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Deich Mortale

von Silke Schopmeyer (Autor:in)
140 Seiten

Zusammenfassung

Schon seit Tagen war der Italiener Flavio Mantova unauffindbar. Was hat er in den Hamburger Dörfern Curslack und Neuengamme gesucht? Warum liegt seine Leiche plötzlich im Schilf? Anfangs getrieben von seiner Hausdame Erne wird Junghotelier Karl Kolberg, genannt Karlo, zum Aufklärer wider Willen. In der vermeintlichen Dorfidylle mit Gesangverein, Festumzügen, verschrobenen Sonderlingen und engstirnigen Amtsschimmeln tauchen immer neue Fragen auf, die Karlo jedoch nur höchst ungern mit dem emotionslos ermittelnden Kommissar Spannich bespricht. Wer beschmiert nachts sein Haus? Warum verhält sich Ernes Mann Hinrich so merkwürdig? Was hat der Restaurantbesitzer Franco Rossi zu verbergen? Wer ist der Herr mit dem schwarzen Smart? Und warum benimmt sich Karlo in Gegenwart der attraktiven Italienerin Gianna immer wie ein ausgemachter Idiot? Am Ende offenbart sich Karlo ein dunkles Familiengeheimnis aus vergangenen Zeiten.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

1 Im Schilf

 

 

Feucht und glitschig fühlte sich der Rasen unter seinen Schuhen an. Hauslose Schnecken zogen auf den niedergetrampelten Grashalmen ihre Schleimspur. Mit müden Schritten schlurfte Karl Kolberg an dem rotgeklinkerten Gebäude vorbei. Die vorletzte Nacht steckte ihm noch in den Knochen. Froh über ein wenig Ablenkung hatte er diesem Treffen am frühen Dienstagmorgen zugestimmt. Wenigstens für ein paar Stunden konnte er sich so Ernes sorgenvollem Gesicht entziehen. Mehrere Computerausdrucke mit den Rennergebnissen einer vergangenen Ruderregatta hingen im Schaukasten. Entfernt vernahm er das Zuschlagen einer Autotür. Angestrengt blinzelte er in die Morgensonne, die das sanft grüne Gelände der Wassersportstätte in ein friedvolles Licht tauchte. Ein Blick auf den Steg zeigte ihm, dass der schmale gelbe Zweier bereits abgelegt hatte. Das rote Begleitmotorboot lag noch da.

„Morgen Karl.“ Nur wenige sprachen ihn noch so an. Bei allen anderen hieß er Karlo. „Na, konntest du dein Luxushotel so früh schon alleine lassen?“

„Das ist bei Erne in guten Händen!“

Mit einem gekonnten Satz sprang er zu seinem Vater ins Boot. Souverän warf Dieter Kolberg den Motor an, um kurz darauf abzulegen. Nachdem sie eine Holzbrücke unterquert hatten, folgte das Motorboot dem Doppelzweier, der ruhig durchs Wasser glitt. Bald waren die Männer auf gleicher Höhe angelangt.

„Hi Bine, alles klar?“, rief Karlo zum Boot herüber.

„Klaro Karlo!“, schrie seine jüngere Schwester zurück. „Jetzt zeigen wir dir mal, wie man richtig rudert!“

„Hallo Mandy!“, begrüßte er Sabines Partnerin, die nur kurz die Hand hob.

Mit tiefer sturmerprobter Stimme rief Trainer Dieter Kolberg seine Anweisungen in ein Megafon:

„So, meine Damen, wir haben viel vor. Die Qualifikation ruft. Die Konkurrenz schläft nicht. Jetzt zeigt mal, was ihr könnt!“

Kraftvoll glitt das Boot durch das Wasser, ohne dass die Heckspitze beim Einsetzen der Blätter ruckartig im Wasser abtauchte. Karlo war beeindruckt. Das war Rudern in höchster Vollendung. Sabine atmete bei jedem Schlag prustend aus. Mandy gab mit dem Durchzug ein lautes Stöhnen von sich. Ihre blonden Pferdeschwänze wippten im Takt. Nachdem sie die Ziellinie erreicht hatten, wurden die Mädchen vom Trainer angewiesen, sich vor der nächsten Einheit noch locker auszurudern. Sie manövrierten ihren Zweier unter einer Brücke hindurch und folgten dem Flusslauf.

Karlo saß auf der Bank im Boot und ließ die Morgenstimmung in dieser idyllischen Gegend auf sich wirken. Vielleicht sollte er seinen neuen Schwarm mit einer Bootsfahrt wieder besänftigen? Auf der einen Uferseite weidete eine Kuhherde auf sattem Grün. Dichtes Schilf umrahmte das stille Gewässer. Die einzigen Störgeräusche kamen vom Motor des Bootes und aus der rauen Kehle des Vaters, der die Ruderinnen in Abständen korrigierte.

„Ruhig rollen! Früher aufdrehen Mandy! Ja, so ist’s gut!“ Anerkennend drehte er sich zu seinem Sohn um. „Die haben echt was drauf, die Mädels.“

Karlos Vater hatte früher zu den Ruderern gezählt, die Frauenrennen als willkommene Pause zum Bierholen ansahen. Deshalb wollte er eigentlich auch nie das weibliche Geschlecht trainieren. „Rennen im Fraueneiner: Da sind sechs Teilnehmerinnen am Start. Sechs kommen ins Ziel. Alle heulen. Fünf weil sie verloren haben. Eine weil sie die Siegerin ist. Soll ich mir das antun?“ Die Erfolge seiner eigenen Tochter belehrten ihn bald eines Besseren.

„Die haben den richtigen Biss! So wie wir damals in unserem Achter in Luzern.“

Innerlich stellte sich Karlo schon auf eine der alten Erfolgsgeschichten seines Vaters ein. Mehr als dreißig Jahre her aber nach wie vor präsent. Sie waren schon echte Helden, die Männer des Ratzeburger Achters - nur ganz knapp geschlagen von den Russen. Während der Vater in Erinnerungen schwelgte, bemerkte sein Sohn, dass sich die Bugfrau einmal zu wenig umgesehen hatte und das Boot Kurs auf eine mit dichtem Schilf bewachsene Einbuchtung am Ufer nahm. Das brachte auch Dieter Kolberg wieder in die Gegenwart zurück.

„Mensch Mädel, du musst doch gucken, was hinter dir los ist! Wir sind hier nicht im Betonbecken!“ Der Trainer war ungehalten über jeden dummen Fehler.

Karlo sah den beiden dabei zu, wie sie versuchten, sich aus dem Schilf zu befreien. Da entdeckte er etwas Ungewöhnliches in dem Grün. War das nicht ein Seidenschal? Das rot-braune Muster kam ihm bekannt vor.

„Sabine, kommst du an den Schal da ran?“

Die Augen der Schwester folgten seinem ausgestreckten Arm. Vorsichtig versuchte sie, den Stoff mit dem Ruderblatt anzuheben. Plötzlich entfuhr ihr ein spitzer Schrei: „Oh, mein Gott!“

Karlo sah ihrem entsetzten Blick hinterher und erkannte schließlich die Umrisse eines menschlichen Körpers, der mit dem Gesicht nach unten an dem Stofffetzen hing. Bis auf unzählige Leichen im Fernsehen hatte er noch nie eine in natura gesehen. Entsetzt blickte er sich um. Und wenn da noch mehr im Wasser lagen? Einen kleinen Moment lang erinnerte er sich an einen Film, in dem Wassergeister die Insassen kleiner Fischerboote in die Tiefe gezogen hatten. Er wischte den Gedanken schnell weg und schaute auf die erstarrten Ruderinnen.

Die beiden zuvor noch rot geschwitzten Gesichter der Frauen hatten in kürzester Zeit eine blasse Färbung angenommen. Selbst Sabine war die Bräune aus dem Gesicht gewichen. Wie ein kleines Mädchen, das einen toten Vogel im Garten gefunden hatte, sah sie hilfesuchend ihren Vater an.

Der fand als erster die Fassung wieder und redete mit ruhiger aber bestimmter Stimme auf seine Schützlinge ein: „Meine Damen, wir rudern jetzt ganz in Ruhe zurück. Denkt nicht weiter über die Sache hier nach. Darum wird sich die Polizei kümmern.“

Wie vom Blitz getroffen griffen die Sportlerinnen wieder zu ihren Ruderblättern und fingen mechanisch an, sie zu bewegen. Ihre Augen waren noch immer stark geweitet vor Entsetzen.

„So was können wir jetzt überhaupt nicht gebrauchen. In zwei Wochen müssen wir durch die Qualifikation!“, presste Trainer Kolberg leise hervor.

„Schon klar, Papa.“

Zurück auf festem Boden eilte Karlo sofort zu seinem Auto, in dem er sein Handy liegengelassen hatte und verständigte die Polizei. Danach meldete er sich auch noch bei seiner Angestellten Erne im Hotel, um ihr mitzuteilen, dass es später werden könnte. Von der Leiche sagte er ihr noch nichts. Er musste erst mal seine Gedanken ordnen. Hatten Ernes Sorgen am Ende doch ihre Berechtigung?

Nach ungefähr einer halben Stunde fuhren zwei Polizeiautos sowie ein Kastenwagen mit Anhänger auf dem großen Parkplatz vor. Von dem Anhänger wurde ein großes Schlauchboot abgeladen und drei Männer in Trainingsanzügen liefen mit schnellen Schritten in Richtung Wasser. Nachdem sie sich noch kurz von Karlo die Fundstelle hatten beschreiben lassen, streiften sich zwei von ihnen Taucheranzüge über und setzten sich umgehend in das Boot. Sie fuhren jedoch nicht sofort los, sondern schienen auf etwas zu warten. Kurz darauf hielt ein dunkelblauer Audi mit getönten Scheiben auf dem Parkplatz. Ein Mann in Karlos Alter stieg aus. Mit staksigen Schritten, die an Storch oder Reiher erinnerten, eilte er zu seinen Kollegen. Äußerst unbeholfen stieg der Nachzügler ein und einer der Bootsinsassen ließ den Außenbordmotor an. Von der rasanten Anfahrt überrumpelt riss es den Audifahrer fast um.

