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Zwischen Imperialismus und Revolution

Die Grundfragen der Revolution an dem Einzelbeispiel Georgiens

von Leo Trotzki (Autor:in) Wolfram Klein (Autor:in)
234 Seiten

Zusammenfassung

»Dadurch wird in bedeutendem Maße der Inhalt und Charakter unserer Arbeit bestimmt. Wir mußten von neuem jene Fragen durchnehmen, die bereits ihre prinzipielle Auslegung gefunden haben, im besonderen im ersten Teile ›Terrorismus und Kommunismus.‹ Wir strebten diesmal danach, möglichste Konkretheit zu erreichen. Die Aufgabe bestand darin, an einem Einzelbeispiel die Wirkung der Hauptkräft e unserer Epoche zu zeigen. An der Geschichte des ›demokratischen‹ Georgiens versuchten wir die Politik der regierenden sozialdemokratischen Partei zu verfolgen, die genötigt war, ihren Weg zwischen Imperialismus und proletarische Revolution zu legen. Wir wollen hoff en, daß gerade die detaillierte Konkretheit der Darstellung es uns ermöglicht hat, die inneren Probleme der Revolution, ihre Bedürfnisse und ihre Schwierigkeiten dem Verständnis eines Lesers näher gebracht zu haben, der keine direkte revolutionäre Erfahrung hat, aber daran interessiert ist, sich solche zu erwerben.« (Aus der Einleitung von L. Trotzki) Mit einer Einleitung und ausführlichem Anhang von Wolfram Klein.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Einleitung zur Neuausgabe

Trotzkis Schrift „Zwischen Imperialismus und Revolution“ entstand Anfang 1922. Hintergrund war die reformistische Hetze gegen die im Vorjahr in Georgien errichtete Sowjetmacht. Trotzki stellte den Konflikt vom Kopf auf die Füße, indem er ihn in den Kontext der Auseinandersetzung zwischen Revolution und Konterrevolution im gesamten ehemaligen russischen Zarenreich stellte. Mehrfach unterstrich er, dass in Georgien im Kleinformat (in octavo) geschah, was in den Vorjahren in anderen Teilen des ehemaligen russischen Reiches im Großformat (in folio) geschehen war.

Georgien, Russland und der Marxismus

Georgien konnte auf eine lange Geschichte zurückblicken, ein unabhängiger georgischer Staat konnte das keineswegs. Georgien liegt südlich des Kaukasus und am Ostrand des Schwarzen Meeres, also in einer Region, die schon im Bereich von Hochkulturen lag, als das heutige Deutschland noch weitgehend von „teutonischen Urwäldern“ (Marx) bedeckt war. In Georgien wurde bereits im 4. Jahrhundert das Christentum Staatsreligion. Politisch blieb die Region ein Spielball der Machtpolitik der benachbarten Länder (im Südwesten Rom, Byzanz, dann das Osmanische Reich, im Südosten verschiedene aufeinanderfolgende persische Staaten). Verschiedene georgische Fürsten versuchten in diesem Umfeld zu manövrieren, oft indem sie sich unter die Oberhoheit des einen oder anderen Herrschers stellten. In der frühen Neuzeit kam mit dem Aufstieg des russischen Zarismus von Norden her ein weiterer Akteur ins Spiel, der wie Georgien ebenfalls christlich-orthodox war. 1800 schlug ein georgischer König dem russischen Zaren die Eingliederung Georgiens in Russland vor. Mit der von ihm erhofften Autonomie war es aber nicht weit her. Er durfte seine Krone nicht behalten, 1811 wurde die georgische Kirche der russischen unterstellt. Es gab schon 1802 und 1804 Aufstände gegen die russische Herrschaft. Es dauerte bis 1864, bis alle Gebiete des späteren Georgiens von Russland erobert waren. Während in Russland die Leibeigenschaft 1861 abgeschafft wurde, erfolgte das in Georgien erst 1866.

Im wirtschaftlich rückständigen Russland war Georgien wirtschaftlich besonders rückständig. Während das östlich, am kaspischen Meer, gelegene Aserbaidschan sich zu einem Zentrum der Ölförderung und der Arbeiter*innenbewegung entwickelte, blieb Georgien fast vollständig landwirtschaftlich geprägt.

Trotzdem wurde Georgien ein Zentrum der „marxistischen“ Sozialdemokratie. Dieser scheinbare Widerspruch erklärt sich damit, dass nicht überall Marxismus drin ist, wo Marxismus drauf steht.

Karl Marx war nicht nur ein unermüdlicher Kämpfer gegen den Kapitalismus, er erkannte zugleich die historische Fortschrittlichkeit des Kapitalismus gegenüber früheren Ausbeutungsweisen rückhaltlos an. Für Marx bezog sich diese Fortschrittlichkeit für Westeuropa auf die Vergangenheit. Aber wie sah es mit den Teilen der Welt aus, die wirtschaftlich rückständiger als Westeuropa waren, wie zum Beispiel mit Russland? Hier entwickelten sich zwei Schulen: die Narodniki oder Volkstümler*innen meinten, Russland könne aufgrund nationaler Besonderheiten den Kapitalismus vermeiden und quasi eine Abkürzung zum Sozialismus nehmen. Die russischen Marxist*innen hielten das für Traumtänzerei. So gerieten sie in eine Rolle, gerade die relative Fortschrittlichkeit des Kapitalismus herauszustreichen. Dazu kam, dass russische Intellektuelle durchaus genug über das Elend der Arbeiter*innen in Westeuropa und andere Folgen des Kapitalismus im Westen wussten, um die bürgerlichen Ideologien, die all das ignorierten oder schönfärbten, wenig überzeugend zu finden. So bekam eine Karikatur auf den Marxismus eine beträchtliche Anziehungskraft gerade auf Intellektuelle, die die Marxsche Lehre auf die Herausarbeitung der relativen Fortschrittlichkeit des Kapitalismus reduzierte.

In den 1890er Jahren entstand so eine ganze Schule „legaler Marxisten“. Ihr prominentester Vertreter war Peter Struve. Zuerst spielte er eine widersprüchliche Rolle. Auf der einen Seite war er durchaus mit der beginnenden Arbeiter*innenbewegung verbunden. Er verfasste 1898 das Manifest des Gründungskongresses der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR). Als Lenin im Jahre 1900 im Exil mit anderen die berühmt gewordene Zeitung „Iskra“ gründete, arbeitete er die ersten Monate auch mit Struve zusammen. Auf der anderen Seite hatte er schon in den 1890er Jahren gepredigt, beim Kapitalismus in die Lehre zu gehen. Nach 1900 wurde er ein führender Liberaler, nach der Niederlage der ersten russischen Revolution 1905-1907 wurde er ein offener Reaktionär.

In Georgien, das noch rückständiger als Russland war, fanden ähnliche Entwicklungen später und dadurch in etwas anderen Formen statt. Hatte bei Struve der prokapitalistische Kurs dazu geführt, dass er mit der Sozialdemokratie brach und erst Liberaler und dann Reaktionär wurde, so entstand in Georgien eine Strömung, die denselben Weg ging, aber dabei an der Spitze einer sozialdemokratischen Massenbewegung stand, der georgische Menschewismus.

Die Gründung der SDAPR im Jahre 1898 war der Versuch, verschiedene sozialdemokratische Zirkel im riesigen russischen Zarenreich zu einer gemeinsamen Partei zusammenzufassen. Der Versuch wurde durch die staatliche Unterdrückung zerschlagen. Die erwähnte Zeitung Iskra diente der Wiederherstellung der Partei. Wesentlich aufgrund ihrer Bemühungen konnte 1903 im Exil der 2. Parteitag und die eigentliche Parteigründung stattfinden. Aber zur Überraschung der Beteiligten erfolgte gleichzeitig eine Spaltung in zwei Fraktionen, Bolschewiki und Menschewiki. Die Kontroversen zwischen ihnen betrafen zuerst organisatorische Fragen, aber mit der Revolution 1905-1907 kamen ernste politische Differenzen hinzu. Die Menschewiki folgerten aus ihrem verzerrten Marx-Verständnis, dass in Russland eine kapitalistische Entwicklung auf der Tagesordnung stehe, für diese eine bürgerliche Revolution erforderlich sei und daher die Aufgabe bestehe, das Bürgertum an die Macht zu bringen. Die Bolschewiki um Lenin waren zwar auch der Ansicht, dass in Russland eine bürgerliche Revolution auf der Tagesordnung stehe. Aber sie verstanden, dass es keineswegs ein Automatismus sei, wie gründlich diese bürgerliche Revolution den alten Feudalismus-Schutt, den Zarismus etc. beiseite räume. Sie erkannten, dass das Bürgertum zu faulen Kompromissen mit dem alten System neigte, und strebten eine revolutionäre Regierung aus Arbeiter*innen und Bäuer*innen („demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“) an, um einen möglichst fortschrittlichen kapitalistischen Staat zu schaffen. Wie schon Marx und Engels hofften sie, dass der Sturz des Zarismus, dieses Horts der internationalen Reaktion, der sozialistischen Revolution im Westen starken Auftrieb geben werde. Der Sturz des Kapitalismus im Westen könnte die Dauer einer kapitalistischen Phase in Russland drastisch verkürzen.

Einen Schritt weiter ging der Verfasser dieser Schrift. Trotzki hielt seit der Revolution von 1905 für möglich, dass eine revolutionäre, von der Arbeiter*innenklasse geführte Regierung in Russland schon früher als in Westeuropa den Kapitalismus stürzen und sozialistische Maßnahmen ergreifen könne.

Nach der Niederlage der Revolution 1905-1907 ging nicht nur Struve persönlich nach rechts, sondern das Bürgertum insgesamt (siehe auch im Glossar unter „Kadetten“). Vorher hatte es größeren Spielraum für die Entwicklung des Kapitalismus in Russland durch politische Reformen, eine Modernisierung des politischen Systems angestrebt und war dazu sogar bereit, die Massenstreiks der Arbeiter*innen als politisches Druckmittel zu nutzen, etwas Revolution zu spielen, um den Zarismus zu Reformen zu zwingen. Jetzt erstrebten sie kapitalistische Wachstumsmöglichkeiten v.a. durch eine imperialistische Außenpolitik … und unterstützten zu diesem Zweck die Regierung. Damit bekam auch die menschewistische Anpasserei an das Bürgertum eine neue Qualität. Vorher hatten sie den Klassenkampf gebremst, um das Bürgertum nicht zu schrecken, es nicht in die Arme der Reaktion zu treiben. Jetzt war das Bürgertum in den Armen der Reaktion, aber sie gaben ihre gescheiterte Taktik nicht auf, sondern verschärften sie. Um der Revolution den Wind aus den Segeln zu nehmen, hatte der Zarismus begrenzte Reformen zugestanden, insbesondere ein Parlament (Staatsduma). Das Wahlrecht war extrem undemokratisch und wurde im Lauf der Jahre weiter verschlechtert. Auch die Befugnisse des Parlaments waren beschränkt. Trotzdem glaubten große Teile der Menschewiki, dass jetzt eine weitere Demokratisierung auf dem Wege des Kampfs um Reformen und des Aufbaus legaler Organisationen, ähnlich wie in Preußen, möglich sei. Deshalb traten sie für die Beseitigung („Liquidierung“) der illegalen revolutionären Organisationen ein. (Tatsächlich kam auch in Preußen-Deutschland die bürgerliche Demokratie, die Weimarer Republik, nicht durch Reformen von oben, sondern als Folge der Novemberrevolution, die allerdings viel weiter gehendere, sozialistische Ziele verfolgte. Der Aufbau illegaler Organisation wurde im Ersten Weltkrieg selbst in wesentlich demokratischeren Ländern als in Deutschland notwendig.)

In Georgien hatte es in der Revolution 1905 heftige Bauernaufstände gegeben. Teilweise wurden die zaristischen Behörden von der örtlichen Bevölkerung wochenlang vertrieben, bis die Zarenmacht blutig wiedererrichtet wurde. Während in der Revolution Bolschewiki und Menschewiki in Georgien stark gewesen waren, erlangten die Menschewiki in der Reaktionsperiode nach der Revolution ein deutliches Übergewicht. Die Partei der Sozialrevolutionäre (siehe Glossar), die in Russland viel Unterstützung in der durch die Revolution radikalisierten Bauernschaft bekam, spielte in Georgien keine Rolle. Die Bauern wählten Menschewiki in die Duma und durch diese georgischen menschewistischen Abgeordneten hatten in der sozialdemokratischen Dumafraktion die Menschewiki das Übergewicht über die Bolschewiki, obwohl letztere größeren Rückhalt unter den Arbeiter*innen im Zarenreich hatten.

Im Ersten Weltkrieg waren das russische und das osmanische Reich Kriegsgegner. Während die russischen Truppen im Westen bald in der Defensive waren und beträchtliche Gebiete des Zarenreiches von Deutschland und Österreich-Ungarn besetzt wurden, war der Zarismus gegenüber der Türkei erfolgreicher, so dass Georgien trotz seiner Grenznähe vor 1918 nicht direkt in Mitleidenschaft gezogen wurde. Die Auswirkungen der russischen Revolution des Jahres 1917 auf Georgien werden in Trotzkis Schrift geschildert, so dass wir hier nicht darauf einzugehen brauchen.

Kautsky und die Bolschewiki

Karl Kautsky war in den Jahren zwischen Friedrich Engels' Tod und dem Ersten Weltkrieg der angesehenste marxistische Theoretiker gewesen. Im Konflikt zwischen Bolschewiki und Menschewiki in Russland hatte er zwar in organisatorischen Fragen die Menschewiki unterstützt, als aber die politischen Fragen, die Einschätzung des Bürgertums, in den Vordergrund traten, stand er eindeutig auf Seiten der Bolschewiki. (Siehe den Sammelband „Auf dem Weg zur permanenten Revolution“, Manifest Verlag, Berlin 2017) Als er in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg nach rechts ging und es deshalb zu heftigen Schlagabtäuschen zwischen Rosa Luxemburg und ihm kam, hatte z.B. Lenin noch nicht erkannt, dass Kautsky auf dem Weg war, mit dem Marxismus zu brechen. Der Erste Weltkrieg beschleunigte den politischen Niedergang Kautskys. Er schloss sich zwar der im Jahre 1917 gegründeten Linksabspaltung der SPD, Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) an, stand aber auf ihrem rechten Flügel. Insbesondere bekämpfte er die russische Oktoberrevolution, für die es in der USPD viel Sympathie gab, von Anfang an.

