingartenanlage angekommen und tastete in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel. Das von hohen Hecken flankierte stählerne Eingangstor maß zwei Meter und war stets verschlossen. Anfang der Zweitausender Jahre, als ihnen hier die Wohnung angeboten worden war, existierte das Tor auch schon, doch es hatte immer offen gestanden – bis es Probleme mit »fremdländischen Mitbürgern« gab, so die Worte von Herrn Lorenz. Handtaschen verschwanden aus Gartenhäuschen, teilweise am helllichten Tag, und unter den meist älteren Frauen, die morgens in ihren Gärten arbeiteten, ging die Angst um. Auf dem Friedhofsparkplatz waren von der Russenmafia gestohlene Autos ausgeschlachtet und einfach stehen­gelassen worden – ebenfalls Herrn Lorenz’ Worte.

Schließlich wurde das Tor immer verschlossen gehalten. Einmal hatte Mirsad seinen Schlüssel verloren, und Herr Lorenz war sehr böse geworden. Glücklicherweise konnte Ajdin ihn davon überzeugen, dass der Schlüssel nicht in falsche Hände geraten, sondern in einen Gulli gefallen war. Zwar hatte er sich das nur ausgedacht, aber sie hätten sich unmöglich die Bezahlung einer neuen Schließanlage leisten können. Seither wusste Mirsad, dass er keinen neuen Schlüssel bekam, sollte er ihn noch einmal verlieren. Und da ihr Sohn oft genug allein in den Garten ging, um dort zu »chillen«, wie er sich ausdrückte, hoffte Nerina, dass er auch wirklich darauf achtgab.

Sonntagvormittags war in der Anlage nicht viel los, die meisten Pächter erschienen erst nach einem späten Frühstück. Ohnehin kam man sich nicht allzu nah – die Grundstücke waren groß genug.

»Hallo, Frau Arifaj!«, schallte es ihr dennoch von Herrn Lorenz entgegen, einer der wenigen, die nahezu rund um die Uhr hier zu sein schienen. Nerina quittierte den Gruß mit einem Nicken und einem verstohlenen Lächeln in seine Richtung, während sie durch das Holztor auf ihr Grundstück trat. Vermutlich würde Ajdin nachher vorschlagen zu grillen, er liebte es, sich über den Gartenzaun hinweg mit Herrn Lorenz zu unterhalten. Dieser war ein Bastler und hatte eine Miniaturlandschaft aus Windmühlen, Fachwerkhäuschen und kleinen Kirchen in seinem Garten angelegt – vermutlich für die Zwerge, die die weißen Kieswege säumten. Nerina hatte so etwas noch nie zuvor gesehen und ihn damals in ihrer Naivität gefragt, ob seine Kinder damit spielten.

Sie schüttelte den Gedanken an ihren Nachbarn ab, griff nach der grünen Plastikkanne und goss vorsichtig ihr Blumenbeet. Dabei sah sie sich verstohlen um, wie immer, wenn sie dieses Beet wässerte.


»Frau Arifaj?«

Nerina hob den Kopf und rappelte sich vom Boden auf. Sie hatte eben ein paar Zucchini und Paprika geerntet und Unkraut aus den Beeten gezupft.

»Herr Lorenz.« Sie nickte ihm zu. Hoffentlich ließ er sie gleich wieder in Ruhe.

»Super Ernte!«, lobte er und deutete auf den Eimer zu ihren Füßen. Ihre Zucchini waren jedes Jahr die größten in der ganzen Schrebergartenanlage, sie zog die Pflanzen selbst. So viele Zucchini, wie sie erntete, konnte man gar nicht essen. Nerina stellte häufig einen Eimer voll in ihrem Wohnhaus im Wäschekeller ab, mit einem Schild BEDINEN SIE SICH; der Eimer war immer innerhalb weniger Tage leer.

»Meine Frau Krankenhaus.« Herr Lorenz deutete auf seine Hüfte. »Operation. Viel Schmerzen.«

Sie lächelte bedauernd und sagte dann, so wie sie es gelernt hatte: »Gute Besserung.«

»War höchste Zeit mit OP«, fuhr Herr Lorenz fort. »Doktor Hagedorn hat zu spät erkannt.«

Nerina sah ihn ratlos an und hob die Schultern. Wenn er nur begreifen würde, dass sie sich nicht gut auf Deutsch unterhalten konnte. Den Doktor hingegen kannte sie gut, sie war schon oft bei ihm gewesen, aber wirklich helfen konnte er ihr auch nicht.

Sie nickte höflich und rang sich erneut ein Lächeln ab. Hoffentlich kam Ajdin bald mit Syno vorbei und führte das Gespräch weiter.

»Muss ich Toilette.« Sie hob die Hand zum Abschied.

Die Ausrede genügte, dass Herr Lorenz ihr mit einem »Na dann, schönen Tag noch« den Rücken zuwandte.

Zum Glück hatte er diesmal nicht gefragt, was Mirsad machte. Früher hatte ihr Sohn Herrn Lorenz oft mit seiner vorlauten Art zum Lachen gebracht.

»Mit dem werden Sie noch viel Freude haben«, hatte er einmal kopfschüttelnd gesagt. Mirsad hatte mit Vorliebe Gegenstände von ihrem auf Herrn Lorenz’ Grundstück geworfen, die dieser dann wieder herüberreichte, und Nerina hatte zu Hause im Wörterbuch nachgeschlagen, was »Freude« bedeutete. Andere hatten offenbar mehr Vertrauen in ihren Sohn gehabt als sie selbst. Später, als er mitbekam, wie stolz Mirsad auf seinen ersten Siegespokal für die Teilnahme an einem Karatewettkampf war, sagte Herr Lorenz: »Hoffentlich wird er nicht mal ein schwerer Junge.« Dagegen hatte sie allerdings wenig ausrichten können. Ihr Sohn kam nach ihrem Vater, der ebenfalls ein Riese gewesen war. Mirsad war fast einen Kopf größer als Ajdin. Jedenfalls »machte« Mirsad noch immer nichts.

Als sie eine Stunde später die Wohnungstür aufschloss, saß Ajdin am Küchentisch und schaute auf sein Handy. Das Gerät war seine Verbindung zur Welt, er las aktuelle Nachrichten aus der Heimat, unterhielt sich mit Leuten, die er aus der Schulzeit oder auch aus dem Krieg kannte und die mit ihren Familien über ganz Europa verstreut waren. Viele fuhren regelmäßig in die alte Heimat. Leute, die dort noch Familie und Besitz hatten. Von Nerina existierte nichts mehr. Sie konnte sich nicht vorstellen, jemals zurückzukehren.

»Mirsad schläft immer noch«, sagte Ajdin, ohne den Blick von seinem Mobiltelefon zu heben.

Nerina legte Jacke und Kopftuch auf der Eckbank ab. »Vielleicht fragst du ihn, ob er heute mit uns in den Garten kommt?«

»Ich?«

»Warum nicht? Ich habe die ganze Woche mit ihm zu tun.« Sie hielt ihre zitternden Finger fest und setzte sich zu Ajdin an den Tisch. Der Doktor hatte ihr empfohlen, sie solle ihren Mann mehr mit »ins Boot holen«, und sich dann korrigiert: »Ihr Mann muss sich mehr kümmern, Frau Arifaj.«

Letzte Woche war das gewesen. Sie war wegen der erneuten Schmerzen in der Brust zum Arzt gegangen. Die kamen meistens mit der Schwärze.

»Du weißt, dass es kracht, wenn ich ihn anspreche«, antwortete Ajdin.

Ihre Finger waren jetzt kaum mehr still zu halten. Sie wollte nicht, dass es krachte, ganz im Gegenteil. Sie sehnte sich nach Frieden und einer glücklichen Familie.

»Es muss ja nicht krachen«, versuchte sie zu beschwichtigen. »Vielleicht hört er auf dich.«

»Also gut.« Er zog die kurzen Ärmel seines T-Shirts ein Stück weiter nach oben, sodass seine kräftigen Oberarme noch deutlicher hervortraten und schob sich an ihr vorbei, trat in den Flur. Drei kurze Klopfer an Mirsads Zimmertür, dann betätigte er die Klinke. Natürlich war abgeschlossen.

»Mirsad!«, rief Ajdin. »Mach auf! Du gehst mit in den Garten. Es ist schönes Wetter.«

Die Antwort kam prompt, diesmal ausnahmsweise auf Albanisch: »Jo!«

Kurz darauf setzte sich Ajdin wieder an den Tisch und griff nach seinem Handy. »Ich hab’s versucht. Hat nicht geklappt.«

16

Bernd trug den Blaumann von gestern. Er klingelte um Punkt zwölf, wie verabredet, zu seinen Füßen standen zwei Farbeimer, in der einen Hand hielt er einen Stab mit Farbrolle, in der anderen Malerkrepp und ein Bündel Folie.