Nach einer weiteren halben Stunde vernahmen Karlo und sein Vater erneut das Geräusch des Motors, und die Taucher legten wieder beim Regattazentrum an. Mit wackligen Beinen und einer beachtlichen Gesichtsblässe näherte sich der ungeübte Bootsfahrer Vater und Sohn, die auf einer hölzernen Picknickbank vor dem rotgeklinkerten Gebäude des Leistungszentrums saßen.

„Guten Tag die Herren, Spannich mein Name, Kommissar Spannich.“ Umständlich nahm er neben Karlo Platz. Mit einstudiert wirkenden Bewegungen zog er ein schwarzes Notizbuch aus der Manteltasche seines Trenchcoats, rückte sich mit zwei Fingern seine Nickelbrille zurecht und zückte einen silbernen Kugelschreiber. „Sie haben also eine leblose Person im Schilf aufgefunden. Darf ich fragen, was Sie auf dem Wasser zu tun hatten?“

Nachdem sich Karlo und sein Vater per Augenkontakt auf ihn als Berichterstatter geeinigt hatten, schilderte der Jüngere kurz, was vorgefallen war.

An einigen Stellen unterbrach der Kommissar seine Ausführungen mit knappen Fragen: „Ach ja?“ – „Im Schilf?“ – „Woher wissen Sie das?“ – „Gleich zurückgepaddelt?“

Im Verlauf des Gesprächs beschloss Karlo, dass ihm dieser Spannich unsympathisch war. Das mochte zum Teil an dessen akkurat gezogenem Seitenscheitel liegen, der die dünnen leicht fettigen Haare in zwei ungleiche Hälften teilte. Kein Mann Anfang dreißig trug freiwillig so eine Frisur! Am unangenehmsten jedoch war Karlo die penible Emotionslosigkeit des Polizisten. Natürlich hatte ein Kommissar ständig mit Leichen zu tun und konnte nicht immer echte Betroffenheit zeigen. Aber dieser Mensch hier war ihm eine Spur zu sachlich-forsch. So ein Verhalten degradierte jeden Toten zum gesichtslosen Objekt. Außerdem fühlte sich Karlo schon nach kürzester Zeit wie ein potenzieller Verdächtiger.

Mittlerweile hatten Spannichs Kollegen das Schlauchboot wieder aus dem Wasser gezogen. Auf einer nahegelegenen Holzbrücke stand ein Spaziergänger und beobachtete das Geschehen. Einer der Taucher näherte sich den drei Männern, um dem Kommissar etwas ins Ohr zu flüstern.

Dieser nickte nur und wandte sich mit bedeutsamer Miene an seine beiden Gesprächspartner: „Dürfte ich die Herren bitten, mir zu folgen?“ Umständlich zerrte er seine langen Beine eines nach dem anderen aus der Bank. Karlo und sein Vater taten es ihm gleich und trotteten dem wehenden Trenchcoat hinterher.

Da lag er im Gras. Auf dem Rücken. Neben ihm krochen ein paar hauslose Schnecken. Der Körper war etwas aufgedunsen, aber trotzdem konnte Karlo nicht nur an dem Schal erkennen, dass dies der verschwundene Flavio Mantova war.

2 Vor einer Woche im Zug - nel treno

 

Flach. Seit ein paar Stunden war dort draußen alles so flach. Eine einzige Ebene, die sich über unzählige Felder unterschiedlicher Größe und Farbe verteilte. Er mochte keine flache Landschaft. Bäume, Felder, Bäume, Felder, mal ein Dorf, selten eine Stadt. Viele Dörfer waren in die Ebene gebaut. Bei ihm zu Hause, da lebten die Menschen oben auf Hügeln und blickten ins Tal herunter. Zur besseren Verteidigung. Früher. Trotzdem sah die Umgebung in der hellen Maisonne hübsch aus, fast idyllisch, aber hätte er es sich so vorgestellt? Wenn er ehrlich zu sich selbst war, dann hätte er überhaupt keine grüne Landschaft zwischen den Städten erwartet. In seinen Gedanken hatte es hier nur Städte gegeben. Eine einzige graue Stadt mit unzähligen rauchenden Fabrikschornsteinen. So wie Mailand oder Turin. Ein riesen-großes Mailand oder Turin mit noch mehr Fabriken, noch mehr Grau, noch mehr Autos und noch mehr Beton.

Bis zu dieser unverhofften Reise hatte er nie besonders viel über dieses Land nachgedacht. Germania. Deutschland. An so vielen Orten war er gewesen – Frankreich, Spanien, auf einer Busreise in Prag und sogar einmal bei einem Cousin in Amerika - aber nie in Germania. Dieses Land und seine Menschen hatten ihn nie sonderlich interessiert. Das war vielleicht nicht ganz fair, weil i tedeschi, die Deutschen, die vor allem in den Sommermonaten seinen Laden aufsuchten, eher zu den angenehmeren Kunden gehörten. Auch wenn sie sich oft schlecht kleideten. Bevor sie den Mund aufmachten, konnte er ihre Nationalität bereits an den Schuhen ablesen. Nach seiner Erfahrung trug die überwiegende Mehrheit der tedeschi furchtbare Schuhe, wenn sie seinen Laden betraten. Man unterhielt sich dann vorwiegend auf Englisch. Manche der Kunden sprachen sogar ganz passabel italienisch. Bis auf oberflächliches Wettergeplänkel ließ er die Gespräche jedoch nie über das Geschäftliche hinausgehen. Schließlich waren es stranieri. Nein. Nach Germania musste er nie. Warum auch? Vor vielen Jahren waren einige seiner Nachbarn, Verwandte, Freunde in dieses Land ausgewandert, um dort zu arbeiten. Bei Heimatbesuchen erzählten die emmigrati dann beeindruckt von den breiten Straßen und den großen Autos. Voller Stolz sprachen sie von riesigen Fabriken. Leiser beschrieben sie die harte Arbeit darin. Nur mit halbem Ohr hatte er damals den Geschichten aus der Ferne gelauscht. Er hatte in dem kleinen Schuhgeschäft im Zentrum von Perugia als Verkäufer angefangen. Sein bescheidenes Gehalt reichte immer gerade für die Bedürfnisse seiner Frau Paola und der beiden Töchter Anna-Rita und Roberta. Zumindest konnten sie in Italien bleiben.

Die Mamma hatte nie über Germania gesprochen. Dieses Land dort oben jenseits der Alpen existierte einfach nicht in ihrem Wortschatz. Bis zu dem einen Morgen. Ihrem letzten Tag. Bald darauf fuhr ihr einziger Sohn das erste Mal durch Deutschland. Beklommene Neugier hatte sich in ihm breitgemacht. Die letzten Neuigkeiten hatten alles verändert. Er war noch immer so verwirrt. Alles schien sich seitdem um ihn zu drehen. Wie hatte er nur diese vielen Jahre in Ungewissheit leben können? So viele Jahre! Warum hatte sie ihm nicht früher davon erzählt? Oder für immer geschwiegen?

„In Hannover noch jemand zugestiegen?“

Sein schmächtiger Körper zuckte zusammen. Diese Sprache. Sie klang für ihn stets wie ein Befehl. Sie war hart und es fehlten ihr die Vokale. Bereits seit der italienisch-österreichischen Grenze nahm er eine innerliche Habachtstellung ein. Jetzt bloß keinen Fehler machen!

„Ihre habe ich schon gesehen, danke der Herr.“ Freundlich lächelte die uniformierte blonde Zugbegleiterin ihn an. Freundlichkeit. Lächeln. Niemals hätte er damit gerechnet. Ausgerechnet hier. Dafür konnte doch keine Zeit sein in diesem Land. Unsicher lächelte er zurück und steckte seine Fahrkarte wieder in die Innentasche seines perfekt sitzenden braunen Jacketts. Danach rückte er seinen Seidenschal mit dem eleganten braun-roten Paisley-Muster zurecht. Ein Geschenk von Paola zu seinem sechzigsten Geburtstag. Gedankenverloren sah er wieder aus dem Fenster auf die vorbeirauschende Landschaft. Bald würde er sein Ziel erreicht haben.

3 Angekommen

„Deutschland! Das ist Deutschland, wie es leibt und lebt. Deutschland den Bürokraten. Deutschland den Amtsstuten! Deutschland den ohne Geschmack gekleideten und schlecht frisierten Sachbearbeiterinnen! Ich wandere aus! Ich gehe überall hin, nur damit ich das hier nicht mehr ertragen muss!“ Wutschnaubend eilte Karlo direkt auf die Einfahrt seines Nachbarn Peter zu, der dort mal wieder an einem seiner Motorräder herumschraubte.

„Was’n los?“, fragte Peter irritiert nach.

Voller Wucht schoss Karlo eine leere Ölflasche in die gegenüberliegende Hecke. Dabei besprenkelte er sowohl Jeans als auch seine braunen Segelschuhe mit dem letzten Rest Öl aus dem nicht ganz zugeschraubten Behälter.