Wegen der Autorität, die Kautsky aufgrund seiner Schriften vor dem Ersten Weltkrieg hatte, beschäftigten sich sowohl Lenin als auch Trotzki in mehreren Schriften mit der Wiederlegung seiner Angriffe. Auch in dieser Schrift Trotzkis nimmt die Widerlegung von Kautskys 1921 erschienener Broschüre über Georgien einen großen Raum ein, einen viel größeren, als es die Broschüre verdient. Trotzki stützt sich dabei vor allem auf Quellen der von Kautsky gefeierten georgischen Menschewiki selbst, Quellen, die Kautsky entweder von seinen georgischen Freunden vorenthalten wurden oder die er selbst seinen Leser*innen vorenthielt.

Es macht natürlich keinen Sinn, die Punkte, die Trotzki schon dargestellt hat, mit eigenen Worten noch einmal wiederzugeben. Ein paar Verallgemeinerungen können aber nicht schaden.

Kautsky hat die Bolschewiki dafür verurteilt, dass sie in einem rückständigen Land die Macht übernahmen, in dem die wirtschaftliche Entwicklung keineswegs für den Sozialismus reif war. Zugleich lobte er die georgischen Menschewiki in den Himmel, die drei Jahre lang in einem noch rückständigeren Land regierten. Eine Inkonsequenz? Nein. Denn Kautsky lobt die Menschewiki gerade dafür, dass sie keine sozialistischen Maßnahmen ergriffen. Der Vorwurf gegen Sozialdemokrat*innen, sie würden versuchen, den Kapitalismus besser zu managen als die Kapitalist*innen selber, ist ebenso alt wie berechtigt. Kautsky hat sich nicht nur offensiv dazu bekannt, sondern hat obendrein versucht, dafür noch eine theoretische Rechtfertigung zu fabrizieren. Auf S. 38 seiner Broschüre schrieb er, dass „der Kampf des Arbeiters gegen das Kapital […] nicht bloß gegen die Ausbeutung […] sondern auch gegen die Allmacht des Unternehmers im Betrieb, gegen den Standpunkt des ,Herrn im Hause'“ gehe. Obwohl er versichert, beide Kämpfe seien „untrennbar und eng miteinander verknüpft“, trennt er sie dann und konstatiert, dass es bei der Einschränkung der Allmacht der Unternehmer durch Gewerkschaften und Staat große Erfolge gegeben habe, dass aber gerade diese Maßnahmen die Arbeit oft produktiver machen und dadurch die Ausbeutung erhöhen würden. Aufgabe der Sozialdemokratie und Gewerkschaften ist also kurzfristig nicht mehr die Bekämpfung, sondern die Rationalisierung der kapitalistischen Ausbeutung. Durch den so ermöglichten kapitalistischen Fortschritt soll dann in immer mehr Branchen die Produktivität so hoch werden, dass sie für die Sozialisierung reif werden.

So verwandelt Kautsky den Marxismus gleich doppelt in ein reformistische Karikatur. Marx hatte zwar erklärt, dass der Kapitalismus sich von früheren Ausbeutergesellschaften dadurch unterscheidet, dass Ausbeutung nicht nur über niedrige Löhne, lange Arbeitszeiten, hohe Arbeitshetze stattfindet, sondern auch über die Steigerung der Arbeitsproduktivität. Er hatte aber zugleich erklärt, dass das nicht unbegrenzt möglich ist, sondern die kapitalistischen Widersprüche dem Grenzen setzen und der Kapitalismus dann zunehmend auf die alten Methoden der Herauspressung von Mehrprodukt aus den Arbeiter*innen setzt. Wenn man sich anschaut, wie niedrig die Steigerung der Arbeitsproduktivität in Deutschland in den letzten Jahren (trotz „Digitalisierung“, „Industrie 4.0“ etc.) war und wie seit den Hartz-Gesetzen systematisch ein Niedriglohnsektor geschaffen wurde, sieht man, dass das keine graue Theorie, sondern bittere Realität ist. Kautskys Ansicht, man könne durch Rationalisierung der Ausbeutung gleichzeitig die Lebensqualität der Arbeiter*innen und die Profite der Kapitalist*innen steigern, hängt also in der Luft.

Ebenso unmarxistisch ist die Vorstellung, man könne die Wirtschaftszweige gemütlich einen nach dem anderen sozialisieren, sobald sie jeweils durch Steigerung der Produktivität reif geworden seien. Zum Kapitalismus gehört nicht nur das Profitmachen, sondern auch dessen profitable Neuanlage. Je mehr die Widersprüche des Kapitalismus sich zuspitzen, desto enger werden die profitablen Anlagemöglichkeiten. Das ist der Grund für die Privatisierungsorgien der letzten Jahrzehnte, durch die neue profitable Anlagemöglichkeiten geschaffen werden sollen. Zu glauben, dass die Kapitalist*innen tatenlos zusehen würden, wie ein Wirtschaftszweig nach dem anderen sozialisiert wird, statt sich mit den brutalsten Mitteln zu wehren, ist mehr als naiv. Die Bolschewiki waren 1917 sehr zögerlich an die Verstaatlichung der Betriebe herangegangen und hatten sich weitgehend auf die Einführung von Arbeiter*innenkontrolle über die Produktion beschränkt. In wenigen Monaten zeigte sich aber die Notwendigkeit, die wirtschaftliche Macht des Kapitalismus zu brechen, indem man auch Betriebe enteignete, die dafür rein wirtschaftlich gesehen noch nicht „reif“ waren.

Aus Kautsky völlig falscher Analyse des Kapitalismus entwickelte er ebenso falsche Perspektiven. Es herrsche zwar nach der Revolutionswelle 1918-19 gerade die Reaktion, ähnlich wie nach den Niederlagen der Revolutionen von 1848/49 oder der Pariser Kommune von 1871. Aber diesmal werde die Reaktion viel schneller vorbeigehen und dann gebe es gute Aussichten für sozialdemokratische Reformpolitik und die schrittweise Überwindung des Kapitalismus. Was statt dessen kam, wissen wir: Weltwirtschaftskrise, Faschismus in Deutschland 1933 (in Österreich 1934 und andere rechte, undemokratische Regime in vielen Ländern) und schließlich der Zweite Weltkrieg.

Ebenso falsch waren Kautskys Perspektiven für Sowjetrussland. Kautsky verglich die russische mit der französischen Revolution und die Verhältnisse Sowjetrusslands 1921 mit dem Bonapartismus des Kaisers Napoleon. Trotzki hat in den 1930er Jahren den Begriff Bonapartismus für Stalins Herrschaft auch verwendet. Hat also Kautsky hier etwas früher erkannt als Trotzki? Keineswegs! Während Trotzki in der Tradition der Marxschen Analyse Bonapartismus als eine politische Herrschaftsform verstand, in der zwischen Gesellschaftsklassen ein ungefähres Gleichgewicht besteht und deshalb der Staatsapparat eine gewisse Selbständigkeit erlangt, begründete Kautsky seine Parallele ganz anders: „Mit der Kraft der Armee wächst die Machtfülle der Herrscher im Staate, wächst aber auch gleichzeitig ihre Abhängigkeit von dem einzigen Faktor, auf den sie sich noch stützen können, vom Militär. Damit ersteht in Russland ein neuer Militarismus, aber auch ein neuer Imperialismus. Denn dieser, der Drang nach steter Erweiterung des Macht- und Ausbeutungsgebietes, ist nicht nur dem Kapitalismus eigen, sondern auch dem Militarismus. Das Bedürfnis, seine Armee zu beschäftigen und ihr immer wieder neue Beute und Vorteile zu verschaffen, trieb Napoleon zu jener rastlosen Eroberungspolitik, die schließlich in Moskau zusammenbrach. Die gleichen Bedingungen erzeugen jetzt in Russland das gleiche Streben, den Moskauer Imperialismus.“ (S. 68) Konkret beschuldigte Kautsky Sowjetrussland, Georgien erobert zu haben, um auf dem Weg über Persien und Afghanistan das britische Kolonialreich in Indien anzugreifen. In Wirklichkeit war die Errichtung der Sowjetmacht in Georgien die letzte Etappe des russischen Bürgerkriegs und die Bolschewiki nutzten ihren Sieg im Bürgerkrieg, um ihre Armee drastisch abzubauen und endlich an den friedlichen Wirtschaftsaufbau gehen zu können

Kautskys Perspektiven für Sowjetrussland waren ebenso falsch wie die für Kapitalismus und Sozialdemokratie im Westen. Trotzki verwies schon darauf, dass in den Gegenregierungen, die die Menschewiki und Sozialrevolutionäre im russischen Bürgerkrieg gegen die Sowjetmacht errichteten, diese bald von der nackten Konterrevolution, von ehemaligen zaristischen Generälen an die Seite gedrängt und häufig ebenfalls verfolgt wurden. Auch im Baltikum und anderen Staaten des ehemaligen zaristischen Russlands, die in der Zwischenkriegszeit ihre nationale Unabhängigkeit bewahren konnten, war die bürgerliche Demokratie von kurzer Dauer und wurde bald durch rechte Diktaturen ersetzt. Angesichts dessen kann man sich leicht ausrechnen, was das Schicksal Georgiens gewesen wäre, wenn es 1921 kapitalistisch geblieben wäre.

Mit einigen Jahren zeitlicher Verspätung und ein gewissen Variationen gingen die Führungen der Menschewiki und nach ihnen auch Kautsky einen ähnlichen Weg nach rechts wie vor ihnen Struve & Co, der sie in das Lager der Reaktion brachte. Dagegen ging ein großer Teil der menschewistischen Basis nach und nach zu den Bolschewiki über. Wenn Kautsky die Bolschewiki beschuldigte, sie würden andere sozialistische Arbeiter*innenorganisationen verfolgen, dann ging es in Wirklichkeit um ehemalige Arbeiter*innenorganisationen, deren Rückhalt unter den Arbeiter*innen immer mehr dahinschwand, und die sich in Agenturen des internationalen Imperialismus verwandelten, die Terror und Sabotage betrieben (siehe im Glossar unter „Sozialrevolutionäre“).

Lenin und Trotzki gegen Stalin

Das zaristische Russland war ein Vielvölkerstaat gewesen. Nur eine Minderheit der Bevölkerung waren ethnische Russ*innen (die damals oft „Großrussen“ genannt wurden, während Ukrainer*innen lange als „Kleinrussen“ bezeichnet wurden). Der Zarismus zeichnete sich durch eine brutale nationale Unterdrückung und Russifizierungspolitik aus, die ein Erbe von vielfältigen nationalen Kränkungen hinterließ. Für den Marxismus hat der Klassenkampf der Arbeiter*innen zentrale Bedeutung. Aber gerade um diesen Klassenkampf erfolgreich führen zu können und der Teile-und-Herrsche-Politik von Kapitalist*innen und kapitalistischem Staat entgegenzutreten, kann eine richtige Haltung zur nationalen Frage (ebenso wie zu Sexismus, Rassismus etc.) über Erfolg oder Misserfolg entscheiden. Keineswegs der einzige aber der sichtbarste Ausdruck des Kampfes des russischen Marxismus gegen nationale Unterdrückung war das Bekenntnis zum Selbstbestimmungsrecht im auf dem 2. Parteitag 1903 beschlossenen Parteiprogramm. Lenin und die Bolschewiki präzisierten das dann zum Recht auf Lostrennung. „Recht“ ist dabei nicht im Sinne der bürgerlichen Aufklärung von „ewigen“, von „Naturrechten“ zu verstehen, sondern in dem ganz praktischen Sinne: du darfst, aber du musst nicht. Es geht also nicht darum, dass alle kleinen Nationen oder Natiönchen einen eigenen Staat haben sollen, genauso wenig wie das Recht auf Ehescheidung bedeutet, dass alle Ehen geschieden werden sollen. Es geht gerade um maximale Einheit, aber um eine Einheit, die nicht auf Zwang, sondern auf Übereinstimmung beruht.

In den Jahren des russischen Bürgerkriegs war die nationale Frage in den Hintergrund getreten, ganz einfach, weil die Sowjetmacht weitgehend auf Gebiete mit überwiegender russischer Bevölkerung zurückgeworfen war. Die Erfolge der Roten Armee im Bürgerkrieg änderten das Bild und führten zu Konflikten auch innerhalb der Bolschewiki. Diese Konflikte spielten eine große Rolle 1922/23, bevor Lenin durch einen weiteren Schlaganfall endgültig arbeitsunfähig wurde. Der Hauptgegenspieler Lenins in diesen Konflikten war Stalin, der als Generalsekretär der Partei und Volkskommissar (=Minister) für Nationalitätenfragen eine schädliche Rolle spielte. Der erste Konflikt im September 1922 drehte sich um die Idee Stalins, dass die aufgrund der Erfolge der Roten Armee entstandenen ukrainischen, weißrussischen etc. Sowjetrepubliken der im Jahre 1918 gegründeten russischen Sowjetrepublik beitreten sollten. Lenin setzte sich – auf dem Papier – durch. Statt einem Beitritt zur russischen Sowjetrepublik wurde die Sowjetunion gegründet, in der die verschiedenen Republiken gleichberechtigt neben der Russischen Sowjetrepublik stehen sollten.

Der zweite Konflikt fand zwischen Stalin und führenden georgischen Bolschewiki (Mdiwani, Macharadse, Okudschawa und anderen) statt. Nachdem 1921 die Sowjetmacht auch in Georgien errichtet worden war, hatten sich Georgien, Armenien und Aserbaidschan zu einer transkaukasischen föderativen Sowjetrepublik zusammengeschlossen. Jetzt forderten Stalin, Ordschonikidse und andere, dass diese föderative Sowjetrepublik der Sowjetunion beitrete, während führende georgische Bolschewiki forderten, dass die drei transkaukasischen Länder in der Sowjetunion eigenständige Sowjetrepubliken bilden sollten. Die Existenz verschiedener Nationen in der Region südlich des Kaukasus war eine Realität, die in der Existenz verschiedener Sprachen einen deutlichen Ausdruck fand. Wenn es zwischen den einzelnen Staaten und der Sowjetunion die transkaukasische Zwischenebene gab, stellte sich die Frage, welche Sprache dort verwendet würde? Heute leistet sich die EU einen gewaltigen Apparat von Simultandolmetscher*innen, Übersetzer*innen etc., um alle möglichen Reden und Dokumente in verschiedene europäische Sprachen zu übersetzen. Bei der wirtschaftlichen Armut, der kulturellen Rückständigkeit, der Sabotage eines großen Teils der Intellektuellen wäre dergleichen damals in Transkaukasien undenkbar gewesen. Tatsächlich bedeutete eine solche Zwischenebene die Entstehung eines bürokratischen Apparats, in dem die russische Sprache dominierte, die eben auch die Sprache der ehemaligen Unterdrücker*innen war. Auf diese Weise war diese Zwischenebene ein Hebel der Russifizierung Transkaukasiens. Deshalb hatten die georgischen Bolschewiki gute Gründe, bei einer transkaukasischen Föderation auf die Bremse zu treten. Stalin beschuldigte sie deswegen georgisch-nationalistischer Abweichungen („Sozialnationalismus“), während Lenin für die „Abweichler“ Partei ergriff. Er wollte die Frage auf dem Parteitag im April 1923 ansprechen. Als seine Gesundheit sich weiter verschlechterte und er zu Recht fürchtete, dass er dazu nicht in der Lage sein werde, wandte er sich an Trotzki. Trotzki forderte im Politbüro (Parteiführung und faktisches oberstes Machtorgan in der Sowjetunion) die Abziehung Ordschonikidses, der im Konflikt in der georgischen Parteiführung handgreiflich geworden war. (Lenin hatte sogar gefordert, ihn „exemplarisch [zu] bestrafen“.) Zweitens sollte das Politbüro die transkaukasische Föderation zur Abweichung vom Sowjetprinzip erklärten und drittens zugeben, dass die georgischen Kommunisten sich keiner nationalen Abweichung schuldig gemacht, sondern nur auf Ordschonikidses falsche Politik reagiert hatten.

