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Raven: Spuren im Nebel

Gay Romance

von Zarah Lu (Autor:in)
241 Seiten

Zusammenfassung

Für Ben ist die Welt in Ordnung, seit er seiner Heimat den Rücken gekehrt hat. Mit ihr verbindet er die Erinnerung an offene Ablehnung und Ausgrenzung. Der Schrecken seiner Jugend, den er erst verarbeiten konnte, seitdem er im Schutz der Großstadt lebt. Noch geht es ihm gut, doch seit einiger Zeit kehren die Erinnerungen an längst vergessene Ereignisse zu ihm zurück und werden allmählich zum Problem für ihn. Ben darf nicht mehr länger ignorieren, was damals vorgefallen ist. Auf Anraten seines Therapeuten begibt er sich auf eine Reise in die Vergangenheit und stößt zunächst auf die gleiche Ablehnung und Ausgrenzung wie damals. Schon bald beginnt er zu verstehen, dass er sich seinen Ängsten stellen muss und dass das nur der Anfang seiner Heilung sein kann. Als ob er nicht schon genug Sorgen hätte, tritt auch noch jemand in sein Leben, dessen Wirkung er sich absolut nicht entziehen kann. Kann auch Raven diese besondere Magie zwischen ihnen spüren? Diese Gay-Romance umfasst ca. 86.500 Wörter und enthält explizite homoerotische Szenen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


EINS

Verdammt!

Ben wusste sofort, dass er nur träumte. Er war wieder in diesem riesigen Gebäude. Dicke Mauern. Hohe Wände. Diffuses Licht. Ein breiter Flur, von dem viele Räume abgehen.

Er hörte den Lärm der anderen. Der Ort war ihm vertraut. Früher war er oft hier gewesen. Als er noch ein Junge war. In einer anderen Zeit, die längst Vergangenheit war. Es hätte jeder beliebige Flur in irgendeinem Gebäude sein können, doch instinktiv wusste er, dass er sich an seiner alten Schule befand.

Ben wollte aufwachen. Er konnte nicht. Irgendetwas hielt ihn in diesem Traum gefangen. Angst kroch an seinen Beinen hinauf. Lähmte sie und verwandelte seinen Körper in Eis. Sein Herzschlag verlangsamte sich und das Blut begann in seinen Ohren zu rauschen. Ein untrügliches Zeichen beginnender Panik.

Die anderen Kinder tauchten als Schemen vor ihm auf und rannten an ihm vorbei. Durch ihn hindurch. Als ob es ihn nicht gäbe.

‚Es ist nur ein Traum‘, versuchte er sich zu beruhigen.

Er betete es, als sei es ein Mantra. Es half zumindest ein wenig. Ungefähr so lange, bis er in ihre Gesichter blickte. Jetzt hatten sie ihn doch bemerkt. Sie reagierten auf ihn und wichen ihm aus. Seine Angst war zurück. Sie durften ihn nicht sehen. Er musste fort von hier.

Er musste sich zwingen, endlich aufzuwachen. Ihre Körper verschwanden und wurden wieder schemenhaft. Ein letztes Gesicht schwebte an ihm vorbei. Ein Junge. Schwarze Haare. Dunkle Augen, die so vertraut waren. Er fühlte sich mit ihm verbunden und wollte bei ihm bleiben.

Auch der Junge floh vor den Schemen. Erst jetzt bemerkte er, dass sie den Jungen und nicht ihn verfolgten. Der Junge rannte durch eine Tür und schlug sie in Windeseile hinter sich zu. Der Luftstoß des Aufpralls fegte über ihn hinweg. Alles war so furchtbar real, dass er es kaum aushalten mochte. Der Junge war in Panik. So, wie er selbst.

Voller Schrecken sah er mit an, wie sie ihm in Scharen durch die geschlossene Tür folgten. Selbst diese dicken Mauern konnten sie nicht aufhalten. Er wollte sich nicht vorstellen, was sie dort mit ihm anstellten.

Er musste hier schleunigst fort. Er hatte nur diese eine Chance, solange der Gang noch so unbelebt war. Sekunden nur, bis sie zurückkehren und nach ihm suchen würden.

Ben rannte los. Instinktiv wusste er, wohin er sich wenden musste. Ganz am Ende des Flurs. Das letzte Zimmer auf der linken Seite. Dort war er allein. Vor dem Fenster stand die alte Linde und warf ihre Schatten in den Klassenraum. Auf den Bänken lagen ihre Bücher und Hefte, so als würden sie jeden Moment hereinkommen und mit dem Unterricht beginnen.

Der Raum wirkte friedlich. Sicher.

An der Tafel und an den Wänden hingen ein paar Bilder aus getrockneten Blättern. Es müsste Herbst sein. Das Schuljahr hatte gerade erst begonnen. Plötzlich war der Junge bei ihm. Er stand nur wenige Schritte vor ihm. Das einzige freundliche Gesicht in dieser düsteren Umgebung. Sein Haar wehte im Wind und von irgendwoher schien die Sonne auf seine bronzefarbene Haut.

Ich nächsten Moment erhob er sich und schwebte gute zwei Meter über ihm. Falsch, er saß auf einem Pferd. Es war so schwarz wie er selbst und er sah auf ihn herab. Lächelnd. Glücklich. Ein stolzer Reiter.

Auf dem Gang hinter ihm wurde es lauter. Sie kamen zu ihnen. Seine Angst war mitten unter ihnen und kam in ihrer Begleitung zurück. Das Lächeln verschwand aus dem schönen Gesicht und er galoppierte davon. Durch ihn hindurch. Aus dem Fenster hinaus.

Sie befanden sich eine Etage über dem Erdboden. Der Aufprall würde fürchterlich sein!

Ben erwachte.

Endlich. Was für ein beschissener Traum! Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Es war tiefste Nacht, doch an Schlaf war nun nicht mehr zu denken.

Er fuhr sich mit den Händen über das Gesicht, nur um zu spüren, dass er wirklich wach war. Sie waren warm. Seine Lippen waren spröde und seine Augen schmerzten. Ben versuchte sich an den Traum zu erinnern. Er musste ihn sich unbedingt merken. So viel wie möglich einprägen. Aufschreiben, solange die Fragmente noch in seinem Kopf waren.

Es war das erste Mal, dass er mit dem Jungen allein gewesen war. Ein Moment der Sicherheit, den sie nur für sich gehabt hatten. Er hatte ihn noch nie so deutlich wie heute vor sich gehabt. Seine Augen waren so schön. Sein Lächeln hatte nur ihm gegolten und erwärmte sein Herz. Unerklärlich war nur die Sache mit dem Pferd. Ben konnte sich keinen Reim darauf machen, aber es musste etwas zu bedeuten haben.

Er schaltete das Licht an und griff nach dem kleinen Heft, dass er neben sich auf dem Nachtschrank liegen hatte. Jede unachtsame Bewegung, jede winzige Veränderung konnte den Traum und die Erinnerung daran auslöschen. Was bleiben würde, wäre seine Angst.

Machtlosigkeit, solange sie ihn in seinen Träumen aufsuchten.

Wehrlos und allein, gegen ihre Überzahl.

