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Gwenyn und Karney

Legenden von Gearran I

von Monja Schneider (Autor:in)
430 Seiten

Zusammenfassung

Er ist der Kronprinz seiner Heimat, ein mutiger Führer seiner Krieger. Sie ist die Tochter des verfeindeten Königs, belesen und entschlossen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Als Karney, Prinz von Gearran zusammen mit seinem Bruder in Gefangenschaft gerät, schließt er innerlich mit seinem Leben ab. Unerwartete Rettung kommt von Prinzessin Gwenyn. Da ihre Stiefmutter ein eigenes Kind erwartet, muss Gwenyn um ihr Leben und das ihres Bruders fürchten. Für die Flucht zu ihrem Onkel scheint Karney ihr als Beschützer auf dem langen, beschwerlichen Weg bestens geeignet. Sie kann nicht ahnen, dass eine ganz andere Art von Gefahr von ihm ausgeht, eine Gefahr für ihr Herz.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Prolog

Über einhundert Jahre schon schwelte der Krieg, hatte die Grenze unbewohnbar gemacht, ließ das Land nicht vollständig erblühen. Junge Männer standen auf Türmen der Grenzfestungen Wache, junge Männer, die lieber zuhause die Felder bewirtschaftet hätten, auch wenn es als Ehre galt, als Krieger dem Land zu dienen. Denn zuhause wartete sehnsüchtig eine Frau, vielleicht schon das Kind.

Einst waren das Volk von Equos und das unsrige friedliche Nachbarn gewesen, enge Verbündete gar. Gemeinsam waren sie in die Schlacht gezogen. Doch dann hatte der König von Equos unseren König verraten. Seit jenem Tag standen sich unsere Völker als unerbittliche Feinde gegenüber. Und die Menschen zahlten einen hohen Preis. Das Land blutete, das Volk litt.


Kapitel 1

„Karney, überlege es dir noch einmal, ich bitte dich. Sei gnädig und verschone ihn. Er dient unserem Land seit fast zwanzig Jahren und galt immer als tapferer Kämpfer. Er wird dir dankbar sein und dir umso eifriger dienen. Außerdem können wir es uns nicht leisten. Wir benötigen jeden Mann. Falls er überlebt, wird er für Wochen nicht zu gebrauchen sein.“

„Gib auf, Lesley! Egal, wer er ist, er war während der Nachtwache unaufmerksam. So etwas kann ich nicht durchgehen lassen, das weißt du genau.“ Karney, Kronprinz von Gearran, der Befehlshaber der östlichsten Grenzfestung, saß an seinem Schreibtisch und ordnete einige Papiere. Seine beiden obersten Hauptleute standen bei ihm. „Ich kann das nicht dulden. Er hat das Leben aller gefährdet, die hier in der Festung leben.“

„Dann wirf ihn einige Tage in den Kerker. Das muss doch reichen. Er hat nicht damit rechnen können, dass du von hinten kommst. Er hatte seine Aufmerksamkeit auf die Ebene gerichtet.“ Lesley versuchte es immer wieder. Jedes Mal, wenn einer für seine Feigheit oder Unaufmerksamkeit bestraft werden sollte. Er war eigentlich viel zu weich für diesen Posten. Wenn er sich nicht durch tollkühne Tapferkeit ausgezeichnet hätte … und als Freund bewährt …

„Ein Krieger, der Wache hält, muss seine Aufmerksamkeit überall haben.“ Karney stand auf, zog sein Schwertgehänge über und steckte sein Schwert ein. Er nahm seinen Mantel, legte ihn sich um und strich seine Haare zurück. „Und jetzt lass uns nach draußen gehen. Es wird Zeit.“ Seite an Seite mit Ruary lief er über den Hof und stieg die Treppen zur Wehrmauer hinauf. Lesley folgte ihnen mit gesenktem Kopf.

Karney, blieb schließlich auf dem Torturm der Grenzfestung stehen und blickte hinab in den Hof, ein schlanker, groß gewachsener Krieger mit langen dunklen Haaren. Seine Kleidung unterschied sich kaum von der seiner Kameraden. Einzig der goldene Reif auf seiner Stirn ließ seine herausragende Stellung erkennen. Seine Hände umfassten die Zinnen. Unter ihm versammelten sich die Krieger. Vor den Häusern am Rand des Hofes standen neugierig einige Handwerker beisammen. Selbst ein paar Sklavinnen hatten es gewagt, ihre Unterkunft zu verlassen. Etwa in der Mitte des Hofes waren zwei Pfähle in die Erde gerammt worden. Ein Krieger mit nacktem Oberkörper wurde gerade daran festgebunden. Ein altgedienter Mann, dessen schwarze Haare mit silbernen Strähnen durchzogen waren. Er blickte zu Karney hinauf. ‚Bitte‘ schien dieser Blick zu flehen. ‚Bitte, habt Erbarmen‘ Auch seine Lippen flüsterten es. ‚Bitte‘ Karney sah diesen Blick und diese Bewegung der Lippen nicht zum ersten Mal. Doch sein Gesichtsausdruck blieb hart und seine blauen Augen kalt. Die beiden Krieger, die neben den Pfählen standen, sahen erwartungsvoll zu ihm auf. Er nickte ihnen zu.

„Beginnt!“ Einer der beiden nahm eine Bügelschere und schnitt Strähne um Strähne die langen Haare des Verurteilten ab. Dem alten Krieger traten Tränen in die Augen. Die zwanzig Peitschenhiebe, die darauf folgten, nahm er gleichmütig hin. Wenigstens sah er ein, dass er es nicht besser verdient hatte. Karney hätte ihm am liebsten eigenhändig den Dolch in die Brust gerammt.

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Das Schauspiel war zu Ende, die Menge zerstreute sich. Im Westen färbte die Sonne den Horizont rot und orange. Karney stand noch immer auf dem Torturm. Er hatte sich auf die andere Seite gewandt und blickte über die Baumwipfel und die weite Ebene. Einst war hier das beste Korn des Landes gewachsen, erzählte man sich. Besser jedenfalls als das, was hinter dem Grenzwald wuchs. Und selbst das … Immer mehr Bauern flohen in den Norden, wenn sie nicht bei einem Überfall der Krieger aus Equos ums Leben gekommen waren. Immer dreister wurden diese Bastarde. Immer öfter gelang es ihnen, unbemerkt herüberzuschleichen. Sie raubten und töteten. Bei Aban, er konnte gar nicht sagen, wie sehr er das Volk von Equos und ihren verräterischen König hasste. Ruary trat an seine Seite.

„Morgen früh muss ich reiten …“ Karney wandte sich zu seinem Freund um. „Pass auf mein Land auf.“

„Das werde ich, das weißt du …“ Ruary konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Karney fand keinen Grund zum Lachen.

„Ja, ich weiß … ich würde trotzdem lieber hier bleiben.“

„Karney, es ist die Hochzeit deiner Schwester.“

„Ich weiß …“ Die beiden schwiegen und blickten über das Land.

„Willst du wirklich alleine reiten?“ Ruary begann das Gespräch schließlich erneut.

„Ja! Lesley hat recht, wir brauchen hier jeden Mann.“

„Karney … wenn dir etwas zustößt … dein Vater bringt mich um.“

„Mein Vater?“ Karneys Stimme klang bitter. „Seit wann würde mein Vater irgendjemanden dafür strafen, wenn ich ehrenvoll im Kampf fallen würde? Nein, nicht mein Vater …“

„Egal wer … sie werden mich dafür verantwortlich machen. Und du weißt, wie gefährlich es geworden ist … die wagen sich inzwischen schon bei Tag über die Grenze.“

„Ruary, mache dir nicht in die Hose. Selbst wenn sie mich verfolgen würden, was ich nicht glaube … du weißt, wie schnell ich die abhängen kann. Ich werde auf Namary reiten und auf ihn ist restlos Verlass.“ Sein Freund schwieg, auch wenn er nicht völlig überzeugt schien. Aber er erkannte Karneys Meinung an. Nun, etwas anderes konnte er nicht tun. Ruary konnte dem Kronprinzen und Befehlshaber der Festung nicht ernsthaft widersprechen, auch wenn er sein bester Freund war. Und meist waren sie ja einer Meinung. Karney wusste, dass Ruary die Festung in seinem Sinn führen würde.

„Komm, lass uns noch einen Becher Met miteinander trinken.“ Karney schlug seinem Freund auf die Schulter. Ruary grinste. Seite an Seite kehrten sie in das Hauptgebäude zurück.

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Eine Woche später befand sich Karney auf hoher See, unterwegs in die neue Heimat seiner Schwester. Finley, sein Bruder, klammerte sich an der Reling fest und blickte hinunter auf die Wellen. Das Heck des Schiffes pflügte durch sie hindurch, ließ das salzige Wasser bis hinauf zu ihm spritzen; kleine, in der Sonne schillernde Tropfen. Finley blickte auf, hinüber zum Schiff seines Vaters, zum Flaggschiff von Gearran, und winkte hinüber.

Karney trat von hinten an ihn heran und legte seine Hände auf die Schultern seines kleinen Bruders. Der Wind riss an seinen langen, dichten Haaren, die in der Sonne rötlich schimmerten. Ein breiter goldener Reif hielt sie davon ab, ihm zu sehr ins Gesicht zu wehen, prächtiger als der, den er in der Festung trug, verziert mit Ornamenten und Saphiren. Finley hatte lange gebettelt. Vater hatte schließlich erlaubt, dass er hier mitfahren durfte, auf diesem Schiff, mit seinem großen Bruder. Sie hingen aneinander, trotz des Altersunterschiedes; Karney war vierundzwanzig, Finley zehn Jahre. Doch mit vier Schwestern? Da raufte man sich zusammen. Er blickte ebenfalls hinüber zum Schiff seines Vaters. Nun wurde also auch Lavinia mit ihren gerade einmal 14 Jahren verheiratet. Ein faires Geschäft mit Gewinn für beide Seiten. Der Prinz bekam eine Braut, das Königreich Gearran Bündnistreue. Ob sie eingehalten werden würde? Nun, es waren nicht alle so verräterisch wie die Könige von Equos. Auch wenn dieser Prinz von Teimoor im Ruf stand, herrisch und kalt zu sein. Lavinia fürchtete sich vor ihm. Doch sie kannte die Pflicht einer Prinzessin von Gearran. Genau wie Karney die seinen kannte. So, wie sie mit einem Prinzen verheiratet wurde, würde er einmal eine Prinzessin heiraten, die er nicht kannte und für die er keine Gefühle hegte. Und deren einzige Aufgabe es sein würde, ihm einen Sohn zu gebären. Ob sie ebenfalls Angst vor ihm haben würde? Ob sie ebenfalls so albern kichern würde wie Lavinia und die anderen Mädchen am Hofe?

„Mein Prinz!“ Der Kapitän riss Karney aus seinen Gedanken. Noch einmal schlug der Kronprinz seinem Bruder auf die Schulter, dann schritt er hinüber zur Brücke des Schiffes. Neben dem Kapitän standen schon der Steuermann, der erste Offizier und einige der älteren Krieger. Über ihnen waren Matrosen damit beschäftigt, die Segel zu reffen. Karney blickte hinüber zu den anderen Schiffen. Auch dort wurden die Segel eingeholt.

„Was ist geschehen?“ Karney wusste, dass der Kapitän ihn nur aus Respekt dem Kronprinzen gegenüber zu sich gerufen hatte.

„Ein Sturm zieht auf …“

„Was?!“

„Ich weiß, mein Prinz, es klingt unglaubwürdig. Blauer Himmel, strahlender Sonnenschein … aber die Wellen, sie werden unruhig, stärker. Seht Ihr die Schaumkronen? Wir müssen Vorbereitungen treffen …“

Sie brachten so viel wie möglich in die Laderäume und vertäuten alles. Jeder an Bord half mit, auch Karney. Auf Finley achtete er nicht mehr. Immer höher stiegen die Wellen. Viel zu schnell zogen dunkle Wolken auf, grau, dann schwarz. Die Wellen spielten mit den Schiffen, als wären es winzige Boote. Das Heck bäumte sich auf, Wasser wurde an Deck gespült. Kalte Nässe drang durch seine Kleider. Karney schnürte seinen Mantel auf und warf ihn in eine Ecke. Er war voll Wasser gesogen, schwer und hinderte ihn nur. Mit seinem Dolch schnitt er ein Stück Schnur von dem Mantel ab und band seine Haare damit zusammen. Sie klebten überall.

Inzwischen war es völlig dunkel geworden. Karney sah die Hand vor Augen nicht mehr. Männer schrien, Taue rissen. Und dann der erste Blitz. Für einen Wimpernschlag lang Licht.

„Finley!“ Sein Bruder klammerte sich an der Reling fest, an der sie vor nicht allzu langer Zeit gemeinsam gestanden hatten. Wie hatte er ihn nur vergessen können? Karney ließ das Seil los, an das er sich geklammert hatte. Er schlitterte über das Deck. Eine Welle schlug über die Bordwand und riss ihn zu Boden. Mühsam rappelte er sich auf. Sein Bruder hatte sich an die Schiffswand gepresst. Die nächste Welle schon könnte ihn über Bord spülen. „Finley …“ Regen prasselte herab. Er spürte es nicht. Ein neuer Blitz, ein ohrenbetäubendes Krachen. Eine neue Welle. „Finley!“

„Karney …“ Eine leise, dünne Stimme, die kaum gegen das Heulen des Sturms ankam. Eine neue Welle, die auf das Deck krachte und Karney von den Füßen riss. Das Schiff neigte sich zur Seite. Karney wurde gegen die Bordwand geschleudert. Für einen Augenblick wurde es völlig still.

„Karney!“ Die Stimme Finleys von irgendwo her. Das Heulen des Sturms. Blitze, Donnern, Krachen, Schreie. Ein warmes Rinnsal auf seiner Stirn, zwischen all dem Regen und all dem Meerwasser. Langsam drang das alles wieder in sein Bewusstsein.

„Karney! Karney, bitte, sage etwas!“

„Finley?“

„Ja, ich bin hier.“ Karneys Sinne kehrten zurück. Er stützte sich auf seine Hände, versuchte aufzustehen. Die Hand seines Bruders lag auf seinem Arm. Er tastete nach der Bordwand, klammerte sich daran fest, als sich das Schiff erneut neigte. Seinen anderen Arm schlang er um Finley.

„Halte dich fest, Finley, halte dich fest! Nein, nicht meinen Hals umklammern, sonst ersticke ich. Und auch nicht an meinen Haaren. Hier, schlinge die Arme um meinen Bauch. Ja, so, gut …“

„Hat Aban uns verlassen, Karney?“

„Nein, Finley, das darfst du niemals glauben, hörst du!“ Eine neue Welle, das Schiff neigte sich zur anderen Seite. Karneys Finger gruben sich um die Reling, während Finley und er über die Planken rutschten. Finleys Gewicht, sein eigenes. Seine Muskeln spannten sich zum äußersten und schmerzten. Wie lange würde er noch durchhalten, wie lange? Dann war es vorbei, das Schiff kippte erneut. Sie wurden gegen die Bordwand geschleudert. Er erlaubte sich, den Griff ein wenig zu lockern. Eine neue Welle, ein neuer Stoß gegen den Schiffsrumpf. Das Schiff neigte sich. Karneys Hand umschloss die Reling. Schreie, verzweifelte Schreie. Ein Poltern, das nicht vom Donner herrührte. Blitze, die einen Wimpernschlag lang die Nacht taghell werden ließen. Karney schrie. Ein Boot hatte sich aus den Tauen gerissen. Es raste auf sie zu. Nur eine Handbreit von ihnen entfernt durchschlug es die Bordwand. Und riss sie mit in die Tiefe.

