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Nordseeglück

Die Trilogie in einem Band

von Frida Luise Sommerkorn (Autor:in)
752 Seiten
Reihe: Nordseeglück, Band 4

Zusammenfassung

Alle drei Teile der Nordseeglückreihe jetzt für Sie in einem Band:

Insel wider Willen
Als Sibille mit ihrer Tochter Tuuli und ihrem Stiefvater Peter die Insel betritt, möchte sie am liebsten sofort wieder umkehren. Hat sie Langeoog doch vor langer Zeit verlassen und nie wieder zurückkommen wollen. Doch nun ist Oma Greta gestorben und Sibille will das Haus so schnell wie möglich verkaufen, das einst ihr Zuhause war. Niemals hat sie damit gerechnet, dass Oma Greta noch überall präsent scheint und auch die Insel hat nichts von ihrer magischen Anziehungskraft von damals verloren. Und dann ist da noch Morten, der Nachbarsjunge von damals, der ihr Herz zum Schwingen bringt. Wohin mit diesen ganzen Gefühlen? Doch gerade als sie die Lösung all ihrer Probleme sieht, begegnet sie dem einzigen Menschen, der alles wieder ins Wanken bringt.

Träume sind wie Wellen
Kaum haben sich Sibille, ihre Tochter Tuuli und ihr Stiefvater Peter auf Langeoog eingelebt, tauchen die ersten Probleme auf. Sibille braucht einen Job, Tuulis Lust auf die neue Schule hält sich in Grenzen und Piets Verwandlung in einen verantwortungsbewussten Mann ist kaum auszuhalten. Und dann ist da noch Rune, Tuulis Vater und der Mensch, den Sibille niemals wieder hatte sehen wollen, doch der wie selbstverständlich die Beziehung von damals aufleben lässt. Und natürlich Morten, den Sibille nicht so einfach vergessen kann. Das alles tritt jedoch in den Hintergrund, als Tuulis erste große Liebe zu scheitern droht und sie plötzlich verschwunden scheint. Können Sibille und Rune ihrer Tochter helfen, obwohl sie Teil des Unglücks sind? Und warum verhält sich Piet plötzlich so eigenartig und treibt damit alle in den Wahnsinn?

Liebe dank Turbulenzen
Dass Piet sich in seinem Alter noch mit Herzschmerzen in Sachen Liebe rumschlagen muss, hätte er nie gedacht. Tuuli schließt sich gemeinsam mit Simon einer Umweltorganisation an, bei der es unter anderem um den Schutz ihrer neuen Heimat geht. Als dann ein heftiges Sturmtief auf Langeoog zurollt, geraten die beiden in eine gefährliche Rettungsaktion. Nur Sibille scheint nicht auf ihrer Insel ankommen zu können. Zwar läuft der Job und ihrer Familie geht es gut, aber die Liebe fährt Achterbahn. Warum kann sie sich nicht endgültig auf Rune einlassen? Und wer ist die Frau, die Morten so verliebt umgarnt? Erst ein drohendes Unglück lässt sie die Wahrheit erkennen. Doch ist es für eine Umkehr nicht schon längst zu spät?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort

Liebe LeserInnen!

In diesem eBook-Bundle können Sie alle drei Teile der Nordseeglück-Trilogie lesen:

Teil 1: Insel wider Willen

Teil 2: Träume sind wie Wellen

Teil 3: Liebe dank Turbulenzen

In allen Büchern dürfen Sie sich auf Sibille, ihre Tochter Tuuli und ihren Stiefvater Peter freuen. Während Sibille in „Insel wider Willen“ von der Anziehungskraft ihrer Heimatinsel Langeoog, die sie nie wieder hatte betreten wollen, überwältigt ist, finden Tuuli und Peter nach anfänglichen Schwierigkeiten ihre Lieblingsmenschen. Doch auch in „Träume sind wie Wellen“ gibt es Probleme, besonders als Tuuli plötzlich verschwunden scheint. Dafür kämpft Peter, der sich neuerdings Piet nennt, in „Liebe dank Turbulenzen“ mit den Tücken der Liebe, schließt sich Tuuli einer Umweltorganisation an und erkennt Sibille endlich, warum sie auf ihrer Insel bisher nicht hatte glücklich sein können.

Ich wünsche Ihnen romantische Stunden am Nordseestrand!

Ihre

Frida Luise Sommerkorn

Nordseeglück 1

Insel wider Willen

Frida Luise Sommerkorn

Prolog

Sie konnte es kaum glauben. Bald würde sie Wilhelmshaven hinter sich lassen und endlich wieder auf die Insel ziehen! Wie sehr sie sich auf die frische Brise auf Langeoog freute!

Gestern hatte sie ihren letzten großen Theaterauftritt als zuständige Schneiderin miterlebt, danach mit Freunden gefeiert und mindestens zwölf Stunden geschlafen.

Ein leichtes Kribbeln zog durch ihren Magen. Alles war perfekt geplant. Aus Wilhelmshaven hatte sie einige Spezialitäten mitgebracht, die sie heute Nachmittag anrichten wollte. Danach musste sie noch an die Picknickdecke denken, eine Flasche Sekt aus dem Keller ihrer Großmutter stibitzen und zwei Gläser einpacken. Um sieben Uhr wollten sie sich an ihrem Lieblingsplatz treffen. In der Nähe der ausgedienten Seenotbeobachtungsstation. Ein versteckter Ort in den Dünen.

Aus dem leichten Kribbeln wurde allmählich Panik. Wie würde er reagieren, wenn sie mit ihrer Neuigkeit kam? Sie wusste natürlich, dass es eine große Überraschung für ihn sein würde. War es für sie ja auch. Aber die Entscheidung hatte sie selbst schon in die Hand genommen. Wie zur Bestätigung nickte sie einige Male. Dann drehte sie die Musik an ihrem Discman lauter. Sie brauchte jetzt Ablenkung. Wenn der Zug pünktlich war, sollte sie auch die geplante Fähre nach Langeoog erreichen.

Verträumt schaute sie aus dem Fenster. Der späte Frühling fühlte sich schon fast wie Hochsommer an. Sie hatten erst Mai und doch gab es ab und an Temperaturen über 30 Grad. Sie freute sich auf die kühle Luft auf Langeoog. Sommerhitze war nichts für sie. Sie würde immer auf ihrer geliebten Insel bleiben, das war ihr festes Ziel. Deshalb hatte sie sich auch für die Schneiderei entschieden. Es gab zwar auf Langeoog kein Theater, aber es sollte ein Standbein für ihre Selbstständigkeit sein. Sie hatte schon immer gerne kreativ gearbeitet. Aus jedem Holzstück konnte sie etwas zaubern. Im Haus ihrer Großeltern gab es einige Kerzenhalter oder lustige Trolle, die sie geschnitzt hatte. Auch Vasen und Schüsseln aus Ton hatte sie seit einem Töpferkurs in großer Stückzahl hergestellt. So hatte Oma Greta immer etwas zum Verschenken.

Die grüne Landschaft zog an ihrem Fenster vorbei. Die Gedanken kamen und veränderten sich. Und dann fielen ihr endlich die Augen zu.

Verschlafen schleppte sie ihren Rucksack zur Fähre. Noch war nicht Hochsaison und sie fand einen Platz an Deck. Die See schimmerte im Sonnenlicht. Und wieder wuchs die Aufregung.

Als sie endlich in der bunten Inselbahn saß, konnte sie es kaum noch aushalten. Ständig wippte sie mit ihren Knien auf und ab, bis ein irritierter Blick ihres Nachbarn sie innehalten ließ.

Schon von weitem sah sie ihre Oma am Bahnsteig stehen. Wie immer hatte sie es sich nicht nehmen lassen, sie mit dem Lastenfahrrad des Nachbarn abzuholen. Als ob sie den Rucksack nicht tragen konnte.

Der Nachmittag verging wie im Flug. Sie plauderte viel, hörte Oma Greta zu und war doch mit ihren Gedanken ganz woanders.

Endlich war es Zeit. Bevor sie das Haus verließ, schaute sie noch einmal auf ihr Handy. Keine SMS von ihm. Sie checkte den Empfang, aber der war in Ordnung. Vielleicht war er auf der Fähre oder wartete schon in den Dünen, da war selten gutes Netz.

Schnell schnappte sie sich den Korb und eilte die Straße Richtung Ostende entlang, dann bog sie links in den Pirolaweg ein. Erst als sie den letzten Busch umrundet hatte, sah sie, dass der Platz leer war. Sie breitete die Decke aus, platzierte ihre Leckereien und stellte den Sekt in den Schatten. Dann wartete sie.

Wieder schien die Zeit zu schleichen. Nach zehn Minuten ging sie zur ehemaligen Beobachtungsstation und schaute in die Richtung, aus der er kommen musste. Weit und breit nichts zu sehen. Sie lehnte sich an den orangefarbenen Container und schloss die Augen. Die Abendsonne tat ihr gut, ließ sie auf der Insel ankommen.

Ob sie sich vertan hatte? Waren sie erst für morgen verabredet? Nach dem Stress der letzten Wochen, als sie die Kostüme für das Theaterstück fertig bekommen mussten, konnte es schon mal sein, dass sie sich irrte. Doch ein Gefühl tief in ihr widersprach heftig. Nein! Sie wollten sich heute treffen!

Nachdenklich ging sie zu ihrem Picknickplatz zurück und ließ sich auf die Decke sinken. Wenn sie es sich recht überlegte, hatte er schon bei ihrer Ankündigung, grandiose Neuigkeiten für ihn zu haben, zurückhaltend reagiert. Warum war es ihr während des Telefonats nicht aufgefallen? Erst jetzt dachte sie daran, wie einsilbig er danach war und das Gespräch schnell beendet hatte. Das war schon fast eine Woche her. Seitdem hatten sie nicht mehr gesprochen. Sicher, weil sie beide keine Zeit zum Telefonieren hatten.

Als eine weitere Stunde vergangen war, packte sie das Essen wieder ein. Sie hatte nichts davon angerührt. Eine Vorahnung machte sich breit. Aber noch drängte sie sie zurück.

Erst als sie das kleine Tor zum heimischen Garten öffnete und den weißen Umschlag in der Haustür klemmen sah, übermannte sie das ungute Gefühl. Schnell riss sie das Kuvert auf. Immer und immer wieder las sie die kurzen Zeilen. Das konnte doch nicht sein! Das durfte er nicht tun! Ihre ganze Zukunft löste sich plötzlich in nichts auf. Alles, was bisher strahlte, lag nun im grauen Nebel.

Einem ersten Impuls folgend, wollte sie zu seinem Elternhaus rennen. Aber sie wusste, dass sie zu spät kommen würde. Er hatte davon gesprochen, ja förmlich geschwärmt. Doch nie im Leben hätte sie gedacht, dass er es wahrmachen würde. Vor allem nicht so. Ohne ein persönliches Wort.

Hätte sie diese Entscheidung bei ihrem letzten Gespräch heraushören können? Oder war sie viel zu sehr mit ihrer eigenen Planung beschäftigt gewesen? Sie wusste es nicht. Wollte nicht mehr darüber nachdenken.

Als der graue Schleier auch nach Wochen nicht verflog, verließ sie die Insel und kehrte nie wieder zurück.

Inselankunft

„Ich hab hier überhaupt kein Netz“, motzte Tuuli und hielt ihre Hand nebst Smartphone in die Luft, als ob es dort besser werden würde.

Wenn sie nicht aufpasste, würde das Ding gleich im Wasser landen, dachte Sibille. Auf solche Gefühlsausbrüche ihrer Tochter ging sie schon lange nicht mehr ein. Schließlich war es ihrer Meinung nach nicht so schlimm, wenn ihre Freundinnen die furchtbar wichtigen Nachrichten ein paar Minuten später erhielten. Spätestens am Hafen würde Tuuli wieder Empfang haben.

„Ich hole mir eine Wurst“, verkündete jetzt Sibilles Stiefvater. „Will noch jemand was?“

Sibille schüttelte den Kopf. Peter sah Tuuli an, aber die reagierte nicht. Achselzuckend machte er sich auf den Weg und kam kurz darauf mit einem Paar Wiener und einer Flasche Bier zurück.

„Peter, wir sind nicht stundenlang unterwegs“, sagte Sibille schmunzelnd. Sie hätte es sich denken können, dass der Hopfensaft nicht fehlen durfte. Peter war ein Genussmensch. Und wenn er sich hier auf der Fähre eine Wurst gönnte, dann gehörte das Bier eben dazu.

Sibille sah aus dem Fenster. Passend zu ihrer Stimmung lag die See in trübem Licht. Sie hatte ihre Tochter damit locken können, dass ein Kurzurlaub am Meer doch reizvoll sein konnte. Strahlender Sonnenschein, salziges Wasser, das in leichten Wellen heranrollte, wenn sie an der Wasserkante saß und den Weitblick über das Meer genoss. Bei so viel Pathetik hatte sogar Tuuli grinsen müssen. Natürlich hatte sie ihrer Tochter nicht sagen wollen, dass an einem Nordseestrand kein Südseefeeling aufkommen würde. So viel Wissen traute sie ihr zu. Aber nachdem sie heimlich Tuulis Reisetasche überflogen hatte, war sie sich nicht mehr so sicher. Schnell hatte sie ein paar von Tuulis Pullis und die Regenjacke in ihren eigenen Koffer gepackt. Auch wenn Tuuli diese nur unter Protest anziehen würde. Besser das Meckern ertragen, als das Kind frieren sehen.

Sibille schluckte. Den Kloß, den sie seit Tagen im Magen verspürte, versuchte sie zu ignorieren. Aber bald würden sie am Hafen von Langeoog anlegen und dann musste sie sich dem Ganzen stellen.

Sie konnte noch immer nicht fassen, dass Oma Greta tot war. Ihr Nachbar Herbert hatte sie vermeintlich schlafend auf dem Sofa gefunden. Die beiden waren unzertrennlich, seitdem Opa Gustav gestorben war. Das war schon fast zwanzig Jahre her. Und nun hatte es Oma Greta getroffen. Obwohl es überhaupt keinen Grund gab. Sie war fit, ging jeden Tag im Meer schwimmen. Selbst bei kalten Temperaturen. Nur wenn sich allmählich Eis bilden wollte, hielt Herbert sie zurück und überredete sie jedes Mal zu einem ausgiebigen Spaziergang mit Einkehr in der Bäckerei, um einen Kaffee zu genießen. Aber ihr Herz war einfach stehen geblieben.

Nun war sie die älteste der Lüders-Frauen. Ihre Mutter war vor sechs Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ihren Vater hatte sie nie gekannt. Peter, ihr Stiefvater, lebte schon lange bei ihnen in einem Vorort von Mainz. Sie hatten vor einigen Jahren gemeinsam einen Dreiseitenhof gemietet und Sibille hatte daraus ein idyllisches Zuhause gezaubert. Da ihre Mutter beruflich bedingt viel unterwegs gewesen war, lebten sie die meiste Zeit zu dritt zusammen: Peter, Tuuli und sie. Was für ein Gespann.

Sibille seufzte. Der Hafen kam in Sicht. Weiße Segelboote lagen dicht an dicht und warteten darauf, dass die Flut wieder vollständig einsetzte. Erst dann konnten sie sich auf den Weg machen.

Der Kloß drückte nun doch heftiger. Wie in einen Nebelschleier gehüllt, verließ Sibille mit ihrer Familie die Fähre und steuerte, ohne sich groß umzusehen, auf die Inselbahn zu. Peters verzückte Worte über die bunten Waggons hörte sie nicht. Und auch nicht die murrenden Redefetzen ihrer Tochter, die noch immer kein gutes Netz fand.

Sie musste jetzt da durch. So schnell wie möglich die Beerdigung hinter sich bringen, dann Oma Gretas Haus entrümpeln und einem Makler den Auftrag zum Verkauf geben. Angeklopft hatten schon einige. Häuser auf Langeoog waren begehrt. Aber erst hatte sie selbst alles in Augenschein nehmen wollen. Schließlich hatte sie keine Ahnung, in welchem Zustand das Haus war. Dafür war sie zu lange nicht mehr hier gewesen. Ihrem Gefühl nach zu urteilen allerdings nicht lange genug.

Als der Zug am Bahnhof einfuhr, sah sie Herbert stehen. Und obwohl sie ihn nicht wirklich gut kannte, ließ sie sich in seine Arme sinken und weinte endlich die Tränen, die sie hätte schon vor Jahren weinen müssen.

Oma Gretas Haus

Herbert ließ Sibille Zeit, nickte ab und an den vorbeilaufenden Menschen zu und streichelte behutsam ihren Rücken.

„Oh Mama, langsam wird es peinlich“, hörte Sibille Tuuli sagen. Leise, damit ja nicht noch mehr Leute auf sie aufmerksam wurden.

Sibille löste sich aus Herberts Armen. „Du hast recht. Entschuldige, Herbert. Aber wieder hier zu sein und Oma Greta nicht zu sehen ...“ Sie schüttelte leicht den Kopf. Dabei versuchte sie, ihre vom Wind zerzausten Haare in einen lockeren Knoten zu binden.

„Ist schon gut, mein Kind“, antwortete Herbert mit sonorer Stimme. „Mir fehlt sie ja auch! Jeden Tag!“

Sibille drehte sich ihrer Familie zu, um sie miteinander bekannt zu machen, aber Peter kam ihr zuvor.

„Tach, ich bin Piet, Sibilles Stiefvater. Und das ist quasi meine Enkelin Tuuli“, sagte Peter und schüttelte Herbert kräftig die Hand. Die beiden trennten über zehn Jahre, was man nicht wirklich sehen konnte, denn Herberts wettergegerbtes Gesicht wirkte neben dem blassen von Peter wesentlich jünger.

„Piet?“, quietschte Tuuli. „Ist dir die salzige Luft schon zu Kopf gestiegen, Peter?“ Ihr Gesicht sprach Bände. Trotzdem streckte sie Herbert artig die Hand hin.

„Peter heißt auf Friesisch Piet. Hat mir sowieso schon immer besser gefallen“, murmelte Peter verschnupft.

„Soso, du bist also Sibilles Tochter. Ich habe schon viel von dir gehört“, sagte Herbert und überhörte Peters Bemerkung. „Deine Uroma hat gerne über dich erzählt.“

„Hm“, machte Tuuli nur. Sibille sah ihr an, dass sie nicht recht wusste, ob sie es gut finden sollte, dass Oma Greta so eine Plaudertasche gewesen war. Verlegen strich sich Tuuli eine Haarsträhne hinter das Ohr. Obwohl sie nun schon eine ganze Weile einen fransigen Kurzhaarschnitt trug, schüttelte sie noch immer ab und an ihren Kopf, als wolle sie die lange Mähne auf den Rücken befördern.

„Wollen wir?“, fragte Sibille. „Toll, dass du deine Karre mitgebracht hast!“ Sie hob ihren Koffer in die Transportbox von Herberts Lastenfahrrad.

Als alles verstaut war, machten sie sich auf den Weg. Oma Gretas Haus lag im Nordosten des Ortes.

„Gibt’s hier echt kein einziges Auto?“, fragte Tuuli fasziniert, als sie eine Weile unterwegs und schon von einigen Fahrradfahrern passiert worden waren.

„Doch! Der Rettungsdienst und die Feuerwehr haben Fahrzeuge. Ein paar Elektroautos der Gemeinde und einiger Handwerker gibt es auch. Und natürlich dürfen die Bauern Traktoren benutzen“, antwortete Herbert.

„Da biste ja echt am A ...“ Tuuli konnte sich gerade noch bremsen. „Ich meine angeschmiert, wenn du als Jugendlicher hier den Führerschein machen willst.“

Herbert schmunzelte. „Die sind das gewöhnt. Und außerdem auch froh, mal von der Insel runterzukommen. So lange sie alle wiederkommen, habe ich nichts dagegen.“

Den letzten Satz sprach er nur noch leise und Sibille zugewandt. Sibille tat so, als hätte sie ihn nicht gehört. Sie wusste, dass er es ihr übel genommen hatte, dass sie Oma Greta allein auf der Insel zurückgelassen hatte. Aber darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. Staunend schaute sie sich um. Hier hatte sich einiges getan in den letzten Jahren. Andererseits auch wieder nicht. Es fühlte sich an wie früher und war doch fremd.

Gerade bogen sie in den Polderweg ein. Die gepflegten Häuser mit ihren roten Klinkern, den Erkern mit weißen Holzfenstern und weiß abgesetzten Giebelmotiven hatten Sibille von jeher fasziniert. Auch die schmalen gepflasterten Straßen, von sandigen Fußwegen gesäumt, gefielen ihr. Und natürlich die riesigen Hortensienbüsche, die hier in manchen Gärten wie Hecken wuchsen. Sicher zählte das für viele zur Inselromantik. Sie wagte einen kurzen Blick zur Seite. Tuuli lief entspannt neben ihr. Schon seit einiger Zeit hatte sie keine bissigen Kommentare mehr von sich gegeben.

„Hat Oma direkt am Meer gewohnt?“, fragte sie jetzt. Neugierig wanderte ihr Blick die Straße entlang. Am Horizont tauchten die ersten Dünen auf.

„Nee, nee, hier kann man nicht direkt am Meer wohnen“, antwortete Herbert, noch bevor Sibille es tun konnte. „Da musst du erst über die Dünen klettern.“

Tuuli nickte, sagte aber nichts mehr.

Als sie der Willrath-Dreesen-Straße immer näher kamen, wuchs Sibilles Nervosität ins Unermessliche. Sie hatte damit abgeschlossen gehabt, wollte nie wieder hierher zurückkommen. Aber natürlich steckte tief in ihr die Sehnsucht nach ihrer Heimat, nach ihrem Zuhause. Und nun war sie wieder da und sie wusste, dass es zu spät war. Wenn Oma Greta noch leben würde, wäre eine Versöhnung mit allem möglich gewesen. Aber so? Sibille schüttelte den Kopf. So ganz allein schaffte sie das nicht. Abrupt blieb sie stehen.

„Vielleicht sollten wir uns doch besser ein Hotel nehmen“, sagte sie nach Luft ringend.

Tuuli und Peter schauten sie verwirrt an. Nur Herbert nickte leicht. Dann legte er seine Hand beruhigend auf Sibilles Schulter.

„Alles wird sich fügen, mein Kind. Sieh es doch mal so: Du bist endlich wieder da, wo du hingehörst. Du hast eine tolle Tochter, auf die du stolz sein kannst. Und glaub mir, Greta ist noch überall. Ich treffe sie ständig: im Haus, wenn ich die Blumen gieße, im Garten, wenn ich mich um ihre Stauden kümmere, am Strand, wo sie immer schwimmen gegangen ist. Es kommt mir vor, als würde sie auf dich warten, um dich zu unterstützen.“

„Aber ich werde nicht hierbleiben“, platzte Sibille heraus. Sie schluckte, als sie Herberts Gesicht sah. Zögerlich nahm er seine Hand von ihrer Schulter.

„Es tut mir leid, Herbert. Ich kann das nicht. So schön es hier auch für alle ist, aber mein Leben ist jetzt in Mainz. Die Erinnerungen würden mich kaputt machen. Ich möchte Oma Gretas Haus verkaufen.“ Sibille holte tief Luft.

„Du hast nie versucht, dich deinen Erinnerungen zu stellen“, sagte Herbert leise. „Gib dir doch selbst endlich mal eine Chance.“

Er schnappte sich den Lenker des Fahrrads und bog ohne ein weiteres Wort nach rechts ab.

Sibille wagte es nicht einmal, dorthin zu schauen.

„Mama, kommst du?“, rief Tuuli, die mit Herbert weiter gegangen war.

„Komm, das wird schon“, sagte jetzt auch Peter. „Ist immer schwer, wenn man in ein leeres Haus kommt, wo vorher noch ein geliebter Mensch gewohnt hat.“ Vorsichtig legte er seine Hand auf Sibilles Rücken und schob sie mit sich.

„Wenn es nur das wäre“, murmelte Sibille. Mit verkniffenem Gesicht ließ sie sich von Peter führen, bis sie vor dem vorletzten Haus auf der linken Seite standen. Ein kleines Haus mit roten Klinkern und verwildertem Garten. Oma hatte sich wohl schon lange nicht mehr um ihre Pflanzen kümmern können, schoss es Sibille durch den Kopf.

„Hinten sieht es schöner aus“, rief Herbert von der Haustür aus.

„Äh, da drin sollen wir wohnen?“, fragte Tuuli entsetzt. Sie stand mit einem Fuß im Garten und es sah aus, als wollte sie sich keinen Meter weiter bewegen.

Auch Peter wirkte angestrengt. „Hat deine Oma wirklich bis zuletzt hier drin gewohnt?“, fragte er und kratzte sich dabei am Kopf.