Aber das war er nicht, oder? Dieser Junge war bei ihm gewesen. Er hatte die anderen von ihm weggelockt und ihn vor ihnen gefunden.

Er musste Theo davon erzählen.

Theodore Baumann war sein Therapeut. Doktor der Psychologie, freier Dozent an der Universität und Mitarbeiter an zahlreichen Instituten, die für Ben alle gleich klangen. Er sollte ihm helfen, sein inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Seine Schlafstörungen waren ein wesentlicher Teil ihrer Arbeit.

Anfangs hatte Ben einfach nur schlecht geschlafen und war morgens so müde wie am Abend zuvor. Seine Konzentration war auf ein bedenkliches Maß gesunken und sie mussten etwas unternehmen, bevor es schlimmer wurde.

Was immer sie versuchten, nichts davon konnte ihm helfen. Die klassischen Therapieansätze, schlugen fehl. Schlaftherapie, Autosuggestion und die vielen Tabletten, nichts davon zeigte bei ihm eine dauerhafte Wirkung. Sei Zustand verschlechterte sich schneller, als ihnen lieb war.

Er schlief nicht mehr durch und wachte immer häufiger auf. Bald hatte er das Gefühl gar keinen erholsamen Schlaf mehr zu finden und dann hatten die Träume begonnen.

Erst war es nur das Gebäude gewesen und die erdrückende Einsamkeit. Dann waren die Schatten aufgetaucht und hatten ihn gejagt. Er konnte sich ihrer nur erwehren, indem er versuchte aus dem Traum zu erwachen. Sein Körper gehorchte ihm immer seltener. Je erschöpfter er wurde, desto länger war er ihnen ausgeliefert. Hilflos musste er ertragen, wie sie ihn jagten. Ihn und den Jungen.

„Beschreibe ihn mir“, unterbrach Theo seine düsteren Gedanken.

„Dunkle Augen. Fast schwarz. Rabenschwarze Haare. Er hat etwas Aristokratisches an sich. Ich kann es nicht anderes beschreiben. Wunderschön und doch unerreichbar. Verstehst du, was ich sagen will?“

„Erzähl weiter. Was unterscheidet ihn von den anderen?“

„Ich sehe ihn ganz detailliert vor mir. Das dunkle Rot seiner Lippen, die langen Wimpern. Die gerade Nase, makellos wie von einem römischen Gott. Ich sehe ihn so deutlich, als ob ich eine Fotografie ansehe. Dabei ist das nur ein Traum und ich dürfte mich kaum an die Farbe seiner Haare erinnern.“

„Was empfindest du, wenn du ihn betrachtest?“

„Ruhe. Vertrauen. Freude.“

„Keine Angst?“

„Nein, erst, wenn die anderen zurückkehren.“

„Das ist gut“, freute sich Theo.

Ben glaubte sich verhört zu haben. Was sollte denn daran gut sein? Dank dieses Burschen hing er nun noch länger in seinem verdammten Traum fest. Die Panik, die sein Herz nach dem Aufwachen umklammert hatte, hatte ihn bis zum Morgengrauen nicht mehr losgelassen. Wenn das so weiterging, würde er bald gar nicht mehr schlafen.

„Aha“, blieb er einsilbig. „Und wie erklärst du dir die Nummer mit diesem Pferd?“

„Eine Überreaktion deiner Fantasie. Wenn wir versuchen, einer unangenehmen Situation zu entfliehen, dann suchen wir uns gerne einen schnellen und starken Gefährten. Das Pferd hat nichts weiter als das zu bedeuten. Wichtig ist, dass du den Jungen gefunden hast. Wir sollten uns auf ihn konzentrieren. Die positiven Gefühle, die du mit ihm verbindest, könnten dir helfen, deine Albträume zu überwinden.“

„Dein Wort in Gottes Ohr“, lästerte Ben. Er glaubte nicht an Gott und erst recht nicht an Theos Theorie.

„Ich habe das Gefühl, dass da mehr dahintersteckt.“

„Eine unterdrückte Persönlichkeit, Dr. Freud?“, scherzte Theo. „Schon möglich. Halte ich bei dir allerdings für relativ unwahrscheinlich. Soweit ich weiß, lebst du deine Vorlieben voll und ganz aus.“

„Sehr witzig“, grummelte Ben. Er gehörte zu denjenigen, die ihr Coming Out schon sehr früh erlebt haben. Ben hatte seine sexuelle Identität nie in Frage gestellt, was zu einem Großteil der Tatsache geschuldet war, dass sein Elternhaus zu dem Zeitpunkt schon zerrüttet war. Mit dem Ende seiner Grundschulzeit gab es für seine Eltern keinen Grund mehr, den Schein zu wahren. Die Trennung folgte ein Jahr darauf und Ben musste allein zurecht kommen. Schule, Freunde, Erwachsenwerden. Anders sein.

Es gab niemanden, dem er sich anvertrauen konnte. Seine Mutter schuftete sich zu Tode, arbeitete in Schichten, um sie beide durchzubringen und kämpfte um ihre Unabhängigkeit von seinem Vater. Sie hörte sich an, was er zu sagen hatte, verurteilte ihn nicht. Immerhin. Es hatte nie ein böses Wort zwischen ihnen gegeben, doch Ben war sich lange Zeit nicht sicher gewesen, wie sie zu seiner Homosexualität stand.

Die Reaktion seines Vaters war deutlicher ausgefallen. Unmissverständlich hatte er ihm klargemacht, dass sich ihre Wege von nun an nie mehr kreuzen würden. Ben hatte es ihm noch nicht einmal übel genommen. Er ertrug die Trennung besser als den Ekel in seinen Augen.

Theo und er hatten diese Phase wieder und wieder besprochen, als seine Schlafprobleme begonnen hatten. Es gab keine unterdrückte Persönlichkeit, keine verborgenen Emotionen. Ben war mit seiner Homosexualität im Reinen, das wussten sie beide.

„Eine Erinnerung“, mutmaßte Ben. Er war schließlich kein Therapeut. Das war Theos Fachgebiet. „Was, wenn es den Jungen wirklich gab?“

„Schon möglich“, stimmte Theo zu. „Das kannst du besser beurteilen als ich. Der Träumende weiß meist sehr gut zwischen Fiktion und Wirklichkeit zu unterscheiden. Wenn du also das Gefühl hast, dich an etwas erinnern zu müssen, dann sollten wir dem nachgehen. Vielleicht lösen wir deine Probleme, indem wir diesem Rätsel auf die Spur kommen.“

Theo legte seinen Schreibblock zur Seite und ging zum Fenster. Die Abenddämmerung hatte die lärmende Stadt in ein friedliches Idyll verwandelt. Es war spät geworden. Zu spät. Theo hatte ihn nie zur Eile gedrängt. Er hatte ihm stets das Gefühl gegeben, mehr zu sein als nur der letzte Patient des Tages. Seine Stunde war sicher längst vorüber und Theo müsste sich gleich von ihm verabschieden.

Stattdessen zog er die Vorhänge zu und kam zu ihm zurück.