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Eisige Kälte lähmte seine Glieder. Salziges Wasser drang in seine Lungen. Seine langen, dichten Haare und seine Kleider, die mit Wasser vollgesogen waren, Finleys Körper, all das zog ihn nach unten. Verzweifelt ruderte er mit seinen Armen. Finley loslassen? Lieber sterben. Auch wenn sein kleiner Bruder seine Brust so fest umklammerte, dass sie ihn schmerzte. Endlich, endlich hatte er es geschafft. Für einen Augenblick war sein Kopf über Wasser. Tief einatmen. Die nächste Welle, die ihn hinab zog. Nicht aufgeben, erneut nach oben kommen, atmen. Da, ein Stück Holz, eine der breiten Schiffsplanken, die herausgerissen worden waren. Er griff danach und klammerte sich daran fest. Die nächste Welle, die über ihnen zusammenschlug, konnte ihn nicht lange unter Wasser halten. Er durfte nur nicht seine Kraft verlieren, er durfte einfach nicht. Er hievte Finley auf das Holz und zog sich selbst daran hoch.

Als er die Augen aufschlug, erblickte er das Blau des Himmels, fühlte die wärmende Sonne. Wellen schlugen friedlich ans Ufer. Sein Gesicht war voll Sand. Neben ihm lag die Schiffsplanke. Rechts und links von ihm erstreckte sich der Strand. Er versuchte sich zu erinnern, wie er hierhergekommen war. Es gelang ihm nicht. Fremde Stimmen nahm er wahr, eine Sprache, die er nicht kannte. Wirklich nicht? Irgendwo hatte er den Klang schon einmal gehört. Wo nur? Und dann wollte er aufspringen. Die Grenze zu Equos, die Gefangenen, die sie gefoltert hatten oder die ihnen als Sklaven dienten. Der Schwindel ließ ihn zurückfallen. Bittere Galle stieg in ihm auf, er musste sich übergeben. Ein alter Mann hielt ihn, redete beruhigend auf ihn ein. Ein einfacher Fischer, wie es den Anschein hatte. Dieser friedliche Mensch konnte nicht darüber hinwegtäuschen. Karney befand sich im Reich des größten Feindes, den Gearran besaß. Sein Leben war keinen Pfifferling mehr wert, wenn bekannt wurde, welchem Volk er angehörte.

„Finley …“, flüsterte er und sah sich um. Sein Bruder war nicht zu sehen. Wieder beruhigende Worte des alten Mannes. Zwei jüngere kamen an den Strand. Sie halfen Karney auf, stützten ihn, führten ihn in ein Dorf, zu einer einfachen Fischerhütte. Auch wenn die kräftigen Burschen ihn hielten, er spürte bei jedem Schritt Stiche in seinem Kopf. Seine Lungen brannten bei jedem Atemzug, seine Kehle. ‚Durst‘, wollte er flüstern. Er hatte nicht die Kraft. Er durfte sich auch nicht durch seine Sprache verraten. Seine Beine? Er fühlte sie kaum. Die Burschen trugen schwer an ihm.

Sie wollten gerade die Fischerhütte betreten, als ihnen jemand etwas zurief. Die Burschen wandten sich um. Ein stattlicher Mann kam ihnen entgegen. Er trug edlere Stoffe als die Burschen und der Fischer. Sein reichlich vorhandener Bauchumfang ließ auf einen wohlhabenden Mann schließen. Hinter ihm standen zwei Knechte, die eine Trage in der Hand hielten. Einer der Burschen sagte etwas zu Karney. Der sah ihn nur fragend an. Der Besitzer des Bauches meckerte ungeduldig. Die beiden Burschen schleiften Karney daraufhin zu den Knechten, ließen ihn auf die Trage gleiten. Karney war zu erschöpft, um sich darüber Gedanken zu machen. Nur ein Gedanke ließ ihn nicht los: Wo war Finley? Er schloss die Augen und strich sich über die Stirn. Irgendetwas fehlte. Doch er war zu erschöpft, um darüber nachzudenken, was es war.

Knechte und Mägde bemühten sich um ihn, zogen ihm die durchweichten Kleider aus und rieben ihn trocken. Ein Bett stand für ihn bereit; Kissen, dicht gestopft mit Daunenfedern. Karney nahm kaum etwas von alledem wahr. Er war immer noch halb betäubt von Schmerzen und Erschöpfung. Wo war Finley? Eine Frau stützte ihn und reichte ihm einen Becher. Gierig trank er. Und war innerhalb weniger Augenblicke eingeschlafen.

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Der Reiter musste nur kurz an den Toren des Schlosses anhalten. Die Wachen ließen ihn durch, nachdem er ihnen ein Schreiben überreicht hatte. Im Innenhof sprang er aus dem Sattel und wollte die breite Treppe in das Hauptgebäude hinauf eilen. Doch er wurde aufgehalten. Gwenyn verzog den Mund. Sie stand am Fenster in einem ihrer Räume und blickte hinab in den Hof. Malise musste sich natürlich wieder dem Boten in den Weg stellen, Malise, die Gemahlin des Königs, die zweite Frau ihres Vaters. Ihre Stiefmutter. Der Bote zog einen goldenen Reif hervor. Einen Stirnreif, wie Gwenyn ihn ebenfalls besaß. Nur war der Reif, den der Bote überbrachte, größer und breiter als der, den Gwenyn ihr Eigen nannte. Reich verziert mit Ornamenten und Saphiren war er, er musste einem bedeutenden Mann gehören. Malise nahm ihn an sich und verschwand damit in ihrem Turm. Man sagte, sie würde in der obersten Kammer Umgoroth, den dunklen Gott, anrufen und ihm Opfer bringen. Sie wäre eine Hexe, die Mensch und Tier zu Stein verwandeln und andere böse Dinge tun konnte. Geschwätz der Dienerschaft, die Angst vor dieser geheimnisvollen Schönheit hatte, die plötzlich im Leben des Königs aufgetaucht war, keiner wusste woher. Gwenyn glaubte nicht an den bösen Blick. Aber dass ihre Stiefmutter der dunklen Gottheit mit Hingabe diente und dadurch Macht über Menschen gewann, daran zweifelte Gwenyn nicht einen Augenblick. Und sie glaubte auch nicht, dass es Zufall war, dass Gwenyns Mutter nicht lange nach dem Auftauchen Malises gestorben war. Und nun war die Königin schwanger, nach sechs Jahren Ehe mit dem König. Das Leben Irvyns und ihr eigenes waren in Gefahr, sobald das Kind das Licht der Welt erblickte. Malise würde ihr Kind auf den Thron bringen wollen und den rechtmäßigen Thronfolger auslöschen. Gwenyn wandte sich vom Fenster ab, ihren Büchern zu. Lange genug hatte sie sich ablenken lassen. Sie musste lernen, musste so viel Wissen wie möglich sammeln, um eine Flucht überstehen zu können.

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Sonnenstrahlen, durch das Glas des Fensters bunt gefärbt, fielen auf sein Gesicht, als er die Augen aufschlug. Noch während er versuchte, sich zu erinnern, fiel ihm Finley um den Hals.

„Karney! Dem guten Gott sei Dank! Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Du hast fast einen ganzen Tag lang geschlafen. Ich bin …“ Schlagartig erinnerte Karney sich. Er erwiderte die Umarmung seines Bruders, drückte ihn fest an sich.

„Rede in der Sprache derer von Merzano mit mir!“, flüsterte er in sein Ohr.

„Warum denn das?“ Karney erwiderte nichts, warf nur einen Blick auf die Frau, die in einem Sessel nahe am Feuer saß und zu schlafen schien. Dann ließ er sich wieder in die Kissen zurückfallen. Er war immer noch müde, so müde.

„Was ist geschehen? Woran kannst du dich noch erinnern?“, fragte er Finley.

„An nicht mehr viel“, erwiderte der. „Ich habe mich an dich geklammert, auf dem Schiff. Und dann waren wir plötzlich im Wasser. Das nächste, was ich weiß, ist, dass diese freundlichen Menschen sich um mich gekümmert haben. Ich war zuerst bei einer netten alten Frau in einer Fischerhütte. Dann wurde ich hierhergebracht, zu dir. Heute Nacht habe ich in dem Bett dort drüben geschlafen. Die Frau im Sessel war wohl die ganze Zeit hier. Ich glaube, es ist eine Heilerin … ich habe jedenfalls beobachtet, dass sie deine Wunden verbunden und dir immer wieder einen Trank eingeflößt hat.“ Karney antwortete nicht. Er versuchte, wach zu bleiben und über das nachzudenken, was Finley ihm berichtet hatte. Doch er schlief wieder ein, ehe er zu einem Ergebnis gekommen war.

Ein dunkler Gang, dann Stufen, endlose Stufen. Schließlich eine Kammer, die oberste Kammer eines Turms. Kerzen verbreiten schummriges Licht, das den Raum und vor allem das hohe Dachgebälk nicht völlig ausleuchten kann. Eine Frau steht vor einem Altar, dreht ihm den Rücken zu. Ihre blonden Haare fallen bis zu ihren Hüften hinab. Eingehüllt ist sie in ein schwarzes Gewand. Rauch steigt auf, dunkel, undurchdringlich, zieht ins Gebälk und scheint im Nichts zu verschwinden. Die Frau murmelt Beschwörungen und Gebete. Dann reißt sie mit einem lauten Schrei ihre Arme nach oben. Wie eine Antwort fährt Wind und Donner durch das Dachgebälk. Ihm schaudert, seine Hände werden feucht. Dann, ganz langsam, wendet sie sich um. Sie grinst, ihre kalten Augen starren ihn an. Er versucht, ihrem Blick auszuweichen, sich irgendwie zu bewegen, will sich umdrehen und vor ihr fliehen. Es gelingt ihm nicht. In ihren Händen hält sie einen goldenen Reif, prächtig verziert mit Ornamenten und Saphiren.

Karney wälzte sich auf seinem Bett, stöhnte. Es gab Träume, die einen festhielten, nicht zulassen wollten, dass man aufwachte. In einem solchen Traum war er gefangen. Oder war es die Wirklichkeit? Jemand strich ihm über die Schulter.

„Ganz ruhig, Sohn Abans. Es ist nur ein Alptraum. Ich werde sie leider nicht verhindern können, solange Ihr in diesem Land weilt.“ Die Stimme einer Frau, tröstend wie die seiner Amme. Endlich hatte Karney sich losreißen können und war wieder erwacht. Die Frau reichte ihm einen Becher. Er leerte ihn in einem Zug. Und wieder schlief er ein.

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„Herr, wacht auf! Ihr müsst fliehen.“ Dunkel war es im Raum, nur die Glut im Kamin gab ein wenig Licht, als Karney aus dem Schlaf gerissen wurde. Die Frau stand an seinem Bett und rüttelte ihn. Was hatte Finley vorhin gesagt? Er glaube, dass sie eine Heilerin sei. „Schnell, Herr, ehe es zu spät ist.“

„Was ist denn los?“ Langsam schälte er sich aus den Decken, noch halb im Schlaf. Er bemerkte noch nicht einmal, dass sie in der Sprache von Gearran zu ihm sprach.

„Reiter, Herr! Reiter des Königs. Sie haben Befehl, Euch zu holen und in die Hauptstadt zu bringen.“

„Was?“ Karney musste sich am Bettpfosten festklammern, als er sich erhob. Was wusste diese Frau? Und woher wusste der König von Equos …? „Finley? Wo ist er?“ Karney erhielt keine Antwort mehr. Die Tür wurde aufgerissen, Fackeln blendeten ihn.

„Mitkommen!“ Karney verstand die Krieger nicht, doch die Geste war eindeutig. Die Frau sagte etwas zu ihnen. Ein wenig zögerlich nickte der Wortführer. Sie reichte Karney frische Unterkleidung, ein neues Hemd und eine Hose.

„Hier, sie erlauben, dass Ihr Euch noch umzieht.“

Sie mochten es erlauben, doch sie wichen nicht vom Eingang zurück. Karney musste sich vor aller Augen anziehen. Er konnte erahnen, was die Männer lästerten. Nun, er und seine Kameraden hätten in derselben Situation genauso gespottet. Kaum hatte er das Hemd über den Kopf gezogen, packten ihn vier starke Arme und zogen ihn mit sich.

Das Gehöft eines Landjunkers, so schätzte Karney das Anwesen ein, als sie hinaus in den Hof traten. Ein Herrenhaus aus Stein, umgeben von Holzhäusern, Ställen und Werkstätten. All das umringt von einer hohen Mauer. Fackeln brannten im Hof, noch war es Nacht. Doch ein grauer Streifen am Horizont verhieß einen baldigen neuen Morgen. Bei den Ställen herrschte Geschäftigkeit. Pferde standen bereit. Sie führten ihn dorthin.

„Los, rauf da!“ Sie stießen ihn zu einem der bereitstehenden Pferde. Der Kerl mit dem Wohlstandsbauch stand grinsend daneben, redete in der Sprache derer von Merzano mit ihm. „Und sieh es als Gnade an, dass du reiten darfst, du Hund aus Gearran.“ Woher wusste dieser Möchtegern woher er, Karney, war? Hatte er irgendetwas an sich getragen, das ihn verraten hatte? Er konnte nicht denken, er war müde und sein Kopf schmerzte. Wo war Finley?

Karney hatte keine Wahl, dafür reichte ihm ein kurzer Blick über den Hof. Überall standen Bewaffnete, die ihn nicht aus den Augen ließen. Er hätte auch gar nicht die Kraft für eine Flucht gehabt. Kaum war er aufgestiegen, rissen sie ihm die Arme nach hinten, fesselten ihm die Handgelenke. Andere banden ihm die Füße am Steigbügel fest. Einer stieg auf ein Pferd, ein anderer warf ihm die Zügel von Karneys Pferd zu. Auch die anderen stiegen auf. Sie trabten los. So gut es ging, sah Karney sich um. Wo war Finley? Hatte er es geschafft, zu entkommen? Oder erachteten sie ihn nicht als wichtig und ließen ihn deshalb zurück? Konnte er ihn einfach nur nicht sehen? Finley – was würde mit ihm geschehen? Sie waren die einzigen Söhne des Königs von Gearran. Wenn sie beide nicht zurückkehren würden … Er zweifelte keinen Augenblick daran, dass er selbst ein Todgeweihter war.

Stundenlang ritten sie, ein gleichförmiges Traben. Karney bemühte sich, wachzubleiben, sich die Gegend einzuprägen. Er nickte immer wieder ein, verlor jegliches Zeitgefühl. Die Sonne ließ die Häuser bereits orange leuchten, als sie durch ein Stadttor ritten. Sie lenkten ihre Pferde über gewundene enge Gassen hinauf in die Hügel. Wie aus dem Felsen gewachsen wirkten die Mauern, die schließlich auftauchten und in den Himmel strebten. Ein weiteres Tor, das strenger bewacht wurde, als das Stadttor weiter unten. Zwei Wächter hielten sie auf und sprachen mit dem Anführer der Krieger. Dann durften sie passieren und ritten in den Hof des Schlosses von Equos ein.

Kapitel 2

„Ihr solltet an die frische Luft, Herrin.“ Tonia richtete Prinzessin Gwenyn, die wieder einmal in einem ihrer Bücher las, das Gewand für das Abendessen. „Den ganzen Tag sitzt Ihr über Euren Büchern.“ Jeden Abend sagte Tonia ihr das. Selten folgte sie dem Vorschlag ihrer Dienerin.