Sibille stiegen die Tränen in die Augen. Alles lief irgendwie schief. Sie hatte hierher fahren, die Beerdigung hinter sich bringen und sich von dem Haus verabschieden wollen. Aber nun merkte sie, wie weh ihr die Aussagen von Peter und ihrer Tochter taten. Sie spürte, wie sie das Haus magisch anzog und sie ahnte, dass Herbert recht hatte. Oma Greta war überall. Sie konnte sie sogar riechen.

Seufzend trat sie an Tuuli und Peter vorbei und folgte Herbert ins Haus, der anscheinend von den Bemerkungen ihrer Familie nichts mitbekommen hatte.

Im Hausflur ließ sie ihre Handtasche auf den kleinen Garderobenschrank gleiten. Ohne auf die anderen zu achten, wanderte sie von Raum zu Raum.

In der Küche herrschte eine kühle Ordnung, die es bei Oma Greta nie gegeben hätte. Auf dem Tisch hatte immer eine Schüssel Äpfel neben einem Blumenstrauß gestanden. Oma hatte Äpfel geliebt. In der Ecke hinter dem Herd waren Gewürzdosen in den verschiedensten Formen und Farben gestapelt gewesen. Und an der Dunsthaube hingen früher Kräuter, die einen herrlichen Duft verbreitet hatten. Überhaupt, so ohne Oma Greta und ihre Stimmungsmusik, wie sie die Schlager immer nannte, war die Küche leblos.

Schnell trat sie wieder in den Hausflur, um das Wohnzimmer zu inspizieren. Auch hier fehlte Oma Greta überall. Kein Strickzeug, das in der Sofaecke lag, keine Landhauszeitschriften, die sie immer verschlungen hatte. Sibille seufzte. Wie konnte es sein, dass nichts mehr wie früher war und sie sich ihrer Oma trotzdem so nah fühlte?

„Hast du hier alles aufgeräumt?“, fragte sie Herbert, als sie das Wohnzimmer verlassen hatte.

„Ein bisschen, damit ihr es schön habt. Aber ich habe nichts weggeschmissen. Außer die verwelkten Blumen. Und die Äpfel habe ich gegessen“, lächelte er traurig.

„Ach, Herbert“, flüsterte Sibille ebenso bedrückt. Sie wollte ihn fragen, wie es ihm ging. Ob sie hätte Oma Greta retten können, wenn sie doch wieder nach Hause gekommen wäre. Und was sie jetzt machen sollte. Aber alle Fragen blieben ihr im Hals stecken. Sie wusste nicht, ob sie mit den Antworten leben könnte, ob sie sie überhaupt hören wollte.

Tuuli und Peter unterbrachen die traurige Stille. Sibille hatte sie im Garten reden hören. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, wenn die beiden nicht hier wohnen wollten. Vielleicht war es sogar ganz gut, wenn sie sich ein Hotel suchten. Sie hatte keine Kraft, die Kämpfe mit ihrer Tochter auszufechten oder sich um Peter mit seinen eigenartigen Ideen zu kümmern. Eigentlich fühlte sie sich schon lange nicht mehr dazu in der Lage.

„Wie wär’s, wenn die beiden bei mir drüben wohnen? Mein Enkel ist für zwei Wochen bei einem Lehrgang auf dem Festland. Und ein Gästezimmer habe ich ja auch noch. Dann kannst du in deinem alten Zimmer schlafen und hast hier ein bisschen Ruhe“, bot Herbert an.

Sibille schien es, als hätte ihn der Himmel geschickt. War er schon früher so feinfühlig gewesen? Oder entwickelte sich die Menschenkenntnis, wenn man ein gewisses Alter erreicht hatte?

„Ja, also“, kratzte sich Peter wieder am Kopf, als Herbert die Idee vor den beiden wiederholte.

Sibille kannte diese Gesten. Er hatte sich eigentlich schon entschieden, war sich aber nicht sicher, ob er ihr damit nicht weh tat.

„Ist schon in Ordnung“, sagte sie schnell. Ein vages Gefühl hatte sich in ihr breitgemacht. Es fühlte sich tatsächlich viel besser an, hier im Haus allein zu sein. Sie würde ungestört Oma Gretas Sachen aussortieren und entrümpeln können, damit es für eventuelle Käufer noch interessanter würde. Ein Stich im Herzen ließ sie zusammenzucken.

Tuuli hatte in der Zwischenzeit nach rechts und links geschaut. „In welchem Haus wohnst du?“, fragte sie Herbert.

Schmunzelnd zeigte er Richtung Ostende.

Ein kurzer Blick hatte Tuuli genügt. „Okay, sieht gut aus“, sagte sie und machte sich auf den Weg.

„Danke!“, flüsterte Sibille und drückte Herbert einen Kuss auf die Wange.

„Da nicht für“, murmelte Herbert verlegen. „Dann mal los, junger Mann“, sagte er lauter und klopfte Peter kräftig auf die Schulter.

Peter grinste kurz, dann schaute er Sibille fragend an. Sie nickte lächelnd.

„Zum Abendessen kommst du aber rüber“, sagte Herbert, als er Sibilles Koffer in den Hausflur stellte. „Es gibt Krabben-Rührei.“ Dann schloss sich die Tür.

Gerührt stand Sibille im dunklen Hausflur. Herbert hatte nicht vergessen, dass das zu ihren Lieblingsspeisen gehörte. Nun konnte sie die Tränen nicht mehr verdrängen. Ungehindert liefen sie über ihre Wangen. Sie schaffte es noch, sich aufs Sofa zu legen. Dann ließ sie ihren Gefühlen freien Lauf.

Die Beerdigung

Sibille wusste nicht mehr, wie sie den gestrigen Abend und die Nacht überstanden hatte. Das Krabben-Rührei war ein Gedicht gewesen. Sie hatte es schon Jahre nicht mehr gegessen.

Nach einer kurzen Plauderei hatte sie sich von Herbert und ihrer Familie verabschiedet. Die beiden schienen sich ganz gut mit Herbert zu verstehen, planten einen gemeinsamen Spieleabend zur Ablenkung.

Ablenkung, das war ihr Stichwort gewesen. Sie hatte ihren Badeanzug aus dem Koffer gekramt, Omas Rad aus dem Schuppen geholt und war ans Meer gefahren. Und sie hatte Glück: Es war Flut. Gefühlte Stunden hatte sie danach im Meer verbracht, war so weit geschwommen, wie sie es seit damals nie wieder getan hatte. Völlig erschöpft war sie danach zurück zum Haus geradelt. Da sie sich noch nicht ins Obergeschoss, in ihr Zimmer getraut hatte, war ihr das Sofa gerade recht gewesen. Schnell war sie in einen unruhigen Schlaf gefallen.

Nun war es sieben Uhr am nächsten Morgen. Herbert hatte ihr ein belegtes Brötchen und eine Thermoskanne mit Kaffee in einem Beutel an die Tür gehängt. Warum nur fühlte sie sich, als hätte sie diese liebevollen Gesten nicht verdient?

Nach einer ausgiebigen Dusche setzte sie sich mit ihrem Frühstück hinter das Haus. Noch immer stand hier an der Hauswand die alte Holzbank.

Sibille nahm den ersten Schluck direkt aus der Thermoskanne und schloss die Augen. Diese Mischung aus salziger frischer Luft, warmer Sonne und gutem Kaffee war wie Balsam für ihre Seele. Schnell öffnete sie die Augen wieder. Sie durfte es nicht zulassen, dass sich das alles so gut anfühlte. Dann würde ihr der Abschied in ein paar Tagen noch viel schwerer fallen. Vielleicht konnte sie sich ablenken, indem sie in Gedanken schon einmal ein paar organisatorische Dinge durchging.

Sibille hielt inne. Was war denn nur los mit ihr? Oma Greta war noch nicht einmal beerdigt und schon wollte sie ihr Hab und Gut verscherbeln? So war sie doch eigentlich überhaupt nicht. Warum konnte sie denn nicht einfach trauern und sich Zeit lassen?

Sibille ließ ihren Blick über den Garten gleiten. Herbert hatte recht gehabt: hier hinten war es wirklich viel schöner als vorn an der Straße. Ein kleiner Rundweg aus rötlichen Steinen führte einmal rund um den Garten. Gesäumt wurde er von rosafarbenen Wildrosen und Lavendel auf der einen und verschiedenfarbigen Hortensienbüschen auf der anderen Seite. In der Mitte des Gartens stand ein riesiger Walnussbaum, um dessen Stamm sich eine Holzbank schmiegte. Sibille konnte Oma Greta förmlich unter dem Baum sitzen und Äpfel schälen sehen.

Ein lautes Klopfen holte sie aus ihren Tagträumen. Sie ging um das Haus herum und entdeckte Herbert, der im schwarzen Anzug vor der Haustür stand und schrecklich aussah. Normalerweise trug er farbenfrohe Holzfällerhemden und Jeans. Diese plötzliche sichtbare Erinnerung an Oma Gretas Beerdigung nahm ihr den Atem. Schnell hielt sie sich an der Hausecke fest.

„Ist alles in Ordnung, mein Kind?“, fragte Herbert und trat neben sie.

Sibille nickte. „Ja, es geht schon!“, antwortete sie. „Ich hab dich nur noch nie so gesehen.“ Sie hielt inne.

Herbert strich ihr unbeholfen über die Wange.

„Ich muss mich noch umziehen“, sagte Sibille und versuchte es mit einem Lächeln. „Was macht meine Familie?“

„Peter sitzt im Garten und liest alte Zeitschriften übers Fischen und Tuuli blockiert das Bad. Aber sie werden pünktlich fertig sein.“ Herbert nickte ihr aufmunternd zu. „Acht Uhr sollten wir los.“

Auf dem Weg zur Inselkirche hakte sich Tuuli bei Sibille unter. „Ist alles gut, Mama?“, fragte sie ungewohnt einfühlsam.

Sibille drückte dankbar Tuulis Arm. „Es wird eine schöne Beerdigung werden“, sagte sie. Das wünschte sie sich von ganzem Herzen.

Nach dem Gottesdienst schüttelten sie am blumenreichen Grab unzählige Hände. Sibille wusste, dass Oma Greta beliebt war im Ort, aber mit so vielen Menschen hatte sie nicht gerechnet. Sie fragte sich, ob Herbert das richtig eingeschätzt hatte. Denn zum Leichenschmaus hatte er in sein Haus eingeladen.

Aber ihre Befürchtungen waren umsonst. Nur die engsten Freunde kamen, weinten mit ihr, freuten sich, sie wieder zu sehen und lachten am Ende über Oma Gretas humorvolle Beiträge bei vergangenen Festen und Feiern.

So sollte es sein, dachte Sibille am Abend. So hätte es sich Oma Greta gewünscht. Dankbar verabschiedete sie sich von Herbert und machte sich auf den Weg ins Nachbarhaus. Am Gartentor blieb sie stehen. Sie betrachtete die schäbige Fassade des Hauses. Schwarze Streifen durchzogen die roten Klinkersteine, die Holzfenster hatten schon lange keinen Anstrich mehr gesehen und das Schild mit der Aufschrift „Haus Lüders“, das Opa Gustav einst angebracht hatte, war kaum noch lesbar.

Eine zärtliche Traurigkeit überfiel sie. Schon bald würde eine junge Familie hier einziehen und alles wieder zum Strahlen bringen. So hatte sie es sich jedenfalls bisher vorgestellt. Aber nun, da sie selbst nach vielen Jahren wieder hier wohnte, wenn auch nur für kurze Zeit, wollte sie nicht daran denken, wer einmal ihr Zuhause zu seinem machen würde.

Nachdenklich durchquerte sie den wilden Vorgarten und öffnete die Haustür. Mit diesen Gefühlen hatte sie nicht gerechnet. Kurz schaute sie die Treppe entlang nach oben, verwarf aber den Gedanken, in ihrem Zimmer zu übernachten. Morgen würde sie es sicher schaffen, auch das Obergeschoss zu inspizieren. Sie wünschte sich jetzt nur noch eines. Sie wollte einfach schlafen und morgen ihr Gefühlsleben wieder im Griff haben.

„Gute Nacht, Oma Greta“, flüsterte sie und ließ sich auf das Sofa gekuschelt in einen tiefen Schlaf fallen.

Erinnerungen

Sibille lag bäuchlings auf ihrem Bett. Wie immer konnte sie sich nicht von einem Buch losreißen. Sie wusste, dass sie schon längst hätte zum Essen nach unten kommen sollen, aber die Stelle war gerade so spannend. Und die Spannung nahm kein Ende. Gleich, nur noch ein bisschen, dachte sie. Da klopfte es an der Tür. Erst leise, dann etwas lauter. Ich komme ja schon, Oma, wollte sie rufen, aber die Laute blieben ihr im Hals stecken. Sie musste lesen, wollte wissen, wie die Geschichte weiterging.

Wieder dieses Klopfen. Seit wann hatte Oma so eine Geduld? Gemeinsames Essen war ihr heilig, da kannte sie keinen Spaß. Normalerweise rief sie doch nur laut von unten und konnte sich darauf verlassen, dass Sibille kurz darauf die Treppe hinunter gehüpft kam.

Lautes Klopfen! Ob etwas passiert war? War Oma gestürzt und lag mit gebrochenem Bein im Garten? Sie musste ihr helfen!

„Oma!“, schrie sie auf und hielt sich gleich darauf den Kopf. Ein wilder Schmerz durchzuckte sie. Allmählich drang die Erinnerung in ihr Bewusstsein. Das Klopfen konnte nicht von Oma Greta stammen, die hatten sie gestern beerdigt. Der Schmerz verlagerte sich schlagartig vom Kopf in die Brust und schnürte ihr die Luft ab.

Sie drehte sich vorsichtig um und entdeckte ihre Tochter am Fenster, die wild gestikulierte. Seufzend stand Sibille auf. Wo kam denn jetzt der Kopfschmerz her? Sie hatte doch weder Alkohol getrunken, noch war sie zu lange wach gewesen. Vielleicht lag es am Sofa. Konnte gut sein, dass zwei Nächte auf diesem alten Ding Verspannungen im Rücken verursacht hatten.

Sibille deutete ihrer Tochter an, dass sie zur Haustür kommen sollte.

„Mama, warum machst du nicht auf?“, sprudelte Tuuli sofort los. „Ist alles in Ordnung?“

„Ich habe noch geschlafen. Wie spät ist es denn? Und warum hast du nicht einfach die Türklingel benutzt?“, fragte Sibille noch immer ganz schwach.

Tuuli neigte den Kopf und musterte ihre Mutter. „Es ist also nicht alles in Ordnung. Erstens schläfst du nie bis elf und zweitens wachst du sonst bei jedem kleinen Geräusch auf. Ich habe mindestens hundert Mal geklingelt.“

„Es ist schon elf Uhr?“, fragte Sibille entsetzt. „Oh Gott, ich hab doch so viel zu tun. Warum hast du mich denn nicht geweckt?“

„Weil Herbert meinte, dass du dich ruhig mal ausschlafen sollst. Hast du früher schließlich auch immer ausgiebig getan. Überhaupt, was ich über dich hier alles so erfahre, ist schon spannend. So kenne ich dich ja gar nicht. Sag mal, warum waren wir eigentlich in den Ferien nie hier bei Oma? Es kann ja wohl kaum daran liegen, dass du das Seeklima nicht verträgst, wie du sonst immer behauptet hast. Sonst wärst du hier nicht so entspannt.“ Tuuli hielt plötzlich inne.

Sibille hatte sich bei ihren letzten Worten leicht zusammengekrümmt.

„Mama, geht’s dir doch nicht gut? Soll ich einen Arzt rufen?“, fragte Tuuli ängstlich. Sie schob ihre Mutter zurück ins Haus und drückte sie auf einen Küchenstuhl, dann füllte sie ein Glas mit Wasser und stellte es vor Sibille auf den Tisch.

„Mach dir keine Sorgen! Ich bin vielleicht einfach nur geschwächt“, sagte Sibille, nachdem sie artig einen Schluck Wasser genommen hatte. „Die Nachricht von Omas Tod, die Reise, die Beerdigung, das war wohl ein bisschen viel.“

Tuuli schaute skeptisch.

„Weißt du was? Lass uns an den Strand gehen, in der Hoffnung, dass wir keine Ebbe haben. Ein paar Schwimmzüge im Meer werden mich sicher aufrichten. Und dir gut tun. Vielleicht hat Peter auch Lust mitzukommen“, sagte Sibille betont fröhlich.

Tuulis Blick verwandelte sich in Entsetzen. „Ich soll ins Meer springen? Niemals! Ich setz mich in die Sonne, aber planschen kannst du alleine.“

Sibille schmunzelte innerlich. Ihre Tochter war schon immer wasserscheu gewesen. Oma Greta hatte sich immer gewundert, dass die Tochter einer Rettungsschwimmerin und eines ... Abrupt stoppte sie ihre Gedanken. Nein, es war egal, ob Tuuli schwimmen wollte oder nicht. Das war ihre Entscheidung und hatte nichts mit ihrer Herkunft zu tun. „Okay, so machen wir es“, sagte sie schnell. „Sag mal, ob es bei Herbert noch was zum Frühstücken gibt?“

„Sicher“, antwortete Tuuli kurz und schickte sich an, die Küche zu verlassen. An der Tür blieb sie stehen und blickte sich noch einmal um. „Wie lange willst du eigentlich hierbleiben? Am Samstag ist Party bei Jo. Da will ich hin!“

Sibille zuckte mit den Schultern, aber da hatte Tuuli schon das Haus verlassen. Bis Samstag würden sie wohl kaum wieder in Mainz sein. Da hätte sie ja nicht mal mehr eine Woche, um sich um alles zu kümmern. Am Donnerstag wollte der Makler kommen, bis dahin hatte sie noch einiges zu tun. Vielleicht hätte sie doch nicht die Idee mit dem Schwimmen anbringen sollen. Andererseits war es erst Sonntag. Blieben also noch drei Tage, um klar Schiff zu machen.

„Wozu schleppst du denn die ganzen Sachen mit?“, fragte Sibille entsetzt, als sie sich später trafen, um gemeinsam zum Strand zu gehen.

„Das habe ich alles bei Oma Greta im Schuppen gefunden“, verkündete Peter. „Ein Liegestuhl ist doch praktisch, wenn du nicht im Sand liegen willst. Der Sonnenschirm sowieso, den Windfang können wir bei Bedarf aufbauen und das ist unser Proviant.“ Er hob eine blaue Kühlbox hoch. „Hat uns alles Herbert eingepackt.“

„Wo ist er eigentlich? Wollte er nicht mit?“, fragte Tuuli, die außer einem Handtuch und ihrem Handy nichts bei sich hatte.

„Herbert am Strand? Der legt sich nicht wie die Urlauber in die Sonne. Er ist allerhöchstens mal mit Oma Greta schwimmen gegangen. Und das auch nur unter Protest. Herbert muss sich bewegen. Lange Strandspaziergänge oder ein Nachmittagsausflug zur Meierei, das ist eher nach seinem Geschmack. Außerdem hat er immer viel am Haus zu werkeln“, antwortete Sibille.

„Jetzt ist er aber bei seinen Männern zum Skat spielen“, verkündete Peter. „Und er läuft dabei hoffentlich nicht rum“, grinste er. „Also, wer hilft mir beim Tragen?“

„Der Windfang bleibt hier“, sagte Sibille entschieden. „Wenn überhaupt, reicht der Schirm. Falls er nicht sowieso wegfliegt.“ Dann fiel ihr etwas ein. Sie entschuldigte sich kurz und kam ein paar Minuten später mit einem Handwagen zurück.

„Wo hast du denn den her?“, fragte Peter erfreut.

„Der stand im Fahrradschuppen, direkt hinter dem Rasenmäher“, antwortete Sibille. Endlich konnten sie sich auf den Weg machen. Es war bereits 13 Uhr. Hoffentlich zog sich das Wasser nicht schon wieder zurück.

Ihr Herz klopfte wie wild, als sie über den holzbeplankten Weg zum Strand liefen. Tuuli trottete hinter ihr her. Wie oft war ihr diese Situation in den Träumen erschienen. Sie mit Tuuli am Meer. Meistens saßen sie einträchtig beieinander und schauten den tosenden Wellen zu. Der Traum endete immer abrupt, wenn am Horizont ein Schiff auftauchte. Irgendwie hatte sie es immer geschafft aufzuwachen, bevor sie die Fischer an Bord erkennen konnte. Und nun war es kein Traum mehr. Sie betrat tatsächlich gemeinsam mit ihrer Familie ihren Lieblingsstrand.

Gierig nahm sie alle Einzelheiten in sich auf. Die salzige Luft, das Rauschen des Meeres, die tanzenden Sandkörner im Wind und die Hitze unter ihren bloßen Füßen.

Automatisch bog sie nach rechts ab. Dort war sie schon früher lieber gewesen. Ein Stück entfernt von den vielen Urlaubern. Peter und Tuuli trotteten hinterher. Peter mit glänzenden Augen und den Blick aufs Meer gerichtet, Tuuli mit ihrem Handy nach einem Netz Ausschau haltend.

„Wenn ich hier keinen Empfang habe, verschwinde ich gleich wieder“, verkündete sie.

Schade, dachte Sibille. Gestern hatte sie ihre Tochter mal wieder ganz anders erlebt. Weniger mürrisch und aufbrausend. Sie hatte gelächelt und mit wildfremden Leuten Smalltalk geführt. Sonst war es schon schwierig, irgendetwas aus ihr herauszubekommen. Auf noch so freundliche Fragen kamen einsilbige Antworten. Über den Ton wollte sie gar nicht erst nachdenken. Sie wusste ja, dass das normal war für eine Fünfzehnjährige. Aber schön war es deshalb noch lange nicht.

Nachdem Peter die Picknickdecke ausgebreitet, den Sonnenschirm in den Sand gesteckt und den Liegestuhl richtig positioniert hatte, holte er noch eine von Herberts Fischereizeitschriften aus dem Rucksack. Erst als er im Liegestuhl saß, öffnete er die Kühlbox und zog eine Flasche Bier heraus. „So gefällt’s mir“, sagte er grinsend und nahm den ersten Schluck.

„Kommst du nicht mit ins Wasser?“, fragte Sibille, obwohl die Antwort auf der Hand lag.

„Später vielleicht“, murmelte Peter. Er hatte sich schon in einen Bericht in der Zeitschrift vertieft.

Der wird noch zu einem Experten werden, lachte Sibille insgeheim. Wenn das ihre Mutter gesehen hätte. Peter angelnd am Rhein. Wo er doch sonst der zappelige Typ war. Wie sollte er da so lange still stehen? Sie schaute kurz auf Tuuli, verwarf es aber, sie zum Mitkommen zu bewegen. Ihre Tochter hatte nicht einmal ihre Klamotten ausgezogen. Mit schwarzen Jeans und einem schwarzen T-Shirt saß sie in der knalligen Sonne.

„Crem dich wenigstens ein und setz eine Kappe auf“, versuchte Sibille es halbherzig. Sie legte Tuuli Tube und Kappe auf die Beine. Keine Reaktion.

Dann eben nicht, dachte Sibille. Ihr geliebtes Schwimmen ließ sie sich jetzt nicht nehmen. Ohne anzuhalten, stapfte sie über den heißen Sand direkt hinein in die kühlen Wellen. Sanft umfing sie das salzige Wasser. Sie hatte es schon immer genossen, sich einfach fallen zu lassen. Wenn sie sah, wie lange manche Menschen brauchten, um endlich unter Wasser zu gehen, zog sich ihr vor Kälte alles zusammen.

Die ersten Schwimmzüge kamen ihr noch etwas steif vor, aber nach einigen Minuten war sie eins mit dem Meer. Als sie weit genug vom Strand entfernt war, wandte sie sich nach links und schwamm parallel dazu. Es machte ihr nichts aus, wenn die Wellen sie seitlich erwischten und sie aus dem Rhythmus brachten. Sie liebte den Blick auf der einen Seite über die Dünen und das Dorf. Wobei sie nur die Dächer erahnen konnte. Aber zu wissen, dass dort Gleichgesinnte wohnten, Einheimische und Urlauber, beruhigte sie irgendwie. Denn so gern sie ihre Zeit im Wasser verbrachte, noch immer fiel ihr der Blick hinaus aufs Meer schwer. Er war einerseits atemberaubend und befreiend, andererseits aber so bedrückend und mit Erinnerungen behaftet, dass sie kaum noch Luft bekam. Also hielt sie ihren Blick eisern auf das Festland gerichtet. Wenn ihr Nacken zu schmerzen begann, wendete sie und kehrte auf dem gleichen Weg zurück. Nach ein paar Runden spürte sie die Müdigkeit in ihren Gliedern. Außerdem meldete sich allmählich der Hunger. Zum Frühstück hatte sie kaum etwas heruntergebracht.