Lenins Sekretärin Fotijewa hatte an Trotzki die Warnung Lenins weitergeleitet: „Stalin geht auf ein faules Kompromiss ein und nachher betrügt er“. Und so kam es. Auf dem Parteitag fand eine Diskussion über die nationale Frage statt, in Worten wurde die Leninsche Position zur nationalen Frage bekräftigt, aber die konkreten Forderungen Trotzkis waren schon vorher abgelehnt worden. Die Transkaukasische Föderative Sowjetrepublik blieb bestehen (um dann 1936 doch aufgelöst zu werden).

Klassenpolitik, „Smytschka“ und nationale Frage

Trotzki nutzte die Debatte, um in zwei Artikeln und einer Rede auf einer ukrainischen Parteikonferenz die Bedeutung der nationalen Frage zu erklären. Da bisher nur diese Rede auf Deutsch veröffentlicht ist (in dem Trotzki-Sammelband Schriften 3.1), werde ich auf Trotzkis Ausführungen, besonders in der zweiten Rede, etwas näher eingehen.

Er wandte sich gegen die Vorstellung, dass die Frage aufgebauscht werde und eigentlich bereits gelöst sei. „Die ganze Frage, wie sie jetzt vor uns steht, wenn wir sie politisch formulieren, bedeutet doch für uns: wie, d.h. mit was für welchen Maßnahmen, was für welchen Handlungsmethoden, was für einem Zugang halten und festigen wir die Macht der Arbeiterklasse auf einem Territorium, auf dem zahlreiche Nationalitäten Seite an Seite leben, bei denen der zentrale großrussische Kern, der früher eine Großmachtrolle gespielt hat, weniger als die Hälfte der ganzen Bevölkerung der Union bildet. Wirklich werden wir gerade im Prozess der Entwicklung der proletarischen Diktatur, im Lauf unseres ganzen Staatsaufbaus und unseres alltäglichen Kampfes für die Beibehaltung und Festigung der Arbeitermacht im gegebenen Moment näher als jemals an die nationale Frage in aller ihrer Lebensrealität, ihrer alltäglichen staatlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und Alltagslebenskonkretheit gerückt. Und jetzt, wenn die Partei als ganze beginnt, die Frage auf diese Weise zu stellen, – aber auf andere Weise darf man sie auch nicht stellen, – teilen Sie (und Sie sind leider nicht allein) mit naivem Doktrinarismus mit: Die Frage der Diktatur des Proletariats ist wichtiger als die nationale Frage. Aber gerade im Namen der Diktatur des Proletariats vertiefen wir doch auch jetzt praktisch die nationale Frage – und werden sie noch lange vertiefen“ schrieb er in seinem zweiten Artikel, der die Parteitagsbeschlüsse in der Form eines fiktiven Dialogs (ein von Trotzki gern verwendetes Stilmittel) erklärte („Erziehung der Jugend und nationale Frage“, erschienen in der Parteizeitung „Prawda“ am 1. Mai 1923)

Er betonte, dass auch die Politik in der nationalen Frage Klassenpolitik ist: „Unsere ganze Politik – im wirtschaftlichen Gebiet, beim Staatsaufbau, in der nationalen Frage, in der diplomatischen Sphäre ist Klassenpolitik. Sie ist diktiert durch die historischen Interessen des Proletariats, das für die volle Befreiung der Menschheit von allen Formen des Drucks kämpft. Unsere Beziehung zur nationalen Frage, die von uns angenommenen Maßnahmen zur Lösung der nationalen Frage stellen einen Bestandteil unserer Klassenposition dar, aber nicht etwas neben ihr oder ihr gegenüber Stehendes. Sie sagen, dass das Höchste für uns das Klassenkriterium ist. Das ist vollkommen wahr, aber bloß in dem Maße, wie das tatsächlich ein Klassenkriterium ist, das heißt in dem Maße wie es in sich Antworten auf alle grundlegenden Fragen der historischen Entwicklung einbezieht, einschließlich auch der nationalen Frage. Das Klassenkriterium minus die nationale Frage gibt kein Klassenkriterium, sondern dessen Stumpf, der unausbleiblich zu Berufsbeschränktheit, zu Trade Unionismus usw. führt.“ (a.a.O.)

Trotzki ging von der damaligen Debatte über das Verhältnis zwischen Proletariat und Bauernschaft aus. „Wir, die kommunistische Partei, die Avantgarde des Proletariats, dürfen unsere sozialrevolutionären Ziele nicht nur den Vorurteilen, sondern auch den Interessen der Bauernschaft als einer nach ihren Tendenzen kleinbürgerlichen Klasse nicht unterwerfen.“ (a.a.O.)

Doch konkret war in einem überwiegend bäuerlichen Land ein enges Bündnis zwischen Proletariat und Bauernschaft, für das Lenin den Namen „Smytschka“ geprägt hatte, erforderlich. Deshalb „ist es unsinnig, politisch unwissend, die Diktatur des Proletariats und die Smytschka mit der Bauernschaft einander gegenüberzustellen. Natürlich, die Diktatur des Proletariats gibt die grundlegende Idee unseres Programms, das grundlegende Kriterium unseres Staats- und Wirtschaftsaufbaus. Aber der ganze Kern liegt darin, dass gerade diese Diktatur undenkbar ist ohne bestimmte Wechselbeziehungen mit der Bauernschaft. Wenn wir die Smytschka mit der Bauernschaft von der Frage der Diktatur des Proletariats trennen, dann bekommen wir für die gegebene historische Periode eine nackte Form, eine leere Abstraktion.“ (a.a.O.)

Diese Smytschka war aber von der nationalen Frage nicht zu trennen. Mit der Industrialisierung zogen Arbeiter*innen oft über große Entfernungen in die Fabrikstädte und hatten oft eine andere ethnische Zugehörigkeit als die umliegende Bauernschaft. Ihr Zusammenarbeiten und -leben mit Arbeiter*innen anderer Nationalitäten förderte die Nutzung der russischen Sprache als Verständigungsmittel und dadurch ihre Russifizierung, so dass oft der Unterschied zwischen Proletariat und Bauernschaft auch ein nationaler Unterschied zwischen russisch(sprachig)en Arbeiter*innen und nichtrussischen Bäuer*innen war. „In unserer Sowjetunion bildet die Smytschka mit der Bauernschaft selbstverständlich nicht nur die Smytschka mit der großrussischen Bauernschaft. Die nicht-großrussische Bauernschaft ist bei uns zahlreicher, und sie löst sich in zahlreiche nationale Gruppen auf. Für diese nationalen Gruppen bricht sich jede Staats-, politische, wirtschaftliche Frage durch das Prisma ihrer heimatlichen Sprache, ihrer national-wirtschaftlichen und Lebens-Besonderheiten, ihr begründetes verflossenes nationales Misstrauen. Die Sprache, das Sprechen ist das grundlegendste, am weitesten ergreifende, am tiefsten durchdringende Werkzeug der Smytschka zwischen Mensch und Mensch, und damit zwischen Klasse und Klasse. Wenn unter unseren Bedingungen die Frage der proletarischen Revolution, wie Sie zugeben, zuallererst eine Frage der Wechselbeziehungen zwischen Proletariat und Bauernschaft ist, dann läuft diese letztere Frage zu mehr als zur Hälfte auf die Wechselbeziehungen zwischen dem fortschrittlichsten und einflussreichen großrussischem Proletariat und den bäuerlichen Massen anderer Nationalitäten hinaus, die früher gnadenlos unterdrückt wurden und sich noch stark an alle Kränkungen erinnern.“ (a.a.o.) In dem vor dem Parteitag, am 20. März, erschienen Artikel „Nationale Frage und Erziehung der Parteijugend“ hatte er ausgeführt, dass das, was in Moskau oder Petrograd als einfacher praktischer Konflikt zwischen Zentrum und „vor Ort“, zwischen Stadt und Dorf, zwischen einzelnen Branchen erscheinen würde, in Georgien, Aserbaidschan oder der Ukraine leicht die Form eines Konfliktes zwischen Moskau und kleinen und schwachen Nationen annehmen könne.

Zwangsmaßnahmen und ihre Grenzen

Trotzki verteidigte, dass die Bolschewiki im Bürgerkrieg zu Zwangsmaßnahmen greifen mussten, die auch nationale Prinzipien verletzten: „Wir antworteten den Unglückshelden der II. Internationale, dass das Interesse der Verteidigung der Revolution für uns weiter über juristischen Fetischen steht“, schrieb er in dem am 1. Mai 1923 erschienenen Artikel Und: „Wir wären jämmerliche Feiglinge und Verräter an der Revolution (welche auch die Bauernfrage und nationale Frage umfasst), wenn wir uns an dem leeren Fetisch eines nationalen ,Prinzips' aufgehalten hätten, während es vollkommen offensichtlich war, dass es keine reale nationale Selbstbestimmung in Georgien unter den Menschewiki gab: dort herrschte der anglo-französische Imperialismus unbeschränkt, der sich allmählich den Kaukasus unterwarf und uns vom Süden bedrohte. In der nationalen Frage, wie auch in allen anderen, bestehen die Dinge für uns nicht in juristischen Abstraktionen, sondern in realen Interessen und Beziehungen. Unser militärischer Einmarsch in Transkaukasien kann gerechtfertigt sein und rechtfertigt sich in den Augen der Werktätigen in dem Maße, in dem er dem Imperialismus Schläge zufügte und Bedingungen für die tatsächliche, reale Selbstbestimmung für die kaukasischen Nationalitäten schuf.“ (a.a.O.) Er erinnerte daran, dass sich solche Zwangsmaßnahmen auch gegen russische Bäuer*innen … und Arbeiter*innen gerichtet hatten. „…es gab auch nicht Momente, sondern eine ganze Periode, als wir bei den Bauern alle Überschüsse wegnahmen, und manchmal war es auch erforderlich, mit Hilfe bewaffneter Kräfte nicht vor den äußersten Mitteln haltzumachen.“ Und: „Die Revolution […] führte auch ein militärisches Regime in Fabriken und Betrieben ein. Wenn wir dies in einer bestimmten, zugespitztesten und schwersten Periode nicht gemacht hätten, wären wir umgekommen.“ (a.a.O.)

Zugleich warnte er entschieden davor, solche Maßnahmen fortzusetzen, wenn sie nicht mehr unbedingt erforderlich waren: „…wenn wir diese Maßnahmen unter Bedingungen anwenden wollten, unter denen sie nicht durch eiserne, unabwendbare Notwendigkeit herbeigerufen würden, kämen wir erst recht um.“ (a.a.O.) Er unterstrich: „Wenn durch unsere Schuld die Volksmasse Transkaukasiens unsere militärische Einmischung als Eroberung einschätzen würde, dann würde sie sich in das größte Verbrechen verwandeln – nicht gegen ein abstraktes nationales ,Prinzip', sondern gegen die Interessen der Revolution. Hier ist eine volle Analogie mit unserer Bauernpolitik. Die Lebensmittelzuteilung war sehr grausam. Aber die Bauernschaft rechtfertigt sie, zumindest im Rückblick, in dem Maße, wie sie sich überzeugt, dass die Sowjetmacht, sobald es nur die Bedingungen erlauben, zu ihrer grundlegenden Aufgabe übergeht: der allseitigen Erleichterung des Lebens der Werktätigen, zu denen auch die Bauern gehören.“ (a.a.O.)

In dem erwähnten Artikel vom 20. März 1923 bestätigte er, dass der Einmarsch der Roten Armee in Georgien nicht nur von den „Quacksalbern des internationalen Menschewismus“, sondern auch von einem beträchtlicher Teil der georgischen Bäuer*innen und sogar von Arbeiter*innen als Invasion gesehen wurde. Für diese Menschen war die Erklärung, dass die Menschewiki Georgien zu einem Einfallstor der britischen Imperialismus gegen Sowjetrussland machten, zu weit weg, um sie nachvollziehen zu können. Umso wichtiger war es, diesen Eindruck in Nachhinein durch die weitere Politik zu korrigieren: „Als einzige kann nur eine solche Politik von uns überzeugend sein, welche in der Sache der georgischen Bauernschaft aufzeigt, dass ihre nationalen kulturellen Interessen, ihre nationalen Gefühle, ihre in der Vergangenheit so häufig gekränkte nationale Selbstliebe jetzt all die Befriedigung findet, welche unter den objektiven Bedingungen nur möglich ist“. Je nachdem, wie richtig oder falsch diese Politik durchgeführt werde, werde die andere „Smytschka“, die nationale „Smytschka“ zwischen Ausbeuter- und ausgebeuteten Klassen zerfallen oder gestärkt werden.

Ein großes Hindernis dabei war die materielle Armut, die Russland vom Zarismus geerbt hatte und die durch den Bürgerkrieg verschärft worden war, die die kulturelle Entwicklung von Georgien etc. behinderte. Ein Stück weit gab es einen Widerspruch zwischen der gerade zur Überwindung der Armut notwendigen wirtschaftlichen Zentralisation und der wegen der nationalen Frage notwendigen Dezentralisation. Auch wenn es z.B. durchaus möglich sei, die Zentralisation des Eisenbahnwesens mit der Verwendung der jeweiligen nationalen Sprachen im Eisenbahnbetrieb zu verbinden, sei die richtige Verbindung von wirtschaftlicher Zentralisation und ethnischer und kultureller Dezentralisation eine große und komplizierte Aufgabe.