„Wozu, Tonia?“

„Damit Ihr nicht krank werdet. Heute ist ein solch schöner Tag gewesen. Wenigstens einen kleinen Spaziergang solltet Ihr noch machen, ehe es gänzlich dunkel wird.“

„Ich reite jeden Morgen vor der Morgenmahlzeit aus. Das muss reichen!“ Ihre Dienerin hatte recht, sie wusste es. Es konnte nicht gesund sein, den ganzen Tag in dem kleinen Raum zu sitzen, der für sie Bibliothek und Studierzimmer war. Reiten – das tat sie nur, weil sie bereit sein wollte, wenn sich eine Gelegenheit ergab, ihren Plan auszuführen.

„Oh, Reiter!“ Tonia eilte zum Fenster. Gwenyn war so sehr in Gedanken versunken gewesen, dass sie die Hufe auf dem Pflaster des Hofes nicht gehört hatte. „Krieger … und sie führen einen Gefangenen mit sich. Sieht der schmuck aus!“ Gwenyn verzog den Mund. Seit Tonia von einem Fürsten verführt und seine Maitresse geworden war, hatte sie eine seltsame Einstellung zu Männern. Damals, als Mutter noch lebte, hatte Gwenyn auch Augen für die Jünglinge am Hof gehabt, ja. Doch das war vorbei. Sie musste für Irvyn sorgen. Und konnte nur hoffen, dass Vater sie nicht zwang, zu heiraten. Sie musste dankbar sein, dass er die Hochzeit mit dem Herzog, dem sie versprochen war, immer wieder aufgeschoben hatte. Dennoch stand sie auf und trat an die Seite ihrer Dienerin.

Tonia hatte nicht übertrieben. Aufrecht saß er im Sattel, strahlte einen Stolz aus, den Gwenyn bis hier oben spüren konnte. Dunkle wellige Haare, die in der untergehenden Sonne rötlich leuchteten, umgaben sein Gesicht. Beneidenswert lange Haare. Dick und dicht, nicht so dünn und fein wie ihre eigenen. Und dabei gepflegt, nicht so filzig und stumpf wie die der Männer aus den Bergen der südlichen Provinz. Gut sah er aus, darüber konnte auch die Wunde über seinem Auge nicht hinwegtäuschen, das Blut, das auf seiner Stirn verschmiert war. Einer der Krieger schnitt ihm die Fesseln auf, er stieg vom Pferd, hob den Blick. Und entdeckte sie am Fenster. Anders konnte sie diesen Blick nicht deuten, diesen durchdringenden Blick aus blauen Augen. Ein so intensives Blau, dass sie es von hier oben erkennen konnte. Schnell trat sie einen Schritt zurück.

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Sie ritten in den Schlosshof ein und stiegen von den Pferden. Zwei Männer traten an Karney heran, schnitten ihm die Fesseln auf. Er verstand ihre Worte nicht, doch die Botschaft war deutlich: Absteigen! Und keine Schwierigkeiten machen! Glaubten die wirklich, er würde brav stehen bleiben, bis sie ihn umbrachten? Sein Blick wanderte an der Mauer entlang, an den Gebäuden. Das eine musste das Hauptgebäude sein. Und dann sah er sie. Ihr Gesicht erinnerte ihn an ein Herz, ihre langen schwarzen Haare trug sie offen. Sie fielen auf ein einfaches Kleid, auf ein Dekolleté, das so weiß war wie der Schnee in den Bergen seiner Heimat. Viel zu tief ausgeschnitten war das Kleid, es erinnerte ihn an ein Nachtgewand. Doch wer würde um diese Zeit in einem solchen Aufzug herumlaufen? Sie schien sein Starren zu bemerken, trat zurück, verschwand aus seinem Blickfeld. Und riss ihn damit aus seinen Träumereien. Was für Gedanken hatte er nur? Er war hier nicht auf einem der Raubzüge nach Equos. Und erst recht nicht auf einem Maskenball im Schloss seines Vaters. Er war Gefangener seines schlimmsten Feindes. Und wenn es eine Möglichkeit gab, zu entkommen, dann musste er sie finden. Und durfte sich nicht durch das Lächeln eines hübschen Mädchens ablenken lassen! Nun, gelächelt hatte sie nicht. Traurig hatte sie gewirkt. Schon wieder diese Gedanken an sie! An seine Flucht musste er denken, an sonst nichts anderes. Die Wachen am Tor waren mit Neuankömmlingen beschäftigt. Auch die Krieger achteten nicht auf ihn, gaben den Pferdeknechten, die die Tiere zu den Ställen führten, Anweisungen. Auf dem äußeren Wall hielten Krieger Wache, ja. Und sicher wussten sie mit den Armbrüsten, die sie in der Hand hielten, umzugehen. Doch der Überraschungsmoment … Das Pferd, auf dem er hierher geritten war, stand noch immer neben ihm. Er sprang auf, stieß ihm die Fersen in die Flanken. Erschrocken stürmte es los, ließ sich aber von ihm Richtung Tor lenken. Vielleicht hätte er es geschafft. Doch durch die Schreie der Krieger und Wachen verlor das ohnehin schon nervöse Tier völlig die Nerven. Es reagierte nicht mehr auf Karneys Hilfen, wich den Menschen, die ihm entgegenrannten und es einfangen wollten, aus, floh vor denen, die hinter ihm hereilten. Schließlich wusste es nicht mehr, wohin und stieg.

Sein Vater hatte den Kronprinzen von Gearran auf ein Pony gesetzt, ehe dieser laufen konnte. Von klein auf waren Pferde seine Freunde gewesen. Die edelsten seiner Heimat besaß er, der einzige Luxus, den er sich gönnte. Karney war ein hervorragender Reiter und konnte sich selbst in seinem geschwächten Zustand mühelos im Sattel halten. Er zog die Zügel hart an, brachte es erneut unter seine Kontrolle. Doch es war zu spät. Hände griffen nach ihm, zogen ihn vom Pferd. Instinktiv hielt er einen Arm vor seine Stirn. Sein Gesicht landete auf dem staubigen Pflaster des Hofes. Zornige Stimmen über ihm, Hände, die seine Arme packten und ihn hochzogen. Einer der Krieger hielt einen Strick in der Hand und trat auf ihn zu. Ein anderer ballte seine Hand zur Faust und holte aus. Karney krümmte sich vor Schmerz, als er ihn knapp unterhalb des Brustbeins traf. Während er noch nach Luft rang, holte der Krieger erneut aus. Dann eine andere Stimme, die über den Hof hallte. Die Krieger wandten sich der breiten Eingangstreppe des Haupthauses zu und verbeugten sich. Karney folgte ihrem Blick.

Graue Strähnen zogen sich durch die schulterlangen schwarzen Locken, erste Falten zeigten sich in seinem Gesicht. Sein sorgfältig gepflegter Bart fiel bis zu seiner Brust. Der König! Daran hatte Karney keinen Zweifel. Das also war der größte Feind Gearrans, der Nachfahre eines Verräters, eines Wortbrüchigen. Noch ehe Karney darüber nachdachte, was er tat, spuckte er aus. Die flache Hand eines Kriegers traf sein Gesicht. Der König jedoch zog die Mundwinkel nach oben. Lachte er ihn aus?

„Mut hast du, das muss man dir lassen!“ Die Sprache derer von Merzano galt als vornehm unter den Völkern. Wer immer etwas auf sich hielt, hatte sie gelernt. Es war üblich unter Königen, sich in dieser Sprache zu verständigen. Auch Karney sprach sie fließend. Und er ahnte, dass der König von Equos das wusste. Dennoch tat er so, als ob er ihn nicht verstanden hätte. Der König musterte ihn gründlich. „Allein Weisheit und Selbstbeherrschung fehlen dir noch … bringt ihn nach oben. Er soll sich waschen und an der Abendmahlzeit teilnehmen. Wollen wir sehen, ob er dann geruht, zu reden. Vor allem, wenn er die Überraschung sieht, die ich für ihn habe.“ Der König wandte sich um und stieg die Stufen hinauf. Zwei Krieger packten Karney und zogen ihn mit in das Haus seines Feindes.

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Als sie die Schreie der Wachen gehört hatte, war Gwenyn wieder einen Schritt näher an das Fenster getreten. Dieser Fremde war auf ein Pferd gesprungen und versuchte, zu fliehen. Ein wenig öffnete sie den Mund, als sie beobachtete, wie geschickt er sich zunächst im Sattel hielt.

„Oh – ist der schneidig!“ Gwenyn hatte Tonia völlig vergessen. Sie antworte nicht. Sie hätte zugeben müssen, dass Tonia mit ihrer Schwärmerei Recht hatte. Fast bedauerte sie, dass ihm seine Flucht nicht gelang. Er hätte sich die Freiheit verdient gehabt. Andererseits … vielleicht konnte er ihr nützlich sein. Auch wenn er keine Manieren zu haben schien. Wie konnte er es wagen, vor ihrem Vater auszuspucken? Wer war dieser Fremde? Hatte er irgendetwas mit dem Goldreif zu tun, den der Bote gebracht hatte? Er musste ein Mann von Bedeutung sein, sonst wäre Vater ihm nicht entgegen gekommen. Und er redete in der Sprache derer von Merzano zu ihm. In der Sprache der Edlen und Vornehmen. Vater lächelte nur über dessen Unverschämtheit, befahl, dass er am Abendessen teilnehmen sollte. Das Abendessen! Sie musste sich umziehen.

„Tonia!“, rief sie ihrer Dienerin zu. „Finde heraus, wo sie ihn hinbringen.“ Sie war sich selbst nicht im Klaren darüber, warum sie das wissen wollte.

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Unzählige Stufen, immer höher. Einer der Krieger ging vor ihm her, ein anderer lief hinter ihm die Stufen hinauf. Oder waren es mehrere? War das nicht gleichgültig? Der erste stieß schließlich eine Tür auf. Mit einer Kopfbewegung bedeutete er Karney, dass er eintreten solle. Die Tür schloss sich hinter den dreien.

Karney sah sich in dem Raum um. Eine kleine Kammer. Nicht mehr als ein Tisch, ein Stuhl und ein Bett standen darin. Doch sie war sauber, die Decken ordentlich zusammengefaltet. Er trat ans Fenster. Eine herrliche Aussicht von hoch oben, weit ins Land. Doch an Flucht war nicht zu denken. Sie mussten ihn in einem der Türme untergebracht haben. Die Tür wurde geöffnet. Karney konnte vor der Tür zwei weitere Wachen entdecken. Eine Magd betrat den Raum, stellte zwei Krüge, und zwei Schüsseln auf den Tisch, legte Tücher daneben. Anziehend waren sie, die Frauen von Equos. Ob er die Schönheit vom Fenster jemals wiedersehen würde? Schnell schob er den Gedanken beiseite. Er hatte wahrlich andere Sorgen. Die Magd hatte ihm inzwischen alles hingerichtet. Die Wächter schlossen die Tür hinter ihr. Zwei Wachen vor der Tür, zwei dahinter. Gefangen in einem Zimmer, aus dem es kein Entkommen gab. Doch warum machte sich der König von Equos solche Mühe? Warum ließ er ihn nicht einfach in ein Kerkerloch werfen? Karney zog sich sein Hemd über den Kopf und füllte warmes Wasser in eine Schüssel. Auch wenn es das Brennen noch verstärkte, er wusch sich die aufgescheuerten Handgelenke gründlich aus. Ein bitteres Lächeln zog über sein Gesicht. Es spielte keine Rolle, ob sie sich entzündeten oder nicht, wenn der König von Equos ihn umbringen ließ. Und das würde er tun, wenn er erst einmal herausgefunden hatte, wer er, Karney, war. Aber wusste der König das nicht bereits? Er war ihm im Schlosshof entgegengekommen; eine Ehre, die ein König sonst nur königlichen Besuchern gewährte. Er hielt Karney unter strengster Bewachung gefangen, hier im Turm, nicht im Kerker wie einen gewöhnlichen Verbrecher. Alles Grübeln half nichts, Karney wusste es. Er tauchte seine Hände in die Schüssel mit dem kalten Wasser, spritzte es in sein Gesicht, auf seinen Hals, seine Brust und schloss die Augen. Bilder tauchten dabei vor ihm auf, die erfrischenden Gebirgsseen seiner Heimat. Würde er sie jemals wiedersehen? Nur nicht daran denken. Und nicht aufgeben! Er nahm ein Tuch und vergrub sein Gesicht darin. Neben dem Staub und dem Schmutz blieb auch Blut an dem Stoff hängen. Zum Henker! Die Tür öffnete sich erneut. Karney fuhr herum, erschrocken von dem plötzlichen Geräusch. Und stand ihr gegenüber.

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Er stand vor ihr. Sie blickte auf die breite Brust, musste den Kopf heben, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Sie reichte ihm gerade einmal bis zu den Schultern, so groß war er. Wasser tropfte aus seinen Haaren, blieb als kleine Perlen auf dem schwarzen Flaum seiner Brust hängen. Sein Oberkörper war entblößt, das wurde ihr erst jetzt bewusst. Muskulöse, sehnige Arme, eine Narbe, die sich von seiner rechten Schulter über die Brust zog. Am Hals ließ ein dünner heller Streifen auf seiner gebräunten Haut erkennen, dass er auch dort einmal verletzt gewesen war. Der Oberkörper eines Kriegers. Blut schoss ihr in den Kopf. Was tat sie hier? Sie hob den Blick erneut, sah in sein Gesicht. Ein Fehler, denn seine Augen, blau wie Kornblumen, starrten sie an. Sie hielt einen Kelch in der Hand, erinnerte sie sich. Wie einen Schutzschild hielt sie ihn vor sich.

„Willkommenstrunk …“, brachte sie schließlich hervor. Er rührte sich nicht, starrte sie weiterhin an. Ob er sie nicht verstand? Auch sie redete in der Sprache der Merzano mit ihm. Die Wunde auf seiner Stirn war aufgebrochen. Und auch über seine Wange rann ein breites Rinnsal Blut. Die Narbe, die sich von seiner linken Schläfe zum Auge zog, musste von einer älteren Verletzung stammen. Wer auch immer er war, er tat Gwenyn leid. Wie gerne würde sie ihm über die Stirn streichen, über die Wange, ihm das Blut abwischen. Nur mit Mühe konnte ihr Verstand sie zurückhalten. „Es ist köstlicher Wein“, sprach sie stattdessen. „Er ist nicht vergiftet, Ihr könnt mir vertrauen.“ Er regte sich immer noch nicht. Sie trank einen Schluck, reichte ihm den Kelch erneut. Langsam hob er die Hand, nahm ihn, trank.

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Er hatte ihre Stimme gehört, aber verstanden, was sie sagte? Nein, auch wenn er von klein auf die Sprache derer von Merzano gelernt hatte. Grüne Augen hatte sie, die schöne Unbekannte. Ihre Haut so weiß wie der Schnee in seiner Heimat, das Rot ihrer Lippen leuchtete, lockte. Nur die beiden Wachen im Hintergrund hielten ihn davon ab, sie einfach zu küssen. Nun, wahrscheinlich war es besser so. Sie war keine einfache Dienerin. Das erkannte er mit einem Blick. Er nahm den Kelch aus ihrer Hand, vorsichtig darauf bedacht, ihre Hand nicht zu berühren. Er konnte sich nicht noch mehr Gefühle und Gedanken dieser Art leisten. Er musste einen klaren Kopf behalten. Dennoch, er drehte den Kelch ein wenig. Hier war es gewesen, hier hatten ihre Lippen den Rand berührt. Er nahm einen tiefen Schluck, gab ihn zurück. Sie riss ihn an sich und rannte davon.