„Ach, Scheiße! Echt ’n Supertag heute!“, stieß Karlo hervor, während er ärgerlich an sich herunterblickte. „Diese inkompetente Erd-Fels. Die hat mich gefressen. Von Anfang an macht die Frau mir Schwierigkeiten.“

Gelassen wischte sich der Mechaniker an einem karierten Tuch die Hände ab und reichte es herüber. „Warst beim Amt?“

„Stimmt genau!“ Mit hektischen Bewegungen versuchte Karlo, die Ölspritzer von seinen Schuhen zu wischen. „Mensch, Peter, jetzt, wo du es sagst ... ich war ja beim Amt und nicht im Kasperletheater der Willkür.“ Er stellte die Säuberungsversuche bald ein und reichte Peter das ölige Tuch zurück.

„Die kannst du echt voll vergessen! Die Typen da beim Amt. Letzte Woche wollte der Baurat mein Motorrad auch nicht durchlassen.“

„Weil du aber auch keine Schraube an ihrem angestammten Platz gelassen hast! Kein Wunder!“, bemerkte Karlo mit nach wie vor verärgerter Miene.

„Fährt sich aber echt zehn mal geiler so. Lässt sich auch besser verticken.“

„Das mag ja sein, aber die werden schon ihre Gründe gehabt haben. Verkehrssicherheit und so.“ Karlo wollte lieber das Thema wechseln. Er hatte im Moment keine rechte Lust, sich einen weiteren nicht enden wollenden Motoren- und Geschwindigkeitsvortrag seines Nachbarn anzuhören. Peter Timmke bestritt einen Großteil seines sehr bescheidenen Lebensunterhalts mit dem Verkauf von wiederhergerichteten ehemals schrottreifen Motorrädern. „Na egal“, setzte Karlo wieder an. „Auf alle Fälle kann ich noch mal mindestens vier Wochen auf die Genehmigung für den Ausbau der oberen Zimmer warten, wenn sie überhaupt noch kommt.“

„Und was is mit deinen Restaurantplänen? Und der Terrasse?“, fragte Peter, während er sich einige ölverschmierte Haare aus dem ebenfalls öligen Gesicht wischte.

„Da muss noch irgend so ein anderes Amt mitreden. Auf den Bescheid warten die noch. Vielleicht kann ich ja pünktlich zu Weihnachten die Terrasse in Betrieb nehmen. Mit Glühwein und Pfeffernüssen!“

Nach einem Moment des Schweigens, in dem Peter ehrlich versuchte verständnisvoll dreinzuschauen, durchbrach er wie nach einem unverhofften Geistesblitz plötzlich die Stille: „Da war übrigens vorhin einer hier, wollte wohl ’n Zimmer oder so. Hab ich nicht verstanden, war ’n Ausländer. Der hat aber auch kaum den Mund aufgemacht.“

„Und was hast du ihm gesagt?“

„Dass er später noch mal wiederkommen soll. Läita, läita.“

„OK. War sonst noch was? Anrufe, Beschwerden, Gewinnbenachrichtigungen ...?“

„Nö. Nur mal wieder so ’ne Firma, die mit der Hausdame sprechen wollte, wegen Putzmittel. Hab ich abgewimmelt. Kannst dich auf mich verlassen.“ Mit einem souveränen Grinsen reichte er Karlo ein schnurloses Telefon über das Motorrad hinweg.

Etwas zähneknirschend nahm dieser den Apparat entgegen. „Is O.k. Aber das nächste Mal kannst du vielleicht doch besser mal die Nummer aufschreiben. Vielleicht will Erne so ein Wundermittel ja mal ausprobieren.“ Er machte Anstalten zu gehen und schwenkte kurz das Telefon. „Danke noch mal!“

„Geht klar, Mann. Bin ja hier.“ Peter winkte seinem Nachbarn noch kurz zu und begab sich wieder in die Hocke.

*

Mit energischen Schritten ging Karlo um die kleine reetgedeckte Zwei-Raum-Kate herum, in der Peter für wenige Euros im Monat wohnte. Sie befand sich an der Seite eines langgezogenen ebenfalls mit Reet gedeckten alten Bauernhauses. Der Vierländer Hof. Vor zwei Jahren hatte er dieses Haus samt Kate von seiner verstorbenen Tante Elfi geerbt. Elfi hatte vor vielen Jahren Onkel Albert aus Curslack geheiratet. Curslack zählt zu den Vier- und Marschlanden, die erstaunlicherweise auf Hamburger Stadtgebiet im Südosten liegen. Seit mehreren Jahrhunderten gilt dieser Landstrich als der Blumen- und Gemüsegarten Hamburgs. Zu dem Zeitpunkt der Erbschaft war der Vierländer Hof kein Hotel gewesen, sondern war verpachtet an einen ziemlich runtergewirtschafteten Supermarkt. Der Pächter wollte den Vertrag nicht verlängern. Dieses unverhoffte Geschenk bot für Karlo die langersehnte Chance zur grundlegenden Veränderung. Seit dem – mangels realistischer Alternativen - abgeschlossenen BWL-Studium hatte sich sein Leben in der Hamburger Innenstadt abgespielt, wo er mit seiner damaligen Freundin Sophie lebte und äußerst lustlos bei einer Unternehmensberatung arbeitete.

„Hiermit verfüge ich, dass mein Neffe Karl Kolberg mein Haus in Curslack erhalten soll.“ Im ersten Augenblick hatten ihn diese Worte komplett vor den Kopf gestoßen. Was sollte er mit einem Haus, in dem bestimmt drei bis vier Reihenhäuser Platz gehabt hätten, nur anfangen? Beim Stöbern auf dem Dachboden des alten Gebäudes war Karlo schließlich auf eine alte Schwarz-Weiß-Fotografie gestoßen. Eine Familie im Sonntagsstaat stand steif vor der Eingangstür und lächelte verhalten in die Kamera. Über ihnen prangten die Buchstaben „Hotel Vierländer Hof“. Als er das sah, wusste Karlo endlich, was er tun wollte. Ein Hotel! Sein Hotel. Ein kleines Hotel auf dem Lande. Gemütlich, familiär, mit erschwinglichen Preisen. Er war von seiner Idee schlichtweg begeistert.

Sophie fand die Aussicht, aufs Land zu ziehen, um dort ein Hotel zu betreiben, nicht besonders verlockend. Außerdem hatte sie bereits andere Pläne. „Ich wollte es dir ja schon früher sagen, aber da ist diese Agentur in Düsseldorf.“

Karlo konnte sich noch gut an die anschließende Szene erinnern, zu der er sich hinreißen ließ. Irgendwann hatte er wutentbrannt das Haus verlassen, um seinen verletzten Stolz und die ungewisse Zukunft bei viel Bier zu vergessen. Nach einer Weile des Nachdenkens musste er sich jedoch eingestehen, dass ihre Beziehung schon seit längerer Zeit auf so eine Entwicklung zugesteuert war. Auch der rituelle samstägliche Austausch von Zärtlichkeiten konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass von der Leidenschaft der ersten Wochen nicht mehr viel übrig geblieben war.

Nach diesem Schicksalsschlag setzte er seine ganzen Hoffnungen auf die amtliche Genehmigung seiner Pläne. Das größte Problem bestand zunächst darin, das Wirtschafts- und Ordnungsamt der Vier- und Marschlande davon zu überzeugen, in Curslack so etwas Exotisches wie ein Hotel zu genehmigen. Es gab zwar einige Gaststätten mit jeweils zwei bis drei Fremdenzimmern, aber eben kein Hotel. Und die Glanzzeiten des Vierländer Hofs waren lange vorbei. Ihm ging es um die Genehmigung von zwanzig Zimmern, die er laut einem befreundeten Architekten problemlos in seinem großzügigen Gebäude unterbringen konnte. Auf Karlos berechtigte Frage, wo denn die Leute übernachten sollten, die hier im Landgebiet beruflich zu tun hätten, also Vertreter für Blumenzwiebeln, Monteure oder auch Gewächshausbauer antwortete ihm seine mürrische rothaarige Sachbearbeiterin Frau Erd-Fels, dass diese ja wohl ins benachbarte Bergedorf oder gar in Richtung Hamburger Innenstadt fahren könnten. „Mein Chef, der Herr Prinzling, sagt, dass wir uns da ganz genau an die Vorschriften halten müssen. Schließlich sind wir hier nicht im afrikanischen Busch, wo jeder machen kann, was er will!“

Das Warten hatte bald ein Ende. Nach langen Monaten des Bangens, in denen er bereits voller Optimismus und mit Hilfe eines großzügigen Bankkredits die Umbauarbeiten begonnen hatte, erhielt er endlich die langersehnte Konzession zur gewerblichen Zimmervermietung mit Frühstücksservice. Für zunächst zehn Zimmer. Eine Erweiterung der Konzession werde noch geprüft.

„Na also, das reicht ja erst mal für den Anfang“, konnte Karlo sich bei seinem vorläufig letzten Termin im Amt nicht verkneifen.

Zähneknirschend setzte Frau Erd-Fels ihren Stempel unter das Schriftstück und reichte es ihm mit spitzen Fingern. „Auch wenn wir von Amts wegen unsere Erlaubnis geben. Der Herr Prinzling sieht das Ganze ja völlig anders, globaler eben. Wir wollen unsere schönen Vier- und Marschlanden doch nicht zu einem Vergnügungspark verkommen lassen!“

Karlo war fassungslos. „Mein liebe Frau Erd-Fels, habe ich bei Ihnen ein Riesenrad oder ein Hotel beantragt?“

„Ja, aber die vielen Fremden, die dann hier herkommen! Haben Sie da noch nie drüber nachgedacht? Das wird nicht ohne Folgen bleiben. Sagt Herr Prinzling.“

„Dann richten Sie Ihrem guten Herrn Prinzling aus, dass sich die Zeiten durchaus ändern können. Auch auf unserem Globus. Auch in den schönen Vier- und Marschlanden. Außerdem können sogenannte Fremde immer eine Bereicherung sein. Und gegen ein bisschen Reichtum haben bestimmt weder die Vierländer noch die Marschländer etwas auszusetzen. Soweit ich als Fremder das beurteilen kann!“

4 Weg

Auch wenn Hans alle Vögel, die den Hof anflogen, gern beobachtete, waren ihm die kleinen braunen Spatzen am liebsten. Ohne groß aufzufallen, lebten sie ihr kleines Leben. Ausgelassen turnten sie auf den Ästen und Sträuchern im Bauerngarten vor dem Haus herum. Oder sie hüpften in kleinen Sätzen über den lehmigen Boden. Den Nestbau erledigten die Spatzen genauso fröhlich zwitschernd wie die Nahrungssuche. Wenn sie dazu keine Lust mehr hatten oder alles erledigt war, flogen sie geschwind davon. Lange sah er ihnen von seiner Bank aus hinterher. Ob sie weit wegflogen? Wie es dort wohl sein mochte?