Erschöpft ließ sie sich auf die Decke fallen. Die beiden anderen schienen sie kaum zu bemerken. Tuuli tippte noch immer wie wild auf dem Handy herum und Peter hob nicht einmal die Nase aus der Zeitung. Dass er sich bewegt haben musste, zeigte nur die leere Flasche Bier, die neben dem Liegestuhl lag.

„Ich esse jetzt eine Kleinigkeit und gehe dann wieder zurück. Muss endlich anfangen, Oma Gretas Sachen durchzugehen“, sagte Sibille und inspizierte den Inhalt der Kühlbox.

Salzkekse, Knackwürstchen und natürlich Äpfel kamen zum Vorschein. Dazu eine Flasche Almdudler, den Oma Greta auch immer gern getrunken hatte.

Tuuli gesellte sich tatsächlich zu ihr auf die Decke.

„Mama, was soll ich eigentlich die ganze Zeit über hier machen?“, fragte sie missmutig und biss in einen Apfel.

„Vielleicht kannst du morgen was mit Peter unternehmen? Ihr könntet mit dem Rad zum Ostende fahren. Oder den Ort erkunden“, sagte Sibille sanft. Sie hatte befürchtet, dass es für ihr Stadtkind hier langweilig werden würde. Aus dem Buddelalter war sie lange raus und Freunde zum Abhängen gab es hier keine. „Ich schaue mal, wie schnell ich voran komme. Vielleicht kann ich dir Ende der Woche noch ein bisschen die Insel zeigen. Oder wir machen eine Wattwanderung mit. Was meinst du?“

„Hm, mal sehen“, murmelte Tuuli. Sie angelte wieder nach ihrem Handy.

Ein Blick auf Peter verriet Sibille, dass der mittlerweile eingeschlafen war. Na gut, die beiden konnten prima für sich selbst sorgen. Sie hatte jetzt andere Aufgaben.

Wieder überfiel sie ein mulmiges Gefühl, als sie Oma Gretas Haus betrat. Herberts Anmerkung, dass es jetzt ihr Haus war, schlich sich in ihr Gedächtnis. Zum ersten Mal im Leben hatte sie etwas Eigenes. Die Hofreite in Mainz war nur gemietet. Und nun besaß sie ein Haus auf Langeoog. Auf ihrer Insel.

Sibille schluckte. Sie durfte solche Gefühle nicht aufkommen lassen. Ihr Leben fand jetzt woanders statt. Sie hatte ihre Zelte hier abgebrochen und das war auch gut so. Schlimm genug, dass sie die Vergangenheit ständig einholte. Sogar in ihren Träumen. Niemals würde sie es Tuuli antun können, hierher zu ziehen.

Langsam zog sie ihre Sandalen aus und machte sich in der Küche zur Stärkung einen Tee. Oma Greta hatte sicher eine ihrer leckeren Ostfriesenmischungen da, die sie ihr auch immer nach Mainz mitgebracht hatte.

Unschlüssig, wo sie anfangen sollte, wanderte sie mit der dampfenden Teetasse durch das Erdgeschoss. Sie könnte sich noch eine kleine Auszeit im Garten genehmigen, dachte sie. Und doch wusste sie genau, dass sie sich nur selbst daran hindern wollte, das Obergeschoss zu betreten.

Nachdenklich setzte sie sich unter den großen Walnussbaum, der herrlichen Schatten bot. Warum hatte sie so große Angst davor, ihr Zimmer zu sehen? Die Erinnerungen an damals waren doch überall in diesem Haus. Ob Oma Greta wirklich nichts verändert hatte? Jedenfalls hatte sie ihr das einmal flüsternd mit Tränen in den Augen erzählt.

Sibille schnappte nach Luft. Sie durfte jetzt nicht in solchen Erinnerungen schwelgen. Einfach machen, das war doch schon immer ihre Devise gewesen. Schnell stellte sie die halbvolle Tasse auf der Bank ab und eilte ins Haus, die Treppe nach oben. Hastig riss sie ihre Kinderzimmertür auf und blieb wie angewurzelt stehen.

Eine Zeitreise, das musste eine Zeitreise sein! Sie konnte die Eindrücke kaum aufnehmen. Das ganze Zimmer schien zu strahlen. Weiße Möbel, heller Holzboden, greller Sonnenschein.

Ihr Bett war so, als hätte sie es heute Morgen verlassen. Frisch bezogen, die Stoff-Haselmaus, die ihre Mutter von einer ihrer Reisen mitgebracht hatte, saß auf dem Kopfkissen. Der weiße Vorhang über ihrem Himmelbett sah weder vergilbt noch verstaubt aus. Oma Greta musste ihn immer wieder gewaschen haben. Überhaupt sah sie nirgends ein Staubkorn. Weder auf dem Schreibtisch, der vor dem Fenster mit Blick in die Dünen stand, noch auf ihrem Bücherregal. Auf dem Nachtschrank lag ein Buch, das Lesezeichen schaute hervor. Sicher kein Liebesroman, den hätte sie damals nicht lesen können. Sie hatte allerdings keine Kraft, sich den Titel des Romans anzuschauen. Vielmehr ließ sie sich in den Schaukelstuhl sinken, der in einer Ecke des Zimmers stand. Daneben ein kleines Tischchen, darüber eine Lichterkette. Ihr Lieblingsplatz!

Sibille hatte das Gefühl, dass die Welt stehen blieb. Sie hörte keinen Laut mehr. Nicht die kreischenden Möwen oder das Meer hinter den Dünen. Nur ihr Herz pochte wie wild. Wie in Zeitlupe, schaute sie sich im Zimmer um. Dann stand sie auf und öffnete ihren Kleiderschrank. Viel war nicht darin, aber die Kiste, an die sie gedacht hatte, stand noch immer an ihrem Platz.

Vorsichtig nahm sie sie heraus und setzte sich damit auf den kleinen runden Teppich mit rosafarbenen Ornamenten. Immer wieder spürte sie in sich hinein, ob sie lieber aufhören sollte. Aber etwas trieb sie an, sagte ihr, dass das alles endlich vorbei sein musste. Hier und jetzt musste sie sich ihrer Vergangenheit stellen. Sonst wäre sie für immer verloren.

Die Kiste war unverschlossen. Oma Greta hätte nie heimlich hineingesehen. Der Deckel ließ sich leicht öffnen. Wieder hielt Sibille kurz inne. Nichts! Sie würde es überleben. Also weiter!

Zuoberst lag ein vergilbter Brief. Natürlich! Schnell legte sie ihn beiseite, nicht wissend, ob sie ihn noch einmal lesen würde. Eigentlich kannte sie ihn auswendig. Aber das war etwas anderes.

Behutsam zog sie ein kariertes Halstuch heraus und konnte dem ersten Impuls widerstehen, daran zu riechen. Es folgten unzählige Muscheln in den ungewöhnlichsten Formen. Die kleine Flaschenpost hatte sie völlig vergessen. Das erste Lächeln huschte über ihr Gesicht. Die Botschaft las sie besser nicht, aber an den Tag, als er ihr das Geschenk gemacht hatte, konnte sie sich genau erinnern.

Er war auf dem Festland gewesen, um seinen Ausbildungsvertrag zu unterschreiben. Abends hatten sie sich wie so oft mit Freunden am Strand getroffen und am Lagerfeuer gesessen, als er plötzlich ein hübsch eingepacktes Paket aus seinem Rucksack zog. Sie hatte sich von den anderen abgewandt, wollte den Moment mit ihm allein genießen. Sie war überrascht und gerührt zugleich gewesen. Noch nie hatte er ihr ein so persönliches Geschenk gemacht. Was natürlich an der Liebesbotschaft lag, die er eigenhändig geschrieben hatte. Damals war ihnen klar gewesen, dass sie sich niemals trennen würden. Es war das erste unausgesprochene Versprechen an die Zukunft gewesen.

Sibille legte die Sachen wieder zurück in die Kiste. Unschlüssig hielt sie den Brief in der Hand. Sollte es damals nur ihre Empfindung gewesen sein? War es für ihn nur eine Liebelei? Hätte sie das nicht spüren müssen? Alles hatte sich so echt und tief angefühlt.

Entschlossen legte sie den Brief obenauf und klappte den Deckel der Kiste zu. Als sie wieder im Schrank verstaut war, verließ sie das Zimmer. Es war besser, wenn sie in Oma Gretas Schlafzimmer anfangen würde. Da könnte sie weinen und wusste wenigstens, warum sie das tat. Außerdem war es sicher gut, endlich loszulassen.

Herbert hatte bereits unzählige Umzugskartons organisiert, damit sie die Sachen verstauen konnte. Schluchzend begann sie, alles in zwei Kategorien aufzuteilen. Allerdings merkte sie nach einer Weile, dass der Haufen, den sie behalten wollte, größer war, als der, der wegkonnte.

Seufzend nahm sie sich alles noch einmal vor. Was sollte sie mit Omas Lieblingskleidung? Sie konnte sie ja doch nicht anziehen. Auch wenn sie sich nicht vorstellen konnte, dass sie jemals jemand anderen darin sehen wollte, war es tröstlich zu wissen, dass sie die Sachen spenden konnte. Nur eine selbstgestrickte Jacke behielt sie. Und das Kopftuch, das ihre Oma immer bei Sturm getragen hatte. Es war einfarbig rot. Bestimmt konnte sie es als Halstuch tragen.

Als die Kisten allmählich den Hausflur verstopften, legte sie eine Pause ein. Sie schaute auf die Uhr, schon fast sechs Uhr. Wo waren Tuuli und Peter eigentlich? Es musste doch schon längst Ebbe sein. Allerdings machte ihnen das sicher nichts aus, da sie sowieso nie ins Wasser gingen.

Für heute hatte sie genug getan. Nach einer ausgiebigen Dusche schlüpfte sie in ihre Wohlfühlklamotten und zog Oma Gretas cremefarbene Strickjacke mit den knallblauen Knöpfen darüber. Dann holte sie sich eine Flasche Wein aus dem Keller und machte sich auf den Weg ins Nachbarhaus. Sie hatte Herbert im Garten wursteln sehen. Vielleicht konnte auch er eine Pause gebrauchen.

„Sibille! Schön, dass du kommst“, sagte Herbert erfreut, als Sibille direkt um das Haus herum in den Garten gegangen war. „Ich habe gerade überlegt, was ich euch heute zum Abendessen servieren kann.“

„Herbert, du verwöhnst uns noch. Am Ende wollen wir nie wieder weg“, lachte Sibille, hielt aber bei Herberts Blick abrupt inne.

Sie sah, dass er etwas sagen wollte, aber anscheinend nicht wusste, wie er es rausbringen konnte. Also nickte er nur lächelnd. Allerdings sprachen seine Augen Bände. Sie musste auf ihre Wortwahl achten, durfte ihm keine Hoffnung machen, dass sie Oma Gretas Haus übernehmen würde.

„Hast du Lust auf ein Glas Wein?“, fragte sie leise.

Herbert räusperte sich. „Ich hole die Gläser“, antwortete er genauso leise.

Nach dem ersten Schluck des fruchtigen Weißweins saßen sie eine Weile schweigend beieinander. Sibille wusste nicht recht, wie sie beginnen sollte. Würde sich Herbert für ihr Leben in Mainz interessieren? Etwas anderes hatte sie nicht zu berichten. Genauso wenig konnte sie Fragen zum Leben auf Langeoog stellen. Hier hatte sich so viel getan, dass sie selbst nicht mehr wusste, wer jetzt wo wohnte oder arbeitete. Und welche Familien überhaupt noch auf Langeoog lebten. Oma Greta hatte immer wieder versucht, ihr davon zu erzählen. Aber sie hatte es nicht hören wollen.

„Ist ein gutes Tröpfchen“, unterbrach Herbert schließlich die Stille. „Hat Greta sicherlich in der Weinperle gekauft. Wir waren ja beide keine Biertrinker. Deshalb haben wir uns ab und an dort im Ort ein Gläschen genehmigt. Und auch schon mal die eine oder andere Flasche mitgenommen.“

Weinperle, das sagte Sibille gar nichts. „Gibt es auf Langeoog ein Weingeschäft?“

„Ein Winzer hat sich hier niedergelassen und bietet deutsche, aber auch internationale Weine an. Du musst eigentlich nur sagen, worauf du Lust hast, dann wählt er den passenden Wein aus. Greta und ich haben immer weiter probiert, weil wir uns nie merken konnten, welchen Wein wir zuletzt getrunken hatten.“ Herbert stockte. Eine Träne stahl sich aus seinem Augenwinkel. Aber er schaute lächelnd in die Ferne.

Sibille legte eine Hand auf Herberts Arm.

„Weißt du, dass das ihr größter Wunsch gewesen war, dass du wieder auf die Insel zurückkehrst? Ich will dich damit nicht belasten, aber gerade hatte ich das Gefühl, dass ich es dir einmal sagen muss.“ Herbert schaute ihr jetzt direkt in die Augen.

Der Blick fuhr Sibille tief in den Magen. Sie atmete schwer. „Ich weiß das, Herbert. Ich wusste es immer. Aber ...“ Sie zuckte mit den Schultern und schaute ihn traurig an.

„Das ist jetzt schon so lange her. Du bist doch glücklich, oder? Kannst du die Vergangenheit nicht ruhen lassen und nach vorn blicken?“, fragte Herbert.

„Ich bin glücklich, ja! Aber vielleicht auch nur deshalb, weil ich nicht mehr hier bin“, antwortete Sibille leise.

„Woher weißt du das? Du hast es nie mehr probiert. Vielleicht wärst du sogar noch glücklicher. Hier ist dein Zuhause. Du bist ein Inselkind. Du gehörst hierher.“

Von Ferne hörte sie Tuuli plappern und kurz darauf Peters sonore Lache. Schnell schluckte Sibille die Tränen herunter. Tatsächlich schien ihre Tochter hier ein wenig aufzublühen. Normalerweise gab es kaum noch längere Gespräche mit ihr. Viel lieber traf sie sich mit Freunden oder verschanzte sich in ihrem Zimmer. Es war natürlich auch nicht so, dass sie hier schon viel miteinander geredet hätten. Dafür hatte sie bisher kaum Zeit gehabt, aber Tuuli lachte viel, unterhielt sich mit Peter und benahm sich gegenüber Herbert aufmerksam. Konnte es tatsächlich sein, dass sie hier unbefangener und freier wären?

„Mama, nichts sagen! Ich nehme einfach Panthenolspray, dann wird das hoffentlich wieder werden. Blöd nur, dass ich heute keine Bilder mehr an meine Freundinnen schicken kann“, rief Tuuli mit einem hochroten Gesicht, als sie um die Hausecke bogen.

Sibille erschrak. Und natürlich lag ihr auf der Zunge, dass sie doch extra die Sonnencreme hingelegt hatte. Hätte sie ihre fünfzehnjährige Tochter auch noch selbst eincremen sollen? Sie zog die Luft scharf ein. Vielleicht wirkte Tuuli hier gelöster, aber das pubertäre Verhalten ihr gegenüber war geblieben.

Missmutig zuckte sie mit den Schultern, dann sah sie zu Peter, der zwar auch Farbe bekommen, sein Gesicht aber durch die Kappe geschützt hatte.

Entschuldigend hob er beide Hände. „Als ob ich deiner Tochter etwas befehlen könnte“, sagte er. „Ich gehe duschen. „Was machen wir heute zum Abendessen?“, fragte er in Herberts Richtung.

„Ich denke, heute gibt es Adeliges“, lachte Herbert. Er stand auf und zog Sibille aus ihrem Stuhl. „Wir schauen mal, was von gestern noch übrig ist und was wir dazu servieren können.“

Sibille musste gestehen, dass ihr Herberts unkomplizierte und fröhliche Art gut tat. Mit Peter war es oft schwierig, weil er immer eine Extrawurst braten musste. Wollte sie etwas kochen, hatte er Lust auf Brot. Oder umgekehrt. Aber auch in anderen Lebenslagen war das so. Hatte sie sich auf einen ruhigen Abend in ihrem Hof gefreut, lud Peter Freunde zum Kartenspielen ein. Wollte sie abends mal weg, hatte er garantiert auch etwas vor. Mittlerweile war Tuuli alt genug, allein zu bleiben, aber früher konnte sie es manchmal nicht fassen, wie sehr sich ihre Leben überkreuzten. Natürlich war Peter ihr Stiefvater und eigentlich hätte sie nicht mit ihm unter einem Dach leben müssen, aber es war nun mal ihrer beider Zuhause. Wer sollte also ausziehen? Hätte sie ihn nach dem Tod ihrer Mutter vor die Tür setzen sollen?

Noch schlimmer empfand sie allerdings seine schrägen Ideen. Einmal hatte er ein altes Fahrrad angeschleppt und so lange daran herum gesägt, geschraubt und gehämmert, dass man es kaum noch als solches erkennen konnte. Erst da hatte sie verstanden, dass das ein Kunstwerk war und von nun an in ihrem Hof stehen musste. Mit ein paar Blumentöpfen verziert sah es irgendwie erträglich aus, aber eigentlich liebte sie die schlichte Eleganz. Oder war ihr einfach nur ihre Kreativität abhanden gekommen? Wenn sie daran dachte, was sie früher alles in Oma Gretas Garten angestellt hatte! Zwar hatte sie keine rostigen Eisengebilde angeschleppt, aber aus Treibholz, Muscheln und Algen ließen sich die herrlichsten Kunstwerke basteln. Einiges davon stand sogar noch, vieles war sicher mittlerweile verrottet.

Und wann hatte sie sich das letzte Kleid genäht? Ihre eigenen Kreationen waren legendär. Sogar ihre Freundinnen konnte sie mit speziellen Röcken oder Hosen beglücken. Anfangs hatte sie auch noch für Tuuli kleine Kleider oder Jacken gefertigt, aber dann kam der Tod ihrer Mutter und sie musste wieder Vollzeit in einer Änderungsschneiderei arbeiten gehen. Der Verdienst hielt sich in Grenzen und die Lust, am Wochenende selbst kreativ zu sein, ebenso.

„Ich denke, die Zwiebel ist jetzt klein genug gehackt. Wir haben ja alle noch gute Zähne und müssen keinen Brei schlabbern“, lachte Herbert und nahm ihr das Messer aus der Hand. „Wenn du dich konzentrierst, kannst du noch die Tomaten schneiden und den Salat würzen. Ich decke schon mal draußen den Tisch.“

Wo war sie nur mit ihren Gedanken gewesen? Diese ganze Grübelei machte sie noch wahnsinnig. Eigentlich war doch alles klar! Haus ausräumen, verkaufen und wieder ab nach Mainz.

Verwirrungen

Die nächsten beiden Tage vergingen wie im Flug. Die Umzugskisten stapelten sich mittlerweile nicht nur im Hausflur, sondern auch in der Garage und im Schuppen.

Sibille hatte es ohne große Hilfe geschafft, Schlafzimmer, Wohnzimmer und Abstellkammer auszuräumen. Bis auf die Möbel waren diese Räume leer. Heute musste sie wohl doch in ihrem Kinderzimmer schlafen. Das Wohnzimmer wirkte kahl und traurig. Sie ertrug es kaum noch, dort hineinzuschauen. An die Küche hatte sie sich noch nicht gewagt, schließlich ging sie hier ein und aus.

Vielleicht lag es auch daran, dass ihr dieser Raum schon immer am besten im ganzen Haus gefallen hatte. Die weißen Holzmöbel waren zwar alt, aber mit ein bisschen Farbe ließen sie sich sicher wieder aufpeppen. Die Arbeitsplatte könnte man durch eine neue holzfarbene ersetzen. Auch den Fußboden würde Sibille, wenn sie hier wohnen würde, behandeln. Die alten Dielen würden mit einer Lasur sicher fantastisch aussehen. Zu guter Letzt die Esstischgarnitur, die ihr Opa damals mit einem befreundeten Tischler selbst gebaut hatte. Niemals würde sie sich von der trennen können.

Erschrocken legte Sibille eine Hand auf den Magen. Ihr war hundeelend zumute. Was dachte sie denn hier? Warum gestaltete ihr Unterbewusstsein das ganze Haus nach ihren Vorstellungen um? Und überhaupt, die Eckbank würde nie in ihre kleine Küche in Mainz passen. Optisch sowieso nicht.

Genervt schnappte sie sich eine Tasche und ihre Geldbörse, holte das alte Damenfahrrad aus dem Schuppen und klingelte bei Herbert.

„Heute koche ich! Um sieben bei mir!“, rief sie ihm kurz angebunden zu.

Herbert nickte nur lächelnd.

„Herbert mit seinem Verständnis und den Weisheiten bringt mich ganz durcheinander“, murmelte sie, während sie auf der holprigen Pflasterstraße in den Ort radelte.

Ihr Unmut verflog allerdings ziemlich schnell. Wie schon bei der Ankunft fühlte sich alles vertraut und doch irgendwie neu an. Manche Häuser waren saniert worden und strahlten jetzt im schönsten Nordseeglanz. Auch ein paar Geschäfte und Restaurants waren dazu gekommen oder hatten den Besitzer gewechselt.

Als sie den Ortskern erreicht hatte, schob sie ihr Rad weiter. Auf der rechten Seite entdeckte sie die Weinstube, von der Herbert erzählt hatte. Die Cafés und Lokale waren gut gefüllt. Die einen genossen noch den Nachmittagskaffee, die anderen nahmen schon für ein frühes Abendessen Platz.

Sibille schaute auf die Uhr. Kurz nach fünf. Jetzt musste sie sich sputen, um das Essen rechtzeitig auf den Tisch zu bekommen.

Im kleinen Supermarkt auf der Hauptstraße bekam sie die nötigen Grundnahrungsmittel. Der Duft, der von der Kaffeerösterei nebenan ausging, lotste sie automatisch dorthin. Ja, sie würde jetzt ein paar gute Bohnen kaufen, denn obwohl Oma Greta leidenschaftliche Teetrinkerin war, hatte sie sich für eventuellen Besuch einen ordentlichen Kaffeeautomaten zugelegt. Nur leider hatte Sibille bisher keine Kaffeebohnen gefunden. Genussvoll sog sie das kräftig bittere Aroma ein. Nach dem Abendessen würde sie einen guten Espresso servieren. Und sie wusste, dass mindestens zwei ihrer Gäste diesen genau wie sie genießen würden. Peter und Herbert wussten einen guten Kaffee zu schätzen.

Als sie die Rösterei verlassen hatte, schlenderte sie langsam die Hauptstraße entlang. Am liebsten hätte sie sich gleich einen Latte Macchiato gegönnt, aber die Zeit drängte. Trotzdem konnte sie sich nicht beeilen. Es war, als hätte ihr jemand den Stecker gezogen und sie in einen lahmen Batteriebetrieb versetzt. Lächelnd schlenderte sie in Richtung Bahnhof, bestaunte die hübschen Häuser und die liebevoll dekorierten Gärten. Fast ertappte sie sich dabei zu denken, dass es schön wäre, hier zu wohnen. Aber auch diesen Gedanken konnte sie im Moment entspannt beiseite schieben. Sie wollte jetzt nicht denken, sie wollte genießen. Die Sonne, die Schönheit des Ortes, selbst die radelnden Urlauber verzückten sie.

Sibille war ganz in ihre Träumerei vertieft, so dass sie die Frau, die ihr schon von weitem gewunken hatte, nicht wahrnahm. Erst als sie ihren Namen rufen hörte, schreckte sie auf.

„Sibille? Gibt’s das? Ich dachte, du bist schon längst wieder über alle Berge. Tut mir übrigens leid, das mit deiner Oma“, plapperte die Frau direkt los, blieb aber ohne ihr die Hand zu reichen stehen.

„Merle, schön, dich zu sehen“, antwortete Sibille schwach. Sie hatte Mühe, sich auf Merles sprudelnde Worte zu konzentrieren. Es wunderte sie, dass Merle sie freundlich begrüßte. Schließlich hatte sie die Insel damals verlassen, ohne sich noch einmal von ihrer besten Schulfreundin zu verabschieden. Merle hatte ihr sogar einen Brief geschrieben, aber Sibille war damals nicht in der Lage gewesen, mit irgendjemandem von der Insel Kontakt zu haben. Außerdem hatte sie Angst, sich zu verplappern.

Beide Frauen schauten sich prüfend an.

Als die Stille unerträglich wurde, seufzte Merle enttäuscht. „Na dann, mach’s mal gut“, sagte sie und ging an Sibille vorbei.