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Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss, sie rannte die Treppe hinunter, dachte nicht darüber nach, was die Wachen wohl von ihr denken könnten. In ihren Räumen warf sie die Tür hinter sich zu, lehnte sich dagegen, atmete schwer. Den Kelch presste sie an sich. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Sie hatte ihn näher in Augenschein nehmen wollen, wissen wollen, ob er für ihren Plan geeignet war, ja. Nun, das hatte sie, mehr als ihr lieb war. Wer hatte auch wissen können, dass er halb nackt vor ihr stehen würde? Ihr Atem beruhigte sich langsam. Der erste Eindruck hatte nicht getrogen. Er war ein Krieger. Er würde für das, was sie plante, nützlich sein. Alles andere war nicht wichtig. Dass sie eben derart verwirrt gewesen war, lag sicherlich an dem völlig überraschenden Anblick.

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Einige Herzschläge lang starrte er die Tür an, durch die sie verschwunden war. Dann hob er das Tuch auf, mit dem er sich abgetrocknet hatte. Wann war es eigentlich zu Boden gefallen? Er legte es auf den Tisch, zog sein Hemd an und blickte auf die Wachen. Ob sie heute Nacht immer noch hier sein würden? Wie es jetzt wohl weitergehen würde? Er setzte sich auf das schmale Bett, lehnte sich zurück. Grüne Augen hatte sie … und auch wenn sie eben ein hochgeschlossenes Kleid getragen hatte, so wusste er doch … Er durfte nicht mehr daran denken, es gab Wichtigeres. Er musste einen Weg hier heraus finden. Und überhaupt, ein Krieger von Gearran hatte nur eine Verwendung für eine Frau aus Equos. Und daran war im Moment am allerwenigsten zu denken. Auch wenn sein Körper es verlangte. Er schloss die Augen, zwang sich, an etwas anderes zu denken. Finley … würde er es schaffen, ganz alleine? Wo war er? Wie es ihm wohl gerade erging? Und Vater? Waren die anderen Schiffe sicher an Land angekommen? Karney mochte gar nicht darüber nachdenken. Wenn alle Edlen Gearrans … Sie hatten in den letzten Monaten viele Rückschläge im Kampf gegen Equos erleiden müssen. Wenn dann noch ein solches Unglück seine Heimat treffen würde …

Die Tür wurde aufgerissen. Zwei Wachen traten mit festem Schritt ein, einer schrie einen Befehl. Karney schreckte aus seinen Gedanken auf, sah die beiden verständnislos an. Sie packten ihn, zogen ihn mit, die Treppe hinunter.

Ein riesiges Feuer loderte im Kamin der großen Halle, der Rauch zog bis zur hohen Tür, durch die sie eben getreten waren. An langen Tischreihen saßen Krieger, Knechte und Mägde. Der erhöhte Tisch am Kopfende, der für die Königsfamilie und die hohen Adeligen vorgesehen war, war noch leer, die anderen füllten sich langsam. Einer der Wachhabenden stieß ihn vorwärts, hin zum Tisch des Königs. Karney sah sich um. Die einzigen Zugänge zur Halle waren das Portal, durch das sie eben getreten waren und eine kleinere Tür in der Nähe der Tafel des Königs. Sicher führte sie zu den Privatgemächern der Herrscherfamilie. Ob sich auf diesem Weg eine Fluchtmöglichkeit ergab? Der Stoß der Wache hinter ihm erinnerte ihn daran, dass sie ihn nicht aus den Augen lassen würden. Vor dem Tisch des Königs blieben sie stehen, hielten ihn an den Armen fest. Reden und Lachen erfüllte den Saal. Karney bemerkte manch neugierigen Blick auf sich ruhen. Dann ein Fanfarenstoß, schlagartig wurde es still. Die Menschen erhoben sich. Der König betrat die Halle, an seiner Seite eine blonde Schönheit, die sicherlich zwanzig Jahre jünger war als er selbst. Warum nur kam sie ihm so bekannt vor? Sie lächelte Karney an, doch ihre Augen hatten etwas Kaltes, Lauerndes. Sie flüsterte dem König etwas zu. Der blickte ebenfalls zu ihm hin und lächelte.

„Ah, unser Gast!“ Karney hätte am liebsten wieder vor diesem falschen Grinsen ausgespuckt. Einer der Wächter stieß ihn an, der andere stellte ihm ein Bein. Karney stolperte, fiel vor dem König zu Boden. „Oh, höflich ist er auch. Schau, Malise, er geht vor mir auf die Knie, wie es sich gehört. Er weiß, wo sein Platz ist: im Staub, zu meinen Füßen.“ Der König und seine Begleiterin lachten. Karney presste die Lippen aufeinander. Der König mochte zu dieser blonden Hexe sprechen, doch es war klar, an wen die Worte eigentlich gerichtet waren. Nicht umsonst hatte dieser Feigling in der Sprache derer von Merzano geredet. Er wollte ihn, Karney, treffen. Feiglinge waren sie, die Könige von Equos, die größten Feiglinge unter dem weiten Himmel des guten Gottes! Er versteckte sich hinter seinen Wachen, die es ihm leicht machten, über Karney zu spotten. Einen fairen Kampf hätte dieser alte Schwächling keine zwei Minuten überstanden. Eine kurze Geste des Königs, die Wachen packten Karney an den Schultern, bekamen seine Haare zu fassen. Karney fluchte, als sie ihn hochzogen. Erneut musste er in das Gesicht des Königs starren. Und in diese kalten Augen seiner Begleiterin. Dieses Dauergrinsen des Königs … Karney versuchte, die Hände auf seinen Schultern abzuschütteln. Ein Schlag nur, ein einziger Schlag mit seiner Faust in dieses Gesicht. Es war doch sowieso egal, was er tat. Dieser Feigling sollte nicht glauben, dass er mit Karney spielen konnte. Die Hände hielten ihn fest, rissen weiter an seinen Haaren. Der König grinste. Er wusste ganz genau, wie verzweifelt Karney war. Der Prinz von Gearran versuchte, sich zu beruhigen, ihm nicht noch mehr Grund für dessen Amüsement zu geben. Es gelang ihm nur mühsam. Der König wandte sich währenddessen in seiner eigenen Sprache an die Anwesenden. Karney verstand nur zwei Worte: Karney, Gearran. Sie raubten ihm die letzte Hoffnung, die er tief im Innern noch gehabt hatte. Woher nur wusste dieser Abschaum es? Karney blickte zu Boden. Er konnte dieses spöttische Lachen nicht mehr ertragen. Er war seinem größten Feind ausgeliefert, ohnmächtig ausgeliefert. Hoffentlich gönnte er ihm einen schnellen Tod. Ein unterdrückter Schrei hinter dem König ließ ihn wieder aufblicken. Grüne Augen starrten ihn an. Ihren Mund hatte sie ein wenig geöffnet, sie schüttelte den Kopf, langsam, ungläubig. Sie hier am Tisch des Königs? Aber was hatte er denn erwartet? Spätestens als sie ihm den Wein gebracht hatte, hätte ihm klar sein müssen, dass sie keine Dienerin war. Der König grinste ihn weiterhin an, wies auf den Stuhl an seiner Seite. Ein Ehrenplatz zwischen König und Königin. Sie setzten ihr Spiel fort. An der anderen Seite des Königs saß ein blasser Junge, nicht viel älter als Finley. Und daneben die schwarzhaarige Schönheit mit den grünen Augen. War sie gar die Tochter des Königs? Karney wischte den Gedanken beiseite, zwang sich, geradeaus zu blicken. Der König von Equos wusste, dass er den Sohn seines größten Feindes in seiner Gewalt hatte. Woher nur? Welches Schicksal stand ihm bevor? Wie war die Lage in seiner Heimat? Wenn er und Finley nicht zurückkehren würden … Das Essen wurde aufgetragen, ein Diener häufte ihm Gemüse, Pastete und Braten auf den Teller. Karney rührte keinen Bissen an.

„Keine Angst, das Essen ist nicht vergiftet“, sprach der König leutselig. „Ich esse selbst davon. Und ich werde dich nicht töten. Ich brauche dich noch! Du kannst wahrscheinlich gar nicht ermessen, wie wertvoll du für uns bist. Unsere Gottheit hat uns ein unermessliches Geschenk gemacht.“ Er lächelte zu seiner Gemahlin hin. Zögerlich nahm Karney einen Laib Brot aus dem Korb, brach sich ein Stück ab, tunkte es in die Soße, spießte Gemüse auf und aß es langsam. Er musste bei Kräften bleiben, er musste essen, konnte sich den Stolz, darauf zu verzichten, nicht leisten. Wer wusste schon, was diese Ausgeburt von Verrätern noch mit ihm vorhatte. Weiches weißes Brot … Wann hatte er zuletzt ein solches Stück gegessen? Vor eineinhalb Jahren, bei Moyas Hochzeit … An der Tafel des Königs von Gearran wurde ein solcher Luxus schon lange nicht mehr gereicht. Und in der Grenzfestung, in der er den größten Teil des Jahres verbrachte, erst recht nicht. Sie mussten sich mit Brot aus dem Korn zufrieden geben, das auf den kargen Böden des Nordens noch wuchs, wie alle Untertanen. Die fruchtbare Ebene im Süden seiner Heimat … brennende Dörfer, erschlagene Menschen, selbst jenseits des Waldes, mehr als zwei Tagesritte von der Grenze entfernt. Es war unmöglich geworden, dort zu leben, obwohl er und seine Krieger ihr Bestes taten, um die Grenze sicher zu machen. Und an alledem waren dieser Verräter und seine gesamte Sippe schuld, der an seiner Seite saß. Der sich fetten Braten und feines Brot leisten konnte.

„Darum sollten wir uns auch mit einer besonderen Gabe bei der Gottheit bedanken.“ Die Stimme dieser Malise drang in sein Bewusstsein. „Und wie ich schon sagte, das beste Opfer wäre, wenn wir einen Teil des Geschenkes an Umgoroth zurückgeben würden.“ Die Königin lächelte herausfordernd, der König lachte, doch sein Lachen klang nicht echt. Die schwarzhaarige Schöne starrte missmutig vor sich hin, die ganze Zeit schon. Karney ließ Brot und Messer fallen. Die Worte der Königin … ihre Blicke … sein Magen krampfte sich zusammen. Er konnte nichts mehr zu sich nehmen. Diese Königin, sie strahlte eine Macht aus, die größer war als die des Königs, eine dunkle, bedrohliche Macht. Und plötzlich erinnerte er sich. Der Traum! Der Alptraum. Er hatte ihn vergessen gehabt. Aber nun stand er wieder deutlich vor seinen Augen. Malise … es war diese Malise gewesen, die den Stirnreif in ihrer Hand gehalten hatte. Seinen Stirnreif. Malise wandte ihren Kopf zu Karney hin und lächelte ihn spöttisch an. Sie wusste es. Sie wusste, woran er eben gedacht hatte, ganz sicher. Unbewusst rückte Karney so weit es ihm möglich war von ihr weg. Seine Hände klebten an der Lehne des Stuhls, er fühlte sein Herz bis zum Hals schlagen.

Die anderen beendeten ihre Mahlzeit schweigend. Erst als Obst und Kuchen aufgetragen wurden, wandte sich der König wieder an Karney.

„Ich habe noch eine Überraschung für dich. Vielleicht ist der Herr Kronprinz dann gewillt, mit mir zu reden!“ Er gab einem der Diener am großen Portal einen Wink.

Karney erkannte dieses trotzige Schreien, noch ehe die beiden Wächter ihn in die Halle geschleppt hatten.

„Finley!“ Er sprang auf. Sofort fühlte er die beiden Schwerter der Wachen, die die ganze Zeit hinter ihm gestanden waren, im Rücken. Der König grinste. Karney atmete schwer. Sein Herz brannte, als er mitansehen musste, wie sie Finley durch den Saal zerrten, bis hin zum Tisch des Königs. Sein kleiner Bruder wehrte sich, trat nach seinen Peinigern.

„Ihr Feiglinge, Dreckschweine, lasst mich los, ihr fetten Säcke! Ihr dreckigen Lumpen!“ Die beiden Wächter, die ihn hielten, lachten nur. Finleys Gesicht war geschwollen, aus seiner Nase tropfte Blut.

„Finley …“ Was hatten sie ihm angetan?

„Karney, was auch immer die verlangen, lass dich nicht von denen erpressen!“ Karney konnte seinen Bruder nur anblicken, langsam den Kopf schütteln. Der Kleine hatte recht. Was auch immer sie Karney oder Finley antun würden, er durfte keine Forderungen erfüllen, keine Geheimnisse preisgeben. Auch wenn es ihm das Herz zerreißen würde. Alles, was er konnte, war, dafür zu sorgen, dass Finley ein wenig besser behandelt wurde.

„Eure Männer sind wahrlich tapfer, König von Equos, dass sie sich an einem Kind vergreifen. Bei einem starken Mann wagen sie es wohl nicht!“

„Ah, schau an … ich wusste, dass ich dich zum Reden bringen würde.“

„Lasst den Kleinen zufrieden!“ Karney ging nicht auf den Spott ein.

„Sonst was? Ich denke nicht, dass du in der Lage bist, Forderungen zu stellen, Prinz von Gearran.“

„Dann seid Ihr wirklich ein Feigling und ein Führer von Feiglingen, König von Equos! Wenn Ihr zulasst, dass Eure Männer sich an einem Kind vergreifen.“

„Sollen sie ihren Übermut lieber an dir auslassen?“ Ein wenig zögerte Karney, ehe er antwortete. Folter und Kerker erwarteten ihn, das war ihm bewusst, Schmerzen, Demütigungen, Dunkelheit. Doch ein Blick auf Finley genügte. Es gab nichts zu Überlegen.

„Was gibt mir die Sicherheit, dass Ihr ihn dann in Ruhe lasst?“

„Nun, mein Wort wird dir nicht genügen, nehme ich an.“ Der König grinste, zog Karneys Überzeugung damit ins Lächerliche. „Ich kann dir aber versichern, dass ich kein Interesse an deinem Bruder habe, solange du am Leben bist. Er wird in eine Kammer eingesperrt werden, ja, aber er wird mit allem versorgt, was er benötigt, solange du gehorsam bist.“ Karney presste die Lippen zusammen. Wie weit durfte er gehen?

„Lasst Finley in Ruhe!“, sprach er nur noch einmal, fester, als er sich fühlte.

„Gut! Ihr seid alle Zeugen – Karney der Kronprinz von Gearran, begibt sich freiwillig in den Kerker.“ Der König sprach einige Worte in seiner eigenen Sprache, blickte die Wächter an. Sie senkten ihre Schwerter, packten ihn an den Armen, zogen ihn vom Tisch weg und stießen ihn vorwärts.

„Karney, lass dir das nicht gefallen! Zeigs denen!“ Finley heulte vor Wut. Karney riss sich los, war mit drei großen Schritten bei seinem Bruder, legte seine Arme um ihn und zog ihn an sich.

„Mache dir keine Sorgen!“, flüsterte er. „Gib denen keinen Grund, dich zu schlagen, ja? Und iss und trinke, was immer du bekommen kannst – wenn es einen Weg zur Flucht gibt, werde ich ihn finden. Und dann wirst du deine Kraft brauchen.“ Finley kämpfte gegen sein Schluchzen an und versprach es seinem großen Bruder. Ob er fühlte, dass Karney das nur sagte, um ihm Mut zu machen? Karney hatte keine Hoffnung, lebend hier herauszukommen. Dennoch, er trug die Nase hoch, als er seinen Bruder losließ, ihm noch einmal zunickte und sich abführen ließ.