Er selbst war über die Stadtgrenze nie hinaus gekommen. Immer musste er arbeiten. So viel arbeiten. Ohne Arbeit kein Essen. Schon als kleiner Junge hatte er schwere Säcke mit Saatgut, Erde, Dünger oder anderem Material geschleppt. Und er war doch so ein schmächtiges Kind gewesen. Viel schmächtiger als die anderen. Als es hier noch Vieh gab, mussten ständig die Ställe ausgemistet werden. Von ihm. Wenn er nicht mehr konnte, wurde er ausgelacht oder geschlagen. Oder beides zugleich. Vom Vater oder von seinen Brüdern. Manchmal auch von den großen Jungs in der Schule. Er war nicht wie sie. Er war anders. Keiner half ihm. Die Lehrerin nicht und seine Brüder schon gar nicht. Er ging nicht lange zur Schule. Man brauchte ihn ja auf dem Hof. Mit den Jahren wurde sein Gang immer krummer. Sein Rücken erinnerte jeden Tag mehr an einen Bogen. Oder an einen Affen. Wie gerne wäre er ein Vogel, der jederzeit wegfliegen konnte. Wann und wohin er wollte. Einfach davon und keiner würde ihn suchen. Würde man ihn vermissen, wenn er plötzlich nicht mehr da wäre? Mutti wahrscheinlich. Aber wer sonst? Er würde keinem fehlen. Hans wäre einfach weg.

5 Der Name - il nome

Zaghaft öffnete er die elegant geschwungene weiße Eingangspforte, die ihm nur bis zum Bauch reichte, und ging langsam hindurch. Leise quietschend fiel sie wieder in ihr Schloss. Noch unentschlossen blieb er stehen und sah sich um. Mit kleinen Schritten folgte er dem sorgfältig geharkten Weg. Es roch nach frischem Weihrauch und Sommerblumen. Ein paar Vögel zwitscherten in der frischen Frühlingsluft.

Nach der Betrachtung mehrerer Grabmäler begann er sich zu fragen, weshalb es hier keine Fotos auf den Steinen gab. So konnte sich niemand ein Bild von dem Toten machen. Ein gesichtsloser Name hatte doch nur für den Angehörigen eine Bedeutung. Einige der für ihn teilweise unaussprechlichen Namen wiederholten sich. Auch die Blumen auf den Gräbern ähnelten sich sehr. So viele Blumen, aber sie gefielen ihm nicht. Unzählige Nadelbüsche, die teilweise die Sicht auf die Namen versperrten. Und deswegen war er doch hier. Wegen der Namen. Seines Namens. Würde er ihn hier finden? Langsam setzte er den Weg fort. Wie ein Metalldetektor suchten seine wachen Augen jeden Zentimeter der Umgebung ab.

Da! Auf dem Boden! Wie aus dem Nichts war ein kleiner Stein vor ihm aufgetaucht. Grau und unscheinbar lag er auf der Erde. Inmitten von wild wucherndem Unkraut. Während er sich hinabbeugte, setzte sein Herzschlag für einen kurzen Augenblick aus.


 

Toni Zaduri 19.5.91 – 21.5.91.


 

Nur zwei Tage. Ein kurzes Leben. Verstohlen bekreuzigte er sich. Bis auf die vertraut klingende Buchstabenkombination hatte dieser Fund nichts mit seiner Suche zu tun.

Für einen Moment legte er eine Pause ein und ließ sich auf einer nahegelegenen Bank nieder. Sein Blick blieb an ein paar Schnecken hängen. Ohne Haus sahen sie aus wie kleine Schlangen. Oder wie Exkremente von Tieren. Einige von ihnen machten sich über bereits zertretene Artgenossen her. Andere waren auf dem Weg zu frischem Grün. Ach, wie hatte die Mamma die Schnecken immer gehasst! Für sie waren diese Kreaturen sogar Vorboten für drohendes Unheil, weshalb sie sich bei ihrem Anblick oft bekreuzigte. Hinter der Bank lärmten Kinder in einem großen Garten. Er drehte sich um und sah ihnen beim Spielen zu.

„Geburt und Tod, eng miteinander verknüpft.“ Unbemerkt hatte sich ein Mann in schwarzer Anzughose und dünnem schwarzen Pullover der Bank genähert. Er war sehr groß. Paola hätte ihn bestimmt attraktiv gefunden. Ein gewinnendes Lächeln lag auf seinen Lippen.

„Sprechen Sie deutsch?“

Der fremde Friedhofsbesucher sah ihn irritiert an.

Do you speak English?

Schüchternes Nicken.

„Christian Himmel. Ich bin der Pastor dieser wunderschönen Kirche“, stellte er sich auf Englisch vor. Dabei machte er zunächst eine ausladende Armbewegung in Richtung des Kirchgebäudes und hielt ihm anschließend seine Hand hin.

Zaghaft erhob sich der kleine Mann langsam von der Bank und ergriff die ihm dargebotene Hand. Dabei lächelte er schweigend.

„Kann ich Ihnen behilflich sein? Suchen Sie etwas Bestimmtes? Ich kann Ihnen auch die Kirche kurz erklären.“

Nach einem kurzen Moment des Zögerns winkte er ab und murmelte unbeholfen: „Nur gucken. Allein.“

Der Pastor schien kurz nachzudenken. Schließlich entschied er sich dafür, ihn allein zu lassen. „Wenn ich trotzdem irgendetwas für Sie tun kann, dann lassen Sie es mich wissen. Ich wohne in dem Haus dort hinten.“ Der Mann in Schwarz deutete auf ein Fachwerkhaus, das gegenüber der Kirche an der kurvigen Deichstraße stand.

Beim abschließenden Händeschütteln fiel ihm doch etwas ein. Er dachte an die letzte Nacht in diesem furchtbaren Hotel am Bahnhof.

„Kennen ... Kennen Sie ein Hotel ... hier in der Nähe?“

Ohne Umschweife holte der Pastor ein goldenes Etui aus der Innentasche seines Jacketts. Mit einem ebenfalls goldenen Kugelschreiber schrieb er eine Nummer auf einen kleinen Zettel und reichte sie ihm.

„Mein Freund. Hier in der Nähe. Um die Ecke.“

6 Gaudi

„Und, was hat sie dann gesagt?“

„Dass ich sie ja mal anrufen könnte und dann ...“

„... und was dann?“

„Dann hab ich angerufen ...“

„Und ...?“

„Mensch Karlo, veni, vidi, vici! Oder um es mit Franz zu halten: Schau’n mer mal!“ Christian Himmel lächelte vieldeutig und blickte dann wieder nach vorn auf den Dirigenten, der ihnen nach langem umständlichen Blättern den Einsatz gab.

„In einem kühlen Grunde, da geht ein Mühlenrad. Mein Liebchen ist verschwunden, das dort gewohnet hat ...“

Mit leiser Stimme sang Karlo mit. Der Text des Liedes frustrierte ihn. Er hätte seine Ex Sophie niemals Liebchen genannt, aber sie war tatsächlich verschwunden, nach Düsseldorf. Zu dieser Agentur. Im Frühjahr vor zwei Jahren. Wieder war Frühjahr und seitdem hatte es noch kein neues Liebchen gegeben. Pastor Christian Himmel bereiteten die Liebchen offensichtlich überhaupt keine Probleme. Karlo konnte sich nicht erinnern, jemals einen Gottesmann kennengelernt zu haben – eigentlich kannte er ohnehin keinen anderen außer Christian - der einen derartigen Eindruck bei der Frauenwelt hinterließ. Von den verzückten Mitgliedern seiner Kirchenkreise ganz zu schweigen. Stapelweise versorgten sie ihn mit bestickten Kissen, Taschentüchern und Topflappen, die im krassen Gegensatz zu der puristischen Inneneinrichtung des alten reetgedeckten Fachwerkhauses standen, in dem Christian wohnte. Zu Karlos großer Erleichterung waren sie Mitglied in einem reinen Männergesangverein.

Als zugereister Dorfgastronom ohne soziales Netzwerk vor Ort musste er sich damals entscheiden: Entweder Freiwillige Feuerwehr, Schützenverein oder Chor. Da Karlo weder Lust hatte, jede zweite Nacht zu einem möglichen Feuer auszurücken, noch dumm in der Gegend herumzuballern, erschien ihm die Singerei als das kleinstmögliche Übel. So hatte er die Liedertafel Gaudi für sich ausgewählt, obwohl deren Mitglieder bis auf Christian Himmel allesamt sein Vater, wenn nicht sogar sein Großvater, hätten sein können.

„Sag mal, war da heute so ein älterer dunkler Typ bei dir?“, erkundigte sich Christian in einer kurzen Pause. „Ich habe einem Friedhofbesucher deine Nummer gegeben.“

Nach kurzem Nachdenken erinnerte sich Karlo an Peter und sein „Läita“.