„Theo?“, fragte Ben argwöhnisch. „Was wird das?“

„Ich könnte dir helfen, dich zu erinnern. Es gibt einige Techniken, die dir helfen könnten, diese verschütteten Erinnerungen freizulegen. Wir würden versuchen, die positiven Eindrücke zu verstärken und die negativen Einflüsse zu unterdrücken.“

„Hypnose!“, fuhr Ben dazwischen. Das war das letzte, was er wollte. Die Vorstellung davon, dass irgendjemand in seinem Kopf herumspazierte und dort wer weiß was mit ihm anstellen konnte, war für ihn der blanke Horror. „Du weißt, was ich davon halte.“

„Ja, das tue ich und solange es sich noch nicht um konkrete Erinnerungen handelte, habe ich deine Meinung dazu toleriert“, stimmte Theo. „Falsch angewandt kann Suggestion nicht nur helfen die Bruchstücke deiner Erinnerung zusammenzusetzen, sondern auch fehlende Puzzleteile durch völlig neue und womöglich falsche ersetzen. In einem solchen Fall richtet sie dann mehr Schaden an, als sie helfen würde. Dessen bin ich mir mehr bewusst als du, Ben. Das, was du beschreibst, wird immer extremer und ich sehe nicht, wie ich dir noch helfen könnte. Ich würde es dir nicht vorschlagen, wenn ich den geringsten Zweifel an dieser Methode haben würde. Ich würde sehr behutsam vorgehen und es wäre absolut sicher.“

Ben schüttelte den Kopf. Er war nicht dazu bereit.

„Warum erinnere ich mich erst jetzt an ihn?“

„Die Frage aller Fragen. Erinnerungen gehen nie wirklich verloren. Vor allem traumatische Erlebnisse begleiten uns ein Leben lang. Aber es gibt Phasen, in denen es uns gelingt, ihnen nicht so viel Aufmerksamkeit zu schenken und sie fast vollständig zu verdrängen. Auf diese Art lernen wir, mit ihnen zu leben.“

„Indem wir sie ignorieren?“

„Indem wir sie fern von uns halten“, verbesserte Theo ihn. „Es ist eine Art Metaperspektive. Übergeordnet. Mit zeitlichem und emotionalem Abstand. Ein kleiner Trick dessen sich unser Gehirn bedient, um das Erlebte Episode für Episode zu verarbeiten und letztlich zu überwinden.“

„Also habe ich ihn so lange verdrängt, bis es an der Zeit war, sich an ihn zu erinnern?“

„Nicht ganz. Zum einen verlaufen unsere Erinnerungen nicht chronologisch. Es ist nicht immer nachvollziehbar, warum und vor allem wann eine Erinnerung plötzlich wieder auftaucht. Aber ja, du hast erst eine gewisse emotionale Stabilität gebraucht, um dich ihm zu stellen.“

„Das klingt sehr dramatisch.“

„Vielleicht war es das auch, aber das muss es gar nicht sein. Es genügt, wenn du es damals so empfunden hast. Aus heutiger Sicht würdest du dem womöglich gar nicht eine große so Bedeutung beimessen. Wie alt warst du in deinem Traum?“

„12“, war Ben überrascht. Er wusste selbst nicht, warum er das so genau wusste und vor allem, warum er diesem Punkt bisher keine Bedeutung beigemessen hatte. Die Phase zwischen Kindheit und Erwachsenwerden. In seinem Fall, ein Jahr nach der Trennung seiner Eltern. Seine Mutter war ein nervliches Wrack. Eine trotz allen Widrigkeiten mutige Frau, die versuchte für ihren Sohn stark zu sein. Er sah, wie sehr sie litt und wollte ihr nicht zur Last fallen. Er litt mindestens ebenso stark wie sie in dieser Zeit.

Andere durften ihre erste Liebe erleben. Die erste Schwärmerei für jemanden aus den oberen Klassenstufen. Liebesbriefe. Schmetterlinge. Das alles hatte es für ihn erst sehr viel später gegeben. Er wollte diesen Lebensabschnitt einfach nur vergessen.

„Freunde?“

„Was?“

Nein! Ben war ein Einzelgänger gewesen. Die Sorgen und Nöte der anderen waren nicht die seinen. Er hatte wenig mit ihnen gemeinsam. Sie gingen sich nicht direkt aus dem Weg, aber sie suchten einander auch nicht.

„Feinde?“, grinste Theo. Ben schüttelte erneut den Kopf.

„Wenig Berührungspunkte“, erklärte er sich. Mehr gab es dazu nicht zu sagen.

„Wussten sie über dich Bescheid?“

„Ich weiß es nicht. Es war auch nicht wichtig.“

„Damals nicht?“

„Später auch nicht.“

„In Ordnung“, schloss Theo mit einer ausladenden Geste seinen Notizblock. Ein geheimnisvolles Lächeln verbarg seine Gedanken vor Ben. „Vielleicht solltest du ein paar Tage frei nehmen und deine Erinnerungen etwas auffrischen. Was hältst du von einem Ausflug in deine alte Heimat? Ein Besuch an deiner alten Schule. Das Haus, in dem du gewohnt hast. Der Eisladen, der dich im Sommer um dein Taschengeld gebracht hat. Vielleicht hilft es dir, ein paar zwischenmenschliche Lücken zu füllen?“

„Hältst du das in meiner jetzigen Situation für klug?“

„Naja, schaden kann es auf jeden Fall nicht. Ein paar freie Tage könnten dir guttun. Du musst mal raus hier und brauchst ein paar neue Eindrücke. Egal, was passiert. Es ist besser, als hier rumzusitzen und deinen Träumen nachzujagen. Wenn du so skeptisch wie jetzt bleibst, kann es durchaus sein, dass du dort gar nichts finden wirst. Selbst das wäre eine Erkenntnis, auf der wir aufbauen können. Verlass dich auf die Fakten und ignoriere alles, was du nicht zu einhundert Prozent beweisen kannst.“

„Wie soll ich das anstellen?“

„Das wirst du sehen, wenn es so weit ist und ich werde dir helfen, sobald du wieder zurück bist.“

ZWEI

Was die freien Tage anbelangte, vertraute Ben auf Theos Einschätzung. Sein letzter Urlaub war ein gutes halbes Jahr her. Also hatte er die anstehenden Feiertage genutzt und den Antrag für ein verlängertes Wochenende eingereicht. Anstatt den Freitag in einem stickigen Büro zu verbringen, teilte er sich die Autobahn von Hamburg bis in den Harz nur mit den üblichen LKWS und ein paar Kleintransportern. Erst am frühen Nachmittag würden die Pendler die Strecke in ein undurchdringliches Automeer verwandeln. Dann wäre er längst in Neuenrode und würde sich von der langen Fahrt erholen.

Es war eigenartig wieder hier zu sein. Schon während der gesamten Fahrt hatte Ben das Gefühl gehabt, sich außerhalb der Zeit zu befinden. Je näher er der kleinen Stadt im Harz kam, desto intensiver wurde es. Er hatte gehofft, dass er so etwas wie Freude erleben würde, sobald er die ersten Plätze wiedererkennen würde. Die alte Kirche. Der Marktplatz mit den bunten Lädchen. Der Stadtpark mit dem Springbrunnen und den vielen Blumen. Das war seine Heimat und müsste viele Erinnerungen wecken. Doch das geschah nicht. Alles wirkte seltsam fremd auf ihn, obwohl es sich kaum verändert hatte. Er wusste lange nicht, warum das so war.