»Einen wunderschönen guten Morgen«, wünschte ich und gab die Tür frei.

»Gut geschlafen?« Bernd schlängelte sich an mir vorbei.

»So lala«, antwortete ich, nahm die Eimer und folgte ihm nach oben, wo wir alles abstellten und er auf die Farbe deu­tete.

»Für das Zimmer deiner Tochter hatte ich noch Gelb und Rosa im Haus. Ich hoffe, das ist okay?«

»Klar. Das wird ihr bestimmt gefallen.«

Er griff nach der Folie und rollte sie aus, breitete das dünne Material über die von mir beim Saubermachen zusammengeschobenen Kisten und über das Laminat. Ich klebte die Seiten mit Malerkrepp an den Fußleisten fest.

»Ich hab gestern mal nachgerechnet«, sagte Bernd. »Hier hat seit knapp zehn Jahren niemand gewohnt.«

»So lange?« Na ja, dachte ich. So sah es hier allerdings auch aus.

Bernd griff nach dem Malerkrepp. »Dass die das nach all der Zeit jetzt doch vermieten … Scheinen inzwischen die Hoffnung aufgegeben zu haben, dass ihre Tochter zurückkommt.«

Ich legte den Kopf schräg. »Wo ist die denn?«

Er sah mich neugierig an. »Haben sie dir nichts davon erzählt?«

»Mir hat keiner was erzählt. Ich kenne die Vermieter überhaupt nicht. Mein Mann hat den Vertrag gemacht.«

»Dein Mann?« Bernd tat, als sähe er sich suchend um. »Und wo ist der?«

Da war es wieder, das Gefühl der Verlassenheit. Welcher Mann machte sich bei einem Umzug aus dem Staub? Ich erzählte Bernd dasselbe wie meinen Eltern. »Auf Geschäfts­reise.«

»Super Zeitpunkt für eine Geschäftsreise«, murmelte Bernd, tauchte die Rolle in die Wandfarbe, streifte sie mehrmals am Gitter ab und tauchte sie wieder ein, bis er zufrieden zu sein schien.

»Das hat sich sehr kurzfristig ergeben.« Ich hob wie bedauernd die Schultern. »Aber was war denn mit der Tochter?«

Bernd setzte die Rolle auf der Schräge an und bewegte sie auf und ab, sodass ein Streifen kräftigen Gelbs entstand. »Die Laura ist vor ziemlich genau elf Jahren hier aus diesem Haus verschwunden. Soviel ich weiß, aus diesem Zimmer.«

»Verschwunden? Wie meinst du das?«

Bernd strich seelenruhig weiter die Wand. »Man weiß nicht, wo sie geblieben ist«, erklärte er. »Es war heiß, so wie heute, aber es waren noch keine Ferien. Laura war, glaube ich, krank, sie hatte die Grippe oder so. Ihre Eltern waren beide berufstätig, der Pfarrer hatte eine Stelle als Seelsorger in einem Gefängnis in Frankfurt, die Marlies hat bei einer Versicherung gearbeitet. Und als sie nachmittags nach Hause kamen, war Laura weg. Wir haben alle wie verrückt nach ihr gesucht, obwohl gerade ein heftiges Gewitter runterkam.« Er tauchte die Farbrolle abermals in den Eimer. »Aber das Kind war nicht zu finden.«

Ich starrte Bernd Reuther fassungslos an. Er erzählte mir diese Geschichte so teilnahmslos, als sagte er die Lottozahlen von vor elf Jahren auf.

»Und du hast mitgesucht?«

Die Farbrolle färbte wieder die Schräge ein. »Tagelang. Es war furchtbar. Vor allem natürlich für die armen Eltern. Aber auch für Pascal, der war mit der Laura in einer Klasse.«

»Pascal ist …?«

Bernd hob die Augenbrauen. »Na, mein Sohn. Zwanzig inzwischen.«

In dem Moment fiel mir ein, dass er ihn gestern erwähnt hatte.

»Das ist ja schrecklich.« Ich starrte auf die mit Folie bedeckten Kisten in der Mitte des Zimmers, in das meine Tochter einziehen sollte. »Und niemand hat was gesehen?«, fragte ich noch einmal.

»Keine Menschenseele. Was meinst du, wie lange hier alle in Angst und Schrecken waren! Die Kinder wurden wochenlang zur Schule begleitet, jeder hat jeden verdächtigt. Krass war das.«

Und ich wohnte jetzt also in diesem Haus. Ob die Vermieter Stefan davon erzählt hatten?

Als das Telefon klingelte, schreckte ich aus meinen Gedanken. Ich musste mir unbedingt abgewöhnen, jedes Mal zu hoffen, dass es Stefan war und er mir alles erklären würde. Jetzt zum Beispiel, warum es ausgerechnet ein Haus sein musste, wo so etwas passiert war.

Ich polterte die Treppe hinunter und griff nach meinem Handy auf dem Abstelltisch im Flur. Mama, meldete das Display. Eines der wenigen Worte, die Mina schon lesen konnte.

»Hallo, Mama, was gibt’s?«, fragte ich. »Habt ihr einen schönen Urlaub?«

An ihrer Stimme merkte ich sofort, dass ihr etwas nicht passte. »Mina hat Heimweh«, erklärte sie knapp. »Wir haben alles versucht, aber es geht nicht.«

»Aber Mina hat doch noch nie Heimweh gehabt. Was sagt sie denn?«

»Dass sie nach Hause zu ihrer Mama will. Und zu ihrem Papa.« Dieser vorwurfsvolle Nachsatz durfte natürlich nicht fehlen.

Mina und Heimweh? Es konnte natürlich möglich sein. So vieles war plötzlich anders … Sonst war Mina ein unternehmungslustiges Kind, aber vielleicht brauchte sie in der derzeitigen Situation einfach die Nähe zu mir?

»Bist du noch dran?«, fragte meine Mutter.

»Klar. Gib mir Mina doch mal, ich rede mit ihr.«

»Sie ist gerade mit Papa unterwegs. Sie sammeln Blätter und Zweige für irgendein Spiel.«

»Na, aber dann scheint es ihr doch gut …«

»Nein, Anja, es geht ihr nicht gut. Sie ist tief verstört.«

Ich atmete tief durch. Möglichst leise. Wer hier verstört war, war wohl eher meine Mutter. Darüber, dass ihre Tochter nicht artig gewesen war: Ich hatte sie nicht in unsere Umzugspläne eingeweiht. Darauf stand die Höchststrafe, und die hieß in diesem Moment Entzug der zugesagten Unterstützung für die Ferien. Sollte Klein-Anja doch sehen, wie sie klarkam. Ich blinzelte. Anflehen würde ich meine Eltern garantiert nicht.

»Ist in Ordnung, Mama. Dann soll sie nach Hause kommen. Nur … es wäre klasse, wenn wir das auf morgen verschieben könnten. Wenn ihr das noch irgendwie durchhaltet.« Im Hintergrund hörte ich jetzt das Lachen meiner Tochter. Anscheinend war das Zweigesammeln erfolgreich verlaufen.

»Es geht um dein Kind«, sagte meine Mutter. »Deine Tochter hat Heimweh nach einem Zuhause, das es nicht mehr gibt. Papa und ich hatten uns so auf diesen Urlaub gefreut. Und jetzt das.«

»Mama, ich bin mir sicher, ihr könntet sie irgendwie ablenken. Und es wird ihr hier bestimmt gefallen. Es ist alles … ganz wunderbar.«

Mein Blick glitt über die Kratzer im Buchedekor-Laminatboden zu meinen Füßen und über die beschädigten Wände mit ihren Kratzern und Flecken. Morgen würde Bernd Reuther weiße Farbe besorgen und mit dem Streichen der restlichen Wände anfangen. Viel zu früh für einen Besuch meiner Eltern. Seit ich in dieses Haus gekommen war, hatte ich deren Unter-perfekt-geht-gar-nichts-Brille auf.

»Ihr könnt mir Mina an der Raststätte zwischen Seligenstadt und Bad Vilbel übergeben.« Wenn es sein musste, holte ich sie auch im Schwarzwald ab. Auf keinen Fall durften meine Eltern …

»Ach was, das ist Quatsch. Wir kommen einfach so gegen drei zu dir. Sollen wir Kuchen mitbringen?«

Nachdem ich aufgelegt hatte und mir klargeworden war, dass sich der Besuch meiner Eltern absolut nicht vermeiden ließ, war ich wild entschlossen, alles zu tun, um ihnen das Haus in einem 1-a-Zustand zu präsentieren. Wobei der Begriff »1a« so viel bedeutete wie »vertuschen, was das Zeug hält«. Was angesichts der Voraussetzungen echt schwierig war. Und wo loslegen? »Ein Plan«, murmelte ich und griff nach einem Abrissblöckchen.