Keineswegs bedeutete die Betonung nationaler Selbstbestimmung das Bewahren rückständiger Traditionen im Namen irgendeiner nationalen Identität. Sie war vielmehr „die Gesamtheit der realen, materiellen Lebensbedingungen, die den Massen der unterdrückten Nationalitäten die Möglichkeit geben, den Rücken aufzurichten, sich emporzuheben, zu lernen, sich zu entfalten, sich der Weltkultur anzuschließen.“

Fehlentwicklungen in der Nationalitätenpolitik

Die Debatte war ein Eingeständnis, dass es Fehlentwicklungen gab, die korrigiert werden mussten. Was waren deren Ursachen? Lenin hatte 1922 mehrfach auf die Rolle des großrussischen Staatsapparats hingewiesen. Dieser war zwar durch die Oktoberrevolution zerschlagen worden, aber angesichts der Rückständigkeit des Landes (Analphabetismus etc.) musste man viele der bürgerlichen Verwaltungsfachleute einbeziehen. 1921 siegte die Rote Armee im Bürgerkrieg, was viele Feinde der Oktoberrevolution die Hoffnung auf den gewaltsamen Sturz der Sowjetmacht begraben ließ. Zugleich ließen die Wirtschaftsreformen der Neuen Ökonomischen Politik von 1921, die den Spielraum für den Markt deutlich erweiterten, einige die Hoffnung schöpfen, dass Russland nach einem langen Umweg auf dem Weg zum Kapitalismus sei. Drittens ließ die Eroberung großer Teile des Zarenreichs vielen großrussischen Nationalist*innen die Sowjetmacht als das kleinere Übel erscheinen, während ein Sturz der Sowjetmacht mit Hilfe des anglofranzösischen Imperialismus Russland in eine Marionette eben dieser Imperialisten verwandeln könne. In der Emigration kamen diese Stimmungen in einem im Juli 1921 in Prag erschienen Sammelband „Smena Wech“ (Änderung der Wegzeichen) offen zum Ausdruck. In Russland äußerten sie sich unterschwelliger. In seinem Artikel vom 1. Mai 1923 erinnerte sich Trotzki „dass ich vor zwei Jahren einen Bericht eines ehemaligen Generals, der im Dienst der Sowjetmacht stand, darüber las, dass die Georgier schauderhafte Chauvinisten seien, wie wenig sie den Moskauer Internationalismus verstehen würden und wie viele rote Regimenter man für die Gegenwehr gegen georgischen, aserbaidschanischen und jeden anderen transkaukasischen Nationalismus brauche. Es war vollkommen offensichtlich, dass sich das alte gewalttätige Großmachtdenken bei diesem General durch neue Terminologie nur ein wenig maskierte. Und wir brauchen Fehler nicht geheimzuhalten: dieser General ist keine Ausnahme. Im Sowjetapparat, auch das Militär eingeschlossen, sind solche Tendenzen im höchsten Grade stark – und nicht nur bei ehemaligen Generälen. Und wenn wir sie nicht überwinden würden, dann würde der Widerspruch zwischen unserem Programm und der Politik unausbleiblich eine Katastrophe bewirken. Deshalb stellen wir auch die nationale Frage scharf, um durch die Anspannung aller Kräfte der Partei eine solche Gefahr zu beseitigen.“

In Bezug auf die Partei war ein Faktor, dass die nationale Frage jahrelang in den Hintergrund getreten war. Eine ganze Generation war durch Revolution und Bürgerkrieg zum politischen Leben erwacht, die die Diskussionen vor dem Ersten Weltkrieg nicht kannten (ein Grund, dass Trotzki seine Artikel an die Jugend adressierte), andere hatten das einmal Verstandene wieder vergessen. Außerdem hatten die Diskussionen vor dem Krieg unter der Prämisse stattgefunden, dass in Russland eine bürgerliche Revolution und der Umgang mit der nationalen Frage unter kapitalistischen Bedingungen bevorstehe. Die Diskussionen über Smytschka und nationale Frage waren Neuland. „Die politische Erklärung [der Widersprüche] besteht darin, dass die leitende Rolle bei uns in der Partei der großrussische Kern spielt (und in der nächsten Epoche einfach spielen muss), der auf Grund der Erfahrung dieser fünf Jahre die Frage der Wechselbeziehungen des großrussischen Proletariats und der großrussischen Bauernschaft durchaus fühlte und durchdachte. Wir weiteten mit der Methode der einfachen Analogie diese Beziehungen auf unsere ganze Sowjetunion aus und vergaßen oder berücksichtigten unzureichend, dass an der Peripherie andere nationale Gruppen leben, mit einer anderen Geschichte, auf einer anderen Höhe der Entwicklung und, die Hauptsache, mit angesammelten Kränkungen. Der großrussische Kern der Partei drang in seiner Masse noch unzureichend in die nationale Seite der Frage der Smytschka ein, erst Recht in die nationale Frage in ihrem ganzen Umfang.“ (a.a.O.)

Bei der revolutionären Jugend gab es eine Neigung, zu glauben, wenn sie sich von nationalen Vorurteilen befreit hätten, hätten sie damit die nationale Frage erledigt. Seinen fiktiven Gesprächspartner sagte er: „Wenn Sie sich in einem Selbstbildungszirkel mit Hilfe der Methoden des Marxismus von diesen oder jenen nationalen Vorurteilen befreien, dann ist das natürlich sehr gut und das ist ein sehr großer Schritt in Ihrer persönlichen Entwicklung. Die Aufgabe einer regierenden Partei auf diesem Gebiet ist jedoch breiter: man muss vielen Millionen verschiedenstämmigen Massen über die Vermittlung leitender Partei-, Staats- und anderer Institutionen die Möglichkeit geben, faktische Lebensbefriedigung in ihren nationalen Interessen und Bedürfnissen zu finden, und ihnen somit die Möglichkeit geben, sich von nationalen Gegensätzen und Vorurteilen zu befreien – nicht im Maßstabе eines marxistischen Zirkels, sondern in Maßstabе der historischen Erfahrung der Völker.“ (a.a.O.)

„Wenn ein Kommunist bei sich vor Ort die Augen vor der nationalen Frage in ihrem vollen Umfange schließen und gegen Nationalismus (oder nicht selten gegen das, was ihm als Nationalismus erscheint) mit reduzierten und vereinfachten Methoden, ungeduldigem Leugnen, Hetze, Brandmarken usw. kämpfen wird, dann kann er rings um sich aktive, revolutionäre, subjektiv dem Internationalismus ergebene „linke“ junge Elemente sammeln, aber niemals wird er uns eine feste und ernsthafte Smytschka mit den einheimischen bäuerlichen Massen geben.“ (a.a.O.)

Offensiver und defensiver Nationalismus

Eine zentrale Rolle in Trotzkis Argumentation spielte die Unterscheidung zwischen dem offensiven Nationalismus einer Unterdrücker- und dem defensiven Nationalismus einer unterdrückten Nation. Die „Basis der Dinge besteht darin, klar die historischen Wurzeln des offensiven Großmachtnationalismus der Großrussen und den defensiven Nationalismus kleiner Völker zu verstehen. Man muss die realen Proportionen zwischen diesen historischen Faktoren verstehen, und das Verstehen muss in den Köpfen sowohl bei Großrussen als auch bei Georgiern als auch bei Ukrainern gleich sein, weil diese direkten Proportionen nicht von subjektiven örtlichen oder nationalen Zugängen abhängen, sondern das tatsächliche Verhältnis historischer Kräfte beantworten – beantworten müssen. Ein aserbaidschanischer Kommunist, der in Baku oder in einem muslimischen Dorf arbeitet, ein großrussischer Kommunist, der in Iwanowо-Wosnesensk arbeitet, müssen die gleiche Konzeption in der nationalen Frage haben.

Und diese gleiche Konzeption muss in ungleichen Beziehungen zum großrussischen und muslimischen Nationalismus bestehen, in Beziehung zu ersterem – gnadenloser Kampf, harter Widerstand, besonders bei all jenen Gelegenheiten, wenn er sich administrativ-regierend bekundet; in Beziehung zu letzterem – geduldige, aufmerksame, mühselige Erziehungsarbeit.“ (a.a.O) Diese Ausführungen waren – ohne Namensnennung – eine schallende Ohrfeige für Stalin, der monatelang möglichen georgischen defensiven Nationalismus als „Abweichung“ diffamiert und dem offensiven großrussischen Nationalismus Vorschub geleistet hatte. Im Vorfeld des Parteitags akzeptierte Stalin dann Änderungsanträge Trotzkis zu seinen Thesen zur nationalen Frage … auf dem Papier.

Eng verbunden mit der Frage der beiden Nationalismen war die Frage, wer welchen Nationalismus bekämpfen müsse: „Unsere Partei ist ganz und gar nicht eine Föderation nationaler kommunistischer Gruppen mit einer Aufteilung der Arbeit nach nationalen Merkmalen. Eine solche Umgestaltung der Partei wäre im höchsten Grade bedrohlich.“ (a.a.O.) Seinem fiktiven Gesprächspartner hielt er vor: „Sie beharren darauf, dass großrussische Kommunisten mit dem Großmachtnationalismus kämpfen müssen, die ukrainischen Kommunisten – mit dem ukrainischen Nationalismus. Das erinnert an die Formel der Spartakisten am Anfang des Krieges: ,Der Hauptfeind steht im eigenen Land'. Aber dort ging die Sache um den Kampf der proletarischen Avantgarde gegen ihre imperialistische Bourgeoisie, ihren militaristischen Staat. Dort hatte diese Losung tiefen revolutionären Inhalt. Natürlich mussten die deutschen Revolutionäre mit dem Hohenzollern-Imperialismus kämpfen, aber nicht den französischen Militarismus entlarven usw. Es wäre jedoch eine völlige Entstellung der Perspektive, dieses Prinzip auf die Bestandteile des Sowjetunion-Staates zu übertragen, weil wir eine Armee, eine Diplomatie und, was am allerwichtigsten ist, eine zentralisierte Partei haben. Es ist vollkommen richtig, dass gegen georgischen Nationalismus am besten georgische Kommunisten kämpfen können. Doch das ist eine Frage des Takts, aber nicht des Prinzips.“ (a.a.O.)

Trotzkis Ausführungen zur nationalen Frage haben nicht nur historisches Interesse und nicht nur Interesse für den Kampf gegen nationale Unterdrückung. In seinem Artikel vom 20. März 1923 wies er selbst auf die Parallele zur Frauenunterdrückung hin.

Weltrevolution oder kapitalistische Restauration

Trotzki wies damals immer wieder auf den doppelten Kampf der Arbeiter*innen in den kapitalistischen Industrieländern gegen den Kapitalismus und der überwiegend bäuerlichen unterdrückten Völker in den Kolonien gegen den Imperialismus hin. In der russischen Revolution verknüpften sich beide Kämpfe. Ein richtiger Umgang mit der nationalen Frage war auch wichtig für die Anziehungskraft der Sowjetmacht auf die national unterdrückten Völker in den Kolonien.

Die Sowjetunion blieb aber isoliert. Wie oben erwähnt, war Trotzki im Zusammenhang mit der Revolution 1905 zu der Erkenntnis gelangt, dass die Arbeiter*innenklasse im rückständigen Russland früher als in Westeuropa die Macht übernehmen und sozialistische Maßnahmen ergreifen könne. Sozialistische Maßnahmen waren aber etwas völlig anderes als die ab 1924 von Stalin propagierte Idee der Aufbau des Sozialismus in einem Lande. Für den Aufbau des Sozialismus wäre der Sturz des Kapitalismus international und insbesondere in den wirtschaftlich entwickelten kapitalistischen Ländern erforderlich gewesen.

Dass die Kapitalist*innen auf die Macht nicht freiwillig verzichteten, ist nicht verwunderlich. Aber auch die Sozialdemokratie in Deutschland und international führte damals zwar noch anders als heute den Sozialismus ständig im Munde, tat aber in der Praxis alles, um seine Verwirklichung zu verhindern. Unter den Umständen der Isolation bildete sich in der Sowjetunion eine privilegierte Bürokratie heraus, die ihre Privilegien ebenso gegen Versuche der Restauration des Kapitalismus wie gegen die Arbeiter*innen verteidigte. In diesem Sinne – der völlig anders war als der Kautskys von 1921 – sprach Trotzki ab Mitte der 1930er Jahre von proletarischem Bonapartismus: die bonapartistische relative Verselbständigung der Bürokratie beruhte darauf, dass sie die Klassen (die sowjetische Arbeiterklasse und den internationalen Kapitalismus) gegeneinander ausspielte. Es war ein proletarischer Bonapartismus, weil er auf den von der russischen Revolution geschaffenen Eigentumsverhältnissen beruhte.

Auf der Grundlage von Staatseigentum, staatlichem Außenhandelsmonopol und geplanter Wirtschaft war mehrere Jahrzehnte lang ein beeindruckendes Wirtschaftswachstum möglich. Auf dieser Grundlage konnten viele nationale Konflikte über einen längeren Zeitraum abgemildert und in den Hintergrund geschoben werden. Aber wenn man 1922/23 russisch-nationalistische Übergriffe noch als zaristisch-kapitalistisches Erbe oder Ausdruck von Unerfahrenheit betrachten konnte, war die stalinistische Bürokratenherrschaft die Quelle neuer nationaler Konflikte. Sie war unweigerlich mit einem bürokratischen Zentralismus verbunden. Die Zentren hatten verschiedene, auch materielle Privilegien, während Randgebiete oft abgehängt wurden. Wenn zwischen diesen Zentren und Randgebieten ethnische Unterschiede bestanden, waren nationale Konflikte vorprogrammiert. Dazu kamen Bestrebungen der Bürokratie, ihre Macht durch Teile-und-Herrsche-Politik zu festigen, und Bestrebungen von regionalen Bürokratien, ihren Kämpfen mit der Zentrale einen nationalen Anstrich zu geben, um dadurch Unterstützung zu erlangen. Die Folge war, dass, als die bürokratische Planwirtschaft an ihre Grenzen stieß, alte nationale Fragen wieder an die Oberfläche kamen. Nicht nur die Sowjetunion zerfiel, sondern auch die Tschechoslowakei und Jugoslawien, mit furchtbaren ethnischen Bürgerkriegen im ehemaligen Jugoslawien und Teilen der ehemaligen Sowjetunion – gerade in der Kaukasusregion – als Begleiterscheinung und Folge. Diese Bürgerkriege hätten sich ebenso wie Massenarbeitslosigkeit, Verelendung etc. nur verhindern lassen, wenn der Stalinismus nicht mit der Restauration des Kapitalismus geendet hätte, sondern mit politischen Revolutionen. Diese hätten auf der Grundlage des Staatseigentum die bürokratische Herrschaft durch eine Arbeiter*innendemokratie und die bürokratische durch eine demokratische Planwirtschaft ersetzt. Dann hätte die Entwicklung zum Sozialismus, die nach der russischen Oktoberrevolution begonnen hatte, fortgesetzt werden können.