Er verstand es erst, als er jetzt vor seiner alten Schule stand.

Sie war viel kleiner, als er sie in Erinnerung hatte. Wie ein Puppenhaus. Kaum vorstellbar, dass hier einmal ein paar hundert Kinder zur Schule gegangen waren. Der Schulhof war kaum größer als ein gewöhnlicher Kleingarten. Das damals imposante Eingangstor war nur eine zweiflüglige Tür mit Standardmaßen. Hier waren einmal zweihundertfünfzig Kinder über den Platz getobt und hatten ihre Lehrer zur Verzweiflung gebracht. Damals hatte es sich so angefühlt, als wäre dieser Ort der Nabel der Welt. Eine gigantische Welt, die nur ihnen gehört hatte.

Er war erwachsen geworden. Einen Meter neunundachtzig groß. Seine Perspektive hatte sich geändert. Was damals riesenhaft anmutete, wirkte nun winzig und fast schon erdrückend. Mit nur wenigen Schritten erreichte er die Schultür in betätigte die Klingel. Das gleiche schrille Geräusch wie damals erklang. Ben wagte es kaum zu atmen, bis ihm endlich geöffnet wurde und er sich erklären konnte. Auf dem Weg hierher hatte er sich einige Sätze parat gelegt.

Eine großgewachsene, schlanke Dame öffnete und lächelte ihm freundlich zu.

„Zu wem möchten Sie denn?“

Ben versuchte es mit möglichst viel Charme: „Ich war hier früher Schüler. Ich weiß natürlich, dass es nicht in Ordnung ist, wenn ich hier einfach reinspaziere und ich möchte auch nicht ihren Betrieb stören. Aber ich habe mich gefragt, ob es möglich wäre mit jemandem zu sprechen, der damals hier unterrichtet hat? Ich habe ein paar Fragen, bei denen mir derjenige vielleicht weiterhelfen könnte.“

Die Dame betrachtete ihn misstrauisch über ihren Brillenrand. Dreißig Jahre Berufserfahrung machten aus dem Zwei-Meter-Mann wieder den zwölfjährigen Jungen. Sein Selbstbewusstsein schwand.

„Sie sind nochmal wer, bitte?“, tadelte sie ihn, wie es nur Lehrer vermögen. Ben seufzte innerlich.

„Ben“, beeilte er sich zu antworten. „Ben Weigl. Es ist gute fünfzehn Jahre her.“

„Ein lange Zeit“, gab sie sich geheimnisvoll und betrachtete ihn voller Argwohn. Ben vermochte nicht zu erahnen, was sie dachte oder als nächstes tun würde. Er rechnete voll und ganz damit, im nächsten Moment die Tür vor der Nase zugeschlagen zu bekommen.

„Ich bin Frau Krämer, Ben. Ich habe dich in Deutsch und Kunst unterrichtet. Drei Jahre lang. Du hast vorne am Fenster gesessen, richtig?“

Ben war verblüfft, dass sie sich tatsächlich an ihn erinnerte, wohingegen es ihm fast unmöglich war, ihr damaliges Ich vor seinem geistigen Auge heraufzubeschwören.

Wenigstens ihr Lächeln wirkte vertraut auf ihn, also fasste er neuen Mut.

„Das ist lange her. Aber ja, es stimmt. Dass sie das tatsächlich noch wissen?“

„So lange liegt es nun auch wieder nicht zurück!“

Sie scherzte. Oder? Herrgott, diese Lehrer hatten eine Art mit einem zu reden, dass man sich stets und ständig schuldig fühlte, auch wenn man gar nichts angestellt hatte.

„Das war damals eine verrückte Zeit“, fuhr sie fort und Ben ahnte plötzlich, dass es einen Grund gab, warum sie sich an ihn erinnerte. „Wir wussten alle nicht, wie wir damit umgehen sollten. Ich persönlich war froh, als endlich Gras über die Geschichte gewachsen war.“

Wovon zum Teufel sprach sie da? Welche Geschichte? Was für eine verrückte Zeit? Worüber musste Gras wachsen?

‚Verdammt, Theo! Worauf habe ich mich da nur eingelassen?‘

„Haben Sie zufällig einen Moment Zeit für mich?“, fragte er behutsam. „Ich komme auch gerne etwas später noch einmal, wenn es Ihnen dann besser passt. Aber ich kann mich an kaum etwas erinnern und möchte mich gerne mit jemanden unterhalten, der mit etwas darüber erzählen kann.“

Frau Krämer unterbrach ihn mit einem leisen Seufzen. Er hatte seine Bitte vorgetragen. Jetzt lag es an ihr zu entscheiden, ob sie ihm gewährt werden würde. Normalerweise erinnern sich die Menschen gerne an alte Zeiten und schwelgen in gemeinsamen Erinnerungen. Ihr Zögern ließ ihn ahnen, dass es in seinem Fall keine guten waren. Er sah, wie sie mit sich um eine Antwort rang.

„Es war schön, dich wiederzusehen“, beeilte sie sich zusagen. „Ich kann dir leider nicht weiterhelfen, Ben. Tu dir selbst einen Gefallen und lass die alten Geschichten ruhen. Es ist besser so.“

Die Tür schloss sich mit einem lauten Knall. Ben war wie vor den Kopf gestoßen und lauschte, wie der Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde. Sie sperrte ihn tatsächlich aus. Er hatte noch nicht einmal einen Blick hineingeworfen.

Er stellte sich vor, wie er den ehrwürdigen Gang abschreiten und wie damals die schweren Holztüren anstarren würde, während er darauf wartete, dass jemand kommen und ihn in den Klassenraum hineinlassen würde. Jedes Wort, dass hinter diesen Türen gesprochen wurde, würde wie aus einer fernen Welt an sein Ohr dringen. Der strenge Tonfall seiner Lehrerin, die der Klasse die nächste Aufgabe erklärte. Das aufgeregte Gemurmel seiner Klassenkameraden, die sich nicht sicher waren, ob sie alles richtig verstanden hatten. Nur diesmal wären es eine andere Klasse und eine andere Lehrerin. Aber das Gefühl wäre dasselbe wie vor fünfzehn Jahren gewesen.

Vielleicht hätte er sich an etwas erinnert. An etwas, worüber Frau Krämer nicht mit ihm sprechen wollte. Etwas, das Teil seiner Träume war.

Ben schob die Hände in die Hosentaschen und ging langsam bis zum alten Tor. Der Hausmeister hatte es jedes Jahr zu Beginn der Sommerferien neu gestrichen. Jedes Mal in einer anderen Farbe. Dunkelblau, stellte er jetzt fest und fragte sich, welche es wohl damals gewesen war.