Kapitel 3

Karney, der Kronprinz von Gearran. Der Sohn des größten Feindes von Equos. Nichts anderes konnte Gwenyn denken. Während des Essens starrte sie vor sich hin. Das war nicht möglich. Das Schicksal brachte einen solchen Mann ins Schloss. Einen draufgängerischen Krieger. Einen Gefangenen, der ihrem Vater keinen Gehorsam schuldete oder diesen Gehorsam bereits gebrochen hatte und sie deshalb nicht verraten würde. Einen besseren Gehilfen hätte sie sich für ihren Plan nicht wünschen können. Seine intensiven blauen Augen, seine Haare, aus denen Wasserperlen tropften …nun, daran dachte sie besser nicht! Er weckte Gefühle in ihr, die sie nicht einordnen konnte und sie am Denken hinderten. Und das machte ihn gefährlich. Aber das war er so oder so. Karney, der Kronprinz von Gearran. Ein Abkömmling von gewalttätigen Kriegstreibern, die nur an ihren Vorteil dachten und keinerlei Rücksicht nahmen. Verstohlen blickte sie ihn an. Man konnte Menschen nicht nach ihrem Äußeren beurteilen, dafür war er der beste Beweis. Mit hoch erhobener Nase saß er neben ihrem Vater, war zu stolz, um auch nur ein Wort mit ihm zu wechseln. Sie starrte wieder auf den Teller. Warum musste sie das Schicksal so quälen? Ihr großes Glück vorgaukeln, das sich dann als nichts als eine faule Frucht herausstellte. Erst als ihre Stiefmutter begann, von dem Opfer zu sprechen, wandte sie den Blick in ihre Richtung.

Wenn sie jemanden mehr hasste, als die Menschen von Gearran, dann war es ihre Stiefmutter. Ihre Worte jagten ihr einen Schauer über den Rücken. Ihrem Gott das Geschenk zurückgeben? Sie wollte den Kronprinzen opfern? Ihr scheußliches Ritual an ihm vollziehen? Er war der Sohn des größten Feindes ihrer Heimat. Er war ein Krieger und sicherlich schon an der Grenze im Einsatz gewesen. Aber das? Nein, das durfte nicht sein. Vater schien ebenfalls nicht glücklich darüber. Irvyn, ihr Bruder, stocherte in seinem Essen herum, wie meist.

„Iss richtig! Und genug …“, wies sie ihn leise an. Schweigend setzte sie ihre Mahlzeit fort. Karney, der Kronprinz von Gearran. Warum? Warum er? Sie war so sehr in ihre Gedanken vertieft, dass sie erst wieder aufmerkte, als ein schreiender Junge in den Saal gezerrt wurde. Ein Bengel mit zerzausten blonden Haaren, die bis in den Nacken fielen. Ein Junge mit strahlend blauen Augen. Karneys Bruder, das konnte er nicht verleugnen. Das Einzige, was die beiden unterschied, waren die Größe und die Haarfarbe. Wie der Kronprinz sich für ihn einsetzte, stolz und selbstlos, wie er sich von ihm verabschiedete, so liebevoll. Wie konnte das nur sein? Die Menschen von Gearran waren brutal, grausam, unbarmherzig und nur auf ihren Vorteil bedacht. Sie starrte ihm nach, als er abgeführt wurde.

„Bringt ihn nicht um, wenn ihr euch mit ihm vergnügt! Ich brauche ihn noch.“ Ihr Vater setzte sich wieder, trank seinen Wein leer, seufzte zufrieden. Gwenyn rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. Endlich stand ihr Vater auf.

„Gehe in deine Räume! Ich lasse dich später rufen“, sprach sie zu ihrem Bruder. Bis zu der Tür schaffte sie es, gemessenen Schrittes zu gehen. Dann rannte sie los. Sie hatte durch die Räume des Königs einen kürzeren Weg als die Wachen, die durch unzählige Gänge und den Schlosshof mussten, um zum Kerker zu gelangen. Wenn sie sich beeilte, dann war sie noch vor ihnen im Kerker.

Sie schlüpfte in einen Seitengang, als sie das Lachen der Wachen hörte. Wieder fragte sie sich, was sie hier eigentlich tat. Sie war losgelaufen, ohne zu denken. Warum war sie hier unten und spionierte einem Mann hinterher? Einem Mann, der sie nicht zu interessieren hatte! Dem größten Feind … Sie drückte sich an die Wand. Das Licht der Fackeln fiel in den Gang, die Wächter zogen lachend und grölend mit dem Gefangenen vorbei. Gwenyn spürte ihr Herz bis zum Hals schlagen. Doch sie bemerkten sie nicht, entfernten sich wieder. Vorsichtig spähte sie ums Eck. Der Gang war leer. An seinem Ende sah sie Licht und hörte dieses Lachen.

„Wir haben heute einen besonderen Gast! Das müssen wir feiern!“ Unter dem Gelächter schlich sie näher. Dann die ersten Schläge, ein Körper, der zu Boden fiel. Durch ein Gitter konnte sie aus einer Mauernische heraus in die Wachstube des Kerkers blicken. Einer der Wächter zog den Prinzen hoch, vier weitere standen um ihn herum. Seine Nase blutete bereits. Sie schlugen ihn, sie quälten und demütigten ihn. Gwenyn wandte ihren Blick ab, hörte, wie er sich übergab, sein leises Stöhnen, das Lachen und den Spott der Wächter. Er ertrug alles stolz, ohne um Gnade zu winseln, ohne Gegenwehr. Gwenyn wollte es nicht mehr hören. Aber ihre Beine waren wie festgewachsen. Sie konnte sich nicht rühren. Irgendetwas hielt sie bei dem grausamen Schauspiel fest.

„Lasst mich mal, ich weiß, wie man den Willen dieser Hurensöhne aus Gearran bricht!“ Einer der Wächter übernahm das Kommando. Er schien Erfolg zu haben. Plötzlich begann der Prinz zu schreien, durchdringend, langanhaltend. Gwenyn schreckte auf, blickte in die Wachstube. Kurz hielt sie den Atem an bei seinem Anblick. Sie hatten ihm das Hemd vom Leib gerissen, die Flammen der Fackeln warfen ihr orangerotes Licht auf seinen Oberkörper, seine angespannten Muskeln, tanzten darauf. Vier Wächter hielten ihn, während ein fünfter an seinen Haaren zerrte und mit einem Messer Strähne um Strähne abschnitt. Der Prinz versuchte, um sich zu schlagen, nach den Wächtern zu treten. Und schrie. Schrie so laut, dass es durch das gesamte Gewölbe des Kerkers hallte. Schließlich hatte der Wächter sein Werk vollendet, warf die letzte lange Strähne Karney vor die Füße. Der Kronprinz von Gearran brach zusammen. Er sank auf den Boden, als ob ihn jegliche Kraft verlassen hätte. Die Wächter ließen ihn los. Sie lachten und spotteten weiter.

„Sehr gut! Die Fransen haben sowieso nur gestört.“ Einer von ihnen griff nach einer Peitsche und schlug zu, immer wieder. Karney rührte sich nicht mehr, nur seine Muskeln zuckten bei jedem Schlag. Waren das Tränen oder Schweißtropfen, die das Blut in seinem Gesicht verschmierten? Gwenyn wollte es nicht wissen! Was ging dieser Mann sie an? Er hatte es nicht besser verdient, redete sie sich ein. Er war ihr Feind, kalt und unbarmherzig wie alle Herrscher von Gearran. Überhaupt, was für ein eitler Gockel war das denn? Er heulte, nur weil ihm seine Haare abgeschnitten wurden. Seine zugegebenermaßen wundervollen Haare. Sie wandte sich um und rannte in ihre Räume.

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Modrige Kälte weckte ihn. Es blieb finster um ihn her, als er die Augen aufschlug. Er lag auf eisigem, rauem Gestein und fauligem Stroh. Zumindest drang fauliger Geruch in seine Nase, mischte sich nach und nach mit dem Gestank nach Urin und Kot. Je mehr seine Sinne erwachten, desto stärker fühlte er die Schmerzen seines Körpers, das Brennen seines aufgerissenen Rückens. Er würde sterben, bald. Doch war das nicht gleichgültig? Er hatte Finley ein Versprechen gegeben, das er nicht halten konnte. Und seine Ehre war verloren, seine Würde. Den Stolz eines freien Mannes von Gearran hatten sie ihm geraubt, vor die Füße geworfen, in den Staub. Dass sie ihn bis zur Bewusstlosigkeit geschlagen hatten, hatte er kaum noch wahrgenommen. ‚Hat Aban uns verlassen? ‘ Es schien eine Ewigkeit her, dass Finley ihn das gefragt hatte. Wirklich glauben konnte Karney es immer noch nicht. Aber es musste wohl so sein. Ansonsten hätte der Gute Gott längst ein Wunder geschickt.

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Sie ließ sich von Irvyn erzählen, was er heute gelernt hatte. Dann setzte sie sich mit einem Buch an den Kamin. Doch die Worte zogen bedeutungslos an ihr vorüber. Immer wieder sah sie diese blauen Augen vor sich, diesen von Fackeln beschienenen Körper. Er war ein mächtiger Krieger, kein Zweifel. Vielleicht sollte sie doch mit dem Gedanken spielen … Wenn man davon absah, dass er der Kronprinz von Gearran war, konnte sie sich keinen besseren für ihr Vorhaben wünschen. Er mochte eitel ohne Ende sein, doch mit diesen Muskeln … und wie ihm im Schlosshof fast die Flucht gelungen wäre … Aber konnte sie das wirklich tun? Diesem Mann zur Flucht verhelfen? Ausgerechnet ihm? Dessen Vater für so viel Leid verantwortlich war. Und eines Tages würde auch er … wenn er nicht … ja, was eigentlich? Ihre Stiefmutter wollte ihn Umgoroth opfern. Missmutig legte sie ihr Buch zur Seite, rief nach Tonia, die ihr helfen sollte, sich für die Nacht bereit zu machen. Ihr Untergewand war mit rotbraunen Flecken verschmiert. Auch das noch! Ihr monatlicher Blutfluss hatte eingesetzt.

Auch nachdem Tonia die Kerzen gelöscht und das Schlafzimmer verlassen hatte, fand Gwenyn keine Ruhe. Zu viel war heute geschehen. Er wäre geeignet wie kein anderer. Und lange konnte sie nicht mehr warten, Malise war im sechsten Monat schwanger. Malise, die Karney, den Kronprinzen von Gearran, ihrem fürchterlichen Gott opfern wollte. Wieder wollte sich Mitleid in ihr Herz schleichen. Doch nein! Er war ein Krieger von Gearran, hatte mit niemandem Mitleid. Und er hatte keines verdient. Sie musste doch nur an die Boten denken, die Nachrichten von der Grenze im Norden brachten. Was sie da schon für schreckliche Dinge gehört hatte, als sie in einer Ecke im Thronsaal gesessen war und sie niemand beachtet hatte. Dinge, die sie noch nicht einmal in ihren Gedanken wiederholen wollte. Und dieser Karney war ein Krieger! Er war sicher schon dort gewesen und hatte Schuld auf sich geladen. Gwenyn drehte sich auf die andere Seite. Irvyn und sie mussten hier weg, so schnell wie möglich. Vielleicht … wenn sie sich entsprechend rüstete … das Kloster, in dem Onkel Melvyn lebte, hatte hohe Mauern. Niemand konnte daraus fliehen. Wenn dieser Kronprinz darin gefangen war … er bliebe zumindest am Leben, auch wenn er keinen Schaden mehr anrichten konnte. Das war erheblich mehr, als er hier zu erwarten hatte. Und sie hätte ihr Ziel erreicht, wäre mit Irvyn in Sicherheit. Ein Kloster Abans galt auch heute noch als sicherer Zufluchtsort für alle Schutzsuchenden. Auch der König würde Irvyn und sie zu nichts zwingen können, wenn sie erst einmal dort angekommen waren. Sie würde diesem Prinzen von Gearran ein Angebot machen, das er nicht ablehnen konnte. Erneut drehte sie sich auf die andere Seite. Wie es ihm wohl gerade erging? Als sie den Kerker verlassen hatte, hatten sie ihn ausgepeitscht. Nachdem sie ihm die Haare abgeschnitten hatten. So ein eitler Schnösel! All die Demütigungen und Schläge hatte er ertragen, aber wegen so etwas heulte er. Sie drehte sich auf den Rücken. Etwas, was dieser Prinz im Moment ganz sicher nicht konnte, schoss es ihr durch den Kopf. Er war schwer misshandelt worden, hatte offene Wunden. Sie konnte ihn nicht im Kerker dahinvegetieren lassen. Für ihren Plan musste er kräftig genug sein. Sie musste dafür sorgen, dass er gesund gepflegt wurde. Gleich morgen früh musste sie dafür sorgen. Sie drehte sich wieder auf die andere Seite, versuchte, endlich einzuschlafen. Doch was war, wenn Vater andere Pläne mit ihm hatte? Wenn er vor ihr im Kerker sein würde? Außerdem, je länger die Wunden unbehandelt blieben, desto gefährlicher wurde es für diesen eitlen Gockel. Sie sprang auf und rief nach Tonia.

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Still war es geworden. Nur ab und an ein Rascheln im Stroh. Karney dämmerte vor sich hin. Gearran … sein Volk … sein Volk, das leiden musste … und er, sein Prinz, konnte ihm nicht helfen, es nicht beschützen … würde ihm nie wieder helfen können … Die immer lauter werdenden Stimmen drangen nur langsam in sein Bewusstsein. Eine Frau, wütend, bestimmend. Dann öffnete sich die Tür seines Gefängnisses. Zuerst wurde er zu sehr von den Fackeln geblendet. Doch dann erkannte er sie. Das Wunder, es stand vor ihm.

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„Wie könnt ihr ihn nur in einem solchen Zustand in den Kerker werfen?“ Gwenyns Zorn war nicht gespielt. „Mein Vater hat befohlen, dass er am Leben bleiben muss! Und was macht ihr? Werft ihn mit offenen Wunden in dieses Loch! Da ist Wundfieber oder gar Wundbrand unvermeidlich. Und beides führt zum Tod!“ Die Wächter wichen einen Schritt vor den funkelnden Augen der Königstochter zurück.

„Verzeiht, Prinzessin, wir …“

„Eine unfähige Bande seid ihr, die nicht weiter denken kann als bis zur nächsten Mahlzeit. Eigentlich müsste man euch so behandeln wie ihr ihn behandelt habt. Jetzt macht euren Fehler wieder gut und tragt ihn hoch in die Kammer, in der er vorhin untergebracht war. Ich werde versuchen, euren Fehler wieder gut zu machen. Aber um eurer selbst willen, schweigt dem König gegenüber, so lange ihr könnt!“ Zwei Wächter beeilten sich, eine Trage zu holen. Ein dritter blieb mit der Fackel zurück. Gwenyn blickte auf Karney hinab. Kurz hatte er sie angeblickt, als sie seinen Kerker betreten hatten. Nun hatte er wieder seinen Kopf auf seinen Arm gelegt. Es würde Tage dauern, bis er soweit hergestellt war, dass er sie begleiten konnte. Nun, im Moment konnte sie sowieso nicht, mit dieser Last, die Frauen tragen mussten, wie Tonia immer sagte. Aber die Verletzungen dieses Kronprinzen spielten ihr in die Hände. Sie konnte ihn aus dem Kerker holen und den Wächtern einen plausiblen Grund zum Stillschweigen geben. Und in aller Ruhe die nötigen Vorbereitungen treffen. Es würde ein Vielfaches leichter sein, ihn aus der Kammer zu befreien als aus dem Kerker. Sie folgte den Wächtern, nachdem sie ihn auf die Trage gebettet hatten. Tonia wartete in der Wachstube.