Nachdem ich alles bis ins kleinste Detail notiert hatte, was meiner Meinung nach zu tun war, darunter auch der Punkt Schimmlige Dichtungen an der Duschwand im Badezimmer ausbessern, war mir klar, dass ich ein paar Abstriche machen musste. Dazu zählte auch dieser Punkt. Wenn Papa ins Bad kam und mit einem Blick die Misere erfasste, musste ich damit leben. Ich war zwar Superwoman, aber zaubern konnte ich nicht.

Der wichtigste Punkt war wohl die Küche. Ach, da fehlte noch ein Tisch. Ich schnappte einen weiteren Zettel und kritzelte all das darauf, worum ich Bernd bitten wollte; auch um die Reparatur dieses windschiefen Fensterladens zur Straße hin. Vielleicht konnte er einiges am nächsten Wochenende in Angriff nehmen – heute sicher nicht mehr, ich war schon heilfroh, wenn er Minas Zimmer fertigstrich. Der arme Mann. Wenn er das geahnt hätte, als er mir gestern Hilfe anbot: dass ich ihn gleich derart vereinnahmen würde. Aber ich hatte sonst niemanden. Und er schien ja auch nur allzu bereit, mir unter die Arme zu greifen.

Also, zuerst die Küche klarmachen, anschließend das Wohnzimmer, dann das Schlafzimmer. Wenn danach noch Zeit war, würde ich das Unkraut auf der Terrasse in Angriff nehmen.

Während ich durchs Haus rannte und wie wild meine Liste abarbeitete, steigerte sich der Groll auf meine Eltern immer mehr. Dabei traf meine Wut mehr Mama – mit Papa hatte ich nicht mal telefoniert. Mama war sowieso die Tonangeberin im Hause Sommer. Sie fuchste es am meisten, dass ich mir einen Mann wie Stefan ausgesucht hatte. Er war nämlich kein Arzt – dass ich eines Tages einen Arzt heiraten würde, so wie Mama, hatte für sie seit meiner Geburt festgestanden. Mein Vater, Dr. med. Peter Sommer, war Zahnarzt mit einer Praxis in Seligenstadt. Ich war seit jeher »die Tochter von Dr. Sommer« gewesen. Die wenigsten kannten meinen Vornamen. Mama war Apothekerin. Papa und sie sprachen buchstäblich dieselbe Sprache. Meine Wissbegierde auf dem medizinischen Sektor hätte eigentlich riesig sein müssen. Aber so kam es nicht. Ich hätte viel lieber Eltern wie Julia gehabt. Mit eigener Gärtnerei und viel Platz zum Toben.

Dass ich nach dem Abitur lieber eine Ausbildung zur Steuerfachangestellten machen wollte, statt zu studieren, hatte Mama und Papa total umgehauen. Sie hatten nie kapiert, dass ich die Nase voll hatte von dem elitären Getue. »Unsere Tochter studiert Medizin!« – allein der Gedanke …

Diesen Gefallen hätte ich ihnen nie getan. Genauso wenig wie den, mit einem Arzt anzubändeln. Das, so hatte ich mir geschworen, würde nie passieren.

17

Ich sah mir dich von weitem an.

Wie du dich bewegtest.

Wie du dir das Haar hinters Ohr strichst.

Die Stirn krauszogst, wenn du nachdachtest. Oder gegen die Sonne gucktest.

Es sieht ganz ähnlich aus, wenn sich das Gesicht im Schmerz verzieht.

Deshalb sehe ich mir so gern Gesichter an; man kann in ihnen lesen wie in einem Buch.

Wenn sie ungeschminkt sind, umso besser. Dann sieht man alles.

18

Vrapim.

Laufen.

Sie hatte den Sonntag irgendwie hinter sich gebracht. Mirsad hatte sich mit anderen jungen Leuten in der Mulde getroffen, sie war mit Ajdin zum Grillen in den Garten gegangen. Herr Lorenz war nicht noch einmal aufgetaucht, vielleicht hatte er seine Frau im Krankenhaus besucht.

Nun war Montagmorgen, und Nerina war auf dem Rückweg von ihrer Tour. Zuerst den Umschlag von Mirsad abgelegt, den anderen eingesteckt, danach hatte sie etwas eingekauft und lief nun mit den Tüten nach Hause. Der Einkauf hatte gut geklappt. Sie hatte versucht, sich von der Furcht vor der Panik abzulenken, indem sie die Regale zählte. Oder indem sie die Preise der Waren zusammenrechnete, die sie in ihren Wagen lud. Der Doktor hatte ihr dazu geraten. Manchmal klappte es gut. Manchmal nicht. Es war schon vorgekommen, dass sie ihre Einkäufe stehenlassen musste, weil sie es keine Sekunde länger im Supermarkt aushielt. Wenn diese Welle über sie hereinbrach, die ihr den Atem nahm, gab es nur die Flucht. Und den Griff zum Handy. Ein Anruf bei Ajdin, der versuchte, sie zu beruhigen, oder sie manchmal sogar anschrie, sie solle sich zusammenreißen. Anschließend zum Doktor. Oder nach Hause, in der Hoffnung, dass die vertraute Umgebung sie beruhigte.

Ihre Wohnung lag im dritten Stock eines Mehrfamilienhauses im Sudetenring sechsunddreißig. Eben lief sie an der Hausnummer siebzehn vorbei und warf einen Blick auf die Fußmatte vor der Haustür. Die war neu. Nerina hob den Blick und entdeckte im Küchenfenster eine Frau, die telefonierte. Ihre Augenbrauen waren zu einer Linie zusammengezogen, das dunkelblonde Haar im Nacken zu einem kurzen Zöpfchen gebunden. Der üppige Busen, der gerade eben von einem sommerlichen Hemdchen, vielleicht auch einem Nachthemd bedeckt zu sein schien, bebte. Jetzt drehte die Frau sich um und sah Nerina ins Gesicht. Schnell senkte sie den Blick und lief weiter. Hatte sie die Frau etwa angestarrt? Wie unangenehm. Sie war so überrascht gewesen. Das Haus war also vermietet. Oder verkauft? Eine Frau lebte dort. Vermutlich auch ein Mann. Kinder? Bestimmt eine glückliche junge Familie. Sorgenfrei.

Ganz im Gegensatz zu ihr. Das erste Mal war es an einem ganz normalen heißen Sommertag passiert. Etwa drei Wochen nach dem, was in der Zeitung als »Lauras Verschwinden« geschildert wurde. Sie hatte gedacht, sie hätte einen Herzinfarkt. Wie sollte sie dieses Gefühl beschreiben? Neben der Übelkeit, die ihren Körper überschwemmt hatte, war da diese neue Empfindung gewesen, als sei in ihrer Brust ein Loch. Als ziehe Wind durch ihre Nervenbahnen und reiße ihr Leben mit sich. Doch gleichzeitig schlug ihr Herz so schnell, dass sie glaubte, es würde explodieren. Du stirbst!, hatte sie gedacht, und dadurch war die Panik ins Unermessliche gestiegen.

Der Doktor hatte nichts feststellen können. Nichts am Herzen zumindest. Er hatte sie gefragt, ob sie dieses Gefühl schon öfter gehabt hätte. Nein, hatte sie nicht. Aber seit diesem Tag unzählige Male. Deshalb trug sie immer ihr Handy bei sich. Wenn sie es einmal vergaß, brach allein deshalb Panik über sie herein.

Einmal verbrachten sie und Ajdin zwei Stunden in der Notaufnahme, weil Nerina wieder einmal glaubte, ihr wolle das Herz stehenbleiben – und dann die Diagnose: alles normal. Ajdin hatte den Mund verzogen, sie brachte ihn bei seinem Arbeitgeber in Erklärungsnot. Und auf dem Heimweg noch immer das Gefühl, als müsse sie ersticken. Am liebsten wäre sie, als sie zu Hause ankamen, direkt wieder zurückgefahren.