Der griesgrämige Herr hatte sie über den halben Hof ermahnt, ja nicht an die frische Farbe zu fassen. Wen er dabei erwischen würde, den würde er den kompletten Zaun neu streichen lassen. Er würde außerdem dafür sorgen, dass sie während ihrer sehnsüchtig erwarteten Ferien nichts anderes mehr tun würden, als ihm zur Hand zu gehen. Der alte Mann schimpfte eigentlich ständig, doch soweit Ben sich erinnern konnte, hatte keiner von ihnen auch nur einen Ferientag auf dem Schulhof verbracht. Niemals.

Die lautstarke Drohung des Hausmeisters hatte ihre Wirkung dennoch nie verfehlt. Sie hatten immer einen respektvollen Bogen um den Mann gemacht. Niemand wollte sich mit ihm anlegen und erst recht nicht, den ganzen Sommer unter seiner Fuchtel stehen.

Er verließ den Schulhof, ohne das Tor zu berühren.

Ben lief ziellos durch die Stadt und hing seinen Gedanken nach. Er hatte also seine Deutschlehrerin Frau Krämer getroffen. Immerhin und er hatte sich an den griesgrämigen Hausmeister erinnert. Also waren nicht alle seine Erinnerungen verschüttet. Er müsste nur den richtigen Ort finden, um sie zu aktivieren. Den zu finden würde viel Zeit in Anspruch nehmen und die hatte er nicht. Im blieben nur zwei kurze Tage in Neuenrode. Er wusste immer noch nicht, wer dieser Junge war und ob es ihn überhaupt gegeben hatte. Warum verfolgten die anderen ihn? Jedes Mal, wenn er ihnen begegnete, war es in der Schule geschehen. Entsprechend große Hoffnung hegte er hinsichtlich ihrer Besichtigung. Wenn er sich an etwas erinnern würde, dann müsste es hier geschehen, davon war er überzeugt. Allmählich musste er sich eingestehen, dass er wohl nicht in sie hineingelangen würde. Nicht ohne fremde Hilfe.

In Neuenrode gab es niemanden mehr, den er gekannt hätte. Sein Vater war weggezogen, nachdem er sich von ihnen getrennt hatte. Seine Mutter hatte die Stadt verlassen, nachdem Ben die Schule beendet hatte. Der Rest seiner Familie lebte seit jeher über das ganze Land verstreut und Freundschaften hatte er gemieden wie die Pest. Er wusste noch nicht einmal mehr, wer seine Nachbarn gewesen waren. Seine Kindheit schien nur aus bedeutungslosen Ereignissen zu bestehen. Zumindest war es das, woran er sich erinnerte.

Er war seinen Schulweg zu ihrem alten Haus abgelaufen und von dort zurück in die Stadt geschlendert. Kein Erinnerungsflash hatte ihn umgehauen. Niemand hatte ihn mit alten Geschichten überhäuft und mit vergilbten Fotos gelangweilt. Er fühlt sich in seiner Heimatstadt, in der Stadt, in der er aufgewachsen war, wie ein Fremder. Nicht direkt unwillkommen, nur so als würde niemand von ihm Notiz nehmen.

Und so war es auch. Niemand interessierte sich dafür, dass Benedikt Weigl nach fünfzehn Jahren wieder hier war und versuchte, an alte Bande anzuknüpfen. Das Leben war ohne ihn weitergegangen. Die Stadt hatte sich verändert, Läden hatten ihre Besitzer gewechselt und die Leute waren weggezogen. Junge Familien waren in die Stadt gekommen und hatten ihr ein neues Antlitz verliehen.

Ben zerbröselte den Rest seines Brötchens und warf es den Enten zu. Seit einiger Zeit hockte er am Ufer des kleinen Teiches im Stadtpark. Über ihm thronte eine Trauerweide, die beinahe so alt war wie er selbst. Sein Lebensbaum. Vor fünfzehn Jahren war er kaum groß genug gewesen, um ihm ein wenig Schatten zu spenden. Inzwischen war ein prächtiger Baum aus ihm geworden und er konnte sich unter seinen herabhängenden Zweigen verstecken und dem ausgelassenen Spiel der Enten zusehen.

Ein Schwan näherte sich ihnen. Majestätisch glitt er über das Wasser und senkte sein Haupt, um die größeren Brocken für sich zu beanspruchen. Die kleinen Entlein wagten es nicht, sich dem Giganten entgegenzustellen. Sie waren in der Überzahl. Schneller. Lauter. Sie waren es gewesen, die den edlen Spender zuerst entdeckt hatten und doch überließen sie ihm das Feld und straften ihn dafür mit Missachtung. Er nahm es mit edlem Gleichmut hin und glitt näher an ihn heran.

Ben lächelte dem Aristokraten zu und warf ihm das letzte Stück so entgegen, dass er es direkt mit dem Schnabel auffangen konnte.

„Ich danke dir, mein Freund“, rief er ihm zu und fasste einen Entschluss.

Sollten sie ihn doch ignorieren und ihm aus dem Weg gehen. Er würde bleiben. Er würde einen Weg finden, dass sie von ihm Notiz nehmen mussten und er würde nicht gehen, bis er die Informationen erhalten hatte, die er verlangte.

Eine Nacht, zumindest das hatte er sich vorgenommen. Er würde eine Nacht hier verbringen. Vielleicht auch zwei. Solange, wie es dauern würde, bis die Träume wieder zu ihm kamen. Bis dahin würde er sich unter sie mischen. An einem Ort, an dem sie ihm nicht aus dem Weg gehen konnten.

Auf dem Weg hierher war er an einem Pub vorbeigekommen. Wobei der Begriff viel zu vornehm klang, für das, was es wirklich war. Es handelte sich um eine alte Hütte mit schiefen Wänden, niedriger Tür und winzigen Fenstern. Nach heutigen Bauvorgaben und DIN-Normen hätte sie jeden Moment zusammenfallen müssen. Doch genau das würde sie wohl auch in den nächsten einhundert Jahren nicht tun. Beim genaueren Hinsehen erkannte man, dass sie aufopferungsvoll saniert worden war. Ihre dicken Mauern waren leuchtend weiß getüncht und bunte Blumen wucherten auf jedem noch so kleinen Fleckchen Erde. Es wirkte sehr einladend auf ihn. Eine große handbeschriebene Tafel lud zum Eintreten ein und pries das Tagesmenu an.

Lammsteak mit Baked Beans.

Bestens! Ben lief das Wasser im Mund zusammen. Außer einem trockenen Brötchen hatte er heute noch nichts gegessen. Er verspürte keinen Hunger aber der Gedanke an ein kühles Guinness, würziges Fleisch mit Bohnen regte seinen Appetit an. Ben freute sich auf ein gutes Essen und würde den Abend genießen. Der Barkeeper hatte bereits alle Hände zu tun und sogar ein aufmunterndes Lächeln für ihn übrig, als er sein Glas vor ihm abstellte. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft fühlte er sich willkommen.

Ben betrachtete das Kondenswasser und dirigierte es mit dem Mittelfinger zu kleinen Wassertropfen, die sich weiter sammelten und immer schneller auf den Tresen rannen. Dort bildete sich alsbald eine kleine Lache. Er stahl sich einen Bierdeckel, um das Malheur zu verbergen und sah sich unauffällig um. Niemand hatte ihn beobachtet. Der Laden war voll, viele Männer, junge wie ältere, waren gekommen und genossen ihr Feierabendbier. Nur wenige hatten, wie er, etwas zu Essen vor sich stehen und bei den meisten handelte es sich um eine Kleinigkeit wie eine Portion Pommes oder einen belegten Toast.