„Wir brauchen Wasser, heißes Wasser. Er stinkt so sehr, dass ich ihn liebsten in den Zuber stecken würde.“

„Überlasst das mir, Prinzessin. Ich werde die alte Berta wecken und wir werden uns darum kümmern, dass er gewaschen wird und neue Kleidung erhält. Sorgt Ihr für die Heilkräuter, die er benötigt.“ Gwenyn sah Tonia von der Seite an. Irgendetwas bezweckte ihre Dienerin. Doch Gwenyn konnte nicht erkennen, was. Deshalb nickte sie nur und begab sich in ihre Räume, um Kräuter und Salben zu holen.

Als Gwenyn mit Leinen und Utensilien in die Kammer trat, hatten Berta und Tonia ihre Arbeit bereits erledigt. Der Gefangene lag auf dem Bett unter einem Leintuch und einer Decke. Er roch erheblich besser. Doch er regte sich nicht.

„Er ist wieder ohnmächtig geworden. Die jungen Leute von heute …“ Gwenyn musste wider Willen lächeln. Berta war nicht für ihre Sanftheit bekannt.

„Ich danke dir!“, sprach sie jedoch.

„Seine Kleider haben wir ins Feuer geworfen. Zu mehr waren sie nicht zu gebrauchen.“

„Ich danke dir“, wiederholte Gwenyn, während sie das Leinen von seinem Rücken schob. Noch immer hatten sich die Wunden nicht geschlossen. Sie legte in Wein eingelegte Heilkräuter darauf. Mehr konnte sie nicht tun. Sie sollte wieder schlafen. Wenn sie morgen Vater begegnete, durfte sie nicht müde sein. Er durfte keinen Verdacht schöpfen. Zwei Wächter standen immer noch unschlüssig in der Türe, der dritte war in den Kerker zurückgekehrt.

„Einer von euch wird bei ihm bleiben. Ich denke nicht, dass er Schwierigkeiten machen kann, aber sicher ist sicher. Wenn sich sein Zustand verschlechtert, er Fieber bekommt, dann sagt mir Bescheid! Und ich warne euch noch einmal! Schweigt darüber, dass er hier ist. Denn sonst wird der König erfahren, dass ihr ihn fast umgebracht habt!“ Als sie die Stufen hinunterschritt, war sie überzeugt, dass sie nicht würde schlafen können. Sie war zu aufgewühlt. Doch sobald sie ihr Obergewand ausgezogen und sich auf ihrem Bett niedergelassen hatte, schlief sie ein.

Lange blieb sie am nächsten Morgen noch liegen, nachdem Tonia sie geweckt und das Frühstück auf den Tisch gestellt hatte. Und das lag nicht an ihrer Müdigkeit. All die Monate, die sie darüber nachgedacht hatte, Irvyn und sich in Sicherheit zu bringen, waren es nur Gedankenspiele gewesen. Doch nun hatte sie die Möglichkeit, es tatsächlich zu tun. Sie sollte glücklich darüber sein. Doch sie empfand nur Angst. Angst vor den langen Tagen der Flucht, Angst, dass Irvyn etwas zustoßen könnte, Angst, mit diesem Mann unterwegs sein zu müssen, auch wenn sie den Schutz eines Kriegers benötigte. Nun, sie würde sich entsprechend rüsten. Doch wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass es nicht seine Fähigkeiten als Kämpfer waren, die ihr Angst machten. Entschlossen stand sie auf. Das viele Grübeln half nicht weiter und machte sie nur zaghaft.

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Er fühlte die Kissen unter sich. Sein Rücken brannte noch immer. Seine Muskeln schmerzten. Sicher war er mit blauen Flecken übersät. Wie sein Gesicht aussah, wollte er gar nicht wissen. Nur sein Kopf fühlte sich seltsam leicht an. Seine schweren Haare, sie hatten sie geraubt. Dann war es also kein Traum gewesen. Karney lag in dieser kleinen Kammer, in der er gestern schon gewesen war. Geschlagen, gedemütigt und dann doch aus dem Kerker befreit. Von der Unbekannten mit den langen schwarzen Locken, die auf ein schneeweises Dekolleté … Er unterbrach seine Gedanken, versuchte, sich von dem Bild abzulenken, das sich ihm gestern eingebrannt hatte. Die Reaktionen, die dieser Gedanke hervorrief, durfte er seinem geschundenen Körper nicht auch noch zumuten. Finley! An ihn musste er denken! War er wirklich gut versorgt worden? Und erträglich untergebracht? Karney hatte versprochen, eine Fluchtmöglichkeit zu finden. Trotz seiner Schmerzen, drehte er sich zur Seite und richtete sich ein wenig auf. Und erblickte den Wächter an der Tür. Er hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und schien eingenickt zu sein. Dennoch, Karney würde nicht so einfach an ihm vorbeispazieren können. Und wer wusste schon, ob nicht noch andere vor der Türe standen, so wie gestern auch. Seine Lage hatte sich nicht verbessert, im Gegenteil. Karney ließ sich zurück in die Kissen fallen. Die Augen schließen und hoffen, dass die Ruhe seine Wunden heilen ließ, mehr konnte er im Moment nicht tun. Und nicht aufgeben. Irgendwie, irgendwann würde er sein Versprechen doch noch halten können. Er musste nur die Augen offenhalten und durfte keine Fluchtmöglichkeit übersehen. Doch als Gwenyn und Tonia wenig später nach ihm sahen, war er bereits wieder eingeschlafen.

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Der Wächter sprang auf und stand stramm, als die beiden den Raum betraten.

„Besorge uns etwas Wasser!“, wies Gwenyn ihn an. Sie konnte den Blick nicht von Karneys Gesicht abwenden. Friedlich sah er aus, fast schon unschuldig, während er schlief. Daran konnten auch die Kratzer und Schwellungen nichts ändern. Wütend auf sich selbst wandte sie sich ab und stellte den Korb mit den Kräutern und Salben auf den Tisch, auf dem Tonia schon Brot und Obst abgelegt hatte. Als sie die Decke von seinem Rücken nahm, schreckte er auf, ließ sich aber sofort wieder mit schmerzverzerrtem Gesicht zurückfallen.

„Bleibt liegen, bis ich die Wunden behandelt habe! Danach könnt Ihr meinetwegen etwas essen.“ Er nickte ergeben, während sie die Kräuter entfernte und den Rücken noch einmal mit Wein wusch. Ein wenig unangenehm war es ihr, die Salbe auf seine Wunden zu streichen und zu wissen, dass er wach war. Was er wohl dachte, während sie ihn berührte? Eigentlich war das ja völlig unanständig.

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Gwenyn verbrachte die nächsten Tage damit, Vorräte zu horten und Vorbereitungen zu treffen. Eine Karte brauchte sie, deshalb schlich sie nachts heimlich in die Bibliothek und zeichnete ab, was sie benötigte. Und bei alledem musste sie darauf hoffen, dass ihr Vater nicht nach dem Gefangenen fragte. Und nichts von ihren Unternehmungen bemerkte. Auch Irvyn wollte sie so spät wie möglich einweihen. Er sollte sich völlig normal benehmen, durch nichts auffallen.

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Karney versuchte immer wieder, sich aufzurichten, biss manches Mal die Zähne zusammen, wenn er aufstand. Aber er durfte nicht zu lange liegen bleiben, das wusste er. Schlaf war gut für die Heilung, ja. Aber je länger er liegen blieb, desto schwächer würden seine Muskeln werden. Und das konnte er nicht zulassen. Er hatte Finley versprochen, einen Weg hier heraus zu finden. Und er wollte sein Versprechen halten. Wieder einmal stand er am Fenster und grübelte. Er musste hier heraus. Er musste wissen, wie es um seine Heimat stand. Und um die Krieger seiner Grenzfestung, die ohne ihren Anführer auskommen mussten, auch wenn er Ruary bedingungslos vertraute. Die Tür öffnete sich. Karney nahm an, dass diese Königstochter oder ihre Dienerin wieder einmal gekommen waren, denn der Wächter sprang auf und stand stramm. Doch nichts weiter rührte sich. Er wandte sich um und blickte in die Augen des Königs, der ihn unverhohlen musterte. Ein spöttisches Lächeln umspielte die Lippen dieses Abschaums, dann wandte er sich um und schritt zur Tür hinaus. Der Wächter schloss die Tür hinter ihm.

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Es hatte so kommen müssen! Wie hatte sie nur glauben können, dass sie es vor ihrem Vater geheim halten konnte? Sie wusste in dem Moment, in dem er sie zu sich rufen ließ, dass er ihr Geheimnis herausgefunden hatte. Er kümmerte sich sonst auch nicht um sie. In seinem Arbeitszimmer wartete er.

„Herr Vater …“

„Komm herein, Gwenyn!“

„Ihr habt mich rufen lassen?“

„Du kannst dir sicher denken warum …“ Sie antwortete nicht, blickte zu Boden. „Du hast einen Gefangenen aus dem Kerker holen lassen“, fuhr er sie an. „Den wichtigsten Gefangenen, den wir jemals hatten. Schlimm genug, aber du pflegst ihn, lässt ihm eine Ehre zukommen, die ich noch nicht einmal meinem engsten Verbündeten gewähren würde. Was hast du dir dabei gedacht?!“

„Herr Vater … er war schwer verwundet … er wäre gestorben, wenn er im Kerker geblieben wäre … und Ihr habt doch den Befehl gegeben, dass er leben muss …“

„Ach schweig! Ich will deine Ausreden nicht hören!“ Gwenyn biss sich auf die Lippen. All ihre Hoffnung, ihre Mühe … völlig umsonst … Sie war keinen Schritt weiter. Im Gegenteil, Vater würde sie jetzt schärfer bewachen als zuvor. Bisher war sie ihm gleichgültig gewesen, aber jetzt … Sie hatte die Chance, zu fliehen, verspielt. Sie konnte ihrem Schicksal nicht entkommen. Malise würde sie vernichten. Sie und Irvyn. Tränen traten ihr in die Augen. Sie fühlte Vaters Hand auf ihrer Wange. „Du musst nicht gleich weinen, mein Kind …“, sprach er ruhiger. „Warum hast du das nur getan? Und warum wolltest du es vor mir geheim halten? Du hättest doch wissen müssen, dass ich im Kerker nach ihm suchen werde.“

„Er hat mir einfach leidgetan … und er wäre wirklich gestorben, wenn er im Kerker geblieben wäre. Vater, sie haben ihn ausgepeitscht. Er lag mit offenen Wunden in diesem dunklen Loch. Ihr hättet ihn wieder zurückbringen lassen. Und dann hätte er Fieber bekommen und wäre gestorben.“ Gwenyn schluchzte. Ihr Vater sah sie nachdenklich an, verschränkte die Hände hinter seinem Rücken und lief zum Fenster, blickte gedankenverloren hinaus.

„Er ist ein beeindruckender Mann, dieser Prinz von Gearran. Stark, stolz – das muss man ihm lassen …“ Gwenyn starrte ihn an. Was wollte ihr Vater damit sagen? Er wandte sich ihr wieder zu. „Nun, mein Kind, wir haben lange genug gewartet. Du wirst heiraten! Ich werde umgehend einen Boten losschicken.“

„Was?“ Gwenyn starrte ihn an. „Aber Vater …“

„Keine Widerrede! Du bist seit Jahren dem Herzog versprochen. Ich habe nur immer wieder auf dein Betteln gehört, weil Irvyn noch so klein war und ihr eure Mutter verloren hattet. Aber er ist jetzt alt genug! Er braucht dich nicht mehr.“

„Vater … bitte … gönnt uns noch ein Jahr … ein halbes … Irvyn, er ist noch so jung …“ Tränen liefen über ihre Wangen.

„Nein! Das ist mein letztes Wort!“ Ihr Vater setzte sich an seinen Schreibtisch und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. „Du darfst gehen!“

Gwenyn schlich hinaus, den Blick gesenkt. Die Tränen in ihren Augen machten ihr das Sehen schwer. Schritt sie wirklich durch die Gänge oder träumte sie das nur? Endlich war sie in ihrem Zimmer angelangt. Sie ließ sich in ihr Bett fallen und schluchzte laut. Tonia eilte zu ihr, legte einen Arm um ihre Schulter.

„Herrin, was ist geschehen?“

„Er will mich verheiraten, Tonia! Vater will, dass ich heirate. Und zwar so bald wie möglich …“

„Oh, aber eine Hochzeit ist doch etwas Schönes. Ihr werdet sicher glücklich werden, Herrin.“

„Du verstehst nicht, Tonia!“ Gwenyn setzte sich auf. „Ich darf Irvyn nicht alleine lassen! Sie wird ihn töten. Sie will uns beide töten. Ich könnte mich vielleicht durch eine Heirat retten. Aber Irvyn wäre dann noch viel mehr in Gefahr.“ Sie faltete die Hände und starrte vor sich hin. „Ich darf es nicht länger hinauszögern! Ich muss endlich handeln! Vater darf keine Gelegenheit mehr haben, ihn in den Kerker zu bringen …“

„Herrin, was habt Ihr vor?“ Tonia blickte Gwenyn mit großen Augen an.

„Schwöre, dass du es niemanden verraten wirst! Dann erkläre ich es dir. Ich brauche dich, Tonia.“ Tonia schwor es und Gwenyn erzählte.

Kapitel 4

Karney stand am Fenster und blickte hinunter. Was hatten der König und die Königin vor? Ihn ihrem Gott opfern … ob diese Hexe es wirklich ernst gemeint hatte? Er traute es ihr zu. Diese Kälte … Karney fröstelte schon bei dem Gedanken daran. Er, der Kronprinz Gearrans, hatte Angst vor dieser Malise, die ihn Umgoroth opfern wollte. Einst waren Aban und Umgoroth wie Brüder gewesen. Als der Schöpfer allen Lebens die Welten erbaute und die Menschen auf diese Erde setzte, hatte er Aban und Umgoroth beauftragt, über sie zu wachen. Denn er wusste, dass die Menschen von widersprüchlichen Gefühlen getrieben wurden. Aban wurde wie ein Vater für die Menschen, doch Umgoroth wollte sie unterjochen und ihnen seinen Willen aufzwingen. Die beiden trennten sich im Streit. Seit jener Zeit streift Umgoroth umher und versucht, Menschen auf seine Seite zu ziehen. Gelingt ihm das, so gibt er ihnen unermessliche Macht und Erfolg in allen Dingen. Doch es sind Getriebene, die immer mehr Macht wollen. Die Kinder Abans jedoch finden Frieden in ihrem Herzen, auch wenn die Welt um sie herum voll Krieg ist. Sie sind nicht frei von Fehlern und verletzen sich oft gegenseitig. Doch Aban vergibt gerne, wenn seine Kinder es aufrichtig bereuen, während Umgoroth nicht vergibt. Den Königen dieser Erde kommt dabei eine besondere Verantwortung zu, denn woran der König glaubt, daran wird auch das Volk glauben. So hatte es Karneys Lehrer, ein Priester Abans, einmal erklärt. Was war an der Geschichte wahr und was Legende? War das wichtig? Die Könige Gearrans dienten Aban treu, solange es Aufzeichnungen gab. Sie hielten sich an die Feiertage und nahmen an den Festen und Rieten zu Ehren Abans teil. Und es passte ins Bild der Könige von Equos, dass diese Umgoroth zu ihrem Gott erkoren hatten. Und diesem grausamen Gott sollte er geopfert werden. Ihn schauderte schon bei dem Gedanken daran, hier am Fenster, beim Anblick der herrlichen Nachmittagssonne.