„Konnte der nur Englisch?“

„Ja, aber mit Akzent. Irgend so was Spanisch-Italienisches.“

Karlo seufzte über die entgangene Einnahme. „Dann hat Peter ihn wohl vergrault.“

„Jetzt mach doch Peter nicht wieder schlecht!“ Christian grinste spöttisch. „Wahrscheinlich hat ihm dein alter Schuppen einfach nicht gefallen ...“

„Ey, wir haben alles frisch renoviert, ja!“ Karlo war äußerst empfindlich in Bezug auf Kritik an seinem Vierländer Hof.

„Reg dich ab. Dass Peter auf den ersten Blick nicht gerade dem Idealbild des Hotelpagen entspricht, wissen wir ja alle.“ Christian kannte Peter Timmke natürlich und hatte sich auch erst einmal an sein Auftreten gewöhnen müssen. Seit der Technikfreak jedoch mit ein paar Griffen die ewig flackernde Beleuchtung in seiner Kirche wieder instand gesetzt hatte, wusste er den skurrilen Nachbarn durchaus zu schätzen. „Trotzdem schade. Ich dachte, da wäre eine Vermittlungsprovision drin gewesen. Du weißt ja: pecunia non olet!

„Wie bitte?“ Karlos Lateinkenntnisse waren eher dürftig.

Deshalb klärte ihn der Pastor umgehend auf: „Geld stinkt nicht.“

„Zahlt der liebe Gott denn nicht genug?“, witzelte Karlo zurück.

Da wurden sie wieder von Manfreds dröhnender Stimme unterbrochen: „So meine Herren, das wär’s für heute. Wir sehen uns am Sonntag pünktlich um vierzehn Uhr vor der Gaststätte. Der Umzug beginnt um vierzehn Uhr dreißig.“

„Wer trägt denn nu’ die Fahne?“, fragte der rotgesichtige Knut aus dem Tenor. „Uwe hat’s im Kreuz.“

Manfred blickte kurz von seinen Noten auf und sah scharf zu ihm herüber. „Du ja wohl nicht Knut. Oder hast heute auf ’m Hof nur simuliert?“

Hier und da ertönte Gelächter von den anderen Sängern, die alle wussten, dass Knut Meyer schon seit über zwanzig Jahren als Gärtner in dem Betrieb ihres Dirigenten Manfred Eckers arbeitete, und es ihm dort nicht immer leicht gemacht wurde. Humor war für Manfred unnötiger Firlefanz, den er sich höchstens mal nach einer entsprechenden Anzahl von Bieren und Schnäpsen genehmigte. Eigentlich war Manfred auch kein richtiger Chorleiter, aber drei Jahre Orgelunterricht in seiner Jugend verschafften ihm einen eindeutigen Vorteil gegenüber seinen Sangesbrüdern. Deshalb duldete er auch keinen Widerspruch. „Also gut Männer, Freiwillige vor!“ Ungeduldig schlug er mit seinem Taktstab auf das Pult. „Wir ham nich den ganzen Abend Zeit.“

„Sollen doch mal die Jungen ran“, raunte es aus dem Bass.

„Ja, genau“, bekräftigten die Tenöre.

„Wie wär’s denn mit unserm Junghotelier?“

„Genau, soll doch unser Neuzugang mal zeigen, dat er’s nich nur inne Kehle, sondern auch mächtig inne Arme hat.“ Knut grinste fröhlich übers ganze rote Gesicht.

Sofort richteten sich alle Blicke auf den entgeistert dreinblickenden Karlo. Nach und nach klatschten die Mitglieder aufmunternd Beifall. Leicht hämisch grinsend stimmte Christian in das mittlerweile mit „Heij, heij!“–Rufen begleitete Klatschen ein.

Karlo atmete einmal tief durch. „Ist in Ordnung. Ich mach’s.“

Christian feixte: „Das kommt bei den Frauen bestimmt gut an. So ein Fahnenträger in vorderster Reihe ...“

„Danke Christian, jetzt bin ich wirklich überzeugt.“

Na großartig! Erst die blöde Erd-Fels auf dem Amt, dann der dank Peter vergraulte Gast und jetzt noch das hier! Karlo glaubte nicht daran, dass die Frauen, die den Fahnenträger eines dörflichen Gesangvereins anhimmelten, bei ihm auf große Gegenliebe stoßen würden.

*

In der Chorgaststätte herrschte ausgelassene Stimmung.

„Ein Mädchen und ein Gläschen Wein kurieren alle Not. Und wer nicht trinkt und wer nicht küsst, der ist so gut wie tot, der ist so gut wie tot!“ Nachdem er sein Lied beendet hatte, hielt Knut Karlo ein Schnapsglas entgegen.

„Dann fangen wir mal mit trinken an“, entgegnete Karlo und hob das kleine Glas ein wenig in die Höhe, um es an seine Lippen zu setzen.

„Prost Karl, heut wird gefeiert.“

„Ach ja?“, hielt Karlo inne. Doch wohl nicht seine feierliche Ernennung zum Fahnenträger?!

„Hermann is Opa geworden, ’n Kerl, da gibt’s immer ’n Klaren. Bei ’ner Deern gibt’s Bier!“

Der frischgebackene Großvater prostete ihnen zu. „Ein Pärchen wär Euch bestimmt dat Liebste gewesen, Ihr alten Saufnasen!“

Seinen Kommentar bedachten die Umstehenden mit schallendem Gelächter.

Karlo lachte verhalten mit. „Wie heißt er denn?“, erkundigte er sich halbwegs interessiert.

„Hab ich fast schon wieder vergessen ...“ Hermann kratzte sich an seinen aus der hohen Stirn gekämmten grauen Haaren. „ ... warte mal … war so wat Ausländisches … Schorom oder so ...“

„Was’n dat für’n Name?“ Die Mitsänger waren verwundert.

„Scheroum ...“

„Vielleicht Jerome?“, versuchte Karlo zu helfen.

„Ja genau, Gscheroum, dat war’s.“

„Wo kommt dat denn her?“, fragte Knut irritiert in die Runde. „Klingt jüdisch, irgendwie.“

„Nee, nee, Knut, dat ist amerikanisch. Meine Schwiegertochter, die Steffi, die is doch so für Amerika.“

„Also, ich weiß nich, immer diese exotischen Namen, die keiner aussprechen kann. Warum bleiben die Kinners nich bei unser’n schönen deutschen Namen?“, bemerkte Knut.

„Mein Reden. Das seh ich genauso!“, schaltete sich ein Jugendlicher mit kurzen braunen Haaren in das Tresengespräch ein. Auf seinem grauen Sweatshirt prangte der Schriftzug „Lonsdale“. Er saß mit seinen beiden Freunden, die unsicher grinsten, an einem Ecktisch der Chorgaststätte.

„Sach ich doch!“ Knut freute sich stets über Bestätigung und nickte dem Jungen anerkennend zu. „Wie heißt du?“

„Renée.“

„Na, dat nenn ich doch mal ’n schön’ Namen. Kann jeder aussprechen und schreiben.“

„Aber nicht gerade deutsch“, gab Karlo zu bedenken.

„Wieso?“

„Ist doch eher französisch, oder?“

„Na und?“ Kritisch musterte der Jugendliche Karlo von oben bis unten. Seine Augen standen sehr eng zusammen. „Aber immer noch besser als Gschorom oder so.“

„Is mir doch schietegal, wat Ihr sacht. Wenn meine Kinner dat schön finden, dann soll’s mir recht sein. Dat is mein Enkel, und seinen Namen werd ich auch noch lernen, prost!“, beendete Hermann die Diskussion.

Nachdem Karlo einmal zum Abschied kräftig auf den Tresen geklopft hatte, griff er sich seine Jacke und verließ das Lokal.

*

Beim Gehen blickte er instinktiv nach oben. Grauverhangener Himmel. Kein Stern zu sehen. Nach der ersten Besichtigung seines neuen Domizils vor gut zwei Jahren hatte ihn der funkelnde Himmel sofort gefangen genommen. Auch wenn er es ungern zugab, und schon gar nicht vor seinen Sangesbrüdern, hatte er schon immer einen kleinen Hang zur Romantik.

„Du bist ein Träumer, Karlo. Hörst du mich?“ Das war einer von Sophies Standardsätzen gewesen, wenn er mal wieder etwas abwesend schien. Na ja, das musste er sich schon lange nicht mehr anhören.

Wie immer führte ihn der Heimweg bei seiner Angestellten Erne Wulffke vorbei, die zusammen mit ihrem Mann Hinrich im Erdgeschoss eines alten Bauernhofs wohnte. Erne war eine echte Perle. Ein Glücksgriff. Karlo wüsste nicht, was er ohne sie täte. Als interessierte Nachbarin hatte sie seine Renovierungsarbeiten vom ersten Tag an aufmerksam verfolgt und bald die Versorgung des neuen Besitzers samt dessen Bauarbeitern übernommen. Karlo hatte manchmal das Gefühl, dass die kinderlose Erne froh war, endlich jemanden bemuttern zu können. Ihr selbstgebackener Apfelkuchen war ein Traum, genauso wie ihre Frikadellen oder auch die mit Liebe und Marmelade bestrichenen Brote. Erne gehörte zu der Sorte Mensch, die innerhalb kürzester Zeit spürt, woran es dem Gegenüber mangelt. Nicht zuletzt dieser Wesenszug hatte Karlo dazu veranlasst, die agile Mittfünfzigerin um Mithilfe im Hotel zu bitten. Seitdem sah sie den Vierländer Hof als ihr persönliches Eigentum an, das vor Verunglimpfung, übler Nachrede und vor allem Schmutz in jeglicher Form geschützt werden musste. Leider hatte dies zur Folge, dass sich sowohl ihre Hilfe in den Gewächshäusern ihres Mannes Hinrich als auch seine Versorgung mit liebevoll zubereiteten Speisen auf ein Minimum reduzierte. Diese Konstellation führte oft zu Konflikten.