„Gegessen wird zu Hause!“, hörte er seine Großmutter sagen.

Er schmunzelte darüber, dass er sich ausgerechnet in einem Pub an die alte Dame erinnerte. Sie war eine richtige Lady gewesen und er hatte sie vergöttert. Ihr Haar war mit größter Sorgfalt frisiert und sie trug stets die schönsten Kleider. Ihr dunklen Augen hatten ihn mit solcher Liebe angesehen, als wäre er das Wichtigste auf der Welt für sie. Sie hatte die Wärme in sein Leben gebracht, die er an anderer Stelle so vermisst hatte. Eines Tages war sie aus seinem Leben verschwunden. Sie hatten nie wieder ein Wort über sie gesprochen.

Er sah sich die Männer genauer an. Kannte er einen von ihnen? Sollte er einen von ihnen kennen? Wer von ihnen war wohl in seinem Alter und mit ihm zur Schule gegangen? Kam ihm irgendjemand von ihnen bekannt vor?

Was hatte er sich eigentlich davon erhofft, als er hierhergekommen war? Er war noch ein Teenager gewesen, als er die Stadt verlassen hatte. Mit sechzehn war er ausgezogen und hatte seine Ausbildung begonnen. Es war nicht wichtig gewesen, was er tun würde. Viel wichtiger war, wo er es tun würde. So weit weg von hier wie nur möglich. Er wollte nach Hamburg, suchte die Anonymität der Großstadt und hatte dort seine Ruhe gefunden. Für eine Weile. Bis jetzt.

Sechzehn. Jetzt war er achtundzwanzig und ein erwachsener Mann. Er hatte sich verändert. Sie hatten sich verändert. Niemand würde ihn wiedererkennen, selbst wenn man sich fragen mochte, wer der Fremde am Tresen wohl sein könnte und was er hier zu suchen hatte.

Sie interessierten sich nicht für ihn. Sein Plan würde nicht funktionieren.

Was nun? Was konnte er noch tun, um zu erfahren, was ihn Nacht für Nacht heimsuchte?

Ob es helfen mochte, wenn er sich morgen noch einmal in der Schule bei Frau Krämer meldete? Manchmal half es, wenn man eine Nacht über gewisse Dinge schlief und sie mit etwas Abstand betrachtete. Vielleicht änderte sie ihre Meinung ja noch? Oder vielleicht war jemand anderes bereit, mit ihm zu sprechen?

Etwas anderes kam ihm in den Sinn. Sie hatte von einer alten Geschichte gesprochen. Eine Geschichte, die sie vergessen wollte. Vielleicht sollte er dort ansetzten. Wo es Geschichten gab, wurde geredet und wenn es interessant genug war, wurde davon sogar in den Medien berichtet.

Ben konnte sich gut an die kleine Stadtbibliothek erinnern. Er war ein paar Mal dort gewesen, um sich ein Buch auszuleihen. Er war jedes Mal enttäuscht gegangen, weil die vergilbten Seiten ihn in eine Zeit geführt hatten, die keine Antworten für jemanden wie ihn bereitgehalten hatte. Nun versuchte er sich zu erinnern, ob es dort neben den alten Klassikern auch ein Archiv gegeben hatte. Sammelte nicht jede Bibliothek die Ausgaben der lokalen Zeitungen und bewahrte sie für die nachfolgenden Generationen auf? Er konnte sich nicht erinnern, so etwas je gesehen zu haben.

„Du siehst traurig aus“, sprach ihn jemand über den Tresen an und Ben stellte überrascht fest, dass es nicht der Barkeeper war.

Der junge Mann saß übers Eck am Tresen und war somit sein Nachbar, ohne direkt neben ihm zu sitzen. Vor ihm stand ein halb leeres Glas, das er nun an seine Lippen hob. Ben war von diesem Anblick wie hypnotisiert. Zartes Rosa schloss sich um das kühle Glas und öffnete sich leicht, als er den Kopf in den Nacken legte. Er beobachtete die feinen Muskelkontraktion, als das Bier in kleinen Schlucken die schlanke Kehle hinabrann. Ben stellte sich augenblicklich vor, wie er seine Hand in das dunkle Haar grub und ihn am Hinterkopf zu einem Kuss heranzog.

Ben zwang sich, den hübschen Mann genauer anzusehen. Sonnengebräunte Haut. Hohe Wangenknochen. Der Typ sah umwerfend sexy aus. Er war etwas kleiner als er und extrem schlank, aber ganz sich kein Weichei. Er war es gewohnt, sich durchzusetzen. Seine Körperhaltung verriet eine solche Autorität, dass es Ben für einen Moment die Sprache verschlug.

„Ich denke nur nach“, wiegelte Ben ab. „Alles ok.“

„Wirklich? Vielleicht kann ich dir beim Nachdenken behilflich sein?“

Ben zog amüsiert die Augenbraue hoch. Flirtete der Kleine etwa mit ihm? Mitten in diesem altehrwürdigen Pub? Diese Stadt war viel zu klein, um ein solches Geheimnis für sich zu behalten. Daran würde sich nichts geändert haben und das wusste sein hübscher Gesprächspartner so sicher wie er selbst.

„Ich glaube kaum, dass du mir helfen kannst“, gab er sich skeptisch. Wenn er den Kleinen richtig einschätzte, würde er nicht locker lassen und ihn nun erst recht ausfragen. Er wollte sich nur etwas Zeit verschaffen, um sich die passenden Worte zurechtzulegen.

„Was hast du schon zu verlieren?“

„Eine Menge, im Moment weiß niemand, dass ich hier bin. Ich könnte einfach wieder verschwinden und niemand würde es je erfahren.“

„Dann tut es mir leid, dich enttäuschen zu müssen, Ben. Der mysteriöse Fremde, der ziellos durch die Stadt streift, war schon nach einer Stunde das Stadtgespräch Nummer eins. Sie haben nicht lange gebraucht, um herauszufinden, wer du bist. Was sie nicht wissen ist, warum du hier bist und was du an der Schule wolltest.“

Ben atmete langsam aus und betrachtete den Kleinen eindringlich. Sollte er ihn kennen? Sollte er irgendjemanden von den Männern hier im Pub kennen? Beobachteten sie ihn und warteten sie auf das, was er jetzt antworten würde?

So unauffällig wie möglich sah er sich um. Augenscheinlich hatte sich nichts geändert. Die Gespräche verliefen in der gleichen Lautstärke wie zuvor und wild durcheinander. Niemand hatte ihn im Visier und trotzdem fühlte er sich nun beobachtet.

„Entspann dich!“, grinste sein Gegenüber und streckte ihm die Hand entgegen. „Ich bin Mike. Ich kann dir wirklich helfen, aber dafür musst du mir ein bisschen was erzählen.“

„Damit es morgen die ganze Stadt weiß?“

Mike zuckte zurück als hätte er ihn mit einem Messer attackiert. Er wirkte enttäuscht.