Warum war der König vorhin hier gewesen? War seine, Karneys, Zeit gekommen? Wollten sie die Opferung durchführen? Sicherlich hatte er Karney nur deshalb gesund pflegen lassen. Von der Königstochter persönlich. Von dieser schwarzhaarigen Schönheit mit einer Haut … Karney schloss die Augen. Nicht daran denken! Er musste darüber nachdenken, wie er Finley wiederfinden konnte. Wie er hier herauskommen konnte, so schnell wie möglich. Als wenn sie seine Gedanken erraten hätte, die Tochter des Königs öffnete die Tür und schickte die Wache weg. Er wandte sich um und hielt sich am Fensterbrett fest.

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„Ich muss mit Euch reden!“ Gwenyn lief im Zimmer auf und ab. Sie vermied es, ihn anzusehen. Nicht nur, dass das Licht sie blendete, das durch das Fenster hinter ihm fiel. Seine Augen, sie konnte ihn nicht ansehen, ohne verwirrt zu sein. Und sie musste bei klarem Verstand bleiben, bei dem, was sie vorhatte. „Ihr habt meine Stiefmutter, die Königin, kennengelernt. Sie dient einem grausamen Gott und möchte Euch ihm opfern. Ich kann Euch retten! Ihr werdet mich und meinen Bruder zu meinem Onkel begleiten!“

„Was?!“

„Mein Onkel lebt in einem Kloster. Mein Bruder und ich, wir müssen dort Zuflucht suchen. Ihr werdet ebenfalls im Kloster bleiben, für den Rest Eures Lebens. Das mag Euch wie Gefangenschaft vorkommen, aber Ihr werdet leben. Das ist mehr, als Ihr hier erwarten könnt.“

„Und was sagt Euer Vater zu Eurem Vorhaben?“

„Das geht Euch überhaupt nichts an!“ Sie blickte zu ihm hin, stieß ein ganz und gar unköniglichen Laut aus. Warum sagte er nicht einfach ‚ja‘? War ihm denn nicht bewusst, was ihn erwartete, wenn er hier blieb?

„Also weiß er nichts davon. Ihr wollt einfach davonlaufen.“

„Und wenn? Was geht das Euch an!? Mein Bruder ist erst zwölf. Wir brauchen eine männliche Begleitung. Also werdet Ihr mitkommen!“

„Warum? Warum wollt Ihr hier weg?“

„Das geht Euch nichts an! Und ist auch nicht wichtig.“

„Für mich ist es wichtig, zu wissen, warum ich mein Leben aufs Spiel setze, wenn ich mit der Königstochter fliehe.“

„Wenn Ihr hierbleibt werdet Ihr so oder so sterben! Begreift das doch endlich! Sie will Euer Blut trinken, Euer Herz bei lebendigem Leib herausschneiden!“ Das schien ihn endlich nachdenklich zu machen. Er senkte den Kopf.

„Ich gehe nur, wenn Finley mitkommt!“, sprach er schließlich.

„Was?! Das geht nicht! Ich habe schon alles vorbereitet. Wir können nicht noch jemanden mitnehmen.“ Warum war er nur so stur?

„Ich sterbe lieber als ihn zurückzulassen!“

Sie sah zu ihm hin, funkelte ihn an. Er wirkte ruhig, entschlossen. Inzwischen war sie so wütend, dass sie nicht mehr denken, geschweige denn sprechen konnte.

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Die Lage, in der er sich befand, war ernst, um nicht zu sagen tödlich ernst. Dennoch, es war amüsant, zu beobachten, wie sie versuchte, ihn zum Mitkommen zu zwingen. Ein kleines bisschen Macht hatte er über sie. Und das kostete er aus. Doch es war Zeit, das Spiel zu beenden.

„Ich gehe nur, wenn Finley mitkommt! Ich sterbe lieber als ihn zurückzulassen.“ Sie war sprachlos vor Zorn. Und er bekam Mitleid. Die Königin war schwanger. Wenn diese zwielichtige Schönheit die Stiefmutter der Prinzessin war, dann würde sie ihr eigenes Kind auf den Thron bringen wollen. Und dann mussten Gwenyn und ihr Bruder genauso um ihr Leben fürchten, wie er, Karney, selbst. Er musste Gwenyn als Feindin ansehen. Aber sie war verzweifelt, hilflos, auch wenn sie nach außen hin die Starke spielte. Er musste ihr helfen! Außerdem bot ihm das eine Möglichkeit zu fliehen, wie er es nicht zu träumen gewagt hatte. „Versucht doch, mich zu verstehen.“, sprach er deshalb beschwichtigend. „Wenn Ihr an meiner Stelle wärt, würdet Ihr Euren Bruder einfach zurücklassen?“ Sie senkte den Kopf, blickte zu Boden.

„Nein, ganz sicher nicht“, flüsterte sie schließlich. Einige Augenblicke dachte sie nach. „Gut, ich werde sehen, was ich tun kann. Aber versprecht Euch nicht zu viel davon. Heute Nacht brechen wir auf.“

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Er schreckte aus dem Schlaf hoch.

„Karney!“ Jemand fiel ihm um den Hals.

„Finley?“ Er konnte es nur erahnen, in der Dunkelheit. Noch halb im Schlaf richtete er sich auf. Diese Gwenyn hatte es also wirklich ernst gemeint. Und sie hatte Finley befreit.

„Keine Zeit für eine lange Begrüßung! Wir müssen hier weg, es ist alles vorbereitet! Und die Wache wird nicht ewig bewusstlos sein!“ Die Prinzessin, in einem Ton, in dem Karney mit unfähigen Grünschnäbeln sprach. Er war Krieger genug, um nicht lange nachzufragen, sondern zog sich in Windeseile an. Er folgte ihr hinaus auf den Flur und hielt Finleys Hand. Die Wache lag auf dem Boden, Karney stolperte über ein Bein. Wie hatte sie das nur angestellt? Schade, dass sie seine Feindin war. Konnte sie wirklich die Nachfahrin von Feiglingen und Wortbrüchigen sein? Vielleicht würde er doch nicht so ein leichtes Spiel mit ihr haben, wie er gedacht hatte. Eine Flucht von ihr weg würde wahrscheinlich nicht einfach sein. Vorsichtig tastete er sich die Stufen hinunter.

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Sie hörte seine Schritte hinter sich, seinen Atem. Er machte keinen Versuch, zu fliehen. Nun, damit rechnete sie innerhalb des Schlosses sowieso nicht. Er hätte ohne sie keine Möglichkeit, hier lebend herauszukommen. Und die Krieger von Gearran mochten gewalttätig sein, dumm waren sie sicher nicht. Sie umfasste das Eisen, das in ihrem Gürtel steckte, fester. Sollte er nur wagen, ihr zu nahe zu kommen …

Schließlich betrat sie eine kleine Kammer und zündete eine Kerze an, nachdem er die Türe hinter sich geschlossen hatte.

„Um es gleich vorweg zu sagen, kommt ja nicht auf dumme Gedanken!“ Sie öffnete eine weitere Tür, die in der Wandtäfelung kaum zu erkennen war. „Ein Geheimgang, er führt auf die andere Seite des Hügels, in eine Hütte im Wald. Mein Bruder und Tonia warten dort.“ Er erwiderte nichts, nickte nur. Arroganter Kerl!

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Irvyn blickte ihnen misstrauisch entgegen, als sie nach und nach die Hütte betraten. Tonia lächelte jedoch.

„Die Pferde stehen bereit.“

„Gut, dann sollten wir so schnell wie möglich los, damit wir einen möglichst großen Vorsprung bekommen.“ Karney ging mit großen Schritten voran. Gwenyn öffnete den Mund, doch sie schwieg und folgte ihm. Auch wenn ihr gar nicht gefiel, dass er gleich das Kommando an sich riss. Sie bestiegen die Pferde, trabten in die Nacht, in den neuen Morgen hinein.

Als die Strahlen der Sonne über die Bäume stiegen, zog Karney die Zügel an.

„Was soll das?“ Irvyn hielt hinter ihm. Das erste Mal, dass Karney ihn etwas sagen hörte. „Sofort weiter! Gwenyn, der macht Schwierigkeiten!“ Gwenyn, die vorausgeritten war, hielt ebenfalls an.

„Ich warne Euch! Glaubt bloß nicht, dass Ihr so einfach entkommen könnt! Ich habe Euch lediglich mitgenommen, um einen gewissen Schutz zu haben. Aber gegen Euch kann ich mich ganz gut wehren.“ Sie zog etwas aus ihrer Satteltasche. Eine Faustfeuerwaffe? Karney riss die Augen auf.

„Seid vorsichtig damit! Steckt sie am besten wieder ein, es sind schon viele Unfälle mit diesen neumodischen Teilen geschehen.“

„Ach! Ihr traut mir also nicht zu, dass ich damit umgehen kann. Aber ich werde Euch beweisen …“ Karney hob die Hand, blickte die anderen an, die stumm den Wortwechsel verfolgten.

„Ich bitte Euch, lasst es gut sein! Ich wollte nur vorschlagen, dass wir zu der Lichtung dort drüben reiten. Die Pferde brauchen eine Pause und auf der Wiese können sie genügend Gras finden.“ Gwenyn schnaubte, lenkte aber ihr Pferd in die Richtung, in der die Lichtung durch die Bäume schimmerte.

Sie stiegen ab, Finley und Tonia ließen sich ins Gras fallen. Irvyn setzte sich ein wenig entfernt auf einen Stein. Karney ging um die Pferde herum, lockerte die Gürtel der Sättel, um es den Tieren leichter zu machen und musterte sie.

„Ihr habt eine gute Wahl getroffen. Es scheinen ausdauernde Tiere zu sein.“

„Irvyn hat sie ausgesucht.“ Karney blickte zu dem jungen Prinzen hin.

„Sehr gut!“ Irvyn starrte nur finster zurück. Karney konzentrierte sich wieder auf die Tiere. Was hatte er auch erwartet? Dass Irvyn ihm bedingungslos vertraute? Ihn stets freundlich und dankbar anlächelte? Er war der Kronprinz von Equos, so wie er selbst der Kronprinz von Gearran war. Sie waren von Geburt an Feinde. Er streichelte dem Tier, auf dem er geritten war, über die Nüstern. Ein kräftiger brauner Hengst.

„Na, du Feiner, wie heißt du denn?“

„Wie soll er denn heißen? Es ist nur ein Pferd, mehr nicht …“ Gwenyn hatte sich auf einen Baumstamm niedergelassen und blickte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Nur ein Pferd?“ Karney starrte zurück. Kopfschüttelnd wandte er sich wieder dem Tier zu. „Nur ein Pferd … so wenig Respekt haben die vor euch … da erweist ihr ihnen die Ehre und lasst sie auf eurem Rücken reiten und die nennen euch noch nicht mal bei Namen … die haben doch keine Ahnung. Na, wen wundert’s?“ Er strich ihm weiter über den Hals, die Stirn. „Bist ein wundervoller Kerl … wie würde dir denn Mercory gefallen?“ Das Pferd neigte den Kopf und stieß ihn gegen Karneys Brust. Der lachte. „Na, wenn das keine Zustimmung war …“ Wie es seinen Pferden in der Heimat wohl erging? Zahlreiche Pferde zu besitzen, das war das einzige Privileg, das er sich als Kronprinz gönnte. Die meisten lebten auf seinem Landgut. Eines Tages würde er die Zeit haben und sich selbst um die Zucht kümmern. Eines Tages, vielleicht. Wenn er selbst Söhne haben würde und die Regierungsgeschäfte in deren Hand legen konnte. Doch tief im Herzen wusste er, dass er nie Frieden finden würde, solange sein Volk litt. Zwei seiner Pferde standen in der Grenzfestung, die er befehligte, pfeilschnelle Hengste, die feurigsten, edelsten des Landes. Nein, es war nur noch einer. Mit Namary war er in die Hauptstadt geritten, ehe sie zu ihrer Fahrt zur Hochzeit aufgebrochen waren; Namary, sein ganz besonderer Liebling. Wenn Namary damals nicht gewesen wäre …

„Ich werde meines Foxery nennen.“ Finley war neben Karney getreten und sah zu seinem großen Bruder auf, riss ihn aus seinen Gedanken. Karney lächelte ihn an.

„Ein sehr schöner Name für einen so hübschen Fuchs.“ Er begleitete den Kleinen hinüber zu dessen Pferd, streichelte den kleinen, schlanken Hengst und sprach mit ihm.

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Gwenyn hatte sich auf den nächstbesten Baumstamm niedergelassen. Sie war froh über die Pause, auch wenn sie das nie zugeben würde. Stundenlanges Reiten war sie einfach nicht gewöhnt. Sie war täglich ausgeritten, ja, doch das hatte nicht gereicht. Ihr taten schon jetzt die Beine weh. Ihr Hinterteil fühlte sich an wie aufgescheuert. Sie blickte sich um. Blumen blühten auf der Lichtung. Nur wenige Schäfchenwolken waren am blauen Spätsommerhimmel unterwegs. Die Sonne strahlte warm, nicht so drückend heiß wie im Hochsommer. Es hätte so schön sein können, wenn auf der Wiese nicht dieser Kronprinz von Gearran stehen würde. Albern, wie er mit den Pferden redete, als wären es Menschen. Nun, Gwenyn musste zugeben, dass sie das früher auch getan hatte. Als kleines Mädchen, als ihre Mutter noch gelebt hatte. Als sie gemeinsam über die Pilgerstraße gezogen waren … Doch das waren Träume gewesen. Das wahre Leben sah anders aus.

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Karney setzte sich nicht, nachdem er die Pferde versorgt hatte. Er nahm lediglich einen Wasserschlauch und trank daraus. Sein Blick streifte Gwenyn. Sie hatte ihre Haare zu Zöpfen geflochten, trug ein hoch geschlossenes Kleid aus einfacher brauner Wolle. Dennoch, sie konnte ihre Schönheit nicht verbergen. Er bemerkte, dass er sie anstarrte und wandte den Blick ab, den Vorräten zu.

„Was haben wir an Waffen dabei?“

„Waffen? Ich werde Euch ganz bestimmt keine Waffe in die Hand geben!“

„Was?! Wie soll ich für Eure Sicherheit sorgen, wenn ich keine Waffe habe? Ich kann uns noch nicht einmal Wild schießen, wenn ich keine Waffe habe!“

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Sie blickte ihn an und presste die Lippen zusammen. Waffen wollte er? Was bildete er sich ein? Sie beschützen … jagen … nun, vielleicht hatte er Recht, ein kleines bisschen zumindest. Aber das zugeben? Nein, das würde sie ganz sicher nicht. Und ihm Waffen in die Hand geben, die ihr gefährlich werden könnten, auch nicht. Er war immer noch ihr Feind, und er würde jede Gelegenheit ausnützen, zu fliehen, das wusste sie. Wenn er sie nur nicht ständig anstarren würde, mit seinen durchdringenden blauen Augen.

„Wir sollten in der nächsten Stadt noch einige Vorräte einkaufen.“ Er riss sie aus ihren Gedanken.

„Ja … das hatte ich so oder so eingeplant. Ich habe Münzen dabei. Tonia … sie wird man nicht erkennen.“ Er nickte.

„Ich werde sie begleiten …“

„Das kommt überhaupt nicht in Frage!“

„Soll Tonia alles alleine schleppen? Keine Angst, ich werde nicht fliehen. Ich werde Finley bei Euch lassen, mache aber Euch verantwortlich, wenn ihm etwas zustoßen sollte.“

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Er ging hinüber zu den anderen. Sie würde schon sehen, was er alles aus der Stadt mitbringen würde. Vermutlich würde er nicht alles bezahlen können, aber das spielte keine Rolle. Auf der Flucht waren sie so oder so.