Daher war Karlo an diesem Abend nicht verwundert, durch das geöffnete Fenster laute Stimmen zu vernehmen. Diesmal schienen sich die Eheleute jedoch über ein anderes Thema als den Hof und seine Bewohner zu streiten.

„... jedem schöne Augen machen!“

„Wat heißt denn schöne Augen ...“

„Wie du den begöscht hast ...“

„Du tüddelst ja!“

Karlo wollte schnell weitergehen, als er plötzlich eine Tür schlagen und eine bekannte Stimme hinter sich hörte. „Warten Sie ...“ Erne stürzte aus der Haustür. Wie heute Vormittag trug sie ihr lachsrosa Twinset, eine bequeme Hose und braune Hausschuhe. Von den sorgfältig hochgesteckten grau-weißen Haaren hatten sich einige Strähnen gelöst. Ihr Gesicht war gerötet und die Stimme zitterte anfangs noch leicht. „Entschuldigen Sie ... Herr Kolberg, man gut, dat ich Sie noch treff ...“, stieß Erne hervor, während sie mit beiden Händen ihre Haare zurückstrich.

„Guten Abend, Erne!“ Karlo musste sich immer noch daran gewöhnen, dass seine ungefähr zwanzig Jahre ältere Angestellte darauf bestand, ihren Chef unter Verwendung seines Nachnamens zu siezen, während er sie – wenn auch per Sie - beim Vornamen rief.

„Eben is noch ’n Gast gekommen.“

„Hatten Sie so spät noch was zu tun?“, erkundigte er sich verwundert, weil Erne eigentlich nur vormittags arbeitete.

„Nee“, winkte sie ab. „Wir war’n noch mal kurz ums Eck und in der Nähe vom Hotel bin ich gewahr geworden, dat ein Gast mit ...“ Sie verdrehte kurz die blauen Augen. „... mit Peter schnackte.“

„Ja, und ...?“ Karlo kannte Ernes Vorbehalte gegenüber seinem chaotischen Nachbarn Peter Timmke.

„Uns Peter schnackt doch kein englisch.“

Karlo wusste auch, dass Erne vor ihrer Ehe mehrere Jahre als Fremdsprachenkorrespondentin in Hamburg gearbeitet hatte. Er konnte wirklich froh sein, jemanden gefunden zu haben, der neben Deutsch und Plattdeutsch eine weitere Fremdsprache beherrschte!

„Der wollt den armen Kerl schon fast wieder wech schicken. Da bin ich mittenmang einfach dazwischen gegangen und hab ihm noch dat letzte Zimmer gegeben. Ich musst nur mal eben ein Bett wech tun. Ging bannig schnell.“

Da war der von Christian vermittelte Gast also wiedergekommen. Hatte Peter ihn doch nicht vergrault!

„Mensch Erne, dass sie sogar in Ihrer Freizeit noch Gäste empfangen. Das finde ich ganz großartig von Ihnen!“

„Da nich für!“, winkte Erne ab. „Ich glaub wohl, dat war ’n Italiener.“

„Oh, ein Italiener, wie schön!“, freute sich Karlo.

„Ja, dann könn’ Sie mal wieder italienisch schnacken! Ein gediegener Herr in schicken Plünnen und eleganten Schuhen. Er is in Nummer acht. Frühstücken will er auch um acht. Mit Kaffee.“

„Geht klar. Ist sonst alles in Ordnung?“ Er blickte in die Richtung, aus der Erne gekommen war.

„Ach, Sie meinen Hinrich?“ Sie rollte mit den Augen. „Ich begreif dat nich! Der Dösbaddel übertreibt völlig mit seine Eifersucht! Nur weil er nix versteiht. Da denkt der wieder sonst wat. Nu isser mucksch.“ Fast gleichgültig zuckte sie mit den Achseln. „Wat soll’s. Steckst nich drin! Der beruhigt sich schon wieder.“ Sie strich ihren Pullover glatt, rieb die Hände kurz aneinander und wandte sich zum Gehen. „Also dann, bis morgen.“

„Bis morgen und vielen Dank noch mal.“

Karlo sah Erne hinterher, bis sie mit energischen Schritten in ihrem Eingang verschwunden war. Hinrich hatte es sicherlich nicht immer leicht. Beim Weitergehen blickte er für einen Moment wieder in den Himmel. Die Bewölkung riss ein wenig auf. Am Ende von Hinrichs Gewächshäusern schien fahles Mondlicht auf den unbewegten Fluss.

7 So viele Namen - tanti nomi

Sie hingen an der Wand herunter. Weiße unbewegliche Fahnen auf der blutroten Wand. Sie bewegten sich nicht, so wie Fahnen sich sonst bewegten, wenn sie von einer leichten Brise erfasst wurden. Hier wehte kein Wind. Die Fahnen waren wie tot und auf ihr standen die Namen von Toten. Hatte ihm der Mann am Eingang gesagt. So viele Namen. Chronologisch geordnet. Angefangen bei 1940. Zuerst nur wenige. Für jedes Datum ein Name, manchmal auch zwei oder drei. Deutsche Namen. Russische Namen. Jedenfalls nahm er an, dass es russische Namen waren. Hier waren sie nur ein Schriftzug, eine schwarze Buchstabenreihe ohne Gesicht. Es wurden mehr, immer mehr. Ab dem Jahr 1942 standen oft dreißig Namen unter einem Datum. Systematisch suchten seine noch wachen Augen die Buchstaben ab. Wie ein Scanner nahm er die einzelnen Zeilen unter die Lupe. Name für Name. Die Ersten besah er sich genau und empfand mit jedem Einzelnen ehrliches Mitgefühl. Er fragte sich, wie der eine oder andere wohl umgekommen sein mochte. Ab der dritten Fahne, auf dessen Stoff sich die Anzahl der Namen unter dem jeweiligen Datum häufte, stumpfte er langsam ab. Er fand keine Gefühle mehr. Es waren einfach zu viele. Er musste etwas finden und konnte nicht mehr mitfühlen. So viele Namen.

Da! Sein Herz begann schneller zu schlagen. Er war fast in der Mitte der zweiten Wand angekommen. Im Oktober 1943 tauchte eine vertraute Buchstabenfolge auf. Luigi Cavallari. Ein Italiener! Wahrhaftig stand ein italienischer Name auf diesen schrecklichen Fahnen an der roten Wand. Und da! Im November Giovanni Serano. Im Januar 1944 Feruccio Bonazza. Insgesamt waren es nicht viele, aber bei jedem vertrauten Namen wurden seine Augen größer, und die bange Hoffnung wuchs. Und wenn … Vor dem Ende der zweiten Wand rebellierte sein Körper. Die vielen Namen machten ihn schwindlig. Alles begann sich zu drehen, und er sah nur noch tanzende Buchstaben vor seinen Augen.

Er schleppte sich zu einer nahegelegenen Bank und nahm dort Platz. Eine Weile musste er verschnaufen. Neben ihm saß eine alte Frau. Ihre Augen waren geschlossen. Sie war in sich versunken und bemerkte ihren neuen Banknachbarn gar nicht. Unaufhörlich knetete sie die abgegriffenen Henkel ihrer Handtasche, die sie auf dem Schoß abgestellt hatte. Manchmal stöhnte die Alte ein wenig. Er fragte sich, warum sie wohl hier war. Suchte sie auch etwas? Oder hatte sie es bereits gefunden? Ob sie Deutsche war? Er konnte es nicht erkennen. Ihre Kleidung war unauffällig. Knielanger bräunlicher Wollrock, relativ elegante Damenschuhe und ein schwarzer Kurzmantel. So sahen ältere Damen aller Länder aus.

Plötzlich waren leise Stimmen im Raum zu hören. Drei Mädchen im Teenageralter besahen sich die Fahnen. Im Schnelldurchlauf gingen sie die Wände ab. Hin und wieder deutete eines der Mädchen auf einen Namen. Als sie an der Bank vorbeikamen, schien eine von ihnen etwas Bemerkenswertes an der Wand entdeckt zu haben. Die anderen beiden Mädchen starrten ebenfalls auf den Punkt. Wie auf ein Kommando prusteten sie unter vorgehaltener Hand los. Die Frau hörte umgehend auf, ihre Handtasche zu kneten, und öffnete verschreckt die Augen. Sprachlose Hilflosigkeit breitete sich in ihm aus. Wie konnten sie hier nur lachen? An diesem Ort gab es doch nichts Komisches. Dennoch hatte ihn dieses Erlebnis wieder in die Realität zurückgeholt und er konnte weitermachen. Mechanisch beendete er seine Suche. Der Name war nicht dabei.