Sibille fühlte sich mies. Warum hatte sie denn nichts gesagt? Merle konnte doch nichts für ihren ganzen Schlamassel von damals.

„Merle, warte!“, rief sie ihr hinterher. Schnell wendete sie das Rad und holte ihre Freundin ein. „Ich bin nur ein paar Tage auf der Insel. Und es gibt so viel zu tun. Wenn ich es zeitlich hinbekomme, können wir uns mal treffen und reden. Wenn du magst.“

Merle schaute sie skeptisch an. „Reden? Worüber? Vielleicht hast du ja recht und unsere beiden Leben sind einfach zu verschieden. Es ist schon in Ordnung.“ Merle nickte, aber ein wehmütiger Zug lag auf ihrem Gesicht.

Sibille schluckte. „Entschuldige! Ich wollte eben nicht unhöflich sein. Und ja, ich hätte mich damals bei dir melden müssen. Aber ich konnte nicht.“

Wieder nickte Merle zustimmend. Diesmal lag Enttäuschung auf ihrem Gesicht. „Tja, dann wirst du ja sehen, ob du es noch einrichten kannst. Wenn nicht, wünsche ich dir ein schönes Leben!“ Sie legte ihre Hand kurz an Sibilles Oberarm, dann drehte sie sich um und ging davon.

Etwas regte sich in Sibille. Sie spürte, dass sie Merle vermisst hatte. Nicht so, dass sie nicht ohne sie hätte leben können. Aber die Vertrautheit, die sie einmal verband, war sofort wieder da.

„Warte! Wo kann ich dich denn finden? Du wirst ja sicher nicht mehr bei deinen Eltern wohnen, oder?“, rief Sibille ihr nach.

„Ich habe einen Schmuckladen auf der Barkhausenstraße“, rief Merle zurück.

Sibille hob unbeholfen die Hand zu Gruß, aber Merle winkte nicht zurück. Sie ging einfach weiter. Ein Schmuckladen also. Hatte Merle nicht Architektin werden wollen und auch das Studium damals begonnen? Was hat sie wohl von ihrem Ziel abgebracht? Wobei Sibille fand, dass das Fertigen von filigranen Schmuckstücken besser zu Merle passte als das Planen von Häusern. Aber was wusste sie schon von ihrer Freundin? Durfte sie sie überhaupt noch als solche bezeichnen? Sie nahm sich vor, den Laden auf jeden Fall einmal von außen zu betrachten. Alles Weitere würde sich zeigen.

Da die Zeit nun doch drängte, stieg Sibille auf ihr Rad und fuhr Richtung Flugplatz, um sich beim dortigen Fischladen mit frischem Fisch einzudecken. Danach radelte sie so schnell nach Hause, wie es ihre Beine hergaben. Es tat gut, sich mal wieder zu bewegen. Außer dem täglichen Schwimmen im Meer hatte sie nur über Kisten gehangen. Sie nahm sich vor, morgen mit Tuuli und Peter eine Radtour zum Ostende zu machen, auch um selbst auf andere Gedanken zu kommen.

Als sie endlich alle Einkäufe ausgeräumt hatte, machte sie sich sofort an die Arbeit. Automatisch band sie sich Oma Gretas Schürze aus weißer Baumwolle mit riesigen Taschen um, die immer neben dem Kühlschrank an einem Haken hing. Gut, dass sie hier noch nichts weggeräumt hatte.

Ein zarter Vanilleduft stieg ihr in die Nase. Wie hatte es Oma Greta nur geschafft, dass alle Kleidungsstücke so dufteten? Das Waschmittel hatte immer anders gerochen. Und Parfüm trug sie selten. Vielleicht eine Creme oder Lotion? Nachdenklich griff Sibille in die Taschen und musste traurig lächeln. Klar, dass sie hier Walnüsse neben einer Rolle Zwirn, einem Päckchen Backpulver und einer Nagelschere fand. Oma Greta sammelte immer alles ein, was ihr fehl am Platz vorkam. Und wenn sie meinte, dass die drei Nüsse, die auf dem Wohnzimmertisch lagen, in die Küche gehörten, dann steckte sie sie eben ein. Nur vergaß sie genauso oft, die Taschen an den entsprechenden Stellen wieder zu leeren. Oder sie war gerade beim Kochen und es klingelte an der Haustür. So konnte es sein, dass so ein Backpulvertütchen in der Tasche landete. War sie dann wieder in der Küche, holte sie einfach ein neues, das alte hatte sie bis dahin vergessen. Aber genau dafür hatte Sibille ihre Oma geliebt.

Sie ließ die Dinge wieder in den Taschen verschwinden. Dann legte sie das große Holzbrett und ein scharfes Messer bereit, schälte die Möhren und schnitt sie in feine Stifte, anschließend den Porree in schmale Ringe. Nachdem sie die Seelachsstücke in Würfel geschnitten hatte, wendete sie sie in einer Mehl-Salz-Mischung und stellte eine große Pfanne auf den Herd. Nun musste sie nur noch den Fisch kurz anbraten, herausnehmen, das Gemüse in der gleichen Pfanne dünsten, mit Curry bestäuben und Kokosmilch und Brühe einrühren. Nebenbei setzte sie Wasser für den Reis auf und röstete die gehackten Cashewkerne. Hoffentlich würde es Herbert schmecken. Ihre Kochkünste reichten sicher nicht an Oma Gretas heran, aber dieses Gericht konnte sie aus dem Effeff und nebenbei sogar Tuuli dazu bringen, Fisch zu essen. Außer Fischstäbchen war sie sonst für nichts in dieser Richtung zu begeistern.

Das Türklingeln riss sie aus ihren Gedanken. Sie schaute auf die Uhr. Schon so spät! Sie hatte doch noch den Tisch vorbereiten wollen.

Schnell wischte sie die Hände an einem Tuch ab und öffnete die Haustür für ihre Gäste. Es war schon irgendwie komisch, dass sie Tuuli und Peter zum Essen hereinbat, aber sie wollten nun mal weiterhin Gäste bei Herbert bleiben. Dieser hatte es sich nicht nehmen lassen, eine kühle Flasche Weißwein mitzubringen. Perfekt, denn die beiden Flaschen, die sie aus dem Keller geholt und in den Kühlschrank gestellt hatte, waren sicher noch nicht kalt genug.

„Lass mich raten“, sagte Tuuli grinsend, als sie durch den Flur zur Küche gingen. „Es gibt Kokos-Fisch-Curry. Dachte ich mir schon. Herbert, kannst du Mama nicht mal noch ein zweites Fischgericht beibringen, damit wir nicht immer dasselbe essen müssen?“

„Tuuli!“, mahnte Sibille und schob sie schnell in die Küche. „Als ob du gerne Fisch isst. Das wäre mir neu.“

„Kann ich nicht sagen. Dein Fisch-Curry esse ich gerne. Was anderes habe ich schon lange nicht mehr probiert. Außer Herberts leckeres Krabben-Rührei.“

„Kann ich dir noch zur Hand gehen?“, fragte Herbert. Dabei lächelte er Tuuli verschwörerisch an und legte Sibille versöhnlich die Hand auf die Schulter.

„Wenn du möchtest, kannst du den Tisch decken“, antwortete Sibille. Sie spürte, dass ihr Tuulis Äußerungen weh taten. Aber wahrscheinlich hatte sie recht. Sie hätte bei Oma Greta noch einiges lernen können. Wenn sie denn hiergeblieben wäre. Aber das war sie nicht. Also musste sie sich selbst das Kochen beibringen. Ihre Mutter war viel zu oft unterwegs, um solche banalen Dinge wie Kochen mit ihr zu tun. „Und Tuuli kann dir sicher dabei helfen.“

Peter hatte es sich in der Zwischenzeit schon auf der Eckbank gemütlich gemacht. Sibille hatte sich immer gefragt, wie er und ihre Mutter zusammengepasst hatten. Peter kam ihr manchmal wie ein großes Kind vor. Ließ sich von allen Seiten bemuttern, trug aber selbst kaum etwas zum Lebensunterhalt bei. Ohne Frage, er war witzig, einfallsreich und charmant. Aber ihr wäre es oft lieber gewesen, er hätte sich einen anständigen Job gesucht, statt immer nur Aushilfsarbeiten anzunehmen und sich anschließend wieder eine größere Pause zu gönnen.

Als der Tisch gedeckt war, gab Sibille den vorbereiteten Fisch in die Gemüsepfanne und obenauf die gerösteten Cashewkerne. Den Reis stellte sie in einer Schüssel auf den Tisch, dann die große Pfanne dazu. So hatte sie es am liebsten. Statt die Teller vorzubereiten, konnte sich jeder nehmen, wie viel er wollte.

In der Zwischenzeit hatte Herbert die Weingläser gefüllt. Selbst Tuuli bekam einen kleinen Schluck.

„Auf einen schönen Abend“, hob Herbert sein Glas. „Und darauf, dass ihr euch hier so wohl fühlt.“

Beim ersten Teil hatte Sibille noch dankbar gelächelt, aber mit dem zweiten wusste sie nicht recht umzugehen. Natürlich fühlte sie sich hier wohl, schließlich war das einmal ihre Heimat gewesen. Aber die anderen beiden hatten die Insel vorher noch nie betreten. War es wirklich so, dass es ihnen hier so gut ging? Wenn sie darüber nachdachte, hatte sie Tuuli tatsächlich schon lange nicht mehr nörgeln hören. Und selbst Peter war Herbert im Garten zur Hand gegangen. Im Grunde waren sie fröhlicher als sonst und standen sich nahe wie noch nie. Nachdenklich ließ sie ihr Glas gegen die der anderen klirren. Der Wein passte hervorragend zum Fischcurry.

„Es schmeckt wirklich ausgezeichnet“, lobte Herbert Sibille.

„Na ja, es ist kein wirklich schwieriges Rezept, aber wir mögen es“, fühlte sich Sibille zur Antwort genötigt, da Herbert ganz andere Menüs auf den Tisch bringen konnte.

„Ich mag es, wie du kochst“, legte auch Peter nach.

„Klar“, murmelte Tuuli. „Deshalb bist du ja auch öfter unterwegs, wenn Mama ein neues Rezept ankündigt.“

„Ich habe halt auch ab und an zu tun“, verteidigte sich Peter.

Okay, so viel dazu, dass sie sich besser verstanden als in Mainz, dachte Sibille.

„Wie ist es, wollen wir uns morgen dem Garten widmen?“, unterbrach Herbert die unangenehme Stimmung am Tisch. „Wenn wir alle mit anpacken, sieht er in ein paar Stunden aus wie frisch angelegt.“

Sibille nickte begeistert, dann fiel ihr die Idee mit der Radtour ein. „Wenn wir es schaffen, können wir danach noch zur Meierei fahren und die hausgemachte Dickmilch probieren.“

„Iiih, willst du mich vergiften?“, trötete Tuuli sofort los.

„Es gibt auch ganz normalen Kuchen und Kaffee dazu. Oder Sanddornsaft. Aber bevor du die Dickmilch nicht probiert hast, kannst du dir kein Urteil erlauben“, kam Herbert Sibille zur Hilfe.

Tuuli zuckte mit den Schultern. „Vielleicht bleibe ich einfach hier. Und ihr könnt Dickmilch trinken, bis ihr umfallt.“ Damit stand sie auf, stellte immerhin ihren Teller in die Spüle und verschwand im Garten.

Herbert schüttelte leicht den Kopf, als Sibille zur Entschuldigung ansetzte. Sie seufzte. Verständnisvoll war er schon immer gewesen.

„Nehmt’s mir nicht übel, aber ich muss jetzt noch einmal ein paar Schritte gehen“, sagte Peter beim Aufstehen. Als er schon an der Tür war, drehte er sich noch einmal um und schaute Sibille unsicher an. „War wirklich lecker. Vielen Dank für deine Mühe“, murmelte er, dann drehte er sich weg und verließ eilig das Haus.

„Ach Herbert, irgendwie passt doch alles nicht zusammen“, sagte Sibille einem Impuls folgend.

„Lass uns noch ein bisschen in den Garten gehen“, antwortete er, nahm ihre beiden Gläser, goss sie noch einmal mit dem Wein aus dem Kühlschrank voll und trat ins Freie.

Sibille überlegte kurz, ob sie erst abräumen sollte, konnte sich dann aber durchringen, alles stehen zu lassen. Vom Fisch-Curry war sowieso nur noch ein kleiner Rest übrig. Wie sie sich kannte, naschte sie den später lieber weg, bevor sie dafür noch ein Gefäß suchte.

Die Sonne stand noch recht hoch am Himmel, als sie sich nebeneinander auf die Holzbank direkt am Haus setzten. Tuuli lag mit angewinkelten Beinen auf der Bank unter dem Nussbaum und wischte auf ihrem Handy herum.

„Mama, wann sind wir Samstag wieder zuhause? Ich muss Jo endlich Bescheid geben, ab wann ich ihr helfen kann, ihre Party vorzubereiten“, rief Tuuli ziemlich laut herüber, was darauf hindeutete, dass sie ihre Kopfhörer in einem Ohr hatte. Das machte sie häufig, um Musik zu hören und trotzdem nebenbei noch etwas vom Umfeld mitzubekommen.

Sibille zuckte mit den Schultern. Sie hatte gerade keine Lust darüber nachzudenken, wann ihr Zug ging. Da Tuuli auch nicht noch einmal nachfragte, schien sie mit ihren Gedanken schon wieder woanders zu sein.

„Wie geht es dir hier?“, fragte Herbert scheinbar harmlos. Er schaute Sibille dabei nicht an, sondern ließ seinen Blick über den Garten gleiten.

Mit der Frage hatte Sibille gerechnet. Sie beobachtete die Tropfen, die von ihrem Glas abperlten. Der Wein sah verlockend aus. Sie nahm einen kleinen Schluck und ließ die kühle Flüssigkeit ein paar Mal in ihrem Mund hin- und herwandern. Dabei sog sie etwas Luft ein. Sie schmeckte die zarte Säure und etwas Aprikose. Oder war es Pfirsich? Auf jeden Fall sehr lecker!

„Ich vermisse sie schrecklich“, flüsterte Sibille schließlich.

Herbert nickte zustimmend. „Ich auch“, antwortete er genauso leise. „Noch seltsamer wird es werden, wenn hier wildfremde Menschen wohnen.“

Ein Stich durchzuckte Sibilles Körper. Diesen Gedanken hatte sie die ganz Zeit über erfolgreich verdrängt. Und nun legte er sich wie eine dunkle Decke über ihr Herz. Was war das nur? Sie war schon so lange nicht mehr hier gewesen und hatte das alles auch nicht vermisst. Oder doch?

„Ich werde mich natürlich um Gretas Grab kümmern“, setzte Herbert wieder an. „Aber ewig werde ich auch nicht mehr hier sein.“

„Herbert, hör auf, bitte“ hauchte Sibille. Sie konnte es nicht ertragen, daran zu denken. Sie wollte an gar nichts mehr denken. Sie wünschte, es hätte ihr nichts ausgemacht, das alles hier wiederzusehen. Aber so war es nun mal nicht. Eine tiefe Unruhe hatte sie erfasst. Irgendetwas rollte da auf sie zu, das sie nicht aufhalten konnte. Oder nicht aufhalten wollte? Die ersten Tränen liefen über ihre Wangen. Leise schluchzte sie auf. Hoffentlich schaute Tuuli nicht gerade jetzt zu ihr. Sie wollte nicht, dass das Kind etwas von ihrer Zerrissenheit mitbekam. Aber die hatte mittlerweile beide Stöpsel in den Ohren und lag mit geschlossenen Augen auf der Bank.

Herbert nahm vorsichtig Sibilles Hand in seine. Er hielt sie einfach fest, ohne ein Wort zu sagen. Seine Wärme schoss wie eine Welle durch ihren Körper. Und nun war es ihr egal, was Tuuli dachte. Sie warf sich in Herberts Arme und weinte bitterlich. War es wegen des Verlustes? Oder ihrer ambivalenten Gefühle? Oder hatte es sogar mit ihrer Entscheidung vor 16 Jahren zu tun? Sibille wollte es nicht wissen. Endlich konnte sie einmal alles rauslassen.

Inselerkundung

Als Sibille am nächsten Tag die Augen öffnete, lag sie eine Weile still da und ließ die Eindrücke auf sich wirken. Nachdem sie am gestrigen Abend mit Herbert noch die zweite Flasche Wein geleert hatte, war sie leicht schwankend in ihr Kinderzimmer verschwunden. Sie hatte kaum noch daran gedacht, was das in ihr auslösen könnte. Sie war müde, wollte schlafen und ihr Zimmer war das einzige, das noch unberührt war. Keine Kisten, keine leeren Wände, alles lag im Dornröschenschlaf. Und so hatte sie auch geschlafen. Tief und fest.

Aber nun kamen die Erinnerungen an damals zurück. Sie wollte sie spüren und verarbeiten. Das hatte ihr Herbert empfohlen. Also wartete sie. Irgendetwas schien sich jedoch verändert zu haben. Hatte sie noch gestern Panik gehabt, auch nur in die Nähe ihres Zimmers zu kommen, fühlte es sich heute fast tröstlich an, noch einmal hier geschlafen zu haben. Sollte sie sich doch allmählich von ihrem Zuhause verabschieden können? Vielleich hatte auch der Heulkrampf in Herberts Armen dazu beigetragen.

Okay, dann konnte sie auch aufstehen, dachte sie erleichtert, kam aber nur dazu, den Kopf ein wenig anzuheben. Ein stechender Schmerz durchzuckte ihre Schädeldecke. Diese Erinnerung passte auch in dieses Zimmer. So war sie nach manch einer Strandparty aufgewacht und hatte warten müssen, bis sie es ohne Schmerzen in die Senkrechte schaffen würde. Und sich vor allem möglichst unauffällig in Oma Gretas Nähe aufhalten konnte. Denn wenn Oma Greta eines nicht mochte, dann das große Jammern nach einer durchzechten Nacht. Zwar hatte Sibille damals auch schon gedacht, dass Oma Greta in solchen Situationen besonders leise in der Küche werkelte, wenn Sibille vor einem starken Kaffee saß, aber sie hatte es nicht gewagt, auch nur einen Laut von sich zu geben.

Sie holte tief Luft und schob ihre Beine aus dem Bett. Oma Greta würde ihr heute keinen Kaffee kochen, also musste sie das selbst in die Hand nehmen. Als sie es endlich in die Küche geschafft hatte, kramte sie erstmal eine Schmerztablette aus ihrer Handtasche und trank das sprudelnde Wasser in kleinen Schlucken. Noch ein paar Minuten, dann würde das Schlimmste überstanden sein.

Sie sah aus dem Fenster. Das Wetter lud heute überhaupt nicht zur Gartenarbeit ein. Zwar regnete es nicht, aber der Himmel sah so grau aus, als wollte er es sich jeden Moment überlegen, doch ein paar Tropfen loszulassen.

Sibille stellte den Kaffeeautomaten an und drückte auf den Knopf für besonders starken Kaffee. Dann trat sie mit ihrer Tasse trotz des Wetters auf die Terrasse. Es sah ungemütlich aus, war aber nicht kalt.

Aus dem Nachbargarten hörte sie klappernde Geräusche. Sie entdeckte Herbert und Peter in Herberts Schuppen. Sie schienen Gartengeräte zusammenzutragen. Immer wieder tauchte Peter auf und legte auf Anweisung von Herbert etwas vor den Schuppen. Sie schienen es also ernst zu meinen.

Schnell trank sie ihren Kaffee leer und stellte die Tasse neben das Geschirr vom Vortag. Hätte Oma Greta einen Geschirrspüler, wäre alles verstaut gewesen. So musste sie später ran, um wieder Ordnung zu schaffen. Der Erfinder des Geschirrspülers sollte einen Orden bekommen, dachte sie und hörte die beiden Männer, die schon in ihrem Garten standen.

„Guten Morgen“, rief Peter fröhlich, als Sibille hinaustrat.

Sofort meldete sich wieder ihr Kopf.

„Weißt du, was ich gestern erlebt habe?“, fragte er, ohne Sibilles zerknirschtes Gesicht zur Kenntnis zu nehmen. „Dienstags singen die hier in den Dünen. Das ist ja unglaublich! Das musst du mal mitmachen!“

Peter schien völlig aus dem Häuschen zu sein. Das war eines von den wenigen Hobbys, die er begonnen und dann nicht gleich wieder abgebrochen hatte. In Mainz sang er im Kirchenchor ihres Stadtteils. Sibille war schon fast ein bisschen stolz auf ihn, dass er dort immer wieder hinging. Sie war auch schon einmal auf einem Konzert gewesen, das sie zur Weihnachtszeit gegeben hatten.

„Ja, ich weiß“, antwortete sie lahm. Dann räusperte sie sich. „Oma Greta hat davon erzählt. Aber du weißt ja, singen ist nicht so mein Ding. Und überhaupt, nächste Woche Dienstag sind wir wieder in Mainz.“

„Deswegen wollte ich auch mit dir sprechen“, kam Peter jetzt auf sie zu. In der einen Hand hielt er eine Harke, in der anderen eine Gartenschere. „Wir können doch eigentlich noch ein paar Tage länger bleiben, oder? Du bist arbeitslos, Tuuli hat Ferien und ich bin ...“ Er schien zu überlegen, wie er sich ausdrücken sollte. Wahrscheinlich wollte er Sibille nicht verärgern. „Also, ich bin quasi arbeitssuchend. Für mich wird’s im Sommer sowieso nicht viel geben.“

Sibille überlegte, was er wohl damit meinte. Er hatte so viele kleine Jobs gemacht, dass er mittlerweile für alles eine Referenz hatte. Brauchten die Leute im Sommer keine Hausmeister, Postboten oder Kassierer im Getränkemarkt?

„Morgen kommt der Makler und dann gehört das Haus ihm“, antwortete sie, zog dabei aber die Luft scharf ein. Dann nickte sie, als ob sie sich selbst bestärken müsste.

Herbert hatte alles von Ferne angehört. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen.

„Du hast keine Arbeit mehr?“, fragte er so beiläufig wie möglich. Dabei entknotete er das Kabel der elektrischen Heckenschere.

Sibille hustete. Etwas zu laut, das hörte sie selbst. „Gerade nicht, aber ich finde immer etwas. Meine Chefin hat die Änderungsschneiderei aus Altersgründen geschlossen.“

„Und du hättest sie nicht übernehmen können?“, fragte Herbert nach.

„Doch, aber ich wollte nicht.“ Sibille nahm Peter die Gartenschere aus der Hand. „So, lasst uns mal anfangen. Wir wollen ja heute noch zur Meierei. Apropos, was ist eigentlich mit Tuuli? Wo steckt sie denn?“

„In ihrem Bett. Sie hat sich heute einen Ausschlaftag erbeten. Die Aussicht auf Gartenarbeit hat sicher dazu beigetragen“, grinste Peter. „Ach, was ich dir noch übers Dünensingen erzählen wollte ...“

In der nächsten Stunde erfuhr Sibille alles darüber. Welche Lieder sie gesungen hatten, wie schief manche Leute sangen, dass das sicher Urlauber gewesen waren und wie schön der Klang in den Dünen war. Der Wind trug die Melodie fort, hinaus übers Meer, als wäre es der Gesang von Sirenen. Sibille schmunzelte. Wenn Peter von etwas begeistert war, dann konnte er richtig poetisch werden. Sie freute sich für ihn, dass er so ein schönes Erlebnis auf ihrer Insel gehabt hatte. Nichtsdestotrotz mussten sie am Samstag zurück. Tuuli wollte zu ihrer Party und weil er es so offen angesprochen hatte, ja, sie musste sich einen neuen Job suchen. Noch bekam sie bis Ende Juli ihr Gehalt gezahlt, ohne dass sie noch einmal arbeiten kommen musste, aber ab August brauchten sie eine neue Geldquelle. Die Miete für den Dreiseitenhof konnten sie zwar bisher gut von Mutters Ersparnissen zahlen, aber sie mussten das Geld ja jetzt nicht zum Fenster rauswerfen.

Den ganzen Vormittag über arbeiteten sie Seite an Seite in Oma Gretas Garten. Sogar die Sonne ließ sich ab und an blicken. Sibille hatte sich die Stauden und Sträucher vorgenommen. Mitten im Sommer wollte sie sie nicht zu viel stutzen, aber ein kleiner Formschnitt tat ihnen gut. Herbert dachte ähnlich und hatte sich an die zwei Obstbäume seitlich des Hauses gemacht. Peter hingegen fuhr mit dem Rasenmäher alle Flächen ab, die er erreichen konnte. Wurde die Wiese zu hoch, nahm er erst die Sichel und dann den Mäher. Wie durch ein Wunder blieb er unverletzt. Sibille hatte manchmal nicht hinschauen können, wie weit er mit der Sichel ausholte, um dann kurz unterhalb seiner Hand das Gras zu schneiden.