»Jetzt ersticke ich aber!«, hatte sie gekeucht, denn es war nochmals enger in ihrer Kehle geworden. Ajdin hatte sie neben sich aufs Sofa gezogen, ihr beruhigend über den Rücken gestrichen, aber das verschlimmerte die Sache noch. Inzwischen wusste sie, dass sie sich nicht aufs Atmen konzentrieren durfte. Besser war es, sie lief durch die Gegend und brabbelte ein paar leichte Rechenaufgaben vor sich hin, die sie ablenkten. Oder aber sie schaltete zu Hause das Radio ein, HR4, konzentrierte sich auf die deutschen Texte und versuchte mitzusingen, denn auch das regulierte die Atmung. Doktor Hagedorn hatte ihr zu alldem geraten, als sie das erste Mal bei ihm gewesen war. Inzwischen unzählige Male. Er hatte eine beruhigende Wirkung auf sie, denn er nahm sie beim Arm und erklärte ihr alles ganz genau. Lungenvolumen, EKG. Auch mit ihrem Herzen war alles in Ordnung, das versicherte er ihr immer wieder.

Als sie die Wohnungstür aufschloss, rief Mirsad ihr gleich durch seine verschlossene Zimmertür entgegen: »Hast du es gekriegt?«

Beim letzten Besuch hatte der Doktor sie wieder gefragt, woher die blauen Flecken an ihrem Bein kämen. Es waren ja nicht die ersten gewesen.

»Gestoßen an Tisch«, hatte sie geantwortet.

»Mehrmals?«

»Ja.«

Er hatte sie durchdringend angesehen. »Frau Arifaj, es ist in diesem Land verboten, Frauen zu schlagen.«

»Mann schlägt nicht«, hatte sie entgegnet. Hätte sie ihm nur nie ihr Bein gezeigt. Aber die Flecken hatten ausgesehen, als könnte es auch etwas Schlimmes sein. Eine Blutvergiftung zum Beispiel.

Er hatte ihr eine Karte zugesteckt, von einem Haus für Frauen. Sie hatte das Ding auf dem Heimweg in den nächsten Papierkorb segeln lassen.

»Ich habe es!«, rief sie leise durch Mirsads Tür und zog unter ihrer Strickjacke das hervor, worauf er wartete.

Sie sah nur seine Hand, die nach dem Umschlag griff.

»Firma dankt«, sagte er. Dann zog er die Tür wieder hinter sich ins Schloss.

Nerina wandte sich ab, ihre Gedanken glitten schon wieder in die Vergangenheit. Damals, als sie nach Deutschland geflüchtet waren, hatten sie nach der Ankunft im Auffanglager in Hamburg ihre Kusine Radije angegeben, die zu der Zeit bereits in Frankfurt lebte und sich um sie kümmern konnte. Daraufhin waren sie nach Schwalbach im Taunus gekommen, wo es weiterging mit dem Asylverfahren. Nerina ging in die Küche und setzte sich an den Tisch. Arbeiten durften sie während dieser Zeit nicht. Auch nicht in den Kosovo reisen, was ohnehin unmöglich war. Nach Ablauf von drei Jahren – in dieser Zeit waren sie schon auf den Heilsberg gezogen – erhielten sie endlich die ersehnte Karte: die unbefristete Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis. All diese Zeit hatte es gedauert, um zu prüfen, ob Ajdin als ­ehemaliger Untergrundkämpfer tatsächlich ein politischer Flüchtling war.

Warum die Behörden bezweifelt hatten, dass Ajdins Leben bedroht war, sollte er in den Kosovo zurückkehren, war Nerina bis heute ein Rätsel. Er hätte keinen Fuß nach Serbien setzen können, ohne dass die Serben ihn noch am selben Tag ermordet hätten. Auch, wenn der Krieg vorbei war. Dass die NATO sich eingemischt hatte, hieß nicht, dass Männer wie Ajdin sicher waren. Warum sollten jene, die Mütter und Kinder, Alte und Säuglinge getötet hatten, sich plötzlich geändert haben?

Als kleines Mädchen lebte sie in einem Dorf in den Bergen, zusammen mit ihren fünf Geschwistern, zwei Jungen, drei Mädchen, sie in der Mitte. Sie wohnten in einem Haus mit acht Erwachsenen und siebzehn Kindern. Ringsherum Gebirge, steiniges Ackerland, nur ein hartes Auskommen. Ihr Vater hatte als Gastarbeiter in Deutschland gearbeitet und Geld geschickt. Viel wusste Nerina nicht über diese Zeit, sie erinnerte sich nur an seine Geschenke, wenn er heimkam. Anfang der 1980er Jahre kehrte er ganz zurück. Damals ging es den Albanern im Kosovo gut. Sie konnten ihre Kultur und Sprache leben. Nerinas Familie war muslimisch, doch sie hatten nie streng religiös gelebt. Im Gegenteil, als ihr Vater wieder da war, hatte er noch weniger Wert auf Glaubenstraditionen gelegt und stattdessen versucht, seinen Töchtern eine gute Bildung zu ermöglichen, woran Nerina jedoch kein Interesse gehabt hatte. Das war dumm gewesen, aber sie hatte eben gedacht, sie würde sowieso eines Tages heiraten und versorgt sein. Und so war es ja auch.

Natürlich hatte es, nachdem sie in Deutschland angekommen war, Kontakte zu anderen Kosovo-Albanern gegeben, allen voran zu ihrer Kusine Radije, die sich anfangs fürsorglich um Nerina und ihre Familie kümmerte. Sie half ihnen, die Wohnung zu finden, beim Umgang mit den Ämtern und dabei, Mirsad in der Grundschule anzumelden. Nerina hatte solche Hoffnung damit verbunden, dass Mirsad in die Schule kam! Sie hatte gedacht, dass sie dadurch Kontakt zu Leuten bekäme, die in diesem Land zu Hause waren, in dem sie selbst sich noch immer so fremd fühlte.

Mit der Sprache hatte sie sich seit jeher schwergetan. Manchmal hatte sie das Gefühl, als ob in ihrem Gehirn ein paar Zellen fehlen würden. Mirsad bestätigte ihr dies beinahe täglich. »Du bist so doof, dass es knallt«, pflegte er zu sagen. Immerhin diese Redensart verstand sie.

Radije hatte viele Freundinnen gehabt, man traf sich privat, immer mit zahlreichen Kindern, und waren die Wohnungen auch noch so klein. Es hatte Tage gegeben, da hatte Nerina ihre Sorgen vergessen können, Tage, an denen sie fast sicher gewesen war, dass alles gut war und bleiben würde.

Der Kontakt zu ihrer Kusine war inzwischen abgebrochen. Sie und ihre Freundinnen waren weitergegangen, während Nerina an irgendeiner Stelle stehengeblieben war. Anders als andere Landsleute war sie auch nie in der Lage gewesen, zurück in die Heimat zu fahren, und sei es nur für einen Urlaub. Sie hatte sich in sich selbst zurückgezogen. Hatte alle Bemühungen, sich zu integrieren, aufgegeben.

Ajdin wusste nicht, weshalb. Er regte sich ständig darüber auf, dass sie so schlecht Deutsch sprach. Er hatte keine Lust, immerzu als ihr Dolmetscher zu fungieren, zu Mirsads Elternabenden zu gehen und sie zu Ämtern und Ärzten begleiten zu müssen. Er fand, dass das mit der Sprache zu ihren Pflichten gehöre. Sie lebe nun einmal hier und nicht im Kosovo. Überhaupt schien er mit seiner Vergangenheit abgeschlossen zu haben. Mit Traditionen.

Wenn sie ihn umgekehrt darum bat, doch wenigstens zum Freitagsgebet zu gehen, weigerte er sich. Immerhin trank und rauchte er nicht. Sie hoffte inständig, dass Ajdin genügend gute Tage sammelte, sodass er am Tag der Abrechnung ins Paradies Einzug halten konnte.

Ihre eigene Sünde wog viel schwerer. Manche Sünden waren nicht mit guten Taten aufzuwiegen. Niemals.

Allein bei dem Gedanken griff sie sich wieder an die Brust. Ihr Hals wurde eng. Nein, bitte nicht. Sie konnte doch dem Doktor nicht schon wieder auf die Nerven gehen!

19

Mir war nur noch zum Schreien zumute. Noch am Abend zuvor, nachdem das Kinderzimmer gestrichen und eingerichtet war und ich durch die Plackerei jeden einzelnen Muskel meines Körpers spürte, hatte ich mit Hilfe von Bernd, dem ich allerdings nichts von der Misere mit meinen Eltern erzählte, nach Betreuungsmöglichkeiten für Mina recherchiert. Doch schon heute Morgen hatten sich all meine Hoffnungen zerschlagen.

Die Anmeldefristen für Notfallbetreuungen und Ferienprogramme waren längst abgelaufen, und ich hatte keine Chance, Mina noch irgendwo unterzubringen. »Es sei denn, es springt jemand ab, aber da sind viele Familien vor Ihnen auf der Warteliste«, bekam ich zu hören. Keine Chance also. Mina war für die nächsten Wochen bei mir, wo ich doch – neben allem, was noch im Haus zu erledigen war – arbeiten gehen musste!