Die Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit Georgiens waren durch ethnische Konflikte, Interventionen des russischen Kapitalismus, Einmischung des US-Imperialismus, Korruption, Armut, Machtkämpfe kapitalistischer Cliquen gekennzeichnet. Wenn der Stalinismus sich als unfähig erwiesen hatte, Georgien in eine lebenswerte Zukunft zu führen, dann hat der Kapitalismus davor und danach bewiesen, dass er das mit Sicherheit nicht besser kann. Der Sozialismus bleibt die einzige Hoffnung auf die Zukunft für Georgien und die ganze Menschheit.

Wolfram Klein, Juli 2020

Widmung

Dem Andenken

von Stepan Schaumjan, Alexei Dschaparidse und der 24 anderen Kommunisten aus Baku,

ohne Untersuchung und Gericht auf der öden Bahnstrecke zwischen den transkaspischen Stationen »Perewal« und »Achtscha Kuima«

getötet am 20. September 1918

durch den Chef der englischen militärischen Mission in Aschabad, Teag Jones, mit Wissen und Billigung der anderen englischen Behörden in Transkaukasien und im Besonderen des Kommandeurs der britischen Truppen in Transkaukasien, Generalmajor Tompson;

dem Andenken

der Arbeiter, die von der menschewistischen Regierung während des Meetings im Alexandergarten in Tiflis am 10. Februar 1918 erschossen wurden;

dem Andenken

von Hunderten und Tausenden transkaukasischer Kommunisten, die im Kampfe für die Sowjetmacht zugrunde gingen,

erschossen, erhängt, zu Tode gefoltert

durch die »demokratische« Koalitionsregierung Transkaukasiens,

durch die menschewistische Regierung des »demokratischen« Georgiens,

durch die Truppen des Sultans, des Bundesgenossen der transkaukasischen »Demokratie«,

durch die Truppen des Hohenzollern, des Beschützers des menschewistischen Georgiens,

durch die großbritannischen Truppen, die zum gemeinsamen Kampfe mit den Menschewiki gegen die Kommunisten in Georgien einmarschiert waren,

durch die Weißgardisten Denikins und Wrangels, unter direkter und indirekter Mitwirkung der georgischen Menschewiki;

dem Andenken

der revolutionären Führer der Bauernaufstände Ossetiens, Abchasiens, Adschariens, Guriens, Mingreliens u. a., die erschossen wurden durch die menschewistische Regierung Georgiens,

wird dieses Buch vom Verfasser gewidmet,

geschrieben zur Entlarvung von Lüge, Verleumdung und Hetze,

die in dichten Wolken ausgehen von dem Lager der Unterdrücker, Ausbeuter, Imperialisten, Räuber, Mörder und ihrer politischen Söldner und freiwilligen Lakaien.

Zur zweiten Auflage

Die englische und deutsche Ausgabe meines Büchleins über Georgien haben mir Erwiderungen des Herrn N. Dschordania eingetragen, vorausgesetzt, dass ich es für nötig hielte, auf sie zu antworten. Aber ich sehe die Notwendigkeit dazu nicht ein. Mein Büchlein ist auf Grund von Material geschrieben, das unanfechtbar ist, da es hauptsächlich aus menschewistischen Quellen geschöpft ist. Was den Gesichtspunkt anbetrifft, von dem aus ich das faktische Material behandelt habe, so bedarf dieser anlässlich der kasuistischen Exerzitien des georgischen Menschewistenführers keiner neuen Begründung.

Dschordania nennt uns »Imperialisten unter revolutionärer Maske«. Aber derselbe Dschordania hat erklärt: »Ich ziehe die Imperialisten des Westens den Fanatikern des Ostens vor,« – und wann? Damals als die Imperialisten des Westens uns von allen Seiten bedrängten. Bei dieser Richtung der politischen Geschmäcker war eine Ergänzung der theoretischen Polemik durch eine Polemik mit der Waffe unvermeidlich. Die Initiative dazu nahm Georgien auf sich. Die Folgen sind bekannt. Und wir ziehen den machtlosen Emigranten Dschordania, – auch wenn er uns des Imperialismus beschuldigt – jenem Dschordania vor, der als Präsident Georgiens den »Imperialisten des Westens« die Tür öffnete, um uns den Prozess zu machen, den »Fanatikern des Ostens«.

Moskau, den 28. Oktober 1922.

L. Trotzki.

Einleitung

Von dem für die Konferenz in Genua festgesetzten Termin trennen uns – im Augenblick, da diese Zeilen geschrieben werden – weniger als drei Wochen. Welcher Zeitraum uns von der Konferenz selbst trennt, das weiß offenbar noch niemand. Der diplomatische Kampf um die Konferenz ist in engster Weise mit der politischen Agitation um Sowjetrussland verflochten. Zwischen der Diplomatie der Bourgeoisie und ihrer Sozialdemokratie bleibt im Grunde genommen die Arbeitsteilung aufrechterhalten: die Diplomatie betreibt offizielle Intrigen, die Sozialdemokratie macht die öffentliche Meinung gegen die Republik der Arbeiter und Bauern mobil.

Was will die Diplomatie? Dem revolutionären Russland einen möglichst schweren Tribut auferlegen; es zwingen, möglichst viele Reparationen zu zahlen; die Schranken des Privatbesitzes auf dem Sowjetterritorium möglichst weit spannen; den ausländischen und russischen Finanzleuten, Industriellen und Wucherern möglichst viel Privilegien über die russischen Arbeiter und Bauern verschaffen. Was früher als Deckmantel dieser Forderungen diente – „Demokratie", „Recht", „Freiheit" –, das hat die bourgeoise Diplomatie heute beiseite geworfen, wie der Kaufmann das Packpapier von einem Stück Stoff beiseite wirft, wenn er seine Ware vorzeigen, handeln und nach Arschin abmessen muss.

Aber in der bourgeoisen Gesellschaft geht nichts verloren. Die Papierhülle, genannt „Recht", geht in die Verfügungsgewalt der Sozialdemokratie über; das ist ihre Ware, sie handelt damit. Die Zweite Internationale – und was von ihr gesagt wird, gilt auch für den Schatten, den sie in Form der Internationale Zweieinhalb nach links wirft – ist aus allen Kräften bemüht, den Arbeitern zu beweisen, dass, da die Sowjetregierung „Recht" und „Demokratie" nicht einhält, die werktätigen Massen Russlands keine Unterstützung in ihrem Kampfe gegen die Weltwucherer verdienen.

Unsere Nichtachtung in Bezug auf „Recht" und „Demokratie" haben wir am stärksten, wie bekannt, in der Oktoberrevolution gezeigt. Gerade sie ist ja unsere Erbsünde. Im Laufe der ersten Jahre versuchte die Bourgeoisie, die sozialistische Revolution mit dem Schwerte auszurotten. Jetzt beschränkt sie sich darauf, wesentliche kapitalistische Verbesserungen an ihr vorzunehmen. Der Kampf geht um die Ausmaße derselben.

Die Zweite Internationale möchte jedoch die Konferenz zu Genua für die Wiederherstellung von „Recht" und „Demokratie" ausnützen. Man sollte meinen, dass hieraus ein ganz bestimmtes Programm folgen müsste: die „usurpatorische", „diktatorische", „terroristische" Regierung der Sowjets nicht nach Deutschland hereinzulassen, sondern die demokratischen Reliquien der Konstituierenden Versammlung dorthin zu schaffen. Aber eine derartige Behandlung der Frage wäre zu lächerlich und würde sich auch mit den praktischen Schritten der Bourgeoisie kreuzen. Die Zweite Internationale erhebt auch am allerwenigsten auf die Rolle eines verrückten Ritters der Demokratie Anspruch. Sie ist nur ihr Sancho Pansa. Sie wagt die Frage nicht in ihrem vollen Umfange aufzuwerfen. Sie möchte nur ein klein wenig Nutzen daraus ziehen.

Die Losung des Kampfes um einen kleinen demokratischen Nutzen ist gegenwärtig Georgien. Der Sowjetumsturz fand dort erst vor einem Jahre statt. In Georgien hatte die Partei der Zweiten Internationale die Macht in den Händen. Die menschewistische Republik schwankte fortwährend zwischen Imperialismus und proletarischer Revolution hin und her, indem sie bei dem ersteren Schutz suchte oder ihn gegen die letztere unterstützte. Darin besteht aber auch die Rolle der gesamten Zweiten Internationale. Das menschewistische Georgien hat mit seinem eigenen Untergang seine Beziehungen zur Gegenrevolution büßen müssen. Aber auch der Zweiten Internationale droht unvermeidlich das gleiche Schicksal. Was Wunder, wenn der Kampf der internationalen Sozialdemokratie um das „demokratische" Georgien eine Art von symbolischem Charakter bekommen hat!

Doch haben zugunsten der Prätentionen der georgischen Menschewiki die erfinderischsten Köpfe der Zweiten Internationale kein einziges Argument aufzustellen vermocht, das nicht schon tausendmal von den Verteidigern der „demokratischen" Rechte, den Miljukow, Kerenski, Tschernow, Martow, ausgenützt worden wäre. Es besteht hier keinerlei prinzipieller Unterschied. Die Sozialdemokraten präsentieren uns jetzt in octavo, was die vereinigte Presse des Imperialismus uns vorher in folio präsentierte. Es ist nicht schwer, sich hiervon zu überzeugen, wenn man den Beschluss des Exekutivkomitees der Zweiten Internationale, Georgien betreffend, zur Hand nimmt.

Der Text des Beschlusses verdient Beachtung. Der Stil ist nicht nur für einen Menschen, sondern auch für eine Partei bezeichnend. Hören wir nun, in welchem politischen Stil die Zweite Internationale mit der proletarischen Revolution spricht:

„I. Das Territorium Georgiens wurde von den Truppen der Moskauer Regierung besetzt, die in Georgien eine Macht aufrechterhält, die seiner Bevölkerung verhasst ist, und sie erscheint in den Augen des Proletariats der ganzen Welt als die einzige Person, die verantwortlich ist für die Vernichtung der georgischen Republik und für das terroristische Regime, das in diesem Lande errichtet wurde."

Hat etwa nicht die reaktionäre Presse der ganzen Welt im Laufe von vier Jahren gegenüber der Sowjetföderation als Ganzes dasselbe behauptet? Sprach sie nicht davon, dass die Macht der Sowjets der Bevölkerung Russlands verhasst sei und sich nur durch das militärisch-terroristische Regime halte? Hielten wir da nicht Petrograd und Moskau mit Hilfe „lettischer, chinesischer, deutscher und baschkirischer Regimenter"? Verbreitete da Moskau nicht „gewaltsam" die Sowjetmacht in der Ukraine, in Sibirien, am Don, im Kubangebiet, in Aserbaidschan? Wenn jetzt die Zweite Internationale dem von uns zurückgeschlagenen Gesindel Wort für Wort die gleichen Phrasen, speziell in Bezug auf Georgien, nachschwätzt – ändert das dann etwa ihre Natur?

„II. Die Verantwortlichkeit der Moskauer Regierung hat sich nach den kürzlichen Ereignissen in Georgien noch verdoppelt, im Besonderen aber nach den Proteststreiks, die von den Arbeitern (?) veranstaltet und mit Gewalt unterdrückt wurden, wie dies von reaktionären Regierungen gemacht wird."

Ja, die revolutionäre Regierung Georgiens hat die menschewistischen Spitzen der Eisenbahnbürokratie, die Beamten und weißen Offiziere, die keine Zeit mehr zur Flucht hatten, mit Gewalt daran gehindert, die Arbeiter- und Bauernregierung zu sabotieren. Anlässlich dieser Repressalien schreibt Merrheim, ein ziemlich bekannter kümmerlicher Lakai des Imperialismus in Frankreich, von „Tausenden" von georgischen Bürgern, die ihre Wohnstätten verlassen mussten. „Unter diesen Flüchtlingen" – wir zitieren ihn wörtlich – „befinden sich eine ungeheure Anzahl von Offizieren, von ehemaligen Beamten der Republik und alle Führer der Volksgarde." Das ist gerade jener menschewistische Apparat, der im Laufe von drei Jahren die revolutionären Arbeiter und die sich ununterbrochen auflehnenden georgischen Bauern unterdrückt hat, und der nach dem Sturz der Menschewiki eine bereitwillige Waffe der Restaurationsversuche der Entente blieb. Dass die revolutionäre Regierung Georgiens mit der sabotierenden Bürokratie schroff abgerechnet hat, das geben wir voll und ganz zu. Das gleiche haben wir aber auf dem ganzen Revolutionsterritorium getan. Die Errichtung der Herrschaft der Sowjets in Petrograd und Moskau stieß zuallererst auf den Versuch eines Eisenbahnerstreiks unter der Führung der menschewistisch-sozialrevolutionären Eisenbahnbürokratie. Indem wir uns auf die Arbeiter stützten, sprengten wir diese Bürokratie, säuberten sie und unterstellten sie der Macht der Werktätigen. Das reaktionäre Gesindel der ganzen Welt erhob aus diesem Anlass ein Geschrei über unseren barbarischen Terrorismus. Das gleiche Wehgeschrei wird jetzt nach dem Muster des reaktionären Gesindels, nur in Bezug auf Georgien, von den sozialdemokratischen Führern wiederholt. Wo ist denn da eine Veränderung eingetreten?

Ist es aber nicht verblüffend, dass die sozialdemokratischen Führer überhaupt ihre Zunge rühren können, um von einer Unterdrückung der Arbeiterstreiks durch Gewalt als von einer Methode des Vorgehens „reaktionärer Regierungen" reden zu können? Oder wissen wir etwa nicht, wer der Zweiten Internationale angehört? Noske und Ebert sind ihre führenden Mitglieder. Oder sind sie etwa ausgeschlossen worden? Wie viel Arbeiterstreiks und Aufstände haben sie unterdrückt? Sind sie etwa nicht die Henker von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht? Oder ist es nicht der Sozialdemokrat Hörsing, ein Mitglied der Zweiten Internationale, der die Märzbewegung in Deutschland provoziert hat, um sie im Blut zu ertränken? Und wie steht es mit den letzten, den allerneuesten Maßnahmen des Sozialdemokraten Ebert gegen den Eisenbahnerstreik in Deutschland?