Wenn sie sich den Garten jetzt so anschaute, wirkte er schon fast wieder gepflegt und einladend. Ein bisschen wild konnte nicht schaden, dachte sie. Dabei erinnerte sie sich daran, dass auch Oma Greta häufig solche Weisheiten von sich gegeben hatte.

Nur als sie in den Vorgarten schlenderte, regte sich das schlechte Gewissen. Von Oma Gretas Stauden waren kaum noch welche zu sehen und wenn, dann verkrautet, ohne zu blühen. Nur die beiden Hagebuttensträucher hatten sich durchgesetzt. Ansonsten überwucherten vertrocknete Gräser den flachen Hang, der zum Haus hinaufführte. Wieder einmal wurde ihr bewusst, dass es Oma Greta schon eine ganze Weile nicht mehr gut gegangen sein musste. Niemals hätte sie das Grundstück so verlottern lassen. Ob sie Herbert noch einmal darauf ansprechen sollte? Oder einfach darüber hinwegsehen? Denn morgen kam der Makler, in drei Tagen waren sie wieder weg. Warum hatte ihr auch niemand Bescheid gegeben, dass es Oma Greta nicht gut ging? Sie wäre doch ... Sibille stockte bei diesem Gedanken. Wäre sie wirklich hierhergekommen und hätte sich um ihre Oma gekümmert? Hätte sie über ihren Schatten springen können? Oder hätte sie Oma Greta überredet, zu ihr nach Mainz zu kommen?

Mitten in ihre Gedanken hinein rief Tuuli vom Nachbarhaus aus zum Mittagessen. Erstaunt trafen sie sich wenig später in Herberts Küche. Natürlich hatte Tuuli kein warmes Mittagessen gekocht, aber es standen belegte Brote, aufgeschnittene Paprika und Gurken, Cocktailtomaten und Apfelsaftschorle auf dem Tisch.

„Mensch Tuuli, jetzt hast du dich aber selbst übertroffen“, strahlte Peter und nahm sich sofort ein Schinkenbrot.

„Danke, meine Große! Das ist wirklich lieb von dir“, sagte Sibille lächelnd. Sie wusste genau, dass Tuuli diese Aktion als kleineres Übel ansah. Lieber schmierte sie ein paar Brote, als im Garten zu helfen. Das war noch nie ihr Ding. Aber Sibille konnte sie verstehen. Früher hatte sie auch nie Lust dazu gehabt.

Als auch Herbert sich lobend geäußert hatte, ließen es sich alle schmecken.

„Auf diesem Vehikel soll ich fahren?“, fragte Tuuli entsetzt, als sie sich nach dem Essen zwei Räder ausliehen. Sibille fuhr mit Oma Gretas alter Klapperkiste, aber Tuuli und Peter brauchten ein Gefährt.

Tatsächlich saß ihre Tochter wie eine Barbiepuppe auf dem Rad. Stocksteif mit geradem Rücken, die Arme reichten kaum an den Lenker.

„Mach dich mal ein bisschen locker“, grinste Peter. Als er aber kurz darauf sein Fahrrad ausprobieren sollte, sah es bei ihm nicht anders aus.

„Die Tourenräder mit den tiefen Einstiegen sind eigentlich für unsere ältere Kundschaft“, entschuldigte sich der junge Mann des Fahrradverleihs. „Aber es sind die einzigen, die wir für heute noch haben. Morgen früh gibt es bestimmt wieder sportlichere.“

„Das ist schon in Ordnung“, antwortete Sibille schnell. „Wir fahren nur zur Meierei, das wird schon gehen.“

Der Mann nickte unsicher und hob kurz die Hand zum Gruß.

Schon nach den ersten paar Metern hatten sich Tuuli und Peter an die eigentümlich gerade Haltung gewöhnt. Zuhause hatten sie Mountainbikes, mit denen sie durch die Weinberge fuhren. Das war natürlich kein Vergleich.

Als sie an Herberts Haus vorbei kamen, klingelte Tuuli heftig. Von Herbert war aber nichts zu sehen. Hoffentlich ruhte er sich ein bisschen aus, dachte Sibille. Sie hatte ihn in den letzten Tagen ganz schön in Beschlag genommen.

Sie folgten dem holprigen grobgepflasterten Weg Richtung Osten. Sibille hielt den Blick geradeaus gerichtet. Seit ihrer Ankunft hatte sie sich bewusst ferngehalten, obwohl sie ihren damaligen Treffpunkt schon von Herberts Haus aus sehen konnte. Aber sie wollte nicht. Wollte sich der Vergangenheit nicht stellen. Also blickte sie auch jetzt nicht nach links ins Pirolatal.

Schon von weitem sahen sie eine Gruppe von Menschen beieinander stehen, die gerade den Weg, der entlang der Salzwiesen verlief, betraten. Sicher waren das die Teilnehmer einer geführten Wattwanderung. Das hätten sie auch noch machen können. Sibille seufzte leise. Es gab doch einiges auf der Insel, das sie ihrer Familie hätte zeigen können. Aber Tuuli wollte nach Hause. Und sie auch.

Der Weg zog sich endlos zwischen Dünen und Salzwiesen entlang. Bloß gut, dass es heute nicht so windig war. Tuuli hätte sich sicher direkt darüber beschwert. Aber so radelte ihre Tochter vorneweg, den Blick mal in die Dünen, mal Richtung Watt gerichtet.

Vorbei am Schloppsee, der Melkhörndüne und dem Vogelwärterhaus erreichten sie endlich die Meierei. Trotz der vielen Gäste ergatterten sie drei Plätze an einem der gemütlichen Holztische. Tuuli entschied sich für ein Stück Kuchen und eine Orangenlimonade, während Peter sich einen Ostfriesentee gönnte. Sibille blieb dabei und nahm eine selbstgemachte Dickmilch mit Zucker und Schwarzbrot.

Gespannt kostete sie und wurde nicht enttäuscht. Sofort kamen Erinnerungen an ihre Kindheit auf, als sich die leicht säuerliche Creme in ihrem Mund ausbreitete.

„Ist richtig schön auf deiner Insel“, sagte Peter, als sie beim Sanddornlikör saßen. „Deine Mutter hat immer ein großes Geheimnis darum gemacht, warum du nie mehr hierher wolltest. Ihr war die große weite Welt sowieso lieber, aber du passt doch irgendwie nach Langeoog. Warum willst du so schnell wieder weg?“

Sibille verschluckte sich an ihrem Likör. Sie hustete ausgiebig, auch um etwas Zeit zu gewinnen. Dann schielte sie zu Tuuli, die sich aber intensiv mit ihrem Handy zu beschäftigen schien.

„Eigentlich will ich darüber nicht reden“, antwortete Sibille schließlich.

Peter sagte nichts. Er schien zu warten, ob sie uneigentlich doch etwas erzählen würde.

„Ach, es ist schon lange her“, begann sie erneut. Sie ließ ihren Blick über die anderen Gäste durch die lichten Bäume in Richtung Watt gleiten, als suche sie nach Worten. Immer wieder zuckte sie mit den Schultern. „Ich kann einfach nicht. Es ist zu viel passiert und ich bin froh, dass ich es hinter mir gelassen habe.“ Fahrig stand sie auf. „Ich gehe bezahlen und dann fahren wir zurück, ja?“

Auf dem Rückweg blieb Peter immer neben ihr. Sibille spürte, dass er gerne noch mehr erfahren hätte, aber sie war einfach nicht bereit dazu. Sie wollte sich dieser alten Geschichte nicht stellen, auch wenn sie tief in ihrem Innern spürte, dass sie es irgendwann tun musste. Aber nicht jetzt! Und sicher auch nicht mehr bis Samstag!

Zuhause angekommen, holte Sibille Badeanzug und Handtuch. Da die anderen sich lieber in Herberts Garten im Schatten ausruhen wollten, lief sie allein zum Strand und schwamm sich die ganzen miesen Gedanken vom Leib. Sie hatte ja gewusst, dass sie das alles hier einholen würde. Aber vielleicht kam sie doch ungeschoren davon, wenn sie jetzt einfach nicht mehr daran dachte. Ihr Leben hatte bisher gut funktioniert, daran wollte sie nichts ändern.

Fremde im Haus

Am Donnerstagmorgen begann sie sofort damit, die Küche aufzuräumen und alle Zimmer noch einmal zu putzen. Der Makler wollte mit der 13.30 Uhr-Fähre von Bensersiel kommen. Er würde also erst nach 14 Uhr da sein.

Um kurz vor zwei stand plötzlich Herbert im Garten. Sie hatte sich gerade auf die Bank am Haus gesetzt, um noch einmal ihre Gedanken zu sortieren.

„Na, mein Kind, wie geht’s dir?“, fragte Herbert und setzte sich neben sie.

Sibille war sich nicht sicher, wie es ihr ging. Sie wusste nur, dass sie jetzt keine Moralpredigt hören konnte. So gern, wie sie Herbert hatte, aber gute Ratschläge würde sie jetzt nicht vertragen.

Aber Herbert sagte nichts. Er blieb einfach still neben ihr sitzen, so als wollte er nicht, dass sie allein auf den Henker wartete.

Es läutete an der Tür.

„Na dann, lass dich nicht übers Ohr hauen“, murmelte Herbert und stand auf. Er sah müde aus. Sibille nickte und ging mit einem Seufzer ins Haus. Nun war es also soweit.

„Frau Lüders, schön haben Sie es hier“, legte der Makler sofort mit dem schönsten Strahlen los, kaum dass sie die Tür geöffnet hatte. Er drückte ihr herzlich die Hand. Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie denken, dass sie gute Freunde waren. „Schenk mein Name. Wir hatten telefoniert.“

„Ja, hallo“, antwortete sie ruhig und drückte ihm so kraftvoll wie möglich die Hand. Sie fühlte sich unbehaglich. Vielleicht hätte sie Herbert bitten sollen, bei ihr zu bleiben. „Kommen Sie rein.“

Doch bevor Herr Schenk ihr folgte, drehte er sich noch einmal um und winkte zwei Personen zu, die kurz darauf neben ihm standen.

„Darf ich Ihnen vorstellen? Frau und Herr Eilers, die ersten Interessenten für das Haus. Bei unserem Telefonat hatte ich das Gefühl, dass Sie das Haus schnell loswerden wollen. Und da Sie ja nun mal nicht hier um die Ecke wohnen, dachte ich, ich bringe Familie Eilers gleich mit. Zwei Fliegen mit einer Klappe sozusagen“, lachte Herr Schenk.

Frau Eilers streckte Sibille die Hand entgegen. „Das ist doch in Ordnung, oder? Auf Langeoog zu wohnen war schon immer ein großer Traum von uns“, sagte sie.

Sibille schluckte. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Nein, es war irgendwie nicht in Ordnung, dass sie sie hier so überfielen. Aber hatte Herr Schenk andererseits nicht recht damit, dass er die Interessenten gleich mitbrachte? Umso schneller würde der Kauf über die Bühne gehen. Etwas zog sich schmerzhaft durch ihren Magen.

„Kommen Sie rein“, sagte sie erneut und ging voraus in den Flur.

„Das ist ja wirklich ein Schmuckstück“, zwinkerte Herr Schenk Sibille zu. „Natürlich muss das eine oder andere daran gemacht werden, aber die Substanz scheint in Ordnung zu sein. Wenn Sie wünschen, schicken wir hier noch unseren Gutachter durch“, sagte er in Richtung Familie Eilers gewandt.

Nicht darüber nachdenken, das sind Worte eines Maklers. Wahrscheinlich waren das Standardsätze, dachte Sibille.

Sie hatten die Küche erreicht. Was ihr eben noch gemütlich erschienen war, fühlte sich plötzlich kalt an.

Familie Eilers schaute sich um. Sie sprachen leise miteinander, aber Sibille verstand jedes Wort. Als sie in das Wohnzimmer gingen, beratschlagten sie bereits, ob zwischen den beiden Räumen wohl eine tragende Wand stehen würde oder ob sie die herausnehmen könnten. Das würde doch gleich ein ganz anderes Bild ergeben. Viel offener und heller.

Sibille schluckte. Oma Gretas gemütliche Küche! Wo sollte denn dann ihre Eckbank stehen? Dort hatten sie immer so herrlich sitzen und plaudern können und dabei den Schmetterlingen im Garten zugesehen. Tja, eine Eckbank wollte Familie Eilers sicher nicht. Wenn Sibille richtig verstanden hatte, liebten sie die Mischung aus modernen und antiken Möbeln. Sie konnte sich vorstellen, dass das richtig gut aussehen würde. Aber doch nicht hier in ihrem Haus. Der Stich durch ihren Magen wurde stärker.

Sie hatten die obere Etage erreicht. Auch hier fand Familie Eilers alles entzückend, besonders das Kinderzimmer, das sie wohl eher für die Enkel brauchen würden. Zum Schlafzimmer und dem Abstellraum nickten sie nur. Hier konnte wohl nicht viel verändert werden.

Aber da hatte Herr Schenk gleich ein paar Ideen. Er sprach von Erkern und Gauben oder sogar einem Balkon in Richtung Meer. Als ob man von hier aus über die Dünen schauen konnte. Abgesehen davon, dass immer noch ein paar Häuser im Weg standen. Aber natürlich, das Meeresrauschen könnten sie sich bei Sonnenuntergang anhören.

Sibille seufzte. Dafür hatten sie immer im Garten gesessen. Auf der Bank am Haus oder unter dem Walnussbaum. Deshalb musste doch nicht extra ein Balkon angebaut werden. Aber Familie Eilers war ganz begeistert von dieser Idee. Die natürlich noch mit dem Bauamt abgeklopft werden musste.

Endlich hatten sie wieder das Erdgeschoss erreicht. Sibille servierte Kaffee und gemeinsam saßen sie um Oma Gretas Esstisch, den es bald nicht mehr geben würde.

Nun bekam Sibille kaum noch Luft.

„Also, Frau Lüders, ich habe das Gefühl, hier sitzen schon die neuen Besitzer des Hauses“, lachte Herr Schenk und blinzelte Familie Eilers verschwörerisch zu. Die blinzelten ebenso zurück.

Da schienen sich ja schon alle einig zu sein.

„Wir müssten also alsbald das Haus schätzen lassen und dann kann ich den Vertrag aufsetzen“, sprach Herr Schenk weiter. „Wenn alles klappt, können Sie noch in diesem Jahr hier einziehen.“ Damit wandte er sich wieder an Familie Eilers, die aussahen, als könnten sie ihr Glück kaum fassen.

„So, jetzt noch die Formalitäten“, flötete Herr Schenk und zog eine Mappe aus seiner Tasche. „Das ist nur der Maklervertrag. Den müssten Sie mir hier ... und bitte noch einmal hier unterschreiben.“ Er schob Sibille zwei Blätter über den Tisch.

Sibille konnte sich plötzlich nicht mehr rühren. Mit diesen zwei Unterschriften würde sie also besiegeln, dass das Haus verkauft wurde. Nicht nur das, auch alle Erinnerungen würden dann zwar in ihrem Gedächtnis gespeichert bleiben, aber sie könnte sie nie wieder auffrischen. Aber das war doch genau das, was sie gewollt hatte! Doch noch etwas anderes schob sich vehement in den Vordergrund und hämmerte in ihrem Hirn herum. Sie würde auch jegliche Verbindung zu Langeoog kappen. Es würde also nie wieder einen Grund geben, hierher zurückzukommen. Nie wieder auf IHRE Insel! Wenn überhaupt, dann nur auf Langeoog! Und nur als Urlauber in irgendeine Ferienwohnung. Kein Wohlfühlen in Oma Gretas Haus mehr ...

Sibille sprang auf. Sie riss die Terrassentür auf, rannte in den Garten und kletterte hastig über Herberts Zaun. Sie wusste, dass sie sich furchtbar kindisch benahm, aber sie konnte nicht anders. Etwas war in ihr explodiert. Und wenn sie sich jetzt nicht bewegen würde, dann würde sie platzen.

„Schick sie weg, ja? Ich kann nicht verkaufen“, rief sie Herbert atemlos entgegen, der im Garten saß und auf sie zu warten schien.

Sibille hastete weiter, aus Herberts Garten heraus, um das Grundstück herum, hinein ins Pirolatal. Erst auf dem höchsten Punkt der Aussichtsdüne blieb sie stehen. Sie stützte die Hände auf die Knie und japste nach Luft. Zum Glück waren nur zwei Urlauber hier, die sich gerade anschickten, Richtung Meer zu laufen. Sibille war nach Schreien zumute, sie wollte alles loswerden. Aber sie hielt sich zurück. Nur die Tränen konnte sie nicht aufhalten. Und endlich brachen sich die aufgestauten Gefühle der letzten Jahre ihren Weg. Die Verzweiflung, die Angst, die sie anfangs gespürt hatte. Dann der Trotz und der unbedingte Wille, es allein zu schaffen. Und schließlich die vermeintliche Gleichgültigkeit, die hier auf der Insel verschwunden schien.

Erst als sie die nächsten Urlauber durch die Düne kommen sah, riss sich Sibille wieder zusammen. Nun stand sie nicht weit weg von der Stelle, zu der sie nie wieder hatte gehen wollen. Ihr damaliges heimliches Versteck. Was machte es schon, wenn sie die letzten Meter auch noch ging!

Obwohl sie wusste, dass es verboten war, huschte sie schnell um den nächsten Busch herum und verschwand vor den Augen den Urlauber. Sie hörte ihre Verwunderung und fast war ihr nach Lachen zumute. Wie damals, wenn sie sich hier versteckt hatten. Aber es blieb ihr im Hals stecken. Was wollte sie hier? Warum war sie hierher gerannt? Und wie konnte sie den Makler und das Ehepaar einfach so sitzen lassen? Sie wusste auf all die Fragen keine Antwort. Wusste überhaupt nicht mehr, was sie jetzt tun sollte. Alles war leer und doch in Aufruhr.

Als sie sich endlich wieder im Griff hatte, lief sie langsam zurück. Herbert saß auf den Treppenstufen vor ihrem Haus, wo früher einmal eine Bank stand, und schien auf sie zu warten.

„Ist alles in Ordnung, mein Kind?“, fragte er sichtlich besorgt. „Ich dachte schon, du tust dir was an.“

Sibille glitt in seine Arme und Herbert streichelte ihr übers Haar.

„Es tut mir leid! Es war plötzlich über mich gekommen. Ich habe mich so kindisch benommen.“ Sie entzog sich Herbert und gemeinsam gingen sie nach hinten in den Garten. „Was hat der Makler gesagt?“, fragte sie, als sie auf der Bank hinterm Haus saßen.

„Er war sichtlich um Fassung bemüht“, antwortete Herbert. Sibille hörte das Grinsen in seiner Stimme. „Ich habe so getan, als wäre das normal bei dir. Und mit ihm vereinbart, dass du dich wieder meldest, wenn du noch Interesse hast. Natürlich war er davon nicht begeistert. Aber ich habe mich auf nichts eingelassen, was dich festlegen würde. Entweder du meldest dich bei ihm oder eben nicht. Den Vertrag hat er allerdings auf dem Küchentisch liegen lassen.“

Sibille holte tief Luft. „Danke!“, murmelte sie. Schon wieder flossen Tränen über ihre Wangen. „Herbert, ich weiß einfach nicht, was richtig ist. Wenn ich doch Oma Greta fragen könnte!“

„Du musst dich doch nicht gleich entscheiden. Wie ich gehört habe, hast du im Moment sowieso keinen Job. Peter auch nicht und Tuuli hat noch ein paar Wochen Ferien. Also, was hindert dich daran, einfach hier Urlaub zu machen? Genieß deine Heimat, nimm dir Zeit und warte auf die Antwort. Die kommt bestimmt.“ Herbert drückte vorsichtig ihren Arm.

Jetzt wo er es aussprach, fühlte es sich unglaublich gut an. Es war so einfach, lag doch die ganze Zeit auf der Hand. Warum hatte sie es so eilig gehabt, ihr geliebtes Zuhause loszuwerden? Warum hatte sie sich überhaupt die ganzen Jahre über von diesem verbitterten Gefühl leiten lassen? Er war doch sowieso nicht mehr auf der Insel. Also konnte sie jetzt auch dableiben.

„Mama? Bist du wieder da?“ Tuuli kam fragend um die Ecke gerannt. Sie war blass im Gesicht und an ihren weit aufgerissenen Augen konnte Sibille sehen, dass auch sie sich Sorgen gemacht hatte. Wie würde Tuuli wohl ihre Entscheidung finden? Das war sicher der erste Stein, den sie aus dem Weg räumen musste. Peter ließ sich wahrscheinlich eher dazu überreden, den Sommer hier zu verbringen.

„Es tut mir leid, meine Maus“, flüsterte Sibille, als sie Tuuli in die Arme schloss. Sie ließ es sogar ohne Protest geschehen.

„Mensch Sibille, du kannst einen erschrecken!“, sagte Peter, der ihr unbeholfen die Schulter tätschelte.

„Lasst uns was zu essen machen“, lächelte Sibille. „Dabei können wir in Ruhe reden.“

Als wäre eine unglaubliche Last von ihren Schultern gefallen, ging sie schmunzelnd ins Haus.

Schon während sie das Abendessen zubereiteten, wappnete sie sich, falls Tuuli ihre Idee nicht so toll finden sollte. Harmlos ausgedrückt.

Der Kühlschrank hatte nicht mehr viel hergegeben: Tomaten, Oliven und Käse. Dazu eine Flasche Weißwein und Schorle für Tuuli. Herbert hatte das Brot spendiert, sich dann aber wieder in sein Haus zurückgezogen. Vielleicht war es auch ganz gut so.

„Also“, begann Sibille, als sie die ersten Happen gegessen hatten. Schnell nahm sie noch einen großen Schluck Wein. „Ich möchte, dass wir die Ferien hier verbringen.“ Sie biss sich auf die Zunge. Eigentlich hatte sie diplomatischer vorgehen wollen und nun war sie doch direkt mit der Tür ins Haus gefallen.

Tuuli blieb der Mund offen stehen. „Was?“, schnaubte sie.

„Ja, mir ist bei der ganzen Aufräumerei und dem Verkauf nicht aufgefallen, wie sehr ich noch an dem Haus hänge. Erst als ich den Maklervertrag unterschreiben sollte, hat mich das Gefühl übermannt. Ich konnte mich bisher nicht wirklich von dem Ganzen hier verabschieden. Und das möchte ich in den nächsten Wochen tun“, legte Sibille schnell nach.

Peter nickte nur. Dabei verzog er wohlwollend den Mund.

„Das glaub ich jetzt nicht! Aber ich muss mich nicht verabschieden. Ich muss nach Hause. Zu meinen Freunden. Sonst verabschieden die sich nämlich von mir. Das kannst du nicht machen!“ Tuulis Stimme überschlug sich fast. Aber immerhin blieb sie noch sitzen.

„Ich weiß, Tuuli, allerdings kann und werde ich dich auch nicht allein nach Hause fahren lassen. Du bist fünfzehn, da darf ich dich gar nicht so lange alleine lassen“, versuchte es Sibille.

„Weißt du, wie viele von meinen Freundinnen schon alleine zuhause waren? Da fahren die Eltern in den Urlaub und scheren sich nicht darum, was mit ihren Kindern ist. Außerdem sind wir ja schon fast erwachsen“, schnaubte Tuuli.

Da wohnen wahrscheinlich die Großeltern mit im Haus oder wenigstens um die Ecke. Sie hatten keine mehr, also konnte auch niemand auf sie aufpassen.

„Das kann gut sein. Die Diskussion haben wir schon oft geführt. Dann bin ich eben anders als andere Eltern. Ich habe keine ruhige Minute, wenn ich dich länger als einen Abend alleine lassen muss. Ich meine, ganz alleine im Haus. Noch dazu jetzt, wo Ferien sind. Das käme ja wie gerufen für Partys bei Lüders.“ Sibille versuchte es auf die humorvolle Tour. Aber das zog nicht bei ihrer Tochter.

„Dann kann Peter ja mitkommen und du verabschiedest dich hier alleine. Herbert ist doch auch da, der hilft dir bestimmt“, schlug Tuuli vor.

Peter schnaufte. „Ich glaube, ich finde die Idee deiner Mutter klasse. Wir haben doch noch gar nichts von der Insel gesehen! Lass uns ein bisschen was erkunden. Und ich könnte nächste Woche wieder zum Dünensingen gehen.“ Seine Augen verklärten sich.

Sibille stutzte. Da war doch was im Busch. Egal, jetzt musste sie sich erstmal um Tuuli kümmern.