Nun sah ich mich in der Küche um, betrachtete die herumstehenden Utensilien, die Teller in allen Größen. Ich besaß sogar Platzteller und Spaghettiteller, außerdem Vorspeisentellerchen, selbstverständlich mit den passenden Messern. Nicht, dass ich selbst diese Dinge jemals angeschafft hätte – das meiste davon hatte Stefans Eltern gehört. Für den ganzen Kram war hier überhaupt kein Platz. Außerdem waren es nur noch wenige Stunden, bis meine Eltern mit Mina kamen.

Entschlossen ging ich in den Flur, ergriff einen der leeren und zusammengefalteten Kartons und baute ihn in der Küche wieder zusammen. Hinein wanderten all die Dinge, die ich hier nicht benötigte. Eigentlich noch nie benötigt hatte. Auch die bereits eingeräumten Schränke nahm ich mir vor. Im Grunde brauchte ich nur zehn einfache Wassergläser und eine Handvoll Weingläser. Sechs Frühstücksbrettchen, je sechs tiefe und flache Teller. Einen einfachen Bestecksatz. Ein paar Töpfe.

Ungläubig betrachtete ich meinen Besitz. Mir war noch nie aufgefallen, dass ich die Kücheneinrichtung einer Profiköchin besaß. Mehrere japanische Messer. Hatte ich die angeschafft? Vermutlich damals, als Stefan und ich kurzzeitig auf einem Sushi-Trip gewesen waren. Für die Anschaffungskosten hätten wir vermutlich ein halbes Jahr lang Sushi essen gehen können. Aber Geld hatte nie wirklich eine Rolle gespielt. Stefan verdiente gut, mein eigenes Gehalt legte ich fast komplett zur Seite, wir finanzierten damit Urlaube und Extraanschaffungen.

Während ich Schränke und Anrichte von unnötigen Dingen befreite, über die fettigen Kacheln wischte und mich nach und nach zu meinem Ziel vorarbeitete, versuchte ich mir klarzumachen, dass es vielleicht auch etwas Gutes hatte, sich von Ballast zu befreien. Das hätte ich in Dornholzhausen nie getan. Weil nichts mir gehörte.

Kurz vor drei war ich geduscht, und die Kartons mit den wiedereingepackten Utensilien standen aufeinandergestapelt im Keller. Danach fegte ich noch die Terrasse. Während ich damit beschäftigt gewesen war, hatte unser Nachbar, dessen Grundstück hinten an unseren Garten grenzte, mir zugewunken, und wir hatten uns kurz einander vorgestellt. Glücklicherweise war dieser Herr Lorenz zurückhaltend und stellte mir keine Fragen. Nur herzlich willkommen hatte er mich geheißen.

Meine Eltern waren pünktlich wie immer. Es klingelte um genau 14:58 Uhr. Als ich die Tür aufriss, weil ich auf der Stelle Mina in die Arme schließen wollte, auf die ich mich natürlich trotz aller Umstände sehr freute, strahlte Bernd Reuther mich an. Neben sich zwei Farbeimer und ein rothaariges Mädchen in Minas Alter, das mich schüchtern anlächelte.

»Ich musste die Franzi mitbringen, ich hoffe, das ist okay?«, fragte er. »Sie wird nicht stören.«

»Hallo, Franzi«, grüßte ich das Mädchen verblüfft und sagte zu Bernd: »Waren wir verabredet?« Hatte ich etwas verschwitzt?

Er hob die Augenbrauen. »Komme ich ungelegen? Ich hab Feierabend, da dachte ich, ich mach schon mal weiter.« Er lachte. »Ist ja noch genug zu tun.«

»Ich hab nicht mit dir gerechnet …«, begann ich, als ich aus dem Augenwinkel ein herannahendes Auto wahrnahm, das direkt vor dem Haus zum Stehen kam. Minas schmales Gesichtchen war hinter der getönten Rücksitzscheibe zu erkennen. Ihre Augen schienen so groß wie bei einem Mangamädchen.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite bewegte sich schon wieder die Gardine.

»Das kann nicht dein Ernst sein«, waren Mamas erste Worte, während sie die Wagentür öffnete. Sie trug ein Seidenkleid und rosafarbene Sandalen.

Bernd Reuther wandte den Kopf und sah dann wieder zu mir zurück.

»Oh«, sagte er. »Da bin ich wohl im falschen Moment gekommen? Familienfeier?« Er deutete auf mein einfaches T-Shirt-Kleid. »Bist du deshalb so schick? Hast du Geburtstag?«

»Nein, nein«, entgegnete ich und gab die Tür frei. »Kommt ruhig rein.« Vielleicht war es gar nicht schlecht, wenn er mit seiner Tochter hier war. Zumindest Mama würde sich dann zusammenreißen.

Während Bernd mit Franzi an mir vorbeiging, stieg Papa aus dem Auto, zögerte und sah ungläubig zum Haus. Einzig Mina, die aus dem Auto gesprungen war, warf sich mir ohne das geringste Zögern in die Arme. Ich steckte meine Nase in ihr lockiges Haar und sog ihren Duft ein. Doch meine Tochter löste sich schon wieder von mir. »Ich wollte so gern mein neues Zimmer sehen!«, rief sie. »Ist es schon fertig?«

Gott, hatte ich sie vermisst, das wurde mir erst in diesem Moment klar.

»Gerade fertig geworden«, flüsterte ich und drückte sie noch einmal an mich. Dann richtete ich mich auf und sah zu meinen Eltern, die beide im Rahmen des nicht vorhandenen Gartentors stehen geblieben waren und sich offenbar nicht entschließen konnten, weiterzugehen. Mama griff sogar nach Papas Hand, das hatte ich lange nicht gesehen. In der anderen hielt er Minas Reisetasche.

»Traut euch ruhig.« Ich bemühte mich um ein Lächeln. Wie gut, dass Bernd da war. Und die Mädchen.

Ich zog Mina mit mir ins Haus. »Unser neues Zuhause, mein Schatz«, sagte ich feierlich. »Es ist noch nicht ganz fertig, aber das wird schon.« Innerlich gratulierte ich mir zu meiner eigenen schauspielerischen Leistung.

Mina schien sich nicht an den abgestoßenen Wänden, dem zerkratzten Fußboden und der nackten Glühbirne im Flur zu stören. Auch nicht an Bernd und seiner Tochter. Stattdessen stellte sie allerdings gleich die gefürchtetste aller Fragen: »Wann kommt Papa?« Offenbar hatte es doch ein bisschen gestimmt mit dem Heimweh.

Ich schluckte hart. »Er ist doch gerade erst weggefahren, Schatz.«

Bernd und seine Tochter waren damit beschäftigt, die Türrahmen im Flur abzukleben. Jetzt ging er vor Mina in die Hocke.

»Du bist also die Mina, ja?« Nun deutete er auf seine eigene Tochter. »Das ist Franzi. Da könnt ihr ja gleich zusammen spielen.«

Franzi hielt eine Rolle Klebeband in der Hand und lächelte schüchtern zu uns herüber.

Mina sah fragend zu mir. »Wer ist der Mann, Mama?«

»Ich helfe hier, solange dein Papa auf Geschäftsreise ist«, sprang Bernd in die Bresche.

Na ja, dachte ich, eher, bis hier alles fertig ist. Je nachdem, was zuerst eintritt.

In diesem Moment kamen meine Eltern endlich ins Haus. Mamas Miene schien wie versteinert, und Papa sagte, während er Minas Tasche im Flur abstellte: »Also, Anja …«

»Ich hatte euch angeboten, Mina auf dem Rastplatz abzuholen«, unterbrach ich ihn. »Dann hättet ihr das Haus erst gesehen, wenn alles fertig ist.«

Mama schnaubte. »Wenn alles fertig ist? Hier ist doch nichts mehr zu retten.« Sie ging unaufgefordert in die Küche, ihr erschrockenes Stöhnen war nicht zu überhören.

»Die Küche sieht super aus, oder?«, rief Bernd. »Ist es nicht klasse, wie Ihre Tochter die so schnell in Schuss gekriegt hat? Fehlen nur noch die Farbe und ein Tisch.«

Papa schielte ebenfalls um die Ecke in die Küche hinein. Dann wandte er sich wieder mir zu. »Kann ich dich mal unter vier Augen sprechen?«

Ich hielt Minas Hand umklammert. Jetzt schwitzte ich doch. »Warum?«

»Jetzt!«

Wie ich das hasste. Ich ließ Minas Hand los und winkte Franzi zu mir. »Wollt ihr schon mal nach oben in Minas Zimmer gehen? Ich komme gleich nach.«

Mit einem freudigen Quieken huschte Mina die Treppe hin­auf, dicht gefolgt von Franzi. Ehe ich überlegen konnte, wohin ich mit Papa gehen sollte, um unter vier Augen zu sprechen, streckte Bernd ihm die Hand hin.