Fast erleichtert stieg er langsam die Treppen hinunter und begab sich zu dem abgetrennten Seitenflügel, in dem mehrere Stehpulte standen. Schwarze Tücher waren über jedem Möbelstück ausgebreitet. Als wären es tote Körper. Vorsichtig trat er an eines heran und schlug den Stoff zaghaft zurück. Er war sich nicht ganz sicher, ob es erlaubt war, aber er wollte wissen, was sich darunter verbarg. Auf dem Pult lag ein aufgeschlagenes Heft, in dem mit geschwungener Schreibschrift Listen zu erkennen waren. Die Schrift war für ihn fast nicht zu lesen. Trotzdem konnte er seinen Blick nicht davon abwenden. Es sah aus wie contabilità, wie Buchhaltung. Die Reihen begannen mit einer Nummer. Davor standen ein paar Buchstaben. Auf dieser Heftseite war oft Russ. oder Pol. zu lesen. In diesen Listen wurden Menschen gezählt. Menschen und deren Herkunft. Russen und Polen hatte es hier viele gegeben. Das ging auch aus den Namen der Fahnen hervor. Hinter den Namen waren jeweils das Geburtsdatum und vermutlich der Todestag vermerkt. Danach folgte die Spalte Kommando. Das verstand er nicht, aber vielleicht konnte er später diesen Mann danach fragen, den er bisher nur vom Telefon kannte. Andere Besucher gingen langsam durch die Gänge und betrachteten sich die ausliegenden Bücher. Waren sie aus demselben Grund hier wie er? Auf der Suche nach Antworten?

Als er schließlich ins Freie trat, schien ihm die Sonne ins Gesicht. Er ging einen langen Sandweg entlang, an dessen Rand Gedenksteine lagen. Darauf standen Länderbezeichnungen. Alle Länder Europas. Sogar das alte Zeichen CCCP der ehemaligen Sowjetunion. Auf dem fünfzehnten Stein las er ITALIA. Darauf lagen ein paar vertrocknete Nelken. Bei seinem nächsten Besuch wollte er auch ein paar Blumen mitbringen. Er stutzte. Wollte er denn überhaupt noch einmal herkommen? Die Ländersteine endeten an einem gegenüberliegenden hochaufragenden Gedenkstein, dessen beachtliche Höhe ihn an einen Fabrikschornstein erinnerte. Direkt neben diesem Mahnmal lag die Skulptur eines in äußerst unbequemer Haltung kauernden Menschen. Man hatte fast den Eindruck, als wäre diese Figur in aufrechter Haltung gegossen und anschließend zu Boden gestoßen worden. So sehr hatte sich die Stellung der Gliedmaßen verformt.

Wo sollte er hingehen? Ein wenig Zeit blieb ihm noch. Der Lageplan, den er im Haus mit den Fahnen mitgenommen hatte, wies auf mehrere Rundgänge hin. Punkt vier „Internationales Mahnmal“ und Punkt fünf „Haus des Gedenkens“ hatte er bereits hinter sich gebracht. An Punkt drei waren Denkmäler für Opfergruppen und Einzelpersonen zu besichtigen.

 

“Ettore Martinelli, ingegnere, nato il 20.10. 1908 in Lussinpiccolo, Italia, morì in questo campo il 27.1.1945.”

 

Wo lag noch einmal Lussinpiccolo? Er kramte in seiner Erinnerung. Eine kleine Insel in Jugoslawien. Vor einigen Jahren hatte ihm ein Cousin eine Postkarte aus Lussinpiccolo geschickt. Mit Strandmotiv, blauem Meer. Unbeschwerter Urlaubsfreude. Von Lussinpiccolo nach Germania, um dort auf einem Grabstein zu enden. Er schüttelte ungläubig den Kopf.

Hinter ihm näherte sich eine Schulklasse. Sie bildeten einen Halbkreis, um die Grabsteine zu betrachten. Er sah kurz hoch in die Gesichter der ungefähr vierzehnjährigen Jungen und Mädchen. Die Mehrheit hörte schweigend den Ausführungen des Lehrers zu. Andere standen etwas abseits und blickten gelangweilt in die Gegend. Dann gab es noch ein Grüppchen mit zwei kurzhaarigen Jungs, um die sich die drei Mädchen aus dem Raum mit den Fahnen scharten. Sie kicherten in einem fort. Er konnte den Blick nicht von den Jugendlichen abwenden. Plötzlich trat einer von ihnen zur Seite und warf sich in gekrümmter Haltung nach vorn auf die Knie. Dabei berührten sein Kopf und eine Schulter den Boden. Das Lachen der Mädchen wurde lauter. Er schluckte. Der Junge versuchte offensichtlich, die qualvolle Haltung der Skulptur neben der Gedenksäule nachzuahmen.

Um eine aufkommende innere Kälte abzuwehren, rückte er seinen Schal zurecht und begab sich wie vereinbart an den sogenannten Stichkanal, Punkt sieben auf seinem Plan.

Auf dem Weg dorthin bewegte er sich auf die Rückseite eines langgezogenen Gebäudekomplexes zu. Anstatt laut Plan links abzubiegen, ging er geradeaus weiter, um sich die Vorderseite des U-förmigen Klinkerbaus anzusehen. In die Mitte des Gebäudes führte eine langgezogene hohe Rampe. In unmittelbarer Nähe stand eine Lore. Die lange Rampe und die massive Lore davor sahen nach sehr harter Arbeit aus. Er hatte nur noch fünf Minuten Zeit. Schnell wandte er sich ab und ging weiter geradewegs auf einen alten Kahn zu. Vorsichtig trat er an das düstere Wasserbecken heran, das auf seiner rechten Seite von einer geraden steilen Wand begrenzt wurde. Auf der gegenüberliegenden Seite saßen ein paar Angler. Hinter ihnen drehten sich weiße Windkrafträder.

Plötzlich spürte er ein leichtes Schulterklopfen und drehte sich um. Er blickte in das freundlich lächelnde Gesicht eines jungen Mannes mit Dreitagebart und Palästinensertuch um den Hals.

„Mr. Mantova?“

8 Absturz

Heute war Sonntag. Der Sonntag. Vor dem Tag grauste Karlo schon seit seiner ungewollten Ernennung zum Fahnenträger. Warum bloß hatte ihn das Schicksal nicht verschont? Am liebsten hätte er sich in seinen noch von der Nacht angewärmten Alkoven verzogen, die Türen hinter dieser bäuerlichen Schlafstätte zugezogen und sich für die nächsten Stunden von der Außenwelt verabschiedet. Am Sonntagmittag stand er vor dem ovalen Spiegel seines lichtdurchfluteten Schlafzimmers und machte sich bereit für die größte Peinlichkeit seines Lebens. Als würde es nicht reichen, das DDR-blaue Jackett mit dem albernen pinken Schriftzug seiner Liedertafel „Gaudi“ und die weiße höchst unvorteilhaft geschnittene Hose mit leichtem Schlag anziehen zu müssen! Nie wieder würde er sich über picklige Außenseiter lustig machen, die in lächerlichen Spielmannszuguniformen mit Gleichgesinnten musizierten. Aber wieso er, Karl Kolberg, in so einer Aufmachung? Warum konnten sie nicht in seinen geliebten Jeans und Karohemd oder aber - wenn es denn schon festlich sein musste – wenigstens in halbwegs stilvollen Anzügen marschieren?

Fertig umgezogen verließ er seine kleine Wohnung im ersten Stock des Vierländer Hofs. Im Erdgeschoss traf er auf Erne, die wegen des besonderen Anlasses heute länger arbeiten wollte. Etwas spöttisch musterte sie ihren Chef von oben bis unten. Karlo stand nicht der Sinn nach ihren Kommentaren.

„Und Sie meinen wirklich, dass Sie das heute alles allein schaffen?“, erkundigte er sich.

„Allens klar, Chef! Ich hab alles im Griff. Kommt doch eh keiner mehr an. Außerdem kann ich so mal in Ruhe die ganzen Plünnen wegwaschen.“

„Wenn ich dableiben soll, können Sie es ruhig sagen.“ Karlo klammerte sich an die letztmögliche Ausrede.

„Dascha gediegen!“, rief sie aus. Mit gespielter Empörung stützte sie ihre Hände in der Taille ab. „Un wat macht Ihre Liedertafel dann aus mir? Nee nee, Sie sind doch kein Bangbüx! Nu man los, der Herr. Später kommen wir denn mal auf’m Umzuch vorbei. Herr Mantova kiekt sich dat auch an.“

„Ach ja?“, stutzte Karlo.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er seinem schweigsamen italienischen Gast noch keine weitergehenden Informationen über dessen Ausflugspläne entlocken können. Jeden Morgen frühstückte der Italiener pünktlich um acht Uhr. Stets korrekt gekleidet verließ er das Haus, stieg in seinen kleinen blauen Leihwagen und kam erst spät abends zurück. Wie ein typischer Blumenzwiebelvertreter sah er nicht aus und schon gar nicht wie ein Gewächshausbauer. Christian vermutete, dass der Mann einen Grabsteinhandel aufziehen wollte, weil er ihn nicht nur auf dem Friedhof seiner Kirche, sondern auch einmal auf dem der benachbarten Gemeinde Neuengamme angetroffen hatte.

„Ich hoffe, Sie haben nicht noch mehr Werbung gemacht!“ Karlo legte heute keinen besonderen Wert auf großes Publikum.

„Nu man sachte, Chef. Früher, mit meiner Trachtengruppe, da hatten wir all wedder solche Auftritte ...“ Sie sah auf die Uhr. „Jetzt komm Se mal zu Pott! Die Wäsche ruft.“ Energisch drehte sie sich auf dem Absatz um.

Ein Blick nach draußen zeigte ihm, dass sich auch das Wetter gegen ihn verschworen hatte. Kein Sturm, keine Orkanböen in Sicht. Schönstes Frühlingswetter hatte sich eingestellt. Vor dem Hoteleingang tummelten sich die Sänger des Gesangvereins „Ohne Sorgia“ aus Bottrop, die sich für dieses Wochenende bei Karlo einquartiert hatten. Die Männer trugen braune Jacketts mit breiten rosafarbenen Krawatten.

„Na, schon fertich?“, wurde er gut gelaunt begrüßt.

„Boah ... wat ’n schmucken Kerl hier!“

„Hör ma, später nehm wir noch ’n Kleinen zusammen, is klar, ne“, grölte der vierschrötige Dirigent.