Allerdings war es nun doch so weit. Tuuli ließ die Gabel mit der aufgespießten Olive fallen, rannte in den Garten und um das Haus herum.

Sibille seufzte und schaute Peter ratlos an.

„Die kriegt sich schon wieder ein. Wenn du mehr Zeit für sie hast, kannst du ihr ja auch was von der Insel zeigen. Oder mal aufs Festland zum Shoppen fahren. Eben was Mädels so brauchen“, empfahl Peter. Genüsslich schob er sich ein Stück Käse in den Mund.

Shoppen? Sibille musste grinsen. In Esens gab es ein paar Geschäfte. Und vielleicht noch in Norden, Aurich oder Wittmund. Aber das waren alles sicher nicht die Einkaufsparadiese, die Tuuli gewohnt war. Schön wäre es, wenn solche Bestechungsmaßnahmen gar nicht nötig wären.

Sie überlegte, was sie früher als Jugendliche auf der Insel gemacht hatten. Aber natürlich, sie hatte Freunde, da war es egal, was sie unternahmen. Es hat schon alleine wegen der Gesellschaft Spaß gemacht. Nur wo sollte sie für Tuuli so schnell Freunde herbekommen? Sie schüttelte den Kopf. Was dachte sie denn da für einen Quatsch! Sie konnte ja schlecht auf eine Gruppe Jugendlicher zugehen und sie fragen, ob sie sich um Tuuli kümmern würden.

Egal, jetzt war es raus und nun musste sie nur noch Tuuli überzeugen. Oder sie erstmal finden. Sibille konnte sich vorstellen, dass sie an den Strand gegangen war. Jedenfalls hatte sie sich dort früher immer abreagiert.

„Räumst du hier ab?“, fragte sie. „Ich gehe sie suchen.“

Peter grummelte etwas Unmissverständliches. Auch egal, dann machte sie das später.

Wie erwartet, fand Sibille Tuuli am Strand, direkt an den Dünen sitzend. Sie hatte die Beine angezogen, die Arme darum geschlungen und schaute hinaus aufs Meer. Wenigstens entdeckte Sibille keine Tränen. Damit konnte sie ganz schlecht umgehen. Aber das hatte sie Tuuli wohlweislich nie auf die Nase gebunden.

Sie setzte sich neben ihre Tochter und sah ebenfalls den rollenden Wellen zu. „Wollen wir ein Stück am Strand entlang gehen?“, fragte Sibille nach einer stillen Weile. „Wir können auch noch in den Ort und uns ein Eis gönnen. Was meinst du?“

Tuuli zuckte mit den Schultern, stand aber auf und ging vor zum Wasser. Es war die Zeit zwischen Ebbe und Flut. Sie liefen durch das weiche Watt dann am Meeressaum entlang und ließen die Wellen über die Füße gleiten.

„Mama, ich kann verstehen, dass du dich von Oma Gretas Haus verabschieden musst. Aber es ist und war nicht mein Zuhause. Das ist in Mainz. Und ich hatte andere Pläne für die Ferien“, begann Tuuli schließlich.

Sibille nickte. Sie spürte, wie ihre Entschlossenheit zu bröckeln begann. Tuuli kannte sie doch besser als gedacht, denn mit Argumenten konnte sie sie schon immer überzeugen. Und das Argument zählte. Ob sie doch Peter fragen sollte, ob er mit Tuuli nach Mainz fuhr?

Der Wind hatte einzelne Haarsträhnen aus dem Knoten geholt. Immer wieder strich sie sie hinter die Ohren. Aber sie blieben dort einfach nicht.

„Dann wären wir in deinen lang ersehnten Ferien getrennt. Wir wollten doch so viel zusammen unternehmen“, antwortete Sibille.

„Na ja, ich wollte schon was mit dir machen, aber auch mit Jo und den anderen“, sagte Tuuli.

Enttäuschung machte sich in Sibille breit. So euphorisch wie sie noch vor ein paar Minuten gewesen war, so sehr holte sie jetzt die Wirklichkeit ein. Sie wusste nur, dass sie so schnell nicht gehen konnte.

„Wie wäre es, wenn wir wenigstens noch eine Woche dran hängen? Dann verpasst du vielleicht eine Party, tust mir aber einen großen Gefallen damit.“

Jetzt war es Tuuli, die seufzte. Sie zog ihr Handy aus der Tasche, als ob sie die Antwort dort ablesen könnte. Steckte es aber ungeöffnet wieder weg. Dann blieb sie stehen. „Okay, eine Woche. Danach kannst du noch bleiben, wenn Peter mit mir nach Hause kommt. Oder wir fahren alle.“ Feierlich hielt sie Sibille die Hand hin.

Sibille nickte und schlug ein.

Inselbegegnungen

Der nächste Morgen fing für Sibille zäh an. Sie hatte in der Nacht kaum ein Auge zumachen können. Immer wieder tauchten Bilder von früher auf, als die Welt noch heil schien. Warum tat ihr Unterbewusstsein das?

Müde schwang sie sich aus dem Bett. Doch trotz der wirren Träume und Gedanken fühlte sie sich leichter als sonst. In der Küche füllte sie sich eine Tasse Kaffee am Automaten, zog Oma Gretas Strickjacke über und setzte sich nach draußen in den Garten. Noch war nicht klar, ob heute die Sonne oder die Wolken gewinnen würden, aber es war recht mild. Konnte also sein, dass es ein schöner Tag werden würde.

Im Nachbarhaus regte sich noch nichts. Allmählich hatte sie ein schlechtes Gewissen, ihre Familie bei Herbert einquartiert zu haben. Er hatte ihr zwar immer wieder versichert, dass es schön für ihn wäre, Gesellschaft zu haben, aber vielleicht konnten Tuuli und Peter jetzt doch hier im Haus schlafen. Jetzt, wo sie noch mindestens eine Woche gewonnen hatte. Überhaupt, was konnte sie mit der Woche anfangen? Einfach die Zeit hier genießen? Oder bewusst Orte ihrer Kindheit aufsuchen? Oma Gretas Haus weiter in Ordnung bringen? Es gab noch viele Baustellen. Vielleicht konnte sie es dann zu besseren Konditionen verkaufen?

Sibille saß unter dem Walnussbaum und betrachtete das Haus. Die dunkelroten Klinkersteine, die weißen Fenster, die morschen Rollladenkästen, man sah dem Haus das Alter an. Auch im Innern mussten Fußböden erneuert, die Wände gestrichen und das Bad neu gefliest werden. Immerhin hatte Oma Greta noch im letzten Jahr eine neue Heizungsanlage einbauen lassen müssen, die alte hatte endgültig den Geist aufgegeben.

Während sie so über die Sanierungen nachdachte, spürte sie den inneren Drang, sofort loszulegen. Sie würde sich Oma Gretas Schlafzimmer herrichten. Tuuli könnte in ihrem Kinderzimmer schlafen und Peter würde das Zimmer bekommen, das bisher als Abstellkammer gedient hatte. Es war groß genug und hell. Früher war es mal das Zimmer ihrer Mutter gewesen, wenn die von einer ihrer Reisen zurückkam. Dann bräuchte das Wohnzimmer dringend einen Anstrich und neue Gardinen mit frischen Farben. Vielleicht ließe sich aus der alten Schrankwand aus massivem Holz etwas machen, damit sie moderner wirkte. Und die Böden! Alles alte Dielenböden. Die könnten abgeschliffen und anschließend geölt oder gewachst werden. Sibille hielt inne. Aber wozu sollte sie das alles machen? Die neuen Besitzer hatten sicher ihre eigenen Vorstellungen. Oder wollte sie am Ende das Haus behalten? Und dann wie weiter?

„Guten Morgen, Sibille“, rief Herbert über den Zaun. „Hast du gut geschlafen?“

Erleichtert, aus ihrem Gedankenstrudel gerettet worden zu sein, lief sie zu Herbert.

„Eigentlich nicht, aber ich bin froh, dass wir noch ein paar Tage hierbleiben“, sagte sie. „Und wie geht’s dir? Fällt dir meine Familie nicht langsam zur Last?“

Herbert winkte ab. „Nee, lass mal. Das ist schon alles gut so. Mein Enkel ist ja noch eine Weile fort. Du könntest die beiden ja doch nicht richtig unterbringen. Oder wolltest du dich weiter einrichten?“ Hoffnung lag in seinen Augen.

Sibille knabberte an ihrer Unterlippe. Dabei wanderte ihr Blick wieder über das Haus. Ob sie wollte, war hier wohl nicht die Frage. Sie zuckte mit den Schultern. „Ich fahre jetzt gleich erstmal einkaufen. Nun lohnt es sich ja, den Kühlschrank noch einmal zu füllen. Kommst du heute Abend wieder zum Essen rüber?“

Lächelnd nickte Herbert. Etwas Unergründliches lag in seinem Blick.

Der Tag verging wie im Flug. Nach dem Einkaufen hatte Sibille im Obergeschoss alle Gardinen abgenommen und in die Waschmaschine gestopft. Und wenn sie es jetzt so sah, konnten auch die Fenster eine Reinigung gebrauchen.

Peter ging Herbert in dessen Garten zur Hand und Tuuli hatte sich zu ihr gesellt. Sie saß auf dem Boden und lehnte mit dem Rücken an der Wand.

„Wie hast du es nur hier auf der Insel ausgehalten?“, fragte Tuuli.

„Wie meinst du das? Ich bin hier aufgewachsen, da weiß man nicht, wie es woanders ist“, antwortete Sibille. Noch ein Fenster und die obere Etage war geschafft. Es tat gut, endlich wieder so etwas Banales wie Hausarbeit zu erledigen.

„Na ja, irgendwann warst du ja alt genug, um zu wissen, dass die Welt hinterm Watt weitergeht.“

„Sicher, Abitur zum Beispiel konnte ich nicht hier auf Langeoog machen. Und zur Ausbildung war ich in Wilhelmshaven.“

„Ja, aber war es denn nicht schrecklich langweilig hier? Wenn ich daran denke, wie oft ich mit Jo in Mainz im Kino bin. Oder am Rheinstrand, wir fahren zum Shoppen nach Frankfurt oder treffen uns mit Freunden ...“ Tuuli suchte nach weiteren Argumenten, ließ es dann aber.

Sibille hatte das letzte Fenster geschafft und begutachtete ihr Werk.

„Pass auf, wir schnappen uns jetzt unsere Räder und ich zeige dir die Insel meiner Jugend. Falls sich nicht zu viel verändert hat. Bin selbst ganz gespannt.“

Tuuli nickte mäßig begeistert.

Sie holten die Räder aus dem Schuppen. An der Wäscheleine flatterten die Gardinen. Jetzt fehlte nur noch, dass Oma Greta herauskam und ihnen Proviant für den Strand mitgab. Dann wäre es schon fast wie früher. Wehmütig lächelte Sibille. Aber der Gedanke an damals fühlte sich nicht mehr so schmerzhaft an.

Sie radelten über die Willrath-Dreesen-Straße hinein in den Ort. Dass sich einiges verändert hatte, war Sibille ja schon beim Einkaufen aufgefallen. Aber jetzt hatte sie das erste Mal Zeit, einfach nur zu schauen.

Abrupt bremste sie, als sie an Merles Schmuckladen vorbeikamen. Hatte sie ihre frühere Freundin dort nicht gerade entdeckt?

„Mama, was ist los?“, fragte Tuuli, die gerade noch einen Bogen um Sibilles Rad machen konnte.

Sibille stierte von weitem durch die Fensterscheibe des Ladens. Es war eindeutig Merle, die dort mit einem Paar zu reden schien. Sie hatte eine Schürze umgebunden und erklärte den beiden etwas. Dann nahm sie ein Schmuckstück in die Hand und das Paar nickte strahlend.

„Ach nichts“, sagte sie schließlich und stieg wieder auf. „Ich habe nur gerade jemanden von früher gesehen.“

„Und willst du nicht hallo sagen?“, hakte Tuuli nach. „Das passt doch zu deiner Idee, mir alles von früher zu zeigen.“

„Ich hab ja noch eine Woche Zeit“, murmelte Sibille. „Jetzt wollen wir erstmal den Klassiker erledigen. Wir gehen auf den Wasserturm.“

„Spannend“, grummelte Tuuli und fuhr wieder hinter Sibille her.

Als sie dann aber oben standen, war Tuuli von dem Weitblick begeistert. Auf der einen Seite der lange Sandstrand und das Meer, dann, so weit das Auge reichte, Dünen, die im Dunst des Ostendes der Insel verschwanden, und auf der anderen Seite das Watt.

„Schau mal, die nächste Insel ist Baltrum und dahinter Norderney. Und wenn du dich hierhin drehst, siehst du das Festland mit Bensersiel, Dornumersiel und mit ein bisschen Fantasie auch noch Nessmersiel“, erklärte Sibille ihrer Tochter. Ihre Augen strahlten dabei. Es war schön, ihre Heimat mal wieder von oben zu sehen.

„Also, ich sehe jede Menge Windräder“, antwortete Tuuli lapidar. „Ich muss mir hoffentlich deine ganzen ‚Siele‘ nicht merken.“

Sibille lächelte. Ihr Blick ruhte auf dem Ort, der ihr größer erschien als damals. Aber genau konnte sie es nicht sagen. Die Menschen strömten vom Strand zurück zu ihren Hotelzimmern oder Ferienwohnungen. Vielleicht gingen sie auch noch einmal einkaufen oder bestellten einen Tisch fürs Abendessen. Sie entdeckte die kleine Buchhandlung, die sie damals oft besucht hatte und natürlich das Lale Andersen-Denkmal, das jetzt in der Sonne glänzte.

Gerade als sie sich zum Meer drehen wollte, sah sie eine männliche Gestalt, die ihr bekannt vorkam. Ihr Herz setzte vor Schreck ein paar Schläge aus, nur um dann rasend schnell zu klopfen. Hastig trat sie einen Schritt zurück. Konnte das sein? Oma Greta hatte doch gesagt, dass er gar nicht mehr hier wohnte. Aber vielleicht seine Eltern? Und er war nur auf Besuch? Vorsichtig sah sie wieder zu der Stelle, aber der Mann war verschwunden. Erleichtert atmete sie aus. Wahrscheinlich hatte sie sich getäuscht. Vor lauter Erinnerungen bekam sie schon Halluzinationen.

„Wollen wir an den Strand gehen?“, fragte sie Tuuli. Ein ungutes Gefühl war geblieben, auch wenn sie es sich anders einredete.

„Ist deine Insel-Remember-Reise schon zu Ende?“, lachte Tuuli.

„Das läuft uns ja nicht weg. Mir ist jetzt nach Wind und Wasser.“

Sie stiegen die Schmale Treppe im Innern des Turmes herab, ließen die Räder stehen, zogen die Schuhe aus und liefen durch die Dünen zum Strand. Sicher hatte sie sich getäuscht. Sie musste Herbert unbedingt fragen, ob seine Eltern noch hier wohnten. Bei Oma Gretas Beerdigung hatte sie sie jedenfalls nicht gesehen. Und war darüber sehr erleichtert gewesen.

Eine Weile liefen sie am Wasser entlang, bis Tuuli plötzlich stehen blieb. Sie schützte mit der Hand ihre Augen vor der Sonne und schaute hinauf zum Dünenrand.

„Ist das eine Surfschule?“, fragte sie mit aufgeregter Stimme.

„Steht dran, oder?“, antwortete Sibille. Sie ahnte Tuulis nächste Frage.

„Warum hast du mir nicht gesagt, dass es hier sowas gibt? Kann ich surfen lernen?“, kam sie prompt.

„Du warst mir bisher nicht als Badenixe bekannt“, lachte Sibille. „Ich konnte also nicht wissen, dass es dich interessiert.“

„Surfen ist doch etwas anderes als baden. Das ist doch viel cooler! Darf ich?“, bettelte sie.

„Klar, geh fragen. Ich warte hier.“

Sibille schaute ihrer Tochter hinterher, die wie gehetzt durch den Sand lief. Warum nicht? Sie hatte sich ja früher auch daran probiert, konnte sich aber selten lange auf dem Brett halten. Sie setzte sich in den Sand und schaute hinaus aufs Meer. Wieder tauchte der Mann auf, den sie vorhin unter all den Menschen entdeckt hatte. Es durfte einfach nicht sein, dass er sie hier sah. Jetzt nicht mehr!

Da der Abend noch recht mild war, hatte Sibille die restlichen Gartenmöbel aus dem Schuppen geholt und den Tisch liebevoll gedeckt. Ihr war heute nach romantischer Schönheit. Bei den Sachen von Oma Greta, die sie aufheben wollte, war auch eine weiße Damasttischdecke gewesen. Die passte hervorragend auf den Gartentisch. Dann noch ein kleiner Strauß Rosen und Lavendel in einer Vase mittig gesetzt, dazu ein paar Rosenblätter auf dem Tisch verteilt, fertig war die sommerliche Deko. Auch das schlichte weiße Geschirr fügte sich ins Bild.

Als sich alle gesetzt hatten, holte Sibille eine große Keramikform aus dem Ofen.

„Es gibt Lachsauflauf mit Kartoffeln, Brokkoli, Tomaten und Parmesan. Lasst es euch schmecken“, strahlte sie.

„Ich hab einen Hunger!“, stöhnte Tuuli und griff direkt zu.

Sibille grinste. Die Seeluft tat ihrer Tochter gut. Normalerweise hielt sie sich beim Essen zurück. Sie mäkelte nicht, wollte aber an ihre Figur denken. Sibille konnte sich nicht erinnern, früher so viel über ihr Äußeres nachgedacht zu haben. Natürlich wollte sie auch gut aussehen, aber deswegen zu hungern?

Die Ruhe am Tisch zeigte, dass es allen gut ging. Sibille hatte diesmal Rotwein aus Oma Gretas Bestand gewählt. Sicher hätte auch ein Weißer zum Lachs gepasst, aber ihr war heute nach dunklen Beeren. Vollmundig und rauchig.

Genüsslich lehnte sie sich nach dem Essen zurück.

„Das war wirklich klasse! Danke für das schmackhafte Essen, liebe Sibille“, grummelte Peter zufrieden. „Das kannst du öfter machen.“

Herbert nickte und prostete ihr schmunzelnd zu.

„Aber natürlich, lieber Peter“, lachte Sibille. „Vielleicht hast du jetzt ja Lust, mit Tuuli den Tisch abzuräumen?“

Zu einem weiteren Geplänkel zwischen ihnen kam es allerdings nicht, denn eine mürrische Stimme meldete sich aus Herberts Garten.

„Was ist denn hier los? Vermietest du jetzt mein Zimmer unter?“, fragte ein Mann, die Hände in den Hosentaschen vergraben und mit einer tiefen Falte auf der Stirn.

Herbert fuhr herum. „Morten, was machst du denn schon hier?“, fragte er und sprang auf.

„Ich wohne hier. Schon vergessen?“, antwortete Morten.

„Das ist mein Enkel“, sagte Herbert an die restlichen drei gerichtet. „Möchtest du rüber kommen? Ich kann dir Gretas Familie vorstellen.“

Morten ließ seinen Blick über Peter und Tuuli gleiten, dann blieb er bei Sibille hängen. Er nickte kurz. „Sibille kenne ich doch“, sagte er. „Ich bin müde. Was ist jetzt mit meinem Zimmer?“

„Äh, ich räume meine Sachen sofort aus“, rief Tuuli und sprang auf.

„Das musst du nicht“, hielt Herbert sie zurück. „Morten kann eine Nacht auf dem Sofa schlafen. Dann haben wir Zeit, morgen in Ruhe eine Lösung zu finden.“

Tuuli blieb abwartend stehen. Auch Sibille war jetzt aufgestanden.

„Sie kann auch hier schlafen“, sagte sie leise. „Wir könnten eine Matratze in mein Zimmer legen.“

„Morten hätte sich ankündigen können“, antwortete Herbert. Dabei schaute er seinen Enkel an. „Schließlich habe ich erst am nächsten Wochenende mit dir gerechnet. Und da das mein Haus ist, kann ich entscheiden, wer meine Gäste sind.“

Wieder schaute Morten von einem zum anderen, dann zuckte er kurz mit den Schultern und verschwand im Haus.

„Herbert, wirklich, du musst wegen uns nicht mit Morten Ärger bekommen“, versuchte es Sibille noch einmal.

Herbert wischte ihren Einwand mit einer wegwerfenden Geste fort. „Das ist so in Ordnung. Ich gehe mal nach ihm schauen.“

Als Herbert weg war, verzog Tuuli das Gesicht. „Grrr, der war ja wirklich freundlich. Wie kann ein so netter Opa so einen Stimmungskiller als Enkel haben?“

Sibille begann das Geschirr abzuräumen. Als wäre es selbstverständlich halfen ihr die anderen beiden und setzten sich auch danach wieder an den Tisch.

„Tja, da müssen wir uns für morgen was anderes einfallen lassen“, begann Sibille schließlich. „Wir könnten versuchen, Oma Gretas Schlafzimmer auf Vordermann zu bringen. Dann kann ich dort schlafen und du in meinem Zimmer.“ Sie schaute Tuuli aufmunternd an.

„Am Wochenende kann ich dir noch helfen, den alten Kasten hier aufzupeppen, aber ab Montag habe ich keine Zeit mehr“, sagte sie grinsend.

„Ich weiß schon: der Surfkurs beim coolsten Surflehrer der Welt“, grinste Sibille.

„Cool, gutaussehend, charmant. Such dir was aus“, strahlte Tuuli.

Ein warmes Gefühl machte sich in Sibille breit. Seitdem sie entschieden hatten hierzubleiben und vor allem, seitdem ihre Tochter wusste, was sie nächste Woche vorhatte, schien es ihr richtig gut zu gehen.

„Und was ist mit mir? Ich will Herbert da in nichts reinziehen“, unterbrach Peter Sibilles Gedanken.

„Na ja, es gibt oben noch ein Zimmer. Da hätten wir zwar etwas mehr zu tun, weil dort eine Menge Möbel abgestellt worden sind, aber das könnte dein Reich sein.“

„Klingt nach einem Plan“, sagte Peter und hob den Daumen. „Ich versuche jetzt mal, unauffällig in mein Zimmer zu gelangen. Wir wollen ja Morten nicht noch unnötig verärgern.“

„Warte, ich komme mit. Am Ende erwischt er mich noch, wenn ich ganz allein durchs Haus laufe“, rief Tuuli und sprang auf.

„Ihr tut ja gerade so, als wäre er ein Monster“, lachte Sibille. „Wer weiß, warum er eher zurückgekommen ist. Und dann ist auch noch sein Zimmer belegt. Das hätte bestimmt keiner von uns lustig gefunden.“

Tuuli kam noch einmal zurück, drückte Sibille kurz und heftig und war verschwunden.

„Aha“, murmelte Sibille. „Sie scheint glücklich zu sein. Alles besser als die Gleichgültigkeit, die sie sonst zur Schau trägt.“

Sie goss sich noch einmal einen Schluck Rotwein ein. Dann dachte sie an früher, als sie mit Morten Haus an Haus gewohnt hatte. Er war ein Jahr jünger als sie. Oma Greta, Herbert und Mortens Eltern hatten immer versucht, sie zum gemeinsamen Spielen zu animieren. Aber sie gingen sich aus dem Weg, hatten kein Interesse aneinander. Und nun war er ein stattlicher Mann geworden. Groß, dunkelblond, braungebrannt, aber eher von viel Arbeit im Freien als vom Sonnenstudio. Was er wohl beruflich machte?

Das konnte sie sicher morgen herausfinden. Jetzt war es Zeit fürs Bett. Hoffentlich ohne Albträume.

Ärmel hoch und los

„Ich hab was“, rief Sibille, als sie aus einer dunklen Ecke im Keller wieder auftauchte. Eine Spinnwebe hing ihr über die Schulter und auch die Haare sahen aus, als wären sie explodiert. Einige Strähnen hingen aus dem losen Knoten, den sie sich immer band.

„Siehst du, ich wusste doch, dass Greta noch einen Eimer Farbe haben musste. Ich hatte ihr gleich gesagt, dass sie für die paar Ausbesserungen nach der Heizungserneuerung im letzten Jahr nicht so viel braucht. Aber Greta wusste es immer besser“, lachte Herbert. „Schauen wir mal, ob es noch zu gebrauchen ist.“

Sie nahmen den Eimer mit nach oben. Herbert hatte aus dem Keller eine kurze Holzlatte mitgenommen, damit rührte er jetzt die Farbe um.

„Sieht gut aus, das kannst du nehmen“, murmelte er.