»Bernd Reuther«, stellte er sich vor. »Packen Sie doch lieber ein bisschen mit an. Es gibt genug zu tun.« Er machte eine ausladende Handbewegung. »Aber das kriegen wir hin. Reden können Sie immer noch.«

Papa sah Bernd an, als wollte er ihn schlagen. »Wann ich mit meiner Tochter spreche, bestimme ich allein«, fuhr er ihn an.

»Du hast sicher ein Schlafzimmer«, sagte Mama, die eben aus der Küche gekommen war und den Wortwechsel verfolgt hatte. »Gehen wir dahin.«

»Hast du dich von Stefan getrennt?« Mama schloss die Schlafzimmertür hinter uns. »Bist du mit diesem …« – sie wedelte mit der Hand in Richtung Tür – »… Kerl da draußen zusammen?«

Ich verdrehte die Augen. »Er ist ein Nachbar. Ich habe ihn erst vor zwei Tagen kennengelernt.«

»Und da lässt du ihn einfach so ins Haus? Findest du das nicht etwas leichtsinnig?«

»Er ist Handwerker, er hilft mir.«

Mama schüttelte den Kopf. »Hier brauchst du eine Abrissbirne und keinen Handwerker. Wie konntet ihr dieses Haus mieten, Anja? Ich begreife nicht, was euch dazu …«

»Mama, jetzt hör doch mal zu.« Ich schluckte. »Wir brauchten etwas, wo wir kurzfristig wieder rauskommen. Und hier haben wir nur eine Kündigungsfrist von vier Wochen. Dies ist eine Zwischenlösung.« So genau wusste ich das gar nicht. Aber es klang logisch.

Meine Mutter hob in einer hilflosen Geste die Hände. »Eine Zwischenlösung wofür? Ich verstehe das nicht.«

»Wir wollen vielleicht auswandern.« Ein spontaner Einfall, noch dazu ein guter. Konnte doch sein, dass wir das vorhatten.

Mein Vater sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren. »Auswandern? Und wohin?«

»Dubai. Oder Katar.« Hatte Stefan nicht öfter davon gesprochen? Dass in Dubai das Geld auf der Straße lag? Oder in Katar. Sie suchten dort immer noch Leute, die die Bauleitung bei den Fußballstadien übernahmen. Ich fuchtelte mit den Händen. »Wie gesagt, wir denken darüber nach. Kann auch sein, dass doch nichts daraus wird. In dem Fall suchen wir uns natürlich wieder was Vernünftiges.«

»Und Stefan ist jetzt wo genau?« Mama beäugte mich misstrauisch.

»Dubai. Er arbeitet in Dubai.« Ich fühlte mich inzwischen so betäubt wie an dem Tag vor zwei Wochen, als Stefan mir die Sache mit dem Hausverkauf eröffnet hatte. Ich hatte meine Eltern noch nie so sehr belogen wie in dieser Zeit. Kleine Notlügen, ja, aber nie so etwas Fundamentales.

Mein Vater sah mich entsprechend ungläubig an. »Du würdest mit Mina in ein streng muslimisches Land ziehen? Ans andere Ende der Welt? Wo täglich Menschen hingerichtet werden? Wo Frauen keinerlei Rechte haben?«

Hier hab ich ja auch keine, dachte ich sarkastisch. Katar zu nennen war wirklich eine saublöde Idee gewesen. Aber jetzt war es zu spät. Wenn sich nur Stefan endlich melden würde. Er musste doch wissen, dass wir gerade eingezogen waren! Interessierte ihn wirklich kein Stück, wie es mir dabei ergangen war? Ich hatte so unendlich viele Fragen an ihn. Vielleicht würden wir ja wirklich auswandern. Eine Befreiung von meinen Eltern wäre es allemal.

»Peter, lass uns fahren.« Mama nahm Papa am Arm. Sie ließ ihren Blick einmal durch den Raum wandern und schien sich zu schütteln.

Mir gefiel auch nicht, was sie sah. Unser Kingsize-Bett füllte den Raum fast vollständig aus und verdeckte die Heizung. Gegenüber dem Bett hatten die Umzugsleute den schwarzen Spiegelkleiderschrank aus unserem ehemaligen Gästezimmer aufgebaut, er stammte noch aus meiner allerersten Wohnung.

Als meine Mutter die Schlafzimmertür aufriss, als sei sie kurz vorm Ersticken, standen Mina und Franzi mit Pinseln in den Händen im Flur und fuhren damit im Zickzack an der Wand entlang.

»Guck mal, Mama, Bernd hat uns erlaubt, zu helfen!«

»Toll macht ihr das«, lobte ich und warf Bernd einen dankbaren Blick zu. »Also, bis Stefan wieder da ist«, wandte ich mich wieder an meine Eltern, »machen wir es uns hier nett.« Ich sagte diesen letzten Satz auch deshalb hier im Flur, damit Bernd Reuther nicht auf falsche Gedanken kam.

Mama strich sich übers Kleid und schien es nicht abwarten zu können, endlich das Haus zu verlassen.

»Gut«, sagte Papa, »dann wollen wir mal.«

»Fahrt ihr jetzt wieder in den Schwarzwald?« Mina tauchte die Spitze des Pinsels in die weiße Farbe ein.

»Erst mal heim«, erwiderte meine Mutter. »Und dann schauen wir weiter.«

»Danke, dass ihr sie gebracht habt«, sagte ich noch und ging mit zur Tür.

Heute gab es kein Küsschen links, Küsschen rechts auf die Wangen, wie sonst. Und den Kuchen schienen meine Eltern auch vergessen zu haben. Papa schien es verdammt eilig zu haben, wegzukommen, er sprang mit einem Satz auf die Straße, um zur Fahrertür zu gelangen, und wurde dabei beinahe von einem Auto erfasst.

Der Wagen kam mir bekannt vor. Das war doch dieser Opel? Am Lenkrad saß derselbe Typ, der vorgestern hier den tätowierten Mann mit Hund fixiert hatte. Obwohl er Papa fast über den Haufen fuhr, schenkte der Typ ihm keinen Blick. Dafür schaute er mich im Vorbeifahren so grimmig an, als wollte er eine Warnung aussprechen.

Fröstelnd schlang ich die Arme um mich und ging zurück ins Haus. So ein Quatsch.

20

Seitdem Clemens das Haus vermietet hatte, ging es in Marlies’ Kopf zu wie in einem Karussell. Sie wollte so gern hin! Die getrockneten Blumen an Lauras Zimmerbalken retten. Hinter die Wand unter der Dachschräge schauen. An ihre Tochter denken. Gestern war Lauras Geburtstag gewesen, und sie hatte ihr nichts gebracht.

Als sie aus Bad Vilbel nach Steinau gezogen waren, hatte sie hier niemanden gekannt. Doch es hatte keine vier Wochen gedauert, bis die erste ihrer neuen Nachbarinnen ihr diesen Blick zugeworfen hatte, den sie nur zu gut kannte: Mitleid, Neugierde, Unsicherheit, Grusel. Auf dem Heilsberg hatte es Leute gegeben, die die Straßenseite wechselten, wenn sie ihnen entgegenkam, als hätte sie eine ansteckende Krankheit. Andere hatten sie am Arm genommen und mit eindringlichem Blick behauptet, sie könnten sich vorstellen, was sie durchmachte. Die in Steinau hatten sich das alsbald auch vorstellen können.

Marlies schob ihren Stuhl zurück. Das quietschende Geräusch, das die Stuhlbeine auf den Fliesen verursachten, holte sie endgültig ins Hier und Jetzt. Sie sah auf die Uhr. Schon kurz nach vier. Clemens hatte heute frei und wollte doch noch einkaufen fahren. Wahrscheinlich hatte er die Zeit wieder vergessen, beschäftigte sich mit dem Schicksal anderer. Für deren Nöte brachte er viel Verständnis auf – für Marlies’ Bedürfnisse hingegen nicht. Die Miete würde ihnen doch guttun, hatte er gesagt. Und damit vermutlich darauf angespielt, dass ihre Selbstständigkeit als Lektorin nicht allzu viel abwarf.

Nachdem Laura verschwunden war, hatte Marlies bei der Versicherung gekündigt, wo sie bis dahin als Textchefin in der Unternehmenskommunikation gearbeitet hatte. Seither redigierte sie belletristische Texte.