„Geht klar! Na dann mal viel Spaß die Herren!“, verabschiedete er sich schnell, um pünktlich zum vereinbarten Treffpunkt seines Chores zu gehen.

*

Die Sänger von Gaudi sahen in ihren Anzügen aus wie Funktionäre bei einer sozialistischen Spartakiade.

„Na, da bist ja endlich, hast deine Bimbos nich in Griff?“, begrüßte ihn Rotgesicht Knut. In Anbetracht seiner schlechten Laune verkniff sich Karlo einen kritischen Vortrag über Political Correctness und grüßte einmal kurz in die Runde.

Knut bückte sich, hob einen Lederriemen vom Fußboden auf und reichte sie dem auserkorenen Fahnenträger: „Hier. Dein Arbeitsgerät.“

Skeptisch nahm Karlo den Gurt entgegen.

Der am Rücken lädierte Uwe schlurfte bedächtig zu seinem Vertreter, um ihm letzte Anweisungen und Tipps zu geben: „Die Fahne nimm man lieber erst, wenn dat losgeiht, die wiecht nämlich wat, dat kann ich dir sagen.“

Kurz vor dem Abmarsch griffen zwei Sänger zu der weiß-blauen Fahne und machten sich daran, sie in Karlos Tragegurt zu stecken. Als die beiden Männer das gute Stück plötzlich losließen, fiel der noch ungeübte Fahnenträger fast vorne über.

„Wie lange geht der Umzug, habt ihr gesagt?“, fragte Karlo unter Stöhnen.

Missbilligend zog Chorleiter Manfred eine graue Augenbraue hoch. Gaudis neuer Fahnenträger biss die Zähne zusammen und reihte sich hinter der gerade vorbeiziehenden Liedertafel „Concordia 1885“ ein. Zur Freude der Umstehenden stimmten seine Sangesbrüder gleich ein erstes Lied an: „In Vierlanden hinterm Deich ...“

*

Das gute Wetter hatte eine beachtliche Anzahl Zuschauer angelockt. Die Häuschen entlang der Strecke waren zu diesem Anlass besonders herausgeputzt worden. In den Vorgärten warteten großzügige Arrangements aus gelben und blauen Stiefmütterchen auf vorbeiziehende Bewunderer. An den Fahnenmasten hingen viele blau-weiß-schwarze HSV-Fahnen. Bereits nach wenigen Metern musste sich Karlo eingestehen, dass es ihm wider Erwarten ein bisschen Spaß machte, mit der Fahne vorneweg zu marschieren. So langsam legte sich sogar ein kleines Lächeln auf sein Gesicht.

Plötzlich vernahm er lautes Kläffen. Beunruhigt sah Karlo nach unten. Ein Wollknäuel hüpfte um seine marschierenden Beine. Erschrocken musste er feststellen, dass der natürliche Jagdinstinkt des kleinen Hundes geweckt war: Um jeden Preis wollte dieser das ihm zugeneigte wippende Ende der Fahne erreichen. Seine vergeblichen Luftsprünge wurden vom Publikum mit Jubel bedacht. Die aufmunternden Zurufe führten dazu, dass sich die Lage für den Fahnenträger mehr und mehr zuspitzte. Angestachelt von der aufgebrachten Menge verfiel der Hund in zunehmend hektischere Bewegungen. Während Karlo sich noch fieberhaft eine Überlebensstrategie überlegte, hatte der Kläffer schließlich Erfolg: Mit einem finalen Satz schnappte er energisch die Fahne. Dieses plötzliche Ungleichgewicht hatte zur Folge, dass Karlo strauchelte und vorne über auf die Straße direkt in den Staub fiel. Ein paar Sekunden vergingen, bis er den Kopf wieder heben konnte. Er blinzelte und versuchte, sich den Dreck aus den Augen zu reiben, als ihm plötzlich ein Taschentuch hingehalten wurde.

Als Karlo aufblickte, erstarrte er für einen Moment. Das musste eine Fata Morgana sein! Er sah in das Gesicht einer wunderschönen Unbekannten. Lange, dichte, dunkle - schier unglaubliche Locken. Ein unglaublicher Mund wie bei dieser Frau, die mal für eine Hamburger Telefongesellschaft geworben hatte. Besorgt blickten große nussbraune Augen mit langen Wimpern auf ihn herab. Als sich die Erscheinung zu ihm herunter bückte, ließ es sich nicht vermeiden, einen Blick in den ausgefüllten Ausschnitt ihres engen rot-weiß geblümten Sommerkleides zu werfen. Auch dieser Einblick war schier unglaublich. Eine Wahnsinnsfrau! Was machte die hier auf dem Umzug? Und was tat er eigentlich auf dem Boden? Irritiert richtete Karlo sich wieder auf, klopfte mit fahrigen Bewegungen den Straßenstaub ab und nahm seine Umwelt wieder bewusst wahr.

Noch etwas benommen vernahm er aus einer anderen Richtung eine hohe aufgeregte Frauenstimme: “Mann Bella, was machst du denn für’n Scheiß!“ Eine junge etwas rundliche Frau mit unvorteilhaften Röhrenjeans und Cowboystiefeln trat aus der Menge hervor. Sie hielt eine rote Flasche in der Hand. Ihr teilweise blondes Haar - der Haaransatz enthüllte in unregelmäßigem Abstand die ursprünglich dunklere Farbe - hing in krisseligen Strähnen auf die breiten Schultern. „Oh nee, wie peinlich! Das tut mir echt megaleid! Hast ein gut bei mir!“ Aufreizend lächelnd steckte sie dem Opfer ihres Hundes die Flasche zwischen Bauch und Tragegurt. „Trinkst den nachher mit mir? Ich bin Biggie. Das is ganz was Gutes!“, flüsterte sie ihm mit der piepsigen Stimme eines vermeintlich dreieinhalbjährigen Mädchens zu.

Karlo nickte entgeistert. Zu mehr war er noch nicht in der Lage. Nicht, ohne ihm noch einmal bedeutsam zuzuzwinkern, griff sie nach ihrem Hund und verschwand wieder in der Masse.

Mittlerweile hatten Knut und Christian die Fahne wieder aufgehoben und steckten sie in seinen Tragegurt. Christian wollte sich dabei ausschütten vor Lachen. „Genug ausgeruht, mein Bester. The show must go on!

Verzweifelt hielt Karlo Ausschau nach seiner Ersthelferin, aber zu seinem Bedauern war die unbekannte Unglaubliche wieder in der Menge verschwunden. Ihr weißes Stofftaschentuch hielt er noch wie eine Trophäe in den Händen.

„Birgit vonne Kasse kann dich wohl verknusen. Dat sieht ja ’n Blinder mit Krückstock!“ Knut wusste Bescheid. Die Besitzerin der Töle war Kassiererin im Supermarkt um die Ecke.

Nach dem Intermezzo ging der Umzug weiter. Mechanisch setzte Karlo einen Fuß vor den anderen. Die anfängliche Entspannung war verschwunden. Deshalb griff er schon bald nach der Wiedergutmachung und führte die rote Flasche von der Kassiererin zum Mund. Da erblickte er Erne und Hinrich in der Menge. Jedoch schienen sie in ein angeregtes Gespräch vertieft zu sein, weshalb Erne ihren winkenden Chef nicht wahrnahm. Ein paar Meter weiter hinter ihnen sah er seinen italienischen Hotelgast, der sich sehr gestenreich mit einem anderen Mann unterhielt, von dem er nur das schüttere graue Haar und den Rücken erkennen konnte. Lächelnd prostete Karlo Herrn Mantova zu, der ihn jedoch ebenfalls nicht beachtete. Was machte der hier bloß? Und mit wem redete er da?

„Mensch Karlo!“ Knut klopfte seinem Sangesbruder auf die Schultern. „Wat hast denn da Schönes in deiner Buddel? Musst aber auch mal an deine Kollegen denken. Gib mal ’n beten ab!“ Er griff sich die Flasche und nahm einen tiefen Schluck. „Heute feiern wir bis zur Vergasung!“

Bei sich dachte Karlo, dass Knut deutlich weniger Worte zur Verfügung hätte, wenn er die politisch Unkorrekten nicht mehr benutzen würde.

*

Als der Umzug auf dem großen Festplatz sein Ende gefunden hatte, wankte die Fahne des Männergesangvereins Gaudi merklich. Normalerweise machte Karlo um Alkohol mit mehr Umdrehungen als Wein oder Bier einen großen Bogen. Aber in nüchternem Zustand konnte er so einen Tag wie heute wirklich nicht überstehen. Bei den letzten Liedern merkte er, dass seine Zunge immer schwerer wurde. Den meisten schien es ähnlich zu gehen, denn die Abschlusslieder klangen mehr gegrölt als gesungen. Trotzdem ernteten die Chöre von ihrem ebenfalls nicht mehr ganz nüchternen Publikum anerkennenden Beifall.

Nachdem ihr letztes Lied verstummt war, wurde in einer Ecke weitergesungen. Wie durch einen Schleier sah Karlo ein paar Jugendliche etwas abseits stehen und Bierflaschen schwenkend ein Lied singen. „... schlaand über ahaless ...“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752143317
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
Deichkrimi Konzentrationslager Hamburg Neuengamme Dorf Cosy Crime Whodunnit

Autor

  • Silke Schopmeyer (Autor:in)

Die Krimis von Silke Schopmeyer spielen vor ihrer Haustür - in den Hamburger Vier- und Marschlanden. Das Kinderbuch "Pepita und das Inselabenteuer" entführt die kleinen Leser und Leserinnen auf die Hamburger Nordseeinsel Neuwerk. Ein haptischer Stadtteilführer über Bergedorf zählt ebenfalls zum Programm.