„Na dann los, Schränke rücken.“ Sibille rieb sich die Hände. Jetzt war sie wieder ganz in ihrem Element. Verschönern, einrichten, dekorieren, das war ihre Welt. Sie hatte zwar Schneiderin gelernt, aber das an einem kleinen Theater in Wilhelmshaven. Nachdem sie entdeckt hatten, dass sie ein Händchen für die schönen Dinge hatte, war sie überall eingesetzt worden. Sie konnte den Bühnenbildnern zur Hand gehen oder Accessoires für die Kostüme nähen. Manchmal sogar Masken erstellen. Das alles war viel mehr als eine Schneiderlehre gewesen. Deshalb konnte es auch niemand verstehen, dass sie das Theater nach der Ausbildung direkt verlassen hatte. Sie konnten ja auch nicht ahnen, dass sie ganz andere Pläne hatte. Dass daraus dann nichts werden würde, hatte sie selbst zu dem Zeitpunkt nicht wissen können. Vielleicht hätte sie sich dann anders entschieden.

Plötzlich fiel ihr Sonja wieder ein. Oh weh, sie hatte sich doch direkt nach ihrer Ankunft auf Langeoog bei ihr melden wollen. Sonja hatte noch gesagt, dass sie sie in Ruhe lassen würde, damit sie sich von allem verabschieden könnte. Aber natürlich würde sie sich über ein Lebenszeichen von ihr freuen.

Sibille überlegte, ob sie Sonja jetzt schnell anrufen sollte. Aber Herbert und Peter warteten schon auf sie. Also tippte sie nur schnell eine Nachricht, dass alles gut war und sie sich bald melden würde.

Sie hatte Sonja in Wilhelmshaven kennen gelernt. Sonja arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Senckenberg-Institut. Auf einer Party bei einem gemeinsamen Bekannten waren sie ins Gespräch gekommen und hatten sich auf Anhieb gut verstanden. Mittlerweile war Sonja ihre beste Freundin. Auch wenn sie nur drei gemeinsame Jahre in Wilhelmshaven gehabt hatten, sie telefonierten jede Woche mehrmals miteinander. Außerdem hatte Sonja sie oft in Mainz besucht, wenn sie auf dem Weg ins Allgäu war, wo ihr Freund Ferdinand herkam. Die beiden hatten auch einen holprigen Weg hinter sich, aber schließlich waren sie doch zusammengekommen und seitdem ein unzertrennliches Paar. Selbst Sonjas Tochter Alina wich Ferdinand kaum von der Seite.

„Wollen wir loslegen? Oder brauchst du eine Einladung?“, rief Peter von oben.

„Das sagt der Richtige“, murmelte Sibille. Sonst war sie es immer, die auf ihn warten musste, wenn sie ihn mal brauchte.

In der nächsten Stunde waren sie damit beschäftigt, die Möbel in Oma Gretas Schlafzimmer zu begutachten und die für gut befundenen in die Mitte des Raumes zu schieben.

„Ich bin froh, dass Oma Greta nicht auf Eiche dunkel stand“, sagte Sibille außer Atem. „Die Ahornmöbel sehen noch richtig gut aus.“

„Ich hole schnell die Pinsel und Abdeckfolie. Davon haben wir drüben genug.“ Herbert war schon auf der Treppe, da lief Sibille hinterher.

„Ich komme mit und schnappe mir schon mal ein paar von Tuulis Sachen. Außerdem kann sie langsam aufstehen und uns helfen.“

Leise betrat sie hinter Herbert das Haus. Sie wollte auf keinen Fall Ärger mit Morten haben.

„Schläft er noch?“, flüsterte Sibille aus ihren Gedanken heraus.

„Wer? Morten? Nein, nein, der ist schon heute früh in seine Werkstatt gefahren“, lachte Herbert. „Keine Angst, du kannst dich ganz normal verhalten. Eigentlich ist er auch nicht so. Ich weiß nicht, welche Laus ihm gestern über die Leber gelaufen ist.“

Sibille war da ein bisschen skeptischer. Sie hatte den Eindruck, dass Morten eher mürrisch veranlagt war. Aber sie hatte ihn ja nur ganz kurz gesehen. Also, wer weiß.

„Was macht Morten eigentlich? Wieso Werkstatt?“, fragte sie nun lauter.

„Er ist gelernter Tischler. Aber er macht eigentlich alles, was angefragt wird. Er hilft dem Dachdecker, wenn der zu wenig Leute hat. Er repariert Zäune oder Mauern. Also, wer auf der Insel ein Problem hat und keinen Spezialisten findet, der kommt zu Morten.“ In Herberts Stimme schwang Stolz mit.

„Das klingt toll“, sagte Sibille. Ihr fiel nichts Besseres ein. Sie kannte Morten nur als kleines Kind bis zum Jugendalter. Und außer, dass er früher wie wild am Strand mit einem Spielzeugbagger buddelte und später an seinem Fahrrad schraubte, hatte sie keine Erinnerung an seine handwerklichen Fähigkeiten.

Vorsichtig öffnete sie die Tür zu Tuulis Zimmer, das ja eigentlich Morten gehörte. Allerdings war von Tuuli nichts zu sehen. Wahrscheinlich nutzte sie die Gelegenheit, allein im Haus zu sein, und blockierte das Bad. Tatsächlich öffnete sich die Badtür und Tuuli trat mit einem Handtuch auf dem Kopf und dem Handy, aus dem laute Musik erklang, in der Hand heraus. Erschrocken wich sie einen Schritt zurück, als sie ihre Mutter entdeckte.

„Boah, was machst du denn hier? Zum Rausschmeißen bist du ein bisschen zu spät.“ Sie grinste beim letzten Satz.

„Wie man’s nimmt“, antwortete Sibille. Sie schaute auf die Uhr. „Aus dem Bett bist du ja schon mal, aber wir müssen schnellstmöglich das Zimmer räumen.“

„Ja ja, ich weiß. Ich bin gleich soweit“, murrte Tuuli. „Ich muss mir erst noch die Haare föhnen.“

Sibille wollte etwas erwidern, aber dann fiel ihr ein, dass Morten nicht im Haus war. „Okay, was kann ich schon mitnehmen?“

Tuuli warf schnell ein paar der herumliegenden Sachen in die Tasche. „Die hier, den Rest bringe ich gleich mit.“

„Aber mach nicht zu lange, ja? Wir können außerdem Hilfe gebrauchen“, sagte Sibille und verschwand.

In den nächsten Stunden strich sie das Schlafzimmer, das danach viel heller wirkte. Oder lag es daran, dass heute die Sonne schien? Jedenfalls hatte sie es noch nie so wahrgenommen.

Herbert und Peter hatten in der Zwischenzeit den Abstellraum leergeräumt. Nun standen nur noch ein Kleiderschrank und eine Kommode darin.

„Du brauchst ein Bett“, stellte Sibille folgerichtig fest.

„Jo, das ist wohl so“, antwortete Peter.

Sibille musste grinsen. Ihr Stiefvater gewöhnte sich schon den Friesendialekt an.

„Fürs erste habe ich eine Liege mit Matratze drüben. Da schläft man eigentlich ganz gut drauf“, warf Herbert ein.

Sibille schaute ihn dankbar an.

Nachdem sie besprochen hatten, wo in Sibilles Schlafzimmer die Möbel stehen sollten, machte sie sich daran, Peters Zimmer zu streichen. Die Männer schoben die Möbel an Ort und Stelle.

Der Abend rückte immer näher. Tuuli hatte sich mittlerweile in Sibilles Kinderzimmer eingerichtet. Interessanterweise hatte sie fast nichts verändert. Nur den Betthimmel aus Gardinenstoff hatte sie abgenommen.

„Ich würde hier lieber eine Lichterkette hinhängen“, sagte sie entschuldigend, auf Sibilles kritischem Blick hin.

„Alles gut, du bist ja kein Kleinkind mehr. Damals fand ich es schön. Ich habe mir immer vorgestellt, dass die Schäfchenwolken über mir schweben.“ Sibille lächelte verträumt, während sie aus dem Fenster sah.

Tuuli folgte ihrem Blick. „Oh, Morten kommt heim. Hat Peter schon das Feld geräumt?“

Ruckartig fand sich Sibille wieder in der Wirklichkeit ein. Ihr Herz begann zu pochen. Vorsichtig spähte sie in Nachbars Garten und tatsächlich schob Morten gerade sein Fahrrad in den Schuppen. Wie früher, dachte sie.

Sie straffte ihren Rücken und lächelte Tuuli an. „Morten ist in Ordnung. Er war schon immer etwas ruhig. Aber wir brauchen keine Angst vor ihm zu haben.“

An Tuulis zweifelndem Blick sah Sibille, dass sie der Aussage nicht so ganz traute.

„So, es ist alles eingeräumt und ausgiebig gelüftet. Wenn ihr die Fenster heute Nacht einen Spalt offen lasst, sollte es gehen“, rief Herbert von der Kinderzimmertür her. Er sah müde aus.

Sibille lief auf ihn zu und schlang ihre Arme um seinen Hals. „Wenn wir dich nicht hätten“, flüsterte sie. „Danke! Und morgen ruhst du dich aus, ja?“

„Schon gut! Das habe ich doch gerne für dich gemacht.“ Er tätschelte ihre Wange. „Und für Greta“, setzte er noch nach. Dann verabschiedete er sich.

Peter ging noch einmal mit, um seine Sachen und die Liege zu holen.

In der Zwischenzeit inspizierte Sibille ihr Schlafzimmer. Es roch natürlich noch nach Farbe, aber es sah auch sehr gemütlich aus. Jetzt noch ein paar Accessoires und sie konnte sich hier richtig wohlfühlen.

Nachdenklich holte sie die Bettbezüge aus dem Schrank und begann, das Bett zu beziehen. Beide Seiten, denn Oma Greta hatte Opa Gustavs Hälfte nicht leer lassen können. Und sie mochte das auch nicht.

Als sie damit fertig war, gönnte sie sich einen kurzen Moment der Ruhe. Es hatte sich unglaublich gut angefühlt, die Zimmer herzurichten. Natürlich hätte sie noch mehr getan, wenn sie das Haus behalten würde, aber fürs Erste war sie zufrieden.

Ein Gedanke schoss durch ihren Kopf. Vielleicht könnte sie ein Ferienhaus daraus machen. Dann hatten sie Mieteinnahmen und sie musste das Haus nicht verkaufen. Wenn sie ihre Familie davon überzeugte, würden die vielleicht auch noch ein paar Tage länger bleiben und sie konnten die Renovierungsarbeiten im ganzen Haus vornehmen.

Beseelt von diesem Gedanken, ging Sibille hinunter in die Küche und bereitete das Abendessen. Heute mussten Spaghetti mit Tomatensoße reichen.

„Aber vergiss es, dass wir dann jede Ferien hier verbringen werden“, platzte Tuuli direkt nach Sibilles Idee heraus. „Das wird ätzend langweilig.“

„Hm, und wenn mal was zu reparieren ist? Willst du dann immer hier hoch fahren und es selbst machen?“, fragte Peter nach.

Sibille lächelte. Aber es versetzte ihr schon einen Stich, dass die beiden von ihrer Idee nicht genauso begeistert waren wie sie selbst.

„Das weiß ich nicht. Es hat sich eben gut angefühlt. Dann muss ich Oma Gretas Haus, mein ehemaliges Zuhause, nicht verkaufen. Bestimmt gibt es eine Hausverwaltung auf der Insel, an die ich mich wenden kann. Die würden sich dann auch um Reparaturen kümmern“, sagte sie an Peter gewandt. „Und wer weiß, wie lange du noch mit mir in den Urlaub fährst. Wenn du flügge bist, kann ich hier Urlaub machen, wann ich will.“ Sie drückte Tuuli den Arm.

In den nächsten Minuten hingen alle ihren Gedanken nach.

„Ich gehe hoch“, verkündete Tuuli schließlich und verschwand.

„Macht es dir was aus, wenn ich nochmal zu Herbert rüber gehe?“, fragte Peter. „Er hat ein paar Skatfreunde da und mich dazu eingeladen.“

Sibille schüttelte den Kopf. Obwohl sie hundemüde war, lief sie, nachdem sie den Tisch abgeräumt hatte, noch einmal an den Strand. Abends war es hier natürlich nicht so warm wie in Mainz. Aber hier lockten das Meer und die herrliche Erfrischung. Also sprang sie in die Fluten und gab sich ganz dem Gefühl der Schwerelosigkeit hin. Sie wusste schon jetzt, dass ihr diese Freiheit in Mainz fehlen würde. Dass ihr genau das wahrscheinlich schon seit Jahren gefehlt hatte.

Erschöpft, aber glücklich fiel sie später in einen tiefen traumlosen Schlaf.

Neue Ideen

Am Sonntagmorgen hatte Sibille das Gefühl, dass ihr jeder einzelne Muskel weh tat. Ein Zeichen dafür, dass sie nichts mehr gewöhnt war. Aber Möbelrücken, Malern und Schleppen gehörten nun mal nicht zu ihren alltäglichen Tätigkeiten. Trotzdem, vielleicht sollte sie wieder etwas mehr Sport machen, damit sie solche Tage nicht gleich aus der Bahn warfen.

Müde schleppte sie sich ins Bad. Während sie unter der Dusche stand und das heiße Wasser auf den schmerzenden Nackenmuskeln spürte, wurde ihr Verstand allmählich wach. Sie sah sich im Bad um. Natürlich wurde es auch hier Zeit, die Fliesen zu erneuern. Aber konnte sie sich das alles leisten? Und wie sollten sie solche Maßnahmen innerhalb einer Woche erledigen? Das Malern gestern war schon eine Hau-Ruck-Aktion gewesen. Herbert konnte sie jedenfalls nicht ständig mit einbeziehen. In seinem Alter brauchte er mehr Ruhe.

Sie dachte an Morten. Und daran, was Herbert über ihn gesagt hatte. Er konnte alles! Vielleicht würde er ihr helfen?

Als das kalte Wasser aus der Brause lief, hätte sie beinahe aufgeschrien. Sie drehte am Ende des Duschens automatisch den Hahn auf kalt, um sich morgens wach zu bekommen. Heute war sie allerdings so in Gedanken gewesen, dass sie selbst davor erschrak.

Grinsend stieg sie aus der Dusche. Na, wenigstens konnte der Tag jetzt beginnen. Ihre ganze Haut kribbelte.

Da Peter und Tuuli noch schliefen, ließ sie nur für sich einen Kaffee in die Tasse laufen und genoss ihn auf der Gartenbank am Haus. Sie lehnte ihren Kopf an die warme Hauswand, die die Sonne den ganzen Morgen beschienen hatte. Tief sog sie die salzige Luft ein. Dabei hatte sie die Augen geschlossen. Die Vögel zwitscherten, das Meer rauschte in der Ferne, ab und an hörte sie eine Möwe kreischen. Das waren die Geräusche ihrer Kindheit! Kein Autolärm, keine Flugzeuge, die so tief flogen, dass man glaubte, die Tassen würden im Schrank klirren, und keine Hektik rundherum.

Eine Träne bahnte sich ihren Weg über Sibilles Wange. Aber diesmal fühlte es sich nicht traurig und verzweifelt an. Sie war einfach glücklich! Sie saß auf Oma Gretas Bank und nahm die Insel seit fünfzehn Jahren wieder liebevoll an. Mit einem Mal konnte sie sich nicht mehr vorstellen, warum sie sich selbst verboten hatte, hierher zu kommen. Natürlich gab es einen Grund, aber war er es wert, dass sie ihrer Heimat ferngeblieben war? Hatte er sie nicht schon längst vergessen und lebte sein Leben, wie er es immer vorgehabt hatte? Warum war sie nicht schon früher auf die Insel gekommen? Sie hätte mit Tuuli Urlaub machen können und keiner hätte nachgefragt. Es war doch ganz natürlich, dass sie ein Kind hatte. Wen hätte es interessiert?

Sibille seufzte. Vor allem hätte sie die Zeit mit Oma Greta verbringen können. Sie wusste ja, dass es ihr größter Wunsch war, sie endlich wieder in ihrer Heimat in die Arme schließen zu können. Was hatte sie nur getan?

Sie nahm den letzten Schluck Kaffee und öffnete ihre Augen. Die Tränen waren nun nicht mehr aufzuhalten.

Aus dem Nachbargarten hörte sie ein leises Räuspern.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte Morten. Er klang nicht wirklich besorgt, hatte sich wohl eher genötigt gefühlt nachzufragen.

Sibille nickte. „Ist alles gut“, murmelte sie.

Morten schenkte ihr noch einen tiefen fragenden Blick, dann nickte auch er und verschwand.

Irritiert ging Sibille ins Haus. Sie holte ihr Handy und setzte sich auf die Eckbank in der Küche. Im Garten war es ihr zu riskant. Nachher hörte Morten noch mit.

Unwirsch schüttelte sie den Kopf. Er hatte ihr doch nichts getan, warum war sie dann so voreingenommen?

Sonja konnte sie jetzt sicher auf andere Gedanken bringen.

„Na endlich“, meldete sich Sonja, kaum dass es geklingelt hatte. „Wie geht’s dir? Was macht der Hausverkauf? Und wann kommt ihr endlich hier vorbei?“

Sibille lachte. So kannte sie Sonja. Immer mit der Tür direkt ins Haus. Schon wurde ihr etwas leichter ums Herz. Sie erzählte ihrer Freundin alles von Anfang bis Ende, ließ nichts aus, beschönigte nichts und endete mit den versöhnlichen Gefühlen in der Sonne und der sonderbaren Begegnung mit Morten vor ein paar Minuten.

„Uff“, sagte Sonja nur. Und das wollte schon was heißen, denn normalerweise hatte sie immer eine Aufmunterung parat.

„Du sagst es“, entgegnete Sibille geschafft. Diese ganzen Gefühlsschwankungen in Kurzform waren anstrengend gewesen. Aber sie war froh, dass sie es jetzt endlich losgeworden war.

„Tja, was soll ich sagen. Es fühlt sich an, als wäre das letzte Wort noch nicht gesprochen“, sagte Sonja nach einer Weile.

„Wie meinst du das?“, fragte Sibille irritiert nach.

„Süße, das klingt danach, als wärst du auf deinem Langeoog glücklich. Viel glücklicher als du es je in Mainz warst. Ganz ehrlich!“ Sibille hörte Sonjas Lächeln durch die Leitung.

„Meinst du? Quatsch, ich war doch glücklich in den letzten Jahren“, antwortete Sibille. Sie wusste nicht, ob ihr Sonjas Antwort gefiel.

„Ja, vielleicht warst du es manchmal. Aber die Betonung liegt auf der Vergangenheit. Ich kenne dich jetzt schon so lange. Und noch nie hast du so begeistert von etwas gesprochen. Außer von Tuulis erstem Lächeln, ihren ersten Worten, den ersten Schritten. Wenn du weißt, was ich meine. Spürst du das nicht selbst? Das ist deine Insel!“ Sonja hielt inne, als sie Sibilles Schluchzen hörte.

„Ich weiß nicht“, begann Sibille. „Ich hatte doch mit all dem hier abgeschlossen! Die Erinnerungen haben mich erdrückt.“

„Tun sie jetzt aber anscheinend nicht mehr“, sagte Sonja sanft. „Das ist doch auch keine Entscheidung, die du sofort treffen musst. Ich bin froh, dass du das Haus nicht verkauft hast. Nun hast du alle Zeit der Welt.“

Sibille schnäuzte sich. Dann wischte sie die Tränen ab. „Vielleicht hast du recht. Aber ich weiß, dass Tuuli nie mit hierher ziehen würde. Also brauche ich erst gar nicht weiter darüber nachzudenken.“

„Weißt du was? Ich habe eine Idee. Ich nehme mir ein paar Tage frei und komme zu dir. Bei meinen vielen Überstunden kann mein Chef nichts dagegen haben. Ferdinand bleibt sicher bei Alina. Dann haben wir endlich mal wieder ein bisschen Zeit für uns. Und außerdem habe ich auch eine Neuigkeit! Was meinst du?“

Sibille wäre Sonja am liebsten um den Hals gefallen. „Das ist die beste Idee, die du seit langem hattest“, lachte sie.

Sie verabredeten sich für Dienstag. Sonja würde ihr Bescheid geben, mit welcher Fähre sie kommen konnte.

Sibille legte das Handy weg. Das war eine tolle Nachricht, die ihr gleich wieder Kraft verlieh. Sie schaute sich um. Hier war noch einiges zu tun. Die Küche musste sie auf Vordermann bringen. Und das Wohnzimmer herrichten, denn Sonja hatte ein eigenes Zimmer verdient. Leider reichte die Farbe nicht mehr für ein drittes Zimmer. Aber wenigstes hatte sie einige Möbelstücke zur Auswahl, denn der Abstellraum, der jetzt Peters Zimmer war, hatte vollgestanden mit alten Schätzchen. Es wäre doch gelacht, wenn sie da nicht fündig würde.

Aber erstmal würde sie den Frühstückstisch decken und dann die beiden Murmeltiere wecken. Schließlich gehörte das Sonntagsfrühstück zu ihren Familienritualen.

Später standen sie in Oma Gretas geräumigem Schuppen und Sibille versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen.

„Hättest du das nicht gestern entscheiden können, dass du heute das Wohnzimmer herrichten willst?“, knurrte Peter. „Mir tut jetzt noch alles weh von der Möbelschlepperei.“

Sibille wusste, dass es mehr eine rhetorische Frage war, denn schließlich hatte sie Tuuli und Peter beim Frühstück von Sonjas Ankunft in den nächsten Tagen erzählt. Also ging sie nicht darauf ein, sondern schob sich an einer dunklen Kommode vorbei in den hinteren Teil des Schuppens. Liebevoll strich sie mit einer Hand über ein Highboard. Das würde doch hervorragend an die Wand passen, wo jetzt noch die Schrankwand stand. Sibille mochte Schrankwände nicht. Sie fand halbhohe Schränke und vor allem Bücherregale schön. Davor ein paar Pflanzen, von denen Oma Greta einige besaß, und ansonsten nur Sofa, Sessel, Tisch und jede Menge Platz.

„Wir nehmen das hier“, rief sie Tuuli und Peter zu.

Tuuli hatte die Kopfhörer im Ohr, als Peter sie anstupste. „Los geht’s“, sagte er wenig begeistert. „Deine Mutter ist fündig geworden.“

Also schoben sie die vorderen Möbel beiseite und stellten das Highboard auf die Terrasse. Dann hievten sie gemeinsam die einzelnen Teile der Schrankwand in den Garten. Jetzt sah das Wohnzimmer schon viel freundlicher aus. Wenn sie morgen noch einen Eimer Farbe auftreiben könnte, dann könnte sie sich den nächsten Raum vornehmen.

Bevor sie die Schrankwand verstauen konnten, entdeckte Sibille noch einen Schreibtisch. Der war ihr gestern nicht aufgefallen. Aber sie wusste, dass ihr Opa immer daran gesessen und Zeitung gelesen hatte.

Sie brachte ihre Mannschaft dazu, auch den noch gemeinsam zu befreien und die anderen Teile stattdessen im Schuppen zu verstauen. Sie ahnte, dass sie den beiden jetzt eine Pause gönnen musste. Schließlich hatten sie alle Urlaub. Und nur, weil sie Spaß daran hatte, das Haus umzugestalten, hieß das nicht, dass Tuuli und Peter dafür zu begeistern waren.

„Ich fahre mit dem Rad in den Ort“, gab Peter bekannt, kaum dass Sibille sich für ihre Hilfe bedankt hatte.

„Und ich gehe an den Strand. Kommst du mit?“, fragte Tuuli leicht mit dem Kopf im Rhythmus ihrer Musik nickend. Ein Ende der Kopfhörer steckte im Ohr, das andere baumelte vor ihrem Bauch.

Sibille überlegte. Vielleicht wäre es gut, bei Tuuli zu sein und sie nicht wieder sich selbst zu überlassen. Andererseits war ihr die Idee gekommen, das Highboard abzuschleifen, um es danach frisch zu beizen.

„Weißt du was? Ich habe hier noch ein bisschen zu tun. Geh du doch einfach schon mal vor und ich komme nach, okay?“, versuchte Sibille den Kompromiss.

Tuuli zuckte mit einer Schulter, dann ging sie in ihr Zimmer, um sich umzuziehen. Kurz darauf sah Sibille sie mit einem Handtuch unter dem Arm davonlaufen.

Nun war sie allein. In ihrem Kopf ging sie alles durch, was sie jetzt brauchte. Oma Gretas Schleifmaschine setzte sie am Sonntag besser nicht ein. Das könnte die Nachbarschaft verärgern. Also holte sie ein paar Stücke Schleifpapier heraus und begann mit der Arbeit. Zuerst nahm sie sich das Highboard vor. Sie wusste schon, dass das sicherlich nicht professionell war, aber so hatte sie schon oft einige ihrer alten Schränke retten können. Wahrscheinlich hätte ein Tischler wenigstens die Schranktüren abgeschraubt, das wollte sie sich jedoch ersparen.