Sie hätte ihrem Mann vorwerfen können, er habe nicht getrauert. Dabei wusste sie, dass jeder Mensch anders mit Trauer umging. Clemens hatte sich ab dem Moment, in dem klar war, dass Laura verschwunden blieb, in sich selbst zurückgezogen. Stundenlang aus dem Fenster gestarrt, ähnlich wie sie selbst. Doch er hatte im Gegensatz zu ihr keine einzige Träne vergossen – zumindest hatte sie nichts davon mitbekommen.

»Clemens?«, rief sie durchs Haus, ihre Stimme klang kratzig wie die einer alten Frau. Sie hatte irgendwann jenseits der fünfzig festgestellt, dass ihre Stimme sich veränderte. Es lag plötzlich ein schwaches Vibrieren darin, das früher nicht da gewesen war. Inzwischen war sie fast sechzig und hatte sich daran gewöhnt. Andere haderten mit dem Älterwerden, sie nicht. Als Laura geboren wurde – jahrelang herbeigesehnt und schon nicht mehr für möglich gehalten –, war Marlies Ende dreißig gewesen. Damals noch eine absolute Ausnahme, war so etwas heute normal. Laura schien es nie gestört zu haben, dass ihre Eltern älter waren als die ihrer Spielkameraden, nur dass ihr Papa so streng war, darüber hatte sie oft geklagt. Clemens brachten diese Beschwerden auf die Palme. Wenn man so einen gleichgültigen Vater hätte, wie er einen gehabt hatte, dann hätte man Grund zur Klage, sagte er stets. Der sei einer gewesen, der nie einschritt. Clemens hingegen hatte vieles verboten. Vor allem Lauras wilde Spiele. Während andere Mädchen sich an Karneval als Prinzessinnen verkleideten, war Laura stets als Cowboy gegangen. Mit qualmender Pistole und jeder Menge Munition bewaffnet, war sie in ihrem Element gewesen. Clemens hatte Probleme damit gehabt, und wenn es ihm zu bunt wurde, Pistolen und Verkleidungen beschlagnahmt. Dabei war doch alles ganz harmlos. Einzig mit einer muslimischen Frau aus der Nachbarschaft hatte es Probleme gegeben. Da hatte Laura es aber auch wirklich übertrieben.

»Du hast gerufen?«, unterbrach Clemens ihre Gedanken.

Sie sah ihn an. »Wolltest du nicht noch einkaufen?«

Er verschränkte die Arme. »Bist du immer noch sauer?«

»Ich weiß nicht, ob ›sauer‹ der richtige Ausdruck ist«, antwortete sie. »Ich hätte einfach gestern gern ein paar Blumen ins Haus gebracht.« Und den Brief aus dem Hohlraum gefischt, bevor er jemandem in die Hände fällt, fügte sie in Gedanken hinzu.

»Lass uns doch demnächst mal hinfahren und die Leute begrüßen«, schlug Clemens vor. »Dann fällt es dir vielleicht auch leichter, zu akzeptieren, dass das Leben weitergeht.«

Für dich vielleicht, dachte Marlies. »Haben die Leute Kinder?«

»Ein Mädchen, soviel ich weiß.«

Sie sah ihn entgeistert an. »Du vermietest das Haus an ein Paar mit einem Mädchen?«

»Leute haben nun mal Kinder. Jungen und Mädchen. Diese haben ein Mädchen. Hätte ich sie deshalb nicht nehmen sollen?«

»Wie alt ist das Kind?«

»Weiß ich nicht. Ich habe nicht danach gefragt, und ich habe mir auch keine Bilder von ihr zeigen lassen.«

Marlies hatte gar nicht bemerkt, dass sie Luft holte, und war von ihrem eigenen Brüllen überrascht. »Wie kannst du nur? Warum eine Familie mit einem Mädchen?«

Clemens hob abwehrend beide Hände. »Der Mann war der Erste, der anrief. Und sie waren in einer Notsituation. Mussten aus einem anderen Haus raus.«

»Ich verstehe nicht, weshalb du mir das antust, Clemens«, sagte sie schwach.

Er nahm sie bei den Schultern. »Damit du endlich aufwachst, Marlies. Vielleicht hilft es dir, wenn wir hinfahren und du siehst, dass dort jemand lebt. Es kann so nicht weitergehen. Wir wissen nicht, was mit Laura geschehen ist. Werden es vermutlich niemals erfahren. Wenn du willst, mache ich einen Termin mit den Leuten. Nur kurz zum Händeschütteln. Und dann schließen wir das Kapitel ab. Es wird Zeit.«

Wahrscheinlich hatte er recht. Irgendwann musste sie abschließen. Wenn es sich nur nicht so anfühlen würde, als würde sie ihre Tochter im Stich lassen.

21

Wir kamen gut voran. Bernd hatte sich die Zimmerdecken in Küche und Wohnzimmer vorgenommen und würde auch die Wand an der Treppe nach oben übernehmen. Ich versuchte mich am Streichen der Wände, bei denen Bernd die Löcher mit irgendeiner Masse ausgestopft hatte. Meine Gedanken kreisten dabei immer wieder um die Tatsache, dass ich mit einem Wildfremden mein neues Zuhause herrichtete, und nicht mit meinem Mann. Dabei hätte Stefan die Hälfte der Zeit sowieso nur herumgestanden. Er war wirklich nicht der geborene Handwerker. Er plante gern Bauprojekte; für die Umsetzung waren andere zuständig.

Mina trug inzwischen ihren Badeanzug und war mit Franzi wegen des Farbgestanks in den Garten geflüchtet. Die Mädchen hatten aus dem blühenden Unkraut einen hübschen Strauß gepflückt, der jetzt in einer schlichten Glasvase auf der Fensterbank in der Küche zur Geltung kam. Morgen würde ich Fenster putzen, vielleicht kam dann auch noch ein bisschen mehr Licht ins Dunkel der Zimmer.

Gerade als ich den letzten Pinselstrich neben dem Fensterrahmen in der Küche getan hatte, hörte ich Mina aus dem Garten rufen. Oder eher schreien. Eilig legte ich den Pinsel auf einem Küchenkrepp ab und rannte durch Flur und Wohnzimmer. Dort schlängelte ich mich an Bernd vorbei, der gerade die Decke strich.

»Was ist los?«, fragte er.

Auf der Terrasse rief ich nach meiner Tochter, und dann hörte ich auch schon den nächsten Schrei. Schrill und durchdringend. Ich entdeckte zunächst nur Franzi, dann neben ihr auch Mina am Fuß der kleinen Treppe, die von der Terrasse in den Garten hinunterführte, ihr Gesicht war schmerzverzerrt. O Gott. Ich eilte zu ihr, und Bernd kam hinter mir her. Er fragte: »Ist sie gefallen?«

Mina hielt sich mit beiden Händen den unteren Rücken, ich nahm sie vorsichtig bei den Schultern und zog sie an mich.

»Wir sind von den Stufen auf den Rasen gehopst«, erklärte Franzi und hob die Schultern. »Dann ist sie irgendwie gestolpert und hingefallen.«

Ich redete leise auf Mina ein. »Es wird gleich besser, Schatz. Bist du auf die Stufen gestürzt?«

»Ja!«, jammerte Mina. Tränen flossen über ihre Wangen.

Ich drehte sie vorsichtig zur Seite, um einen Blick auf den Rücken werfen zu können. Es war nur eine Schramme am Steiß, wo der Badeanzug endete. Etwa drei Zentimeter lang. Sah eigentlich gar nicht so schlimm aus. Gott sei Dank. Vorsichtig berührte ich eine Stelle wenige Zentimeter daneben. Mina schrie prompt auf und wurde erneut vom Weinen geschüttelt.

»Das wird geprellt sein«, meinte Bernd und schien sich wieder auf den Weg ins Wohnzimmer machen zu wollen.

»Hast du vielleicht Kompressen zu Hause? Oder ein Kühlpack?«, fragte ich schnell. Ich hatte meine doch glatt im Tiefkühlfach in Dornholzhausen vergessen.

Bernd hob die Schultern. »Da müsste ich Ranja fragen. Bei uns ist schon länger nichts passiert.«

Ich schüttelte den Kopf. »Lass mal.« Ich brauchte jetzt nicht auch noch Bernds Ex in meinem Leben. Mina jammerte immer noch. Ich küsste sie auf die Stirn.

»Meinst du, du kannst aufstehen?«

»Nein! Es tut so weh!« Mina wischte sich mit dem Unterarm die Tränen aus dem Gesicht. Eigentlich war meine Tochter nicht wehleidig. Im Gegenteil, wenn sie hinfiel, stand sie sonst immer sofort wieder auf.