Oder sieht etwa das Exekutivkomitee von London aus nicht, was auf dem Kontinent vorgeht? In diesem Falle sei es uns aber gestattet, Henderson ehrerbietigst zu fragen, ob er nicht Geheimer Rat der Krone während des Osteraufstandes in Irland im Jahre 1916 war, als die königlichen Truppen Dublin zerstörten und 15 Irländer erschossen, darunter den Sozialisten Connolly, der vorher bereits verwundet war? Hat vielleicht Vandervelde, der ehemalige Vorsitzende der Zweiten Internationale, der kleine geheime Rat einer kleinen Krone, die russischen Sozialisten während des Krieges nicht aufgefordert, sich mit dem Zarismus auszusöhnen, der bis zum Hals im Blute der Arbeiter und Bauern watete und bald in ihm ertrank? Müssen wir die Beispiele noch vermehren? Wahrlich, den Führern der Zweiten Internationale steht die Verteidigung des Streikrechts ebenso zu Gesichte wie Judas Ischariot das Predigen der Treue.

„III. In jenem Augenblick, da die Moskauer Regierung ihre Anerkennung durch die andern Staaten verlangt, müsste sie, wenn sie will, dass ihre eigenen Rechte beachtet werden, sich mit der gleichen Achtung zu den Rechten anderer Völker verhalten und nicht die elementaren Prinzipien verletzen, auf denen der Verkehr zwischen zivilisierten Völkern beruhen soll."

Der politische Stil ist bezeichnend für die Partei, für ihre Seele. Der letzte Punkt ist die höchste Errungenschaft der Zweiten Internationale. Wenn Sowjetrussland Anerkennung (durch wen?) erreichen will, so muss es mit der gleichen Achtung (was für einer denn?) sich zu den Rechten anderer Völker verhalten und nicht – dies merke man sich – die elementarsten Prinzipien verletzen, auf denen der Verkehr zwischen zivilisierten Völkern beruhen soll (soll!).

Wer hat dies geschrieben? Wir würden sagen, dass dies Longuet selbst geschrieben hat, wenn er nicht in die Internationale Nummer 2½ übergesiedelt wäre. Vielleicht ist es Vandervelde, der scharfsinnige Jurist der belgischen Krone? Oder Mister Henderson, inspiriert von seiner eigenen Sonntagspredigt in der religiösen Versammlung der „Bruderschaft"? Oder vielleicht Ebert in seinen Mußestunden? Es ist geradezu notwendig, dies für die Geschichte des Autors der unvergleichlichen Resolution festzustellen. Wir zweifeln natürlich nicht daran, dass der Geist der Zweiten Internationale kollektiv gearbeitet hat. Wer aber war der erwählte Kanal, durch den das Eitergeschwür dieses Kollektivgedankens zum Durchbruch gelangt ist?

Doch kehren wir zum Text zurück. Um von den bourgeoisen, imperialistischen, sklavenhalterischen Regierungen (um sie gerade handelt es sich!) anerkannt zu werden, muss die Sowjetregierung „die Prinzipien nicht verletzen" und mit der gleichen Achtung „sich zu den Rechten anderer Völker verhalten". Mit welcher … ja mit welcher „Achtung" denn eigentlich?

Vier Jahre lang haben die imperialistischen Regierungen den Versuch gemacht, uns zu stürzen. Sie haben uns nicht gestürzt. Ihre ökonomische Situation ist hoffnungslos. Ihr gegenseitiger Kampf hat sich bis zum Äußersten zugespitzt. Sie sahen sich genötigt, zu Sowjetrussland in Beziehungen zu treten, um seiner Rohstoffe, seines Marktes und der Zahlungen willen. Indem Lloyd George hierzu aufforderte, erklärte er Briand, dass die internationale Moral ein Einvernehmen nicht nur mit den Räubern des Ostens (Türkei), sondern auch mit den Räubern des Nordens (Sowjetrussland) zulässt. Über das saftige Wort Lloyd Georges sind wir nicht gekränkt. In dieser Frage nehmen wir seine offenherzige Formel voll und ganz an. Ja, wir halten es für möglich, für zulässig und für notwendig – innerhalb gewisser Grenzen –, uns auch mit den imperialistischen Räubern sowohl des Westens, als auch des Ostens in Kompromisse einzulassen.

Indem ein Kompromiss uns Verpflichtungen auferlegt, muss es zu gleicher Zeit unsere Feinde zwingen, auf bewaffnete Angriffe gegen uns zu verzichten. Das ist die Bilanz des vierjährigen offenen Kampfes, soweit sie sich vorläufig übersehen lässt. Zwar ist es richtig, dass auch die bourgeoisen Regierungen eine Anerkennung „der elementaren Prinzipien, auf denen der Verkehr zwischen zivilisierten Völkern beruhen soll", verlangen. Aber diese Prinzipien haben nichts mit den Fragen der Demokratie und der nationalen Selbstbestimmung gemein. Man verlangt von uns in trockenem Tone, dass wir die Schulden anerkennen sollen, die der Zarismus gemacht hat zur Unterdrückung eben desselben Georgiens, Finnlands, Polens, aller Randgebiete und der werktätigen Massen von Großrussland selbst. Man verlangt von uns auch noch eine Ersetzung der Verluste der privaten Kapitalisten, die unter der Revolution zu leiden hatten. Es kann nicht geleugnet werden, dass die proletarische Revolution für mancher Leute Taschen und Geldbeutel verlustbringend war, jener Leute, die sich selbst für das Allerheiligste jener Prinzipien halten, auf denen „der Verkehr zwischen den zivilisierten Völkern beruht". Hiervon wird in Genua und an anderen Orten die Rede sein. Von welchen Prinzipien aber sprechen eigentlich die Führer der Zweiten Internationale? Etwa von den räuberischen Prinzipien des Versailler Friedens, die vorläufig die gegenseitigen Beziehungen der Staaten bestimmen, d. h. von den Prinzipien Clemenceaus, Lloyd Georges und des Mikado? Oder sprechen sie in ihrer listig ausweichenden Sprache von jenen Prinzipien, auf denen der Verkehr zwischen den Völkern wohl beruhen soll, aber nicht beruht? Warum stellen sie diese dann als Bedingungen unserer Aufnahme in die ehrwürdige „Familie" der heutigen imperialistischen Staaten auf? Oder wollen sie, dass wir noch heute die Waffen strecken und dem Imperialismus das Feld räumen, und gehen hierbei aus von Erwägungen darüber, wie morgen die gegenseitigen Beziehungen der Völker zueinander sein werden? Wir haben aber einen solchen Versuch vor dem Angesicht der ganzen Welt gemacht. Während der Brest-Litowsker Verhandlungen haben wir unsere Entwaffnung offen vorgenommen. Hat das etwa den deutschen Militarismus davon zurückgehalten, in unsere Grenzen einzufallen? Und hat da vielleicht die deutsche Sozialdemokratie, die Stütze der Zweiten Internationale, die Fahne des Aufstandes erhoben? Nein, sie blieb die Regierungspartei des Hohenzollern.

In Georgien regierte die kleinbürgerliche Partei der Menschewiki. Heute regiert dort die Partei der georgischen Bolschewiki. Die Menschewiki stützten sich auf die materielle Hilfe des europäischen und des amerikanischen Imperialismus. Die georgischen Bolschewiki stützen sich auf die Hilfe Sowjetrusslands. Auf Grund welcher Logik will dann die sozialdemokratische Internationale den Friedensschluss zwischen der Sowjetföderation und den kapitalistischen Ländern von der Bedingung der Wiedererstattung Georgiens an die Menschewiki abhängig machen?

Die Logik ist schlecht, das Ziel aber ist klar. Die Zweite Internationale wollte und will den Sturz der Sowjetmacht. Sie hat in dieser Richtung alles in ihren Kräften liegende getan. Diesen Kampf hat sie gemeinsam mit dem Kapital unter der Fahne der Demokratie gegen die Diktatur geführt. Die Arbeitermassen Europas haben sie aus dieser Stellung zurückgeschlagen, indem sie ihr nicht gestatteten, offen gegen die Sowjetrepublik zu kämpfen. Jetzt hat die Sozialdemokratie, indem sie Georgien als Deckung benutzt, den Kampf erneuert.

Die werktätigen Massen der ganzen Welt haben sofort das Streben an den Tag gelegt, die russische Revolution als Ganzes zu nehmen, und hierin stimmt ihr revolutionärer Instinkt, nicht zum ersten Mal, mit der obersten theoretischen Vernunft überein, die uns lehrt, dass man die Revolution mit ihrem Heroismus und ihren Grausamkeiten, dem Kampf um die Persönlichkeit und dem Zertreten der Persönlichkeit, nur aus der materiellen Logik ihrer inneren Beziehungen heraus verstehen kann, nicht aber auf dem Wege der Bewertung ihrer einzelnen Teile und Episoden nach der Preisliste des Rechtes, der Moral oder Ästhetik. Der erste große theoretische Kampf, den der Kommunismus zum Schutze des revolutionären Rechtes der Diktatur und ihrer Methoden geliefert hat, hat seine Früchte getragen. Die Sozialdemokraten haben endgültig von den Methoden des Marxismus und sogar von seiner Phraseologie Abschied genommen. Die deutschen Unabhängigen, die italienischen Sozialisten und ihresgleichen haben, von ihren eigenen Arbeitern in die Enge getrieben, die Diktatur „anerkannt", um um so deutlicher ihre Unfähigkeit zu zeigen, für sie zu kämpfen. Die kommunistischen Parteien sind gewachsen und zu einer Macht geworden. Aber in der Entwicklung der proletarischen Revolution hat sich eine starke Verzögerung gezeigt. Ihr Sinn und ihre Bedeutung sind von dem Dritten Kongress der Kommunistischen Internationale deutlich genug aufgezeigt worden. Die Kristallisierung des revolutionären Bewusstseins, in Form des Wachstums der kommunistischen Parteien, war begleitet von einer Ebbe der elementar revolutionären Stimmungen der ersten Nachkriegsperiode. Die bourgeoise öffentliche Meinung ist wieder zum Angriff übergegangen. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, den Revolutionsrausch zu vernichten oder wenigstens zu trüben.

Es begann eine grandiose Arbeit, in der die grobe und schreiende Lüge der Bourgeoisie viel weniger Nutzen gebracht hat als die sorgfältig ausgewählten Wahrheitssplitter. Durch den Kundschafterdienst ihrer Zeitungen hat sich die Bourgeoisie durch die Hinterhöfe an die Revolution herangemacht. Wisst ihr, was eine proletarische Republik ist? Das sind Lokomotiven, die an Asthma leiden, das sind Typhusläuse, das ist die Tochter eines bekannten ehrwürdigen Advokaten in einer ungeheizten Wohnung, das ist der Menschewik im Gefängnis, das sind ungereinigte Aborte. Das also ist die Revolution der Arbeiterklasse! Die bourgeoisen Journalisten haben der ganzen Welt die Sowjetlaus durch das Mikroskop gezeigt. Mistress Snowden hat es nach ihrer Rückkehr von der Wolga an die Themse vor allem für ihre Pflicht gehalten, sich öffentlich zu jucken. Das ist beinahe zu einer Zeremonie geworden, vermittelst derer die Vorzüge der Zivilisation vor dem Barbarentum symbolisiert werden. Doch wird hiermit die Frage noch nicht erschöpft. Die Herren Informatoren der bourgeoisen öffentlichen Meinung sind an die Revolution – von hinten herangetreten, zudem mit einem Mikroskop bewaffnet. Einige Einzelheiten haben sie mit großer, sogar übermäßiger Sorgfalt betrachtet. Das aber, was sie betrachtet haben, ist nicht die Revolution des Proletariats.

Doch ist schon die Übertragung der Frage in die Ebene unserer wirtschaftlichen Schwierigkeiten und der unsere Lebensweise betreffenden Unordnungen ein Schritt vorwärts. Von den eintönigen und nicht sehr gescheiten Gesprächen über die Vorzüge der Konstituierenden Versammlung im Vergleich zur Macht der Sowjets ist die bourgeoise öffentliche Meinung gewissermaßen zum Verstehen dessen übergegangen, dass wir existieren, die Konstituierende Versammlung aber nicht existiert und nicht existieren wird. Die sachlichen Anklagen gegen die Transportstörungen und andere Unordnungen kamen in gewisser Weise der Anerkennung der Sowjets de facto gleich und gingen zudem in derselben Richtung wie unsere eigenen Beunruhigungen und Bemühungen. Anerkennung bedeutet aber unter keinen Umständen Versöhnung. Sie bedeutet nur, dass an die Stelle des missglückten entschiedenen Angriffes der Stellungskrieg getreten ist. Wir erinnern uns immer noch daran, wie während des großen Schlachtens an der deutsch-französischen Front der Kampf sich zuweilen plötzlich um irgendeine „Waldwärterhütte" konzentrierte. Im Laufe einer Reihe von Wochen wurde die Hütte täglich in den Berichten der Stäbe erwähnt. Im Grunde genommen bedeutete der Kampf um die Hütte nur einen Versuch, die zum Stillstand gekommene Front zu durchbrechen oder wenigstens dem Feinde möglichst viel Schaden zuzufügen.

Indem die bourgeoise öffentliche Meinung den Krieg gegen uns auf Leben und Tod weiterführte, klammerte sie sich natürlicherweise an Georgien, gleichsam wie an jene „Waldwärterhütte", die im gegenwärtigen Stadium des Stellungskampfes an der Reihe war. Lord Northcliffe, Huysmans, Gustave Hervé, die regierenden rumänischen Banditen, Martow, der Royalist Léon Daudet, Mistress Snowden und ihre Schwägerin, Kautsky und sogar Frau Luise Kautsky (siehe „Wiener Arbeiterzeitung") – kurz, alle Geschützkaliber, über die die bourgeoise öffentliche Meinung verfügt, haben sich zum Schutze des demokratischen, loyalen, strikt neutralen Georgiens vereinigt.