„Wir sollten bald weiterreiten und einen möglichst hohen Vorsprung zu bekommen.“ Er reichte Finley die Hand und zog ihn hoch. Tonia lächelte ihn herausfordernd an. Er lächelte zurück, hielt auch ihr die Hand hin und half ihr auf. Wenigstens ein freundliches Gesicht. Vielleicht, wenn sich die Gelegenheit ergab … diese Tonia war nicht hässlich …

Diese Gwenyn übernahm wieder die Führung, Irvyn ritt am Ende. Eine breite Straße führte sie aus dem Wald heraus durch Wiesen und Felder. Ab und an konnten sie einige Siedlungen und Gehöfte sehen. Woher wusste sie, wohin sie reiten musste? Wie alt sie wohl war? Auf jedem Fall war sie selbstbewusst genug für zwei.

Die Sonne hatte den Zenit überschritten, als sie an einer Wegkreuzung Halt machten.

„Die nächste Stadt ist nicht weit. Wir können hier Rast machen. Und Tonia kann einkaufen gehen. Dieser Weg führt direkt in die Stadt.“

„Wie gesagt, ich werde sie begleiten …“

„Das kommt überhaupt nicht in Frage!“ Irvyn sprang auf. „Ich werde nicht zulassen, dass dieser Abschaum alleine durch unser Land spaziert!“ Karney blieb ruhig.

„Ich werde nicht alleine gehen. Ich werde lediglich Tonia begleiten. Oder wollt Ihr, dass sie alleine und schutzlos den Weg in die Stadt auf sich nimmt und all die Vorräte hierherschleppt, Prinz.“ Die letzten Worte sprach er mit leicht spöttischem Unterton. Irvyn funkelte Karney an. Karney lächelte leicht. Seine Augen, er hatte dasselbe wütende Funkeln in seinen Augen wie seine Schwester.

„Lass ihn, Irvyn. Ich bin auch nicht begeistert, aber er hat recht. Und wenn sie nicht bis zum Abend zurück sind, werden wir eben seinen Bruder umbringen, ganz einfach.“ Das fand Karney nun nicht zum Lachen, aber es blieb ihm keine andere Wahl. Er musste Finley bei seinen Feinden als Geisel zurücklassen. Anders würde er nicht an die dringend benötigten Dinge kommen.

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Tonia trug ein einfaches Kleid, ihre Haare hatte sie unter einer Haube verborgen. Und auch er trug das Hemd und die Hose aus grobem Stoff, die man ihm im Schloss überlassen hatte. Dennoch, den beiden folgte so manch neugieriger Blick, als sie Seite an Seite über den Markt schlenderten. Die junge Frau mit der feinen Haut und der stattliche Mann an ihrer Seite waren auffälliger, als Karney lieb war. Er sah sich ständig um. Doch wer sollte sie hier schon erkennen? Sie waren mehr als einen Tagesritt von der Hauptstadt und vom Schloss des Königs entfernt. Die wenigsten Menschen, die hier auf dem Markt unterwegs waren, waren jemals in ihrem Leben dort gewesen. Tonia gefiel das bunte Markttreiben sichtlich. Immer wieder blieb sie stehen, wechselte freundliche Worte mit den Händlerinnen, kaufte rotbäckige Äpfel und knuspriges Brot, Butter und Honig.

Da, das war es, was Karney gesucht hatte. Die Werkstatt eines Bogenbauers.

„Tonia“, flüsterte er. „Glaubt Ihr, Ihr könnt den Bogenbauer dort drüben ablenken. Ich möchte seine Ware ansehen und wenn er gute Bögen herstellt, welche mitnehmen.“

„Selbstverständlich … aber warum soll ich ihn ablenken?“

„Nun …“ Karney lächelte ein wenig verschmitzt. „Wenn sie wirklich gut sind, dann werden wir sie nicht bezahlen können und ich muss sie so mitnehmen. Seid Ihr bereit für ein kleines Abenteuer?“ Sie lachte.

„Aber gerne … wenn Ihr glaubt, dass ich den Mann so sehr fesseln kann.“ Er lächelte sie charmant an, küsste ihr die Wange.

„Das glaube ich ganz sicher.“

Sie lachte und flirtete mit dem Mann. Karney verstand kein Wort von dem, was sie mit dem Bogenbauer redete, warf ihr nur ab und an einen bösen Blick zu, um den Schein zu wahren. Der Bogenbauer war ein schon etwas älterer Mann, der sich den Flirt gerne gefallen ließ. Vor allem mit einer so schönen Frau. Karney beobachtete sie aus den Augenwinkeln heraus, während er einen Bogen nach dem anderen ausprobierte. Finley benötigte einen kleinen, dessen Sehne leicht zu spannen war. Irvyn sicher auch. Einen Augenblick zögerte er. Sollte er diesem vorlauten Jungen, der Karney offensichtlich abgrundtief hasste, wirklich den Gefallen tun und einen Bogen mitbringen? Doch hier war kein Platz für solche Gefühlsentscheidungen, kein Platz für Hass und Feindschaft. Wenn sie überleben wollten, dann mussten sie zusammenhalten. Unauffällig legte er einen weiteren Bogen neben den, den er für Finley ausgesucht hatte. Nun noch einen für sich selbst. Und Pfeile, köcherweise Pfeile. Er stellte sie neben die beiden Bögen. Zuletzt ging er hinüber zu den Bögen, die aussahen, als seien sie für ihn gemacht. Bögen mit straff gespannten Sehnen, die Kraft erforderten, die aber auch die Pfeile weit fliegen und tief in ihr Ziel eindringen ließen. Er probierte einige aus. Fein gearbeitet waren sie, aus edlen Hölzern. Sie waren das Geld, das sie sicher kosteten, wert. Auch wenn der Bogenbauer keinen gerechten Lohn für seine Mühe erhalten würde. Nun, immerhin konnte er mit einem netten jungen Mädchen scherzen und tändeln. Etwas, was er in seinem Alter sonst bestimmt nicht mehr tun konnte. Da, der hier lag ihm vollkommen in der Hand. Unauffällig sah er sich noch einmal in der Werkstatt um. Durch die Vordertür und über den Markt zu fliehen, war gefährlich. Doch es gab eine Hintertür. Karney machte zwei Schritte auf sie zu. Er hatte richtig vermutet. Sie führte in einen ummauerten Hof, in dem die Kunden die Bögen ausprobieren konnten. Würde er mit den Langbögen schnell genug über die Mauer kommen? Und Tonia? Er blickte zu ihr und dem Handwerker hinüber. Sie sahen Karney an, Tonia flüsterte dem Bogenbauer etwas zu, sie lachten beide laut. Auf seine Kosten machten sie Witze? Damit war jetzt Schluss! Er nahm die drei Bögen und die vier gefüllten Köcher und schlenderte hinüber, als ob er bezahlen wollte. Der Bogenbauer sah ihm grinsend entgegen. Dieses Grinsen verschwand jedoch sofort, als Karney plötzlich Tonias Hand fasste und begann, davonzulaufen und sie hinter sich herzuziehen. Sie lachte immer noch, schien Freude an dem Abenteuer zu haben. Lautes Geschrei klang hinter ihnen her, wütende Rufe. Doch sie schafften es, zu entkommen. Tonia war wie eine Feder in Karneys starken Armen. Er hob sie auf die Mauer, reichte ihr den Korb, warf die Bögen hinterher und schwang sich selbst hinüber. In den engen Gassen der Stadt konnten sie ihre Verfolger leicht abschütteln. Und ehe die Nachricht über den frechen Diebstahl das Südtor erreichte, bummelten sie schon in aller Seelenruhe hindurch und ließen die Stadt hinter sich. Sie lachten noch auf dem ganzen Weg zurück über das gelungene Abenteuer.

„Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal zur Diebin werde!“

„Ehrlich gesagt, in der Art hätte ich es mir auch nie vorgestellt. Raubzüge und Plünderungen, ja … aber auf so dreiste Art … nein. Wir können uns wahrlich gratulieren, dass wir das geschafft haben.“ Lachend erreichten sie die Lichtung.

„Schau Finley, ich habe dir etwas mitgebracht!“ Er warf seinem Bruder den Bogen zu. „Und dir auch.“ Irvyn war nicht so begeistert, als der Bogen zu seinen Füßen landete.

„Was soll das?!“

„Wir werden jagen und uns verteidigen müssen. Also benötigen wir Waffen. Und Bögen waren nun einmal relativ leicht zu beschaffen und taugen zu beidem.“

„Wie seid ihr denn an die gekommen?“ Auch Gwenyn blickte von Tonia zu Karney und wieder zurück.

„Nun, wer so sehr mit einem hübschen jungen Mädchen tändelt, darf sich nicht wundern, wenn er bestohlen wird.“ Karney grinste, Tonia lachte.

„Ihr habt sie gestohlen?! Und du hast dabei mitgemacht, Tonia? Weißt du, wie sehr du mich enttäuschst? Das könnt ihr doch nicht machen!“ Gwenyn blickte Tonia tadelnd an, während sie sie lautstark mit Vorwürfen überhäufte. Und so wie es aussah hatte sie nicht nur mit diesem Händler, der die Bogen verkaufte, getändelt, sondern auch … nun, mit ihrem Feind. Das ärgerte Gwenyn vermutlich am meisten. Sie hatte Tonia immer als ihre Freundin angesehen, als die einzige Freundin, die sie hatte. Und nun tat sie ihr so etwas an. Wie konnte sie nur?

„Es war meine Idee.“ Und jetzt versuchte dieser Karney auch noch, die Schuld auf sich zu nehmen und von Tonia abzulenken. „Wir brauchen die Waffen. Wir müssen damit rechnen, dass sie uns bereits auf den Fersen sind.“

„Sie müssten erst einmal unsere Spur finden.“

„Gwenyn, ich bin der Feind Eurer Familie. Aber selbst ich bezweifle, dass Euer Vater und seine Krieger so blöd sind und nicht auf die Idee kommen, dass wir durch den Geheimgang entkommen sind.“ Er hatte sich inzwischen ins Gras ausgestreckt und den Kopf auf seine Arme gelegt. Finley saß neben ihm, sichtlich froh, dass sein Bruder heil zurückgekehrt war. Gwenyn senkte den Kopf. Dieser Karney hatte vermutlich recht, wieder einmal.

„Also gut … wir werden die Bögen behalten.“

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Karney setzte sich schwungvoll auf.

„Gut! Dann sollten wir die Köstlichkeiten, die Tonia rechtmäßig erworben hat, genießen und dann so schnell wie möglich weiterziehen. Wohin auch immer Ihr wollt …“

„Das sagte ich bereits … ich möchte zum Kloster, in dem mein Onkel lebt …“

„Das sind sehr vage Angaben. Könntet Ihr es mir ein wenig genauer erklären, wenn ich Euch schon begleiten soll?“

„Was soll das?! Wollt Ihr meine Schwester aushorchen? Das schlagt Euch ganz schnell aus dem Kopf! Und diesen Bogen könnt Ihr auch behalten. Hat Euch wohl Spaß gemacht, einen ehrlichen Mann meines Volkes zu bestehlen, was?“

„Ja, es war ganz lustig …“ Karney blickte zu Irvyn hin. Zögerliche Feiglinge waren die Könige von Equos, dafür war er der beste Beweis. Und stur und unklug noch dazu. „Es macht mir keinen Spaß, zum Henker!“, fuhr er ihn an. „Aber seht es endlich ein, dass wir auf solche Mittel angewiesen sind, wenn wir überleben und unser Ziel erreichen wollen! Wenn Ihr einst König seid, könnt Ihr ja die Schuld begleichen. Und dann werden wir auch wieder ehrliche Feinde sein. Doch jetzt müssen wir zusammenhalten!“ Mit raschen Schritten wandte er sich um und schritt zu Mercory hin. Was bildete sich dieser Rotzlöffel eigentlich ein? Wollte so einfach über ihn urteilen und steckte doch selbst tief im Dreck! Und verlangte von ihm, Karney, dass er ihn da wieder rausholte. Ohne dass er selbst schmutzig wurde. Aber vermutlich wollte das dieser kleine Prinz gar nicht. Vermutlich waren das alles die Pläne seiner Schwester. Er sah zu Gwenyn hinüber. Seidig glänzende Haare hatte sie, auch jetzt noch, nachdem sie schon den ganzen Tag unterwegs waren. Eine Haut wie Alabaster, weiß und glatt. Und einen Dickkopf! Eine verwöhnte, herrschsüchtige Prinzessin, die es gewohnt war, dass alle nach ihrer Pfeife tanzten. Nun, er würde das ganz sicher nicht tun.

„Wir reiten weiter!“

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Gwenyn saß mit Tonia im Schatten einer großen Tanne. Tonia erzählte ihr noch einmal die Geschehnisse, die sie in Besitz der Bögen gebracht hatten, nun nicht mehr fröhlich lachend. Die Reaktionen der anderen hatten sie eingeschüchtert. Gwenyn konnte nur immer wieder den Kopf schütteln. Was hatte sich Tonia, ihre sonst so zuverlässige Dienerin, ihre Freundin, dabei gedacht? Wie konnte sie nur so leichtsinnig sein? War ihr denn nicht klar, was alles hätte geschehen können, wenn sie erwischt worden wären? Daran war nur dieser streitsüchtige Prinz schuld. Er hatte sie überredet.

„Wir reiten weiter!“ Da, jetzt wollte er schon wieder bestimmen. Das durfte sie nicht zulassen!

„Wir brauchen noch Ruhe, Tonia muss sich ausruhen. Und überhaupt, das habt nicht Ihr zu bestimmen!“

„Gut, wenn Ihr unbedingt erwischt werden wollt … in den Kerkern Eurer bösen Stiefmutter könnt Ihr lange genug ausruhen. Ich habe nicht vor, dorthin zurückzukehren. Komm, Finley …“ Er stieg auf sein Pferd.

„Ihr werdet es nicht wagen!“ Gwenyn sprang auf und zog ihre Faustfeuerwaffe.

„Bitte … ich habe Euch schon einmal gesagt, legt sie weg, ehe Ihr oder jemand anderes ernsthaft verletzt wird.“ Er nahm sie nicht ernst. Dieser unverschämte Kerl nahm sie einfach nicht ernst. Sie senkte die Waffe, ja. Aber gleichzeitig riss sie einen der Tannenzapfen von den Zweigen und schleuderte ihn nach ihm, traf sein Pferd. Das stieg erschrocken und ging durch. Wieder einmal schaffte es Karney, im Sattel zu bleiben und das Pferd unter Kontrolle zu bekommen, obwohl er selbst völlig überrascht wurde. Doch auch seine Geduld hatte einmal ein Ende.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739344317
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Mai)
Schlagworte
Krieg Stiefmutter Flucht Romeo und Julia Märchen Gottheit Schandmaul Erotik Mittelalter Romeo Liebesroman Liebe Fantasy

Autor

  • Monja Schneider (Autor:in)

Monja Schneider wurde am Valentinstag 1971 in Heidelberg geboren und wohnt bis heute in einer kleinen Stadt ca. 10 km von Heidelberg entfernt. Sobald sie lesen konnte, verschlang sie jeden Buchstaben, der ihr zwischen die Finger kam. Mit dem Schreiben von Geschichten hat sie aber erst im Teenager-Alter begonnen. Ihr erster Roman erschien 2014 im Machandel-Verlag. 2020 kündigte sie ihren Bürojob und lebt nun vom Schreiben von Romanen sowie von Sach- und Fachtexten im Kundenauftrag
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Titel: Gwenyn und Karney