Bernd griff nach einer der Auflagen meiner Gartenstühle und warf sie mir zu. »Am besten, du legst sie da mal kurz drauf. Das wird schon wieder.«

Doch auch nach einer halben Stunde klagte Mina noch immer. Inzwischen hatte sich am Steiß eine Beule gebildet, die mir Sorgen machte. Es war sicher besser, wenn ich mit ihr zum Arzt ging. Hatte Julia mir nicht bei unserer Ankunft das Schild einer Arztpraxis gezeigt? Und wo steckte eigentlich Minas Impfheft?

Zwanzig Minuten später hatte ich Mina mit Bernds Hilfe ins Auto bugsiert, dort lag mein Kind auf der Rückbank, mit Kissen so abgestützt, dass die geschwollene Stelle geschont wurde. Weit war es ja nicht. Bernd hatte mir den Namen einer Kinderärztin genannt, zu der seine Frau mit Franzi ging, aber ich war zu nervös, um jetzt auch noch diese Adresse ins Navi einzugeben. Und erfahrungsgemäß war es bei Kinderärzten immer voll.

Kurz darauf half ich Mina wieder aus dem Auto und führte sie behutsam zum Gebäude. Das Glasschild am Eingang verkündete, dass Dr. Karsten Hagedorn Allgemeinmediziner und Chiropraktiker war. Na, das passte wenigstens.

»Es sind nur ein paar Stufen zum Fahrstuhl. Meinst du, die schaffst du allein?« Wenn ich Mina trug, würde ich ihr vermutlich nur noch mehr wehtun.

Meine Tochter nickte tapfer und machte sich auf den Weg.

Wenige Augenblicke später betraten wir die moderne Praxis. Dunkles Parkett, die Wände in Weiß und Türkis gehalten. Weiße und dunkle Holzmöbel. An der Wand ein Buddha und frische Blumen.

Die beiden Frauen hinter dem Empfang musterten Minas schmerzverzerrtes Gesicht.

»Guten Tag, Schwehn ist mein Name«, stellte ich mich vor. »Meine Tochter ist gestürzt und hat sich eine Verletzung am Rücken zugezogen. Sie kann kaum laufen. Ich würde sie gern untersuchen lassen.«

»Sind Sie Patientin bei uns?« Eine der Arzthelferinnen musterte mich.

»Nein. Wir wohnen erst seit Samstag hier.«

»Verstehe«, sagte mein Gegenüber. »Wenn Sie in Richtung Innenstadt fahren, finden Sie eine Kinderärztin. Dr. Hagedorn behandelt nur Erwachsene.«

Die Frau hatte diesen Satz gerade ausgesprochen, als der Arzt in Begleitung eines älteren Herrn aus einer Tür mit der Aufschrift Sprechzimmer I trat. In der Brusttasche seines Kittels steckte ein Kugelschreiber, um seinen Hals hing das obligatorische Stethoskop. Ein Gerät hinter den beiden Frauen am Empfang druckte ratternd einen Zettel aus.

Ich wandte mich wieder an die Sprechstundenhilfe. »Nur Erwachsene? Aber für diese Sache brauche ich keinen Kinderarzt. Ich will nur wissen, ob sie sich etwa an einem Wirbel verletzt hat. Den Rücken kann Dr. Hagedorn als Chiropraktiker sicher besser untersuchen als jeder andere.«

Der, den ich für Dr. Hagedorn hielt, musterte mich aus ernsten grauen Augen. Er hatte dunkles Haar, das an den Schläfen von grauen Strähnen durchzogen war. Ich schätzte ihn auf Mitte, vielleicht Ende vierzig. Unter seinen Wangenknochen schimmerten Bartstoppeln. Ein attraktiver Typ, trotz seines Alters.

»Sie haben recht, das kann ich vermutlich.« Er breitete entschuldigend die Hände aus. »Nur … ich behandle wirklich keine Kinder.« Er lächelte mich in einer Weise an, die er vermutlich für einnehmend hielt. »Sie finden ganz in der Nähe ausreichend Alternativen.«

»So etwas habe ich ja noch nie gehört«, entgegnete ich verblüfft. »Dürfen Sie das überhaupt? Kinder abweisen?«

»Selbstverständlich behandle ich Notfälle.« Der Arzt sah auf Mina, die inzwischen aufgehört hatte zu weinen.

Der ältere Herr, der bisher geduldig neben dem Arzt gestanden und gelauscht hatte, räusperte sich. »Das Rezept?«

Dr. Hagedorn ging um den Tresen herum, zog das gewünschte Papier aus dem Drucker und setzte seine Unterschrift darunter. Nachdem er seinen Patienten verabschiedet hatte, warf er einen Blick auf einen Stapel Patientenakten, blätterte darin her­um, murmelte: »Möller, Dittmar, Arifaj«, dann griff er nach der obersten Akte und fragte seine Sprechstundenhilfe: »Frau Möller wartet schon in der Zwei, ja?«

»Genau.«

»Sie lassen uns hier einfach stehen?«, fragte ich fassungslos und packte Minas Hand fester. »Sie behandeln meine Tochter wirklich nicht?«

Er warf mir über seine Schulter hinweg noch einmal einen bedauernden Blick zu. »Es tut mir leid.« Sein Blick wurde noch eine Nuance ernster als zuvor. »Lassen Sie sich von meinen Mitarbeiterinnen die Adressen meiner Kollegen nennen. Dort sind Sie wirklich in guten Händen.«

Damit schloss er die Tür zu Sprechzimmer II hinter sich, und ich starrte die Sprechstundenhilfe an. Das war doch unterlassene Hilfeleistung! Ich würde auf keinen Fall gehen. Weder in die Nähe noch sonst wohin. Das wäre ja noch schöner.

Ich deutete auf die Tür rechts von mir, auf der das Wort Wartezimmer zu lesen war.

»Hören Sie«, sagte ich zu der Dame. »Ich hab ja jetzt verstanden, dass Ihr Chef keine Kinder behandelt. Aber können Sie nicht etwas auf die Schwellung auftragen? Ich habe rein gar nichts zu Hause. Oder behandeln Sie auch keine Kinder?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, ging ich mit Mina ins Wartezimmer. Es warteten nicht viele Patienten. Nur ein Mann und eine Frau. Die Frau schien Türkin zu sein, sie trug eine lange Strickjacke und ein Kopftuch. Sie hob den Kopf, als wir eintraten, und musterte uns mit großen Augen. Vermutlich wusste sie von Dr. Hagedorns kinderfeindlicher Einstellung.

Vorsichtig half ich Mina auf einen der freien Stühle.

Die Türkin presste beide Hände an die Brust. Die Frau kam mir von irgendwoher bekannt vor. War das nicht die, die ich heute Morgen aus dem Küchenfenster gesehen hatte, als ich die Kindergärten abtelefonierte? Natürlich konnte ich mich täuschen, so genau ließ sich das wegen des Kopftuchs nicht sagen.

Mina rutschte auf ihrem Stuhl hin und her und jammerte leise. Ich zog sie auf meinen Schoß.

»Was hat Kind?«, erkundigte sich die Frau.

»Sie ist gefallen«, antwortete ich. »Sie hat große Schmerzen.«

»Sie wohnen in Sudetenring siebzehn, stimmt?«, fragte die Frau.

Ich nickte. Also war sie es doch.

»Sie haben sehr hübsche Tochter«, sagte die Frau. »Schönes Mädchen.«

Mina sah die Frau nun ebenfalls an und kicherte verschämt. »Wer ist die Frau, Mama?«

»Bin ich Nerina«, sagte die Fremde. »Wie heißt du?«

»Mina«, kam ich meiner Tochter zuvor. »Und ich bin Anja. Anja Schwehn.« Hätte ich Mina nicht auf dem Schoß gehabt, hätte ich der Frau die Hand gegeben. Sie sah nett aus. Und so nervös. Wie sie sich noch immer die Brust hielt. An einem Schneidezahn fehlte eine kleine Ecke, das gab ihr etwas Linkisches. Hübsch war sie trotzdem. Lieb sah sie aus.

In diesem Moment ging die Tür auf, und die Sprechstundenhilfe, mit der ich gesprochen hatte, sah herein. »Herr Dittmar? Sie können in die Eins.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752143492
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
Psychothriller Familiendrama Thriller Dramatik Spannung psychologisch

Autoren

  • Stina Jensen (Autor:in)

  • Ivonne Keller (Autor:in)

Die Faszination für Sprache, gekoppelt mit dem Interesse für alles Menschliche, führte Ivonne Keller alias Stina Jensen neben ihrer früheren Tätigkeit als Personalerin zum Schreiben. Dabei interessiert es sie besonders, was mit Menschen passiert, die kurz davor sind, auszuflippen. Nach Zwischenstopps in Granada und Offenbach lebt sie mit ihrer Familie in der Wetterau.
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Titel: Vater, Mutter, Kind