Als hätte sie es mit ihren Gedanken provoziert, entdeckte sie Morten nebenan im Garten. Er trug eine kurze sandfarbene Cargohose und lief ansonsten barfuß und mit freiem Oberkörper direkt an ihrem Zaun entlang.

Sibille schluckte. Diese sehr männliche Seite kannte sie nicht an ihm. Wie auch, sie hatten sich bestimmt zwanzig Jahre nicht gesehen. Und davor ignoriert. Aber er konnte sich sehen lassen. Er hatte eine gesunde Bräune und wenn er sich bewegte, sah sie seine angespannten Muskeln. Die dunkelblonden Haare standen wirr vom Kopf ab. Ob er sich morgens kämmte oder einfach nur mit der Hand durchfuhr? Vielleicht war das ja eine Masche, um die Frauen zu bezirzen. Es konnte tatsächlich anziehend wirken.

„Ist irgendwas?“, fragte er jetzt. Eine Falte hatte sich auf seiner Stirn gebildet. Überhaupt machte er wieder einen mürrischen Eindruck. „Sibille, alles in Ordnung?“

Oh Gott, hatte sie ihn jetzt die ganze Zeit angestiert? Schnell drehte sie sich weg und hielt kurz das Schleifpapier hoch. „Ich war nur in Gedanken. Alles gut“, rief sie so leise, dass er es gerade noch hören konnte.

„Was hast du vor?“, fragte er. Dabei stützte er die Hände auf dem Holzzaun ab und schaute sie direkt an.

„Wonach sieht es aus?“ Was war das für eine Frage? Hier stand ein Schrank und sie hatte Schleifpapier in der Hand. Das war doch ziemlich eindeutig.

„Meinst du, du kannst das?“, hakte Morten noch einmal nach.

Was dachte der sich denn? Dass sie zu blöd war, mit Schleifpapier umzugehen? Demonstrativ fuhr sie mit dem Papier über die Holzoberfläche. Vom Gartenzaun hörte sie ein heftiges Zischen. Na, so schlimm konnte es ja nun wirklich nicht sein.

„Ich kann den Schrank auch mit in die Werkstatt nehmen und bearbeiten.“ Mortens Gesichtsausdruck hatte etwas Gequältes an sich.

„Ich muss den so schnell wie möglich ins Wohnzimmer stellen, bekomme bald Besuch“, sagte Sibille schnaufend. Sie hatte ganz vergessen, wie anstrengend das sein konnte.

„Aha“, kam es vom Zaun. Der gequälte Ausdruck war wieder dem mürrischen gewichen. „Na dann“, knurrte Morten, klopfte mit den Händen auf den Zaun und verschwand.

„Der muss so schnell wie möglich ins Wohnzimmer“, brummte Sibille ärgerlich. „Etwas Blöderes ist mir nicht eingefallen? Morten wollte nett sein und ich stelle mich an wie ein eingeschnappter Teenager.“

Zum Glück hatte sie mit Wut im Bauch genug Elan, um den Schrank von seiner oberen Schicht zu befreien. Sie hörte erst auf, als sie auch die letzte Bahn abgeschliffen hatte.

Erschöpft ließ sie sich ins Gras sinken. Das tat gut, endlich mal wieder konstruktiv zu arbeiten. In der Änderungsschneiderei, in der sie bis jetzt gearbeitet hatte, gab es viel zu tun. Und auch interessante Stücke, wie Abendkleider oder Fastnachtstrachten zu ändern. Aber sie mochte andere Werkstoffe lieber. Mit Holz und Ton zu arbeiten erfüllte sie mit Leben. Es war, als würde sie mit den Stücken verschmelzen. Auch wenn sie ihrer Meinung nach nicht viel Talent besaß, bisher hatte sie noch alle Teile benutzen können.

Wie nebenbei schaute Sibille auf die Uhr. Schon nach zwei! Sie hatte doch Tuuli versprochen, ihr an den Strand zu folgen. Schnell machte sie sich ein Käsebrot in der Küche und trank ein Glas Wasser leer, dann holte sie die Holzlasur, von der jede Menge im Schuppen stand. Der Schrank konnte trocknen, wenn sie sich die Auszeit im Meer gönnte.

Als sie eine Stunde später durch die Dünen lief, erfüllte sie ein altbekanntes Kribbeln. Wie oft war sie früher hier entlang gelaufen und hatte sich darauf gefreut, im Meer zu schwimmen! Später kam noch die Aufregung dazu, ihn gleich zu treffen. Erst freundschaftlich, dann heimlich verliebt und dann als offizielles Paar. Ein wehmütiges Lächeln huschte über Sibilles Gesicht. Irgendwie fühlte es sich schön an, an damals zu denken. Nur wenn sein Gesicht direkt vor ihrem inneren Auge erschien, fing es heftig an zu stechen in ihrer Brust. Nein, so weit war sie noch lange nicht, um ihm zu verzeihen. Und er ihr sowieso nicht, wenn er wüsste, was sie getan hatte. Also war es besser, wenn alles so bliebe.

Mit den Schuhen in der Hand lief sie den Strand entlang und suchte nach Tuuli. Eigentlich hatte sie angenommen, dass sie sich wieder in der Nähe ihres letzten Aufenthalts einen Platz suchen würde. Aber dort fand Sibille sie nicht.

Unentschlossen schaute sie aufs Meer hinaus. Wie durch ein Wunder war auch jetzt Hochwasser, also beste Voraussetzungen zum Schwimmen. Früher hatte sie den Tidekalender im Kopf. Sie hatte immer gewusst, wann Zeit zum Schwimmen war. Heutzutage hatte sie einfach Glück. Aber bevor sie Tuuli nicht gefunden hatte, wollte sie sich nicht ihrer Leidenschaft hingeben.

Sie lief Richtung Ort und musterte die Strandbesucher unauffällig. Familien mit Kleinkindern, die vergnügt im Sand buddelten, Paare, die entspannt auf Handtüchern lagen und lasen und auch die Aktiveren, die es mit Volleyball oder einer Art Federball probierten. Wobei sie bei den ständig windigen Verhältnissen statt der leichten Federbälle Schaumstoffbälle benutzten.

Als sie schon fast den Dünenaufgang, der am Wasserturm vorbei in den Ort führte, erreicht hatte, entdeckte sie ihre Tochter endlich. Tuuli stand inmitten einer Gruppe Jugendlicher und unterhielt sich angeregt. Immer wieder schielte sie zu dem dunkelhaarigen Typ, der direkt neben ihr stand.

Sibille war klar, dass sie Tuuli jetzt besser nicht stören sollte. Es wäre ihr sicher furchtbar peinlich gewesen, wenn ihre Mutter nach ihr rufen würde.

Sie setzte sich in den Sand und schaute noch eine Weile unauffällig zu. Lächelnd dachte sie an früher. Der Strand war schon immer ein beliebter Treffpunkt gewesen. Wobei sie eher einen abgelegeneren Platz bevorzugt hatten. Mittlerweile war wohl die Holzhütte der Surfschule der Mittelpunkt der coolen Jugendlichen geworden. Das war ihr beim letzten Mal, als Tuuli sich zum Kurs angemeldet hatte, schon aufgefallen.

Plötzlich sah sie, wie ihre Tochter unwillig den Kopf bewegte und mit der Hand wischte, als würde sie einen Hund verjagen. Aha, das galt wohl ihr. In ihren Träumen hängend hatte sie zu auffällig geschaut. Aber wenigstens wusste Tuuli jetzt, dass sie auch am Strand war.

Voller Vorfreude ließ Sibille ihre kurze Hose und das Shirt fallen und rannte über den Strand direkt ins Wasser. Im ersten Moment stockte ihr der Atem, aber dann genoss sie die wohlige Kühle. Entspannt nahm sie ihre Schwimmrunde auf.

Als sie sich später erschöpft abtrocknete, fand sie Tuuli noch immer inmitten der Jugendlichen. Mittlerweile hatten sie sich in einen Kreis gesetzt. Die Unterhaltung schien aber ungebrochen zu sein.

Sibille legte sich auf die Picknickdecke. Schade, dass sie ihr Buch nicht mitgenommen hatte. Dort hatte sie die ganze Zeit noch nicht einmal reingeschaut. Sie stützte sich auf die Unterarme und schaute dem Treiben der Menschen zu. Ein wehmütiges Gefühl überfiel sie. Einsamkeit! Jeder hier hatte irgendjemand zum Reden, Spielen oder auch Schweigen. Nur sie saß hier allein. Von Tuuli, die beschäftigt war, mal ganz abgesehen.

In letzter Zeit hatte sie öfter solche Anwandlungen. Sie war zwar bisher auch ganz gut allein zurechtgekommen, aber brauchte nicht irgendwann jeder einmal eine Schulter zum Anlehnen? Jemanden, der zuhörte, tröstete oder mit dem man lachen konnte?

Sibille ließ sich auf den Rücken sinken und schaute den Wolken beim Ziehen zu. Sie sollte besser nicht so viel darüber nachdenken. Es machte sie nur traurig und brachte sie nicht weiter. Bald würde Sonja da sein und sie wieder aufmuntern.

„Mama, wir müssen uns beeilen. Es fängt gleich an zu regnen“, hörte sie Tuuli rufen. Außerdem rüttelte jemand wie wild an ihrer Schulter. Sie wollte nicht aufwachen. Im Traum war sie gerade von einem Mann mit dunkelblonden Haaren an die Hand genommen und zum Strand geführt worden. Leider schien das Wetter nicht zu halten. Denn was eben noch nach Hochsommer aussah, fühlte sich plötzlich kalt an. Wieder hörte sie Tuuli rufen. Die war doch gar nicht dabei.

Sibille schreckte auf. Sofort spürte sie, warum ihr kalt geworden war. Es lag nicht an ihrem Traum, es hatte begonnen zu regnen.

„Endlich, komm, wir müssen rennen“, rief Tuuli, die bereits Sibilles Sachen zusammensammelte.

„Das Sideboard, oh nein“, schrie Sibille auf. „Es steht noch im Garten. Das darf doch nicht wahr sein!“ Schnell schnappte sie sich die Picknickdecke und rannte mit Tuuli über den Strand zum Dünenaufgang, der ihrem Haus am nächsten lag. Aber noch ehe sie auch nur den Ort erreicht hatten, goss es in Strömen. Sibille war dem Schreien nahe. Den Schrank konnte sie vergessen.

Kaum am Haus angekommen, spurtete sie direkt in den Garten und blieb abrupt stehen. Wo war der Schrank hin? Sie hatte ihn doch auf der Wiese stehen lassen.

Irritiert schaute sie durch die Terrassentür in die Küche. Dort standen Peter und Morten. Sie hatten jeder eine Flasche Bier in der Hand und unterhielten sich.

„Kannst du bitte mal vorne die Tür aufschließen“, fragte Tuuli genervt, die sich zitternd zu ihr gesellt hatte.

Sibille nickte, aber noch ehe sie um das Haus gehen konnten, hatte Peter sie entdeckt. Schnell öffnete er die Terrassentür.

„Mensch, da seid ihr ja! Ich habe mir Sorgen gemacht“, sagte er, als sie tropfend in die Küche flüchteten.

„Wo ist der Schrank?“, fragte Sibille statt einer Antwort. Tuuli verschwand sofort in ihrem Zimmer.

„Den haben Morten und ich ins Wohnzimmer geschleppt. Das wäre ja echt schiefgegangen, wenn Morten mich nicht rausgeklingelt hätte. Ich habe von dem Regen nichts mitbekommen.“ Peter klopfte Morten freundschaftlich auf die Schulter.

Das war ihr klar, dass Peter nichts mitbekommen hatte. Wahrscheinlich musste er sich von seiner anstrengenden Radtour ausruhen und ein Nickerchen machen.

„Danke“, murmelte sie Morten zu. „Das war echt ...“

„Schon gut! Hast wohl vergessen, wie oft es hier regnet?“, fiel er ihr ins Wort. „Das solltest du aber im Blick haben. Ich kann nicht immer den Aufpasser für deinen Kram spielen.“ Er stellte die halbvolle Flasche Bier auf den Tisch, nickte Peter noch einmal zu und verschwand durch die Vordertür.

Blödmann, dachte Sibille. Ich hatte ihn nicht darum gebeten. Doch dann entsann sie sich. Schnell stürmte sie ins Wohnzimmer, wo das Sideboard unbeschadet stand. Gott sei Dank, es wäre echt schade darum gewesen.

Peter war ihr gefolgt. „Habt ihr ein Problem miteinander?“, fragte er. „Bevor du gekommen bist, haben wir uns echt nett unterhalten.“

Sibille sah Peter fragend an. Hatte sie ein Problem mit Morten? Oder er mit ihr? Mit seiner mürrischen Art konnte sie nichts anfangen. Aber sie würde das nicht als Problem bezeichnen. Konnte es sein, dass er sie nicht mochte? War früher irgendetwas gewesen, das sie verdrängt hatte?

„Na, ist schon gut. So genau wollte ich es gar nicht wissen“, grinste Peter. Er fuhr ihr, wie bei einem Kleinkind, kurz über den Kopf und verließ das Wohnzimmer.

Seufzend sank Sibille auf das Sofa. Hier hatte sie sich schon immer gern hineingekuschelt. Es war alt und der Stoff schon ziemlich verschlissen, aber es war unglaublich gemütlich.

Automatisch scannte sie das Wohnzimmer mit den verbliebenen Möbeln ab. Wenn sie über das Sofa eine Decke legen würde, könnte sie es weiter in den Raum rücken, an die gegenüberliegende Wand das Sideboard stellen und darauf den Fernseher. Der Schreibtisch passte wunderbar vor das Fenster. An die Wand hinter das Sofa, die jetzt frei wurde, könnte sie ein großes Bücherregal stellen. Oma Gretas Yuccapalme in die Ecke neben den Schreibtisch und vielleicht noch eine zweite Pflanze auf die andere Seite und der Raum wäre perfekt. Fehlten nur noch neue Gardinen und ein bisschen Deko.

Sibille spürte wieder dieses Kribbeln. Natürlich würde sich das Haus prima als Ferienhaus anbieten. So etwas lief hier auf Langeoog immer. Dann würden sie weiter in Mainz wohnen. Sie würde sich eine neue Arbeit suchen, Tuuli würde mit ihren Freunden zusammen in vier Jahren die Schule beenden und Peter könnte weiterhin einen Hilfsjob nach dem anderen annehmen und große Pausen dazwischen einplanen. Und Urlaub könnten sie dann öfter hier verbringen. Wenn das Haus gerade frei war. Oder man müsste es für bestimmte Zeiträume blockieren und dann müsste sie genau in der Zeit Urlaub bekommen.

Noch immer regnete es in Strömen. Die anderen beiden waren in ihren Zimmern verschwunden. Allmählich war sie wieder trocken, nur die Haare brauchten noch etwas. Sollte sie jetzt duschen gehen? Die Ruhe, um sich Gedanken zu machen, war zu verlockend. Sibille kochte sich einen Tee, holte einen Block und Oma Gretas Buntstiftebox und kuschelte sich wieder unter die Decke auf das Sofa.

Wo könnte sie sich denn in Mainz bewerben? Bei anderen Änderungsschneidereien? Sofort spürte sie, dass es sich nicht gut anfühlte. Natürlich wusste sie, dass das nicht ihr Traumjob gewesen war. Aber bei ihren bisherigen Arbeitgebern hatte sie sich wohlgefühlt. Und die gingen nun in Rente. Wer wusste schon, wie ein neuer Chef sein würde?

Gedankenverloren kaute sie am Stift. Eigentlich hatte sie schon immer selbstständig sein wollen. Nicht nur als Schneiderin. Sie hätte Lust dazu, all ihre kreativen Talente zu verbinden. Etwas aus Stoff, Holz oder Ton erschaffen und verkaufen. Ein kleiner Laden wäre der Hit. Aber da brauchte sie sich in Mainz gar nicht erst umzusehen. Der Mietpreis für ein Geschäft in der Stadt war viel zu hoch und damit das Risiko nicht einschätzbar. Ihre Hofreite lag in einem Vorort, und außerdem wohnten sie zur Miete. Das konnte sie vergessen.

Enttäuscht ließ sie den Stift wieder sinken. Sie stierte auf das weiße Blatt. Es sollte wohl alles nicht sein. Versonnen begann sie darauf herumzukritzeln, bis aus dem Kritzeln echtes Skizzieren wurde. Sibille steigerte sich immer weiter hinein und vergaß dabei ganz die Zeit. Sie schob die Decke beiseite und legte den Block auf ihren Beinen ab. Eine Seite nach der anderen flog auf den Boden. War sie nicht zufrieden, knüllte sie es zusammen, aber mittlerweile lagen mehr Zeichnungen als Papierknäuel um sie herum. Sie hatte ganz vergessen, wie befreiend es war, Dinge zeichnerisch zum Leben zu erwecken, die in ihr feststeckten. Wer weiß wie lange schon.

„Mama?“

Sibille schrak auf. Tuuli stand in der Wohnzimmertür und schaute sie mit großen Augen an.

„Was machst du da?“, fragte sie leise, so als wäre ihre Mutter jetzt verrückt geworden.

„Ich zeichne“, strahlte Sibille sie vom Sofa aus an. „Komm her, schau’s dir an, wenn du magst.“

Vorsichtig trat Tuuli über alle Skizzen hinweg und setzte sich neben Sibille.

„Seit wann zeichnest du?“, fragte sie immer noch mit wachsamer Stimme. Sie nahm mehrere Blätter auf und schaute sie an. „Und vor allem, woher kannst du das so gut?“

Sibille lächelte erschöpft. „Das konnte ich irgendwie schon immer. Während meiner Ausbildung zur Schneiderin habe ich viel mehr gezeichnet. Auch noch als du klein warst. Aber dann habe ich es wohl verloren.“

Tuuli sammelte den Rest der Bilder ein und schob eines nach dem anderen Sibille zu. Selten hatte sie ihre Tochter so konzentriert gesehen. Erst jetzt schaute sie selbst auf ihre vermeintlichen Kunstwerke. Von Stoffentwürfen über Holzdeko und muschelförmigen Tongefäßen war alles dabei. Besonders gefiel ihr die Idee der gewachsten Brottüten. Das hatte sie einmal irgendwo gesehen und im Hinterkopf weiterentwickelt. Nun hatte es wohl rausgewollt.

„Das ist alles toll! Was willst du damit machen? Selbst herstellen? Und dann?“ Tuulis Stimme überschlug sich fast. Sie strahlte ihre Mutter an.

„Ach, das war doch nur so dahingekritzelt“, wiegelte Sibille ab.

„Nein, das sieht echt schön aus“, fiel ihr Tuuli ins Wort. „Kannst du mir so einen Kerzenhalter machen? Der in der Rückwand das Herz eingeritzt hat. Der sieht so toll aus.“

Lächelnd schaute Sibille zu, wie Tuuli in den Zeichnungen wühlte, bis sie das Richtige gefunden hatte. „Hier, der hier!“

Sie hielt Sibille das Blatt hin.

„Das können wir zusammen machen. Wenn du möchtest, zeige ich dir, wie das geht.“

„Ich weiß nicht, ob ich sowas kann. Ich war nie gut im Basteln, falls du dich erinnerst“, antwortete Tuuli skeptisch.

„Wir probieren es einfach aus. Wenn es nicht klappt, bekommst du das erste Stück aus meiner Kollektion von der Chefin persönlich hergestellt“, lachte Sibille.

„Klingt echt gut! Das kannst du doch beruflich machen. Wir finden in Mainz bestimmt einen Laden. Und dann brauchst du noch einen Firmennamen“, strahlte Tuuli. „Wie wäre es mit Sibilles Dekoladen?“ Sie hielt inne. „Hm, klingt lahm. Mir fällt schon noch was ein.“

Sibille lachte. „Jetzt mach mal langsam. Ich habe heute lediglich ein bisschen gezeichnet. Daraus muss sich nicht gleich eine Geschäftsidee entwickeln.“

„Kann aber“, entgegnete Tuuli. „Ich habe Hunger. Was gibt’s zu essen?“, legte sie direkt nach.

Seufzend schob sich Sibille vom Sofa hoch. Sie streckte ihre eingerosteten Glieder. Das hatte ihr so gut getan, mal wieder nicht denken zu müssen, sondern einfach zu fühlen. Und die Gefühle aufs Papier zu bringen.

Auf dem Weg in die Küche überlegte sie, was der Kühlschrank noch so hergab, um ein Abendessen kochen zu können.

Nachbarschaftshilfe

Der Montagmorgen versprach einen Sommertag auf der Insel. Zwar konnten sie hier lange nicht mit Temperaturen wie in Mainz rechnen, aber es sah so aus, als würden sie die 25 Grad schaffen.

Da ihre Mannschaft noch schlief, entschied Sibille sich, schon einmal bei Herbert danach zu fragen, wo sie Farbe im Ort kaufen könnte.

Während sie durch den Vorgarten zum Haus hochstieg, musste sie wieder an die letzte Begegnung mit Morten denken. Und natürlich war auch er es, der ihr die Tür nach dem Klingeln öffnete. Darauf war sie nicht vorbereitet gewesen.

„Bist du nicht arbeiten?“, fragte sie ohne Begrüßung. Sie hätte sich direkt auf die Zunge beißen können. Hatte sie denn gar keinen Anstand mehr? Warum brachte Morten diese unhöflichen Eigenschaften an ihr zutage? „Entschuldige“, murmelte sie schnell.

Morten schaute nachdenklich auf sie herab. „Ich bin gleich weg“, antwortete er mit einem Zucken im rechten Mundwinkel.

Na toll, jetzt lachte er sie auch noch aus. Reiß dich zusammen, Sibille. Der Typ ist ein Jahr jünger als du, er war immer der kleine Nachbar, also lass dich jetzt nicht so beeindrucken.

„Ist Herbert da?“, fragte sie kurz angebunden.

„Nein“, antwortete Morten ebenso kurz. Der zuckende Mundwinkel stand nicht still.

„Ähm, ja, dann komme ich später wieder.“ Sibille drehte sich weg und wollte schnellstmöglich davon.

„Kann ich dir helfen?“, fragte Morten. Nun war das Zucken verschwunden.

„Ich weiß nicht. Bestimmt. Ich brauche noch einen Eimer weiße Farbe, um das Wohnzimmer zu streichen. Und dann bin ich auf der Suche nach einem Bücherregal. Aber das werde ich sicher nicht auf der Insel bekommen“, sagte Sibille und blieb abwartend stehen.

„Farbe kann ich dir beim Maler besorgen. Und das Regal wirst du hier nicht kaufen können. Höchstens auf dem Festland. Aber ich bin Tischler, also könnte ich dir sicher eins bauen.“ Mit einem Mal hatte Morten einen völlig anderen Gesichtsausdruck bekommen. Geschäftsmäßig und doch irgendwie verbindlich.

Na also, dachte Sibille, dann konnten sie vielleicht wenigstens auf der Ebene normal miteinander reden. „Das wäre toll“, sagte sie. Ihre Stimme sollte dabei souverän klingen. „Also beides, meine ich. Die Farbe brauche ich aber ziemlich bald, meine Freundin Sonja kommt morgen zu Besuch und soll im Wohnzimmer schlafen.“

Morten schaute auf die Uhr. „Ich bin hier gleich fertig, dann fahre ich als erstes zum Maler. Wenn du willst, kann ich dir die Farbe bringen und du erzählst mir, wie du dir das Bücherregal vorgestellt hast.“

Sibille nickte, dann verabschiedete sie sich und eilte in ihr Haus.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752143690
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
Generationenroman Familienroman Inselroman Küstenroman Nordsee Romane an der Nordsee Nordseeroman Langeoogroman Romane am Meer Strandlektüre Humor

Autor

  • Frida Luise Sommerkorn (Autor:in)

Frida Luise Sommerkorn alias Jana Thiem schreibt Liebes-, Familien- und Kriminalromane. Dabei sind ihre Geschichten in jedem Genre mit Herz, Humor und Spannung gespickt. Da sie selbst viel in der Welt herumgekommen ist, kennt sie die Schauplätze ihrer Romane und kann sich voll und ganz in ihre Protagonisten hineinfühlen. Ob am Ostseestrand, im fernen Neuseeland oder in ihrer Heimat, dem Zittauer Gebirge, überall holt sich die Autorin neue Inspirationen, um ihre LeserInnen verzaubern zu können.
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Titel: Nordseeglück