„Ich gehöre nicht zu ihnen, falls dich das beruhigt. Ich wurde hierher versetzt, als ich mit meiner Ausbildung fertig war. Ein kleiner Ort mit seinen kleinen Problemen. Nicht gerade ein Traumjob, aber rückblickend hätte ich es schlimmer treffen können. Ich habe mich damit arrangiert und bin ganz zufrieden. Du dagegen, hast dieser Stadt über Jahre hinweg den Rücken zugekehrt und bist zurückgekommen. Wenn mich nicht alles täuscht, dann weil du nach etwas suchst. Richtig soweit?“

Ben nickte. Es gab nur wenige Jobs, für die man sich in so ein verschlafenes Nest versetzen lassen würde. Die Autorität, die er ausstrahle und die Art, wie er seine Fragen an ihn richtete, ließen nur den einen Schluss zu:

„Du bist also Polizist.“

Statt einer Antwort sah ihn Mike zum ersten Mal direkt in die Augen. Zwei helle Diamanten. Wunderschön. Klar. Viel zu wertvoll für einen Ort wie diesen.

„Erzählst du es mir jetzt?“

„Ich habe von ihr geträumt. Zumindest glaube ich das. Ich kann mich kaum noch an etwas erinnern. Ich möchte einfach wissen, ob es wirklich diese Schule ist und warum ich jede Nacht davon träume.“

„Was sind das für Träume?“

„Keine guten“, antworte Ben und überraschte sich selbst mit seiner Offenheit. „Da sind Kinder. Viele von ihnen. Sie kommen und gehen. Wie in einer Schule, aber irgendwie auch fremd. Es ist, als ob ich nicht da bin und sie machen mir Angst.“

„Wie stellen sie das an? Verfolgen sie dich?“

„Nicht mich. Jemand anderen.“

„Wen, kennst du die Person?“

„Ein Junge. Er ist so alt wie ich. Ich weiß nicht, ob ich ihn kenne, aber er scheint mir zu vertrauen.“

„Kennst du seinen Namen?“

Ben schüttelte den Kopf. Er sollte ihn kennen. Sie standen sich nahe. Sehr nahe.

„Warst du deshalb an der Schule? Um herauszufinden, wer er ist?“

„Ich wollte in dieses Klassenzimmer. Ich dachte, dass ich, wenn ich erst einmal dort wäre, mich vielleicht erinnern könnte. Ich wollte wissen, wie ich mich fühle, wenn ich dort bin. Ob diese Angst mit dem Gebäude zu tun hat oder an etwas ganz anderem liegt. Ach, ich weiß auch nicht. Vielleicht bilde ich mir das alles nur ein und es ist einfach nur ein Traum.“

„Denkst du denn, dass es nur ein Traum ist? Wärst du dann den ganzen Weg zurück gekommen, wenn es nur ein Traum wäre?“

Ben stütze die Ellbogen vor sich ab und legte den Kopf in seine Hände. War es nur ein Traum? Jedes Mal, wenn er sich dafür entschieden hatte, dass es nur ein verrückter Traum war, war er in der folgenden Nacht zurückgekommen. Intensiver und angsteinflößender als zuvor. Wäre er nur wegen eines Traumes hierher zurückgekehrt? Diese Frage hatte er sich in den letzten Tagen oft gestellt. Er ahnte, dass mehr dahintersteckte. Als er versucht hatte sich daran zu erinnern, war er diesem Jungen begegnet. Das war verwirrend, aber zumindest nicht weiter beängstigend gewesen.

Egal wie er es betrachtete, es blieb mysteriös und raubte ihm den Schlaf.

„Ich weiß es nicht. Aber was kann ich schon tun? Ich habe keine Erinnerung. Keinen Namen. Kein Bild. Niemanden, den ich fragen kann.“

„Was ist mit deinen Eltern?“

„Wir haben nicht das beste Verhältnis zueinander. Mit sechzehn bin ich von Zuhause ausgezogen und seitdem haben wir keinen Kontakt mehr.“

„Das tut mir leid.“

„Das muss es nicht. Es ist besser so. Für alle Beteiligten.“

„Also zurück auf Start. Die Schule. Mit wem hast du gesprochen?“

„Constanze Krämer, meine alte Deutschlehrerin.“

„Oh je! An der beißt du dir die Zähne aus. Die ist verschwiegen wie ein Grab und würde nie etwas tun, was gegen Recht und Ordnung verstößt. Kein Wunder, dass du genauso schlau wie vorher bist.“

Mike schnappte sich sein Handy und suchte nach einer Telefonnummer. Als er sie gefunden hatte, drehte er es zu ihm herum.

„Evelyn Hinrich, die Direktorin. Ich glaube sie hat mal Mathematik und Englisch unterrichtet. Keine Ahnung, ob sie dich kannte. Möglich wäre es. Auf jeden Fall wird sie dir helfen. Ruf sie morgen früh an. Sie wird dich reinlassen und dann kannst du dich dort ein wenig umsehen.“

Er schob ihm das Handy hin und Ben tippte auf Kontakt weiterleiten und gab seine Telefonnummer ein. Als sein Handy vibrierte, nahm Mike es wieder an sich und speicherte den neuen Kontakt unter Benedikt Weigl.

„Du hättest auch einfach nach meiner Nummer fragen können“, grinste Ben über diese kleine List.

„Das werde ich, sobald ich weiß, mit wem ich es zu tun habe.“

Der Kleine flirtete schon wieder mit ihm. Er musterte ihn und was er sah, schien ihm zu gefallen. Ben konnte nicht anders, als sich vorzustellen, ihn unter sich zu haben. Die hübschen Lippen leicht geöffnet. Die hellen Augen auf ihn gerichtet und voller Ekstase, während er ihn nahm. Ausdauernd und kraftvoll. Im Takt seines Herzschlags, der sich langsam steigerte.

Er wischte das Bild beiseite. Dazu würde es nicht kommen. Nicht mit ihm. Er war der erste freundliche Mensch in dieser Stadt und Ben hatte ein Talent dafür, zwischenmenschliche Beziehungen in den Sand zu setzen. Er würde jemanden anderen finden, um sich abzureagieren.

Ben sah auf die Uhr. Es war kurz nach neun. Die Nacht war noch jung. Wenn er sich beeilte, würde er es noch in die Anonymität irgendeines Darkrooms schaffen und dort auf seine Kosten kommen. Schnell und unpersönlich. Seine einzige Verpflichtung würde die zum geschützten Vollzug sein.

Er zwinkerte Mike zu und zahlte ungefragt ihre Rechnung. Morgen würde er einen neuen Versuch starten, dieser Stadt ihr Geheimnis zu entlocken. Sein Geheimnis.

Der nächste Tag startete abrupt, als das Zimmermädchen ihn mit einem spitzen Aufschrei aus dem Tiefschlaf holte. Urplötzlich war sie in seinem Zimmer aufgetaucht und hatte vor lauter Schreck den Ausgang nicht mehr gefunden. Ben war mehr auf sich selbst wütend als auf sie, weil er wieder einmal vergessen hatte, das „Bitte nicht stören“-Schild anzubringen. Dennoch funkelte er sie wütend an, während er versuchte, sich aus dem dünnen Laken zu wickeln, um nach nebenan ins Bad zu gelangen.