Und nun beobachten wir einen auf den ersten Blick unerklärlichen Rückfall in die Raserei: alle jene Beschuldigungen – politische, rechtliche, moralische, strafrechtliche –, die früher gegen das Sowjetsystem als Ganzes gerichtet wurden, werden jetzt gegen die Sowjetmacht in Georgien mobilgemacht. Es stellt sich heraus, dass gerade hier, in Georgien, die Sowjets den Volkswillen nicht zum Ausdruck bringen. Und wie ist es in Großrussland? Ist denn die Sprengung der Konstituierenden Versammlung durch „lettische und chinesische Regimenter" schon vergessen? Ist denn nicht schon längst bewiesen, dass, da wir nirgends bodenständig sind, wir überall „von außen her" (!!!) eine bewaffnete Macht einführen und die allersolidesten demokratischen Regierungen mit all ihrer Bodenständigkeit zum Tempel hinaus fegen? Gerade damit fingen Sie doch an, meine Herren! Gerade deshalb prophezeiten Sie den Sturz der Sowjets nach einigen Wochen: sowohl Clemenceau zu Beginn der Versailler Verhandlungen, als auch Kautsky zu Beginn der deutschen Revolution. Warum aber ist jetzt nur von Georgien die Rede? Darum etwa, weil Dschordania und Zereteli in der Emigration leben? Was aber ist mit den andern: den Mussavatisten aus Aserbaidschan, den armenischen Daschnaken, der kubanischen Rada, dem Donkreis, den ukrainischen Petljuraleuten, den Martow und Tschernow, den Kerenski und Miljukow? Warum wird den georgischen Menschewiki ein solcher Vorzug vor denen aus Moskau gewährt? Für die georgischen Menschewiki verlangen sie Wiederherstellung der Macht, für die Moskauer nur eine Veränderung der Behinderungsmaßnahmen. Das ist nicht sehr logisch, das politische Ziel aber ist nur allzu deutlich. Georgien ist ein neuer Anlass für eine neue Mobilmachung der Feindschaft und des Hasses gegen uns in dem in die Länge gezogenen Stellungskrieg. Das sind die Gesetze des Erschöpfungskrieges. Unsere Gegner wiederholen in octavo dasselbe, womit sie in folio ein Fiasko erlitten haben.

Dadurch wird in bedeutendem Maße der Inhalt und Charakter unserer Arbeit bestimmt. Wir mussten von neuem jene Fragen durchnehmen, die bereits ihre prinzipielle Auslegung gefunden haben, im besonderen im ersten Teile „Terrorismus und Kommunismus". Wir strebten diesmal danach, möglichste Konkretheit zu erreichen. Die Aufgabe bestand darin, an einem Einzelbeispiel die Wirkung der Hauptkräfte unserer Epoche zu zeigen. An der Geschichte des „demokratischen" Georgiens versuchten wir die Politik der regierenden sozialdemokratischen Partei zu verfolgen, die genötigt war, ihren Weg zwischen Imperialismus und proletarische Revolution zu legen. Wir wollen hoffen, dass gerade die detaillierte Konkretheit der Darstellung es uns ermöglicht hat, die inneren Probleme der Revolution, ihre Bedürfnisse und ihre Schwierigkeiten dem Verständnis eines Lesers näher gebracht zu haben, der keine direkte revolutionäre Erfahrung hat, aber daran interessiert ist, sich solche zu erwerben.

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Wir verweisen im Text nicht immer auf die Quellenangaben: das wäre für den Leser, besonders den ausländischen, zu ermüdend, da es sich um russische Ausgaben handelt. Jene, die unsere Zitate nachprüfen und sich vollständigere dokumentarische Daten verschaffen wollen, verweisen wir auf folgende Broschüren: „Dokumente und Materialien zur Außenpolitik Transkaukasiens und Georgiens", Tiflis 1919; „Die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik und die Georgische Demokratische Republik und ihre gegenseitigen Beziehungen", Moskau 1922; Macharadse: „Die Diktatur der menschewistischen Partei in Georgien", Moskau 1921; Meschtscherjakow: „Im menschewistischen Paradies", Moskau 1921; J. Schafir: „Der Bürgerkrieg in Russland und das menschewistische Georgien", Moskau 1921; vom gleichen Verfasser: „Die Geheimnisse des menschewistischen Reichs", Tiflis 1921. Die zwei letzten Broschüren beruhen auf der Verarbeitung eines Teiles der Materialien, die von der Spezialkommission der Kommunistischen Internationale in Georgien und in der Krim gefunden wurden. Außerdem benutzten wir die Archive der Volkskommissariate für auswärtige Angelegenheiten und für Militärwesen.

Unsere Darlegung, ebenso wie unsere Quellen können auch nicht im Entferntesten auf Vollständigkeit Anspruch erheben. Die wertvollsten Materialien sind für uns unzugänglich: das sind die von der ehemaligen menschewistischen Regierung über die Grenze geschafften kompromittierendsten Dokumente, ebenso wie die Archive der entsprechenden Institutionen Großbritanniens und Frankreichs, beginnend vom November 1918.

Wenn man diese Dokumente gewissenhaft sammeln und herausgeben wollte, so würde sich ein sehr lehrreiches Lesebuch für die Führer der Internationale 2 und 2½ ergeben. Bei aller Schwierigkeit der Finanzlage der Sowjetrepublik würde ihre Regierung zweifellos die Unkosten ihrer Herausgabe auf sich nehmen. Es braucht gar nicht erwähnt zu werden, dass sie sich unter der Bedingung der Gegenseitigkeit verpflichten würde, für eine ebensolche Ausgabe alle jene Dokumente der staatlichen Sowjetarchive ohne Ausnahme zu übergeben, die sich auf Georgien beziehen. Wir befürchten sehr, dass unser Vorschlag nicht angenommen werden wird. Nun, so werden wir warten müssen, bis sich andere Wege finden, um das Geheime offenbar zu machen. Schließlich wird ein solcher Tag kommen.

Moskau, 20. Februar 1922.

Leo Trotzki.

Mythos und Wirklichkeit

Wie stellen die gestürzten Menschewiki und ihre sehr verschiedenartigen Protektoren die Schicksale Georgiens dar? In dieser Beziehung hat sich bereits ein ganzer Mythos gebildet, der auf den Fang von Einfältigen berechnet ist. Einfältige aber gibt es in der Welt.

Das georgische Volk beschloss kraft seines freien Willens, sich in Frieden und Freundschaft von Russland zu trennen. So beginnt der Mythos. Diesem seinem Entschluss gab das georgische Volk durch demokratische Abstimmung Ausdruck. Zugleich schrieb es die Losung unbedingter Neutralität in internationaler Beziehung auf seine Fahne. Georgien mischte sich weder tätlich noch ideell in den russischen Bürgerkrieg ein. Weder die Mittelmächte noch die Entente konnten es von der Bahn der Neutralität abbringen. Seine Losung war: „Leben und leben lassen!" Als einige bekannte gottesfürchtige Pilger der Zweiten Internationale (Vandervelde, Renaudel, Mistress Snowden) von diesem Lande der Seligen hörten, versorgten sie sich sofort mit direkten Fahrkarten dorthin. Gleich nach ihnen traf dort der durch Jahre und Weisheit beschwerte Kautsky ein. Sie alle redeten, gleich den alten Aposteln, in Zungen, die sie nicht kannten, und hatten Visionen, die sie später in Artikeln und Büchern beschrieben. Kautsky sang auf seiner Rückreise, von Tiflis bis Wien, ununterbrochen den Vers: „Herr, nun lassest Du Deinen Diener in Frieden fahren …, denn meine Augen haben Deinen Heiland gesehen …".

Noch hatten aber die Pilger keine Zeit gefunden, ihrer Gemeinde die frohe Kunde zu bringen, als sich Schreckliches ereignete: ohne jeglichen Grund warf Sowjetrussland seine Armee in das friedliche, neutrale, demokratische Georgien und zertrümmerte erbarmungslos die sozialdemokratische Republik, die die volle und unbeschränkte Liebe der Volksmassen genoss Der Grund dieser beispiellosen Missetat ist im Imperialismus und Bonapartismus der Sowjetmacht zu suchen, im Besonderen in ihrem Neid auf die demokratischen Erfolge der georgischen Menschewiki. Hier endet eigentlich der Mythos Darauf folgen die bereits apokalyptischen Prophetien, dass die Bolschewiki unvermeidlich zu Falle kommen und die Menschewiki in ihrer vollen Glorie erstrahlen werden.

Der Begründung des Mythos ist das gottesfürchtige Buch Kautskys gewidmet.1 Auf den Mythos gegründet sind sowohl die Resolution der Zweiten Internationale über Georgien, als auch die Artikel der „Times", sowohl die Reden Vanderveldes, als auch die zweifellosen Sympathien der belgischen Königin und die Schriften Hervé-Merrheims. Wenn in Bezug hierauf noch keine päpstliche Enzyklika erlassen ist, so liegt der Grund hiervon in dem vorzeitigen Tode Benedikts XV. Wir wollen hoffen, dass sein Nachfolger diese Lücke ausfüllen wird.

Wir müssen jedoch erklären, dass, wenn auch der Mythos über Georgien gleich vielen anderen nicht der poetischen Vorzüge entbehrt, er doch gleich allen Mythen nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Genauer ausgedrückt, der georgische Mythos ist durch und durch Lüge, an der nicht die Volkspoesie, sondern die maschinelle Produktion der kapitalistischen Presse schuld ist. Lüge und nur Lüge liegt der wütenden Antisowjet-Agitation zugrunde, bei der die Führer der Zweiten Internationale die erste Geige spielen. Dies wollen wir jetzt Schritt für Schritt nachweisen!

Mister Henderson erfuhr zum ersten Mal von der Existenz Georgiens durch Mistress Snowden, während Mistress Snowden mit der Tätigkeit Dschordanias und Zeretelis während ihrer Bildungsreise nach Batum und Tiflis Bekanntschaft machte. Was uns selbst anbelangt, so kannten wir diese Herrschaften bereits früher, und zwar nicht als Herrscher des unabhängigen demokratischen Georgiens, an das sie selbst niemals auch nur gedacht haben, sondern als russische Politiker in Petrograd und Moskau. Tschcheïdse stellte sich an die Spitze des Petrograder Sowjets und in der Epoche Kerenskis auch an die Spitze des Zentralexekutivkomitees der Sowjets, als in den Sowjets die Sozialrevolutionäre und Menschewiki herrschten. Zereteli war Minister der Regierung Kerenskis und der ideelle Inspirator der Kompromisspolitik.2) Tschcheïdse diente zusammen mit Dan und anderen als Vermittler zwischen dem menschewistischen Sowjet und der Koalitionsregierung. Gegetschkori und Tschenkeli führten die verantwortungsvollsten Aufträge der Interimsregierung aus. Tschenkeli war ihr bevollmächtigter Kommissar für Transkaukasien.

Die Position der Menschewiki war im Grunde genommen folgende: die Revolution soll ihren bourgeoisen Charakter beibehalten; an ihrer Spitze muss darum die Bourgeoisie bleiben; die Koalition der Sozialisten mit der Bourgeoisie muss es sich zur Aufgabe machen, die Volksmassen an die Herrschaft der Bourgeoisie zu gewöhnen; das Streben nach Eroberung der Macht durch das Proletariat ist für die Revolution verderbenbringend; den Bolschewiki muss erbarmungsloser Krieg erklärt werden. Als Ideologen der bourgeoisen Republik traten die Zereteli-Tschcheïdse und alle ihre Gesinnungsgenossen unversöhnlich für die Einheit und Unteilbarkeit der Republik innerhalb der Grenzen des alten Zarenreiches ein. Die Ansprüche Finnlands auf Erweiterung seiner Autonomie, das Streben der ukrainischen nationalen Demokratie auf dem Gebiete der Selbstverwaltung begegnete von Seiten der Zereteli-Tschcheïdse erbarmungslosem Widerstand. Tschenkeli wetterte auf dem Sowjetkongress gegen die separatistischen Tendenzen einiger Randgebiete, obgleich zu jener Zeit sogar Finnland keine volle Selbständigkeit verlangte. Für die Unterdrückung dieser autonomistischen Tendenzen bereiteten die Zereteli-Tschcheïdse eine bewaffnete Macht vor. Sie hätten sie in Anwendung gebracht, wenn die Geschichte ihnen dazu genügend Zeit gelassen hätte.

Ihre Hauptkräfte aber widmeten sie dem Kampf gegen die Bolschewiki.

Die Geschichte, die vieles kennt, kennt wohl kaum einen anderen Feldzug der Bosheit, des Hasses und der Hetzerei, der jenem gleichkommt, der in der Epoche Kerenskis gegen uns geführt wurde. Die Zeitungen aller Schattierungen und Richtungen verspotteten, verwünschten und brandmarkten uns Bolschewiki in allen ihren Artikeln und Abteilungen in Prosa und Versen, durch Worte und Zeichnungen. Es gab keine Schändlichkeit, die man uns nicht zugeschrieben hätte: allen zusammen und jedem Einzelnen. Wenn die Hetze ihren Höhepunkt erreicht zu haben schien, verlieh ihr irgend eine Episode, manchmal eine ganz nichtige, wieder neue Energie. Sie schwang sich noch höher auf, berauscht von den Ausdünstungen ihres eigenen Tobens. Die Bourgeoisie ahnte eine tödliche Gefahr. Der Irrsinn der Angst phantasierte mit der Zunge fanatischer Raserei. Die Menschewiki spiegelten wie immer die Stimmungen der Bourgeoisie wider. In der ärgsten Hitze dieses Feldzuges erstattete Mister Henderson der Provisorischen Regierung eine Visite und kam zu dem beruhigenden Schluss, dass Sir Buchanan mit der erforderlichen Würde und mit Erfolg die Ideale der britischen Demokratie unter der Demokratie Kerenski-Zereteli vertrete.

Die Zarenpolizei und die Konterspionage, die zeitweilig aus Angst vor Missgriffen untätig geblieben waren, strebten eifrig danach, den neuen Herrschaften ihre Ergebenheit zu beweisen. Alle Parteien der gebildeten Gesellschaft wiesen ihnen einmütig ein Objekt ihrer Pflege und Sorge zu: die Bolschewiki. Die dummen Erfindungen von unserer Verbindung mit dem Generalstab des Hohenzollern, denen in der Tat niemand Glauben schenkte, außer vielleicht die kleinen Spitzel und die Moskauer Kaufmannsfrauen, wurden wiederholt, weiterentwickelt, variiert, breitgetreten, von Tag zu Tag und in allen Tonarten. Die Führer der Menschewiki kannten besser als sonst jemand den wahren Wert dieser Beschuldigung. Aber Zereteli und Co. hielten es aus politischen Motiven für nützlich, sie aufrechtzuerhalten.

Im Brustbariton gibt Zereteli den Ton an, mit heiserem Gebell antworten ihm die Schwarzen Hundert aus den Hinterhöfen. Das Resultat ist, dass die Kommunistische Partei formell des Hochverrats, des Dienstes im Interesse des deutschen Militarismus beschuldigt wird. Der bürgerliche Volkshaufen zertrümmert unsere Druckereien und Büros unter der Führung der patriotischen Offiziersclique, Kerenski schließt unsere Zeitungen, Tausende und Abertausende von Kommunisten werden in Petrograd und an allen Enden des Landes verhaftet.

Die Menschewiki und ihre Bundesgenossen, die Sozialrevolutionäre, haben die Macht aus den Händen der Arbeiter- und Soldatenräte empfangen. Aber sie fühlten sehr bald, dass ihnen der Boden unter den Füßen schwand. Ihr Denken war darauf gerichtet, als Gegengewicht zu den Arbeiter- und Soldatenräten den kleinbürgerlichen und bürgerlichen Elementen behilflich zu sein, sich durch Vermittlung der demokratischen Munizipalitäten und Semstwos politisch zu organisieren. Da aber die Sowjets sich zu schnell nach links entwickelten, so wurde die Arbeit auf dem Gebiete des Zusammenschlusses der bürgerlichen Klassen bei den Menschewiki durch die Arbeit zur Schwächung und Desorganisierung der Sowjets ergänzt. Die Neuwahlen wurden böswillig in die Länge gezogen, der Zweite Sowjetkongress offen sabotiert. Zereteli inspirierte diese Politik, Tschcheïdse krönte sie organisatorisch. Im Zentralorgan der Sowjets wurde bereits seit August-September 1917 bewiesen, dass das Sowjetsystem sich überlebt habe, dass die Sowjets „in Zersetzung begriffen seien". Je revolutionärer, hartnäckiger, ungeduldiger die Arbeiter-und Bauernmassen wurden, desto gröberen und offeneren Charakter nahm die Abhängigkeit der Menschewiki von den besitzenden Klassen an. Die bürgerlich-demokratischen Munizipalitäten und Semstwos retteten die Situation nicht. Die revolutionäre Welle stürmte über dieses traurige Wehr hinweg. Der trotzdem von den Menschewiki – unter unserem Druck – einberufene Zweite Allrussische Sowjetkongress nahm, unterstützt von der Petrograder Garnison, die Macht in die Hand, fast ohne Kampf und Opfer. Da stellten sich die Menschewiki zusammen mit den Sozialrevolutionären und Kadetten auf die Bahn des erbitterten und, wo dies möglich war, des bewaffneten Kampfes gegen die Sowjets, d. h. gegen die Arbeiter und Bauern. So wurde das Fundament für die weißen Fronten gelegt.

Im Laufe der ersten neun Monate der Revolution ließen die Menschewiki folglich drei Etappen einander ablösen: Frühjahr 1917 sind sie die unbeschränkten Führer der Sowjets; im Sommer versuchen sie eine „neutrale" Position zwischen den Sowjets und der Bourgeoisie einzunehmen; im Herbst erklären sie gemeinsam mit der Bourgeoisie den Sowjets den Bürgerkrieg. Diese deutliche Aufeinanderfolge der Etappen charakterisiert das ganze Wesen des Menschewismus und enthält, wie wir weiter sehen werden, die ganze Geschichte des menschewistischen Georgiens.

Noch vor dem Oktoberumsturz entwischt Tschcheïdse in den Kaukasus: die Vorsicht war stets seine stärkste Bürgertugend. Er wurde später zum Vorsitzenden des transkaukasischen Koalitionssejm gewählt: auf diese Weise setzt Tschcheïdse seine Rolle, die er in Petrograd in folio spielte, im Kaukasus in octavo fort.

Die Menschewiki, verbündet mit den Sozialrevolutionären und Kadetten, wurden zu Inspiratoren des gegenrevolutionären „Komitees zur Rettung des Vaterlandes und der Revolution", das sofort mit der gegen Petrograd anrückenden Kosakenkavallerie Krasnows in Verbindung trat und einen bewaffneten Aufstand der Junker organisierte. Die Führer der Menschewiki, denen Kautsky das Patent für die Einrichtung unblutiger Demokratien verleiht, sind die tatsächlichen Initiatoren und Organisatoren des Bürgerkrieges in Russland. Vom Petrograder „Komitee zur Rettung des Vaterlandes und der Revolution", in dem die Menschewiki mit allen weißgardistischen Organisationen zusammenarbeiteten, führen direkte Fäden zu allen weiteren gegenrevolutionären Aufständen, Verschwörungen, Attentaten: zu den Tschechoslowaken an der Wolga, zum Samara-Komitee der Konstituante und zu Koltschak, zur Regierung Tschaikowskis und zum General Miller im Norden, zu Denikin und Wrangel im Süden, zu den Generalstäben der bürgerlichen Randrepubliken, zu den ausländischen Emigranten-Zufluchtsorten und zu den Geheimfonds der Entente, An dieser ganzen Arbeit beteiligten sich die Führer der Menschewiki, darunter auch die der georgischen, jedoch nicht im Namen der Verteidigung des unabhängigen Georgiens, von dem noch gar keine Rede war, sondern als Führer einer der antisowjetistischen Parteien, die im ganzen Lande ihre Stützpunkte hatten. Als Führer des Antisowjetblocks in der Konstituante trat niemand anders als Zereteli auf.

Zusammen mit der ganzen Gegenrevolution zogen sich die Menschewiki vom Industriezentrum an die rückständige Peripherie zurück. Sie benutzten natürlich Transkaukasien als eine der äußersten Grenzen. Während sie sich in Samara hinter der Losung der Konstituierenden Versammlung verschanzten, versuchten sie in Tiflis in einem bestimmten Moment die Fahne der unabhängigen Republik zu entfalten. Doch geschah das nicht plötzlich. Der Übergang von der bürgerlich-zentralistischen Position zur kleinbürgerlich-separatistischen, der nicht durch die nationalen Forderungen der georgischen Massen, sondern durch die Erwägungen des allgemein-russischen Bürgerkrieges diktiert wurde, hatte in seiner Entwicklung einige Etappen durchzumachen.

Drei Tage nach dem Oktoberumsturz in Petrograd erklärte Dschordania in der Sitzung der Tifliser Stadtduma: „Der Aufstand in Petrograd geht seinen letzten Tagen entgegen. Er war von Anfang an zu einem Misserfolg verurteilt," Das ist ganz in der Ordnung der Dinge: niemand konnte verlangen, dass Dschordania in Tiflis mehr Scharfblick an den Tag lege, als die anderen Philister an allen Enden der Welt. Der Unterschied ist nur der, dass Tiflis einer der Punkte der russischen Revolution ist, und dass Dschordania einer der aktiven Teilnehmer an jenem Kampfe ist, der dem bolschewistischen Aufstande ein Ende machen sollte. Aber die „letzten Tage" verflossen und waren doch nicht die letzten. Bereits im November musste in Eile ein selbständiges Transkaukasisches Kommissariat geschaffen werden: kein Staat, sondern ein zeitweiliger gegenrevolutionärer Waffenplatz, von dem aus die georgischen Menschewiki der Wiederherstellung der „demokratischen" Ordnung in ganz Russland entscheidende Hilfe zu erweisen hofften. Diese Hoffnungen waren mehr oder weniger begründet. Wirtschaftliche Zurückgebliebenheit, äußerste Schwäche des industriellen Proletariats, die Entfernung von Zentralrussland, Verflechtung von Nationalitäten mit verschiedenartigen sozialen, die Lebensweise und die Religion betreffenden Bedingungen, das Vorhandensein von Misstrauen und nationalem Antagonismus zwischen den Nationalitäten, schließlich die Nachbarschaft von Don und Kuban, – das alles zusammen schuf günstige Bedingungen für die Wühlereien gegen die Arbeiterrevolution und verwandelte tatsächlich für lange Zeit Vorderkaukasien und den Kaukasus in eine Vendée und Gironde, die durch den gemeinsamen Kampf gegen die Sowjets verbunden waren.

In dieser Periode befanden sich in Transkaukasien noch zahlreiche Zarentruppen der türkischen Front. Die Nachrichten vom Friedensangebot der Sowjetregierung und von der Bodenreform erschütterten nicht nur die Soldatenmassen, sondern auch die lokale werktätige Bevölkerung Transkaukasiens. Es beginnt eine aufgeregte Epoche für die Gegenrevolutionäre, die sich in Transkaukasien verschanzt hatten. Sie bildeten sofort einen „Ordnungs"-Block, dem alle Parteien angehörten, mit Ausnahme natürlich der Bolschewiki. Die Menschewiki, die die führende Rolle beibehielten, inspirierten das Bündnis der georgischen adligen Gutsbesitzer und der Kleinbourgeoisie, der armenischen Krämer und Naphthaindustriellen, der tatarischen Beys und Khane. Die russische weiße Offiziersclique stellte sich ganz dem antibolschewistischen Block zur Verfügung.

Ende Dezember fand der Delegiertenkongress der transkaukasischen Front statt, der unter der Führung der Menschewiki selbst einberufen wurde. Die Linken hatten die Mehrheit. Da veranstalteten die Menschewiki gemeinsam mit dem rechten Flügel des Kongresses einen Umsturz und schufen ohne die Linken, d. h. ohne die Mehrheit, den Gebietssowjet der transkaukasischen Truppen. Nach Übereinkunft mit diesem Sowjet bestimmte das Transkaukasische Kommissariat im Januar 1918 folgendes: „Es ist als erwünscht zu betrachten, in jene Gegenden, in denen gegenwärtig Unruhen stattfinden, Kosakenabteilungen zu entsenden …" Usurpation als Methode und Kornilowkosaken als bewaffnete Macht – das sind die tatsächlichen Ausgangspunkte der transkaukasischen Demokratie.

Der menschewistische Coup d'État in Transkaukasien ist keine Ausnahme. Als sich herausstellte, dass auf dem Zweiten Allrussischen Sowjetkongress (Oktober 1917) die Bolschewiki die erdrückende Mehrheit darstellten, weigerte sich das alte Exekutivkomitee (aus Menschewiki und SR bestehend), das den Kongress einberufen hatte, die Geschäfte dem auf dem Kongress gewählten Exekutivkomitee zu übergeben. Zum Glück hatten wir nicht nur die formale Mehrheit des Kongresses, sondern auch die ganze Garnison der Hauptstadt auf unserer Seite. Das rettete uns vor der Sprengung und gestattete uns, den Menschewiki eine anschauliche Lektion über die Sowjetdemokratie zu geben …

Die transkaukasischen Truppen blieben aber nach wie vor eine Gefahr für die „Ordnung", auch nach der Palastrevolution der Menschewiki. Der Unterstützung der revolutionär gesinnten Soldaten sicher, legten die Arbeiter- und Bauernmassen Transkaukasiens die unzweideutige Absicht an den Tag, dem Beispiel der Nordbevölkerung zu folgen. Um die Situation zu retten, musste man die revolutionären Truppen entwaffnen und zerstreuen.

Der Plan der Entwaffnung der Armee wurde von der Regierung Transkaukasiens in Gemeinschaft mit Vertretern der Zarengeneralität geheim ausgearbeitet. An der Verschwörung beteiligten sich der weiße General Prschewalski, der künftige Kampfgenosse Wrangels, Oberst Schatilow, der künftige georgische Minister des Innern, Ramischwili u. a. Zugleich mit den Maßnahmen zur Entwaffnung der revolutionären Truppenabteilungen wurde bestimmt, dass die Kosakenregimenter, die Stütze Kornilows, Kaledins, Krasnows, nicht entwaffnet werden sollten. Das Zusammenarbeiten der menschewistischen Gironde und der Kosaken-Vendée nimmt hier kriegerischen Charakter an.

Die Entwaffnung artete in gemeine Beraubung und oftmals in Vernichtung der in die Heimat zurückkehrenden Soldaten durch spezielle gegenrevolutionäre Abteilungen aus. An einigen Eisenbahnstationen fanden unter Anwendung von Panzerzügen und Artillerie große Gefechte statt. Tausende von Opfern fielen bei diesem Schlachten, dessen Inspiratoren die georgischen Menschewiki gewesen sind.

Der glückselige Kautsky stellt die bolschewistisch gesinnten transkaukasischen Truppen als zügellose Banden dar, die plünderten, vergewaltigten und mordeten. Ganz genau ebenso wurden sie seinerzeit von dem ganzen gegenrevolutionären Gesindel dargestellt. Diese Betrachtungsweise benötigt Kautsky, um die georgischen. Menschewiki, die Initiatoren der Entwaffnung, als „Ritter im besten Sinne des Wortes" darzustellen. Es stehen uns aber einige Zeugnisse zur Verfügung, und zwar solche, die von den Menschewiki selbst gegeben sind. Diese letzteren erschraken selbst vor dem Werk ihrer Hände, als die Entwaffnung blutigen Pogromcharakter annahm. Der angesehene Menschewik Dschugeli erklärte am 14. Januar 1918:

„Das war keine Entwaffnung, sondern eine Ausplünderung der Soldaten. Den unglücklichen, abgequälten, nach ihrem Heim sich sehnenden Leuten wurde alles bis auf die Stiefel abgenommen. An Ort und Stelle wurde Handel damit getrieben. Die Räuberbanden verkauften Waffen. Es waren empörende Vorgänge." („Slowo", No. 10.)

Dschugeli, der selbst an der Entwaffnung der Garnison von Tiflis teilgenommen hat (wir werden diesem Herrn noch im Weiteren begegnen), beschuldigte einige Tage später Ramischwili, eine der räuberischen Abteilungen der transkaukasischen Gegenrevolution zu der Entwaffnungsarbeit herangezogen zu haben. Zwischen den beiden Politikern fand aus diesem Anlass folgender öffentlicher „Meinungsaustausch" statt, den wir anführen müssen:

N. Ramischwili: Dschugeli ist ein Verleumder.

Dschugeli: Und Noj Ramischwili ein Lügner.

Ramischwili (wiederholend): Dschugeli ist ein Verleumder.

Dschugeli: Bitte mit den gegen mich gerichteten beleidigenden Ausdrücken aufzuhören.

Ramischwili: Ich erkläre, dass das von Dschugeli Gesagte eine Insinuation ist, und dass Dschugeli ein Verleumder ist.

Dschugeli: Und Sie sind ein niederträchtiger Kerl und ein Schuft, und ich werde mit Ihnen, wie es sich gehört, verfahren. („Slowo" No. 22.)

Wir sehen, dass die Entwaffnung durchaus nicht eine so unzweifelhaft ritterliche Arbeit war, wie Kautsky schreibt, wenn zwei Gesinnungsgenossen, die dieser Sache so nahe stehen, in so unritterlicher Weise die Verantwortung für sie von sich abzuwälzen suchen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752143584
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
Sozialismus Russische Revolution Georgien Sowjetunion

Autoren

  • Leo Trotzki (Autor:in)

  • Wolfram Klein (Autor:in)

Russischer Revolutionär, Kopf der Roten Armee und später Verbannung unter Stalin und Ermordung in Mexiko.
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Titel: Zwischen Imperialismus und Revolution