Im letzten Moment fiel ihm ein, dass dieses Laken das einzige war, das seine Blöße vor dem jungen Ding verbarg. Sein Schwanz hatte den plötzlichen Wechsel vom Traum in die Wirklichkeit nicht so schnell vollzogen und machte auch jetzt keine Anstalten, sich unauffällig zu verhalten. Dick und prall lauerte er unter dem Laken und natürlich waren ihr die eindeutigen Konturen nicht entgangen, wie ihm ihre glühend roten Wangen verrieten. Den Blick fest auf seine Körpermitte gerichtet, brachte sie noch immer kein vernünftiges Wort hervor.

Er raffte etwas mehr Stoff zusammen und erhob sich aus dem Bett. Langsam und möglichst würdevoll näherte er sich ihr. Ihre Augen weiteten sich mit jedem seiner Schritte. Er war einen guten Kopf größer als sie und kräftig genug, jede Widerwehr im Keim zu ersticken. Sie wich keinen Zentimeter zurück, als er bei ihr war. Er spürte ihren Atem auf seiner Brust und sah, wie sie seinen Duft einsog.

Er roch nach Sex. Anders, als sie es kannte. Ohne den weiblichen Part. Aber dennoch eindeutig nach einer langen, explosiven Nacht. Das Aufblitzen ihrer Augen amüsierte ihn. Das kleine Herz schlug aufgeregt in ihrer Brust.

„Ich gehe jetzt unter die Dusche“, raunte er ihr zu. Sie erbebte beim Klang seiner rauen Stimme. „Nur zehn Minuten, dann bin ich hier verschwunden und du kannst tun und lassen was du willst. Einverstanden?“

Sie nickte hastig.

Ben drückte sich an ihr vorbei und trat ins Badezimmer. Vorsorglich schloss er die Tür hinter sich und verfluchte sich im selben Augenblick. Es war stockdunkel hier drinnen, aber er würde sich nicht die Blöße geben, sie noch einmal zu öffnen. Er war froh, ihren Blicken entronnen zu sein. Er tastete die Wand neben der Tür nach einem Lichtschalter ab.

Fehlanzeige.

‚Denk nach, Ben!‘

Der Spiegel. Mit etwas Glück befand sich dort eine zweite Lampe. Rechts neben sich fand er den Waschtisch, die Kuhle darin verriet ihm, wo das Becken war und wo sich in etwa der Spiegel befinden müsste. Vorsichtig fuhr er über die kühle Wand und fand, wonach er suchte.

Als das Licht aufflammte, schloss er instinktiv die Augen. Verdammt, war das hell! Er spürte den stechenden Schmerz selbst durch die geschlossenen Lider. Ganz vorsichtig öffnete er sie und betrachtete das übernächtigte Wesen, das ihn aus dem Spiegel ansah.

Verflucht, er verstand beim besten Willen nicht, warum die Kleine so angetan auf ihn reagiert hatte. Dunkle Augenringe, unrasiert, die Haare wild durcheinander. Er war völlig hinüber. Ab dem Hals abwärts machte er zumindest einen halbwegs passablen Eindruck. Schlanke Muskeln, glattrasierte Haut. Sie hatte diesen besonderen Bronzeton, wie man ihn nur an der Küste bekam.

Darunter das Teil, das ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Noch immer halb erigiert hing er schwer zwischen seinen Beinen. Ben ließ das Laken zu Boden gleiten und betrachtete den Übertäter. Er war lang und gerade, ohne sichtbare Äderung. In wenigen Handstreichen würde er zu seiner vollen Größe anschwellen. Er könnte sich selbst einen runterholen und sich dabei zusehen, wie er kam, während die Kleine zitternd vor der Tür stand und auf jedes Geräusch achtete, das er von sich gab. Ben widerstand der Versuchung, das Prachtexemplar in die Hand zu nehmen und schob sich unter die Dusche. Als er das Wasser aufdrehte, hörte er, wie endlich die Zimmertür ins Schloss fiel.

Wie spät es wohl sein mochte? Wahrscheinlich hatte er das Frühstück längst verpasst. Wenn die Hausdamen schon durch die Zimmer gingen, war es vermutlich zu spät, um noch auszuchecken. So wie der Laden aussah, würde man wohl darauf bestehen, dass er die zweite Nacht mitbezahlte. Also konnte er ebenso gut noch eine Nacht bleiben.

Na schön, es war Samstag. Sonnige zwanzig Grad und der Tag noch jung. Vielleicht hatte er Glück und Frau Hinrich würde sich etwas Zeit für ihn nehmen.

Ben stellte das Wasser ab und schwang sich ein Handtuch um die Hüfte. Sein Handy lag griffbereit neben dem Bett. Der Akku war voll. Wenigstens daran hatte er gestern Abend noch gedacht. Er zog das Kabel ab und suchte nach Evelyn Hinrich.

„Ja, bitte?“, erklang eine freundliche Stimme.

Er hasste es, wenn man ein Gespräch derart salopp entgegennahm. Auf ihrem Display stand eine unbekannte Telefonnummer und es bestand eine geringe Chance, dass sich der Anrufer nur verwählt hatte. Sie konnte unmöglich wissen, wer er war oder warum er sie sprechen wollte. Die Höflichkeit hätte es geboten, sich mit vollem Namen zu melden. Nun war es an ihm, diesen Sachverhalt aufzuklären.

„Ben Weigl“, meldete er sich. „Spreche ich mit Frau Hinrich?“

„Ja, das tust du, Ben. Was kann ich für dich tun?“

Ben stutzte ob der vertraulichen Anrede. Das war eine kleine Stadt und die Wahrscheinlichkeit, dass er einmal ihr Schüler gewesen war, somit relativ hoch. Trotzdem glaubte er nicht, dass sie jeden Anrufer einfach so duzte.

Sie hatte seinen Anruf erwartet, soweit war er sich sicher. Das erklärte auch ihre unbekümmerte Art zu Beginn ihres Gesprächs. Schließich war er seit gestern das Stadtgespräch Nummer eins. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er auf sie zukommen würde. Wahrscheinlich hatte Mike ihn bereits angekündigt.

„Ich“, begann er und überlegte es sich anders. „Das zu erklären, würde ewig dauern. Ich würde gerne meine Erinnerungen auffrischen und meine alte Schule besuchen. Es gibt ein paar Dinge, an die ich mich erinnere oder von denen ich glaube, dass es Erinnerungen sind. Einiges davon kann ich mir nicht erklären.“

„Was für Dinge, Ben? Was hat das mit der Schule zu tun?“

„Es ist der einzige Ort, an den ich mich erinnere. Der Bezug scheint also ziemlich stark zu sein und ich glaube, dass ich hier am ehesten etwas finde, das mit weiterhilft. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, wo ich mit meiner Suche sonst ansetzen sollte.“

„Warum ist es so wichtig für dich?“

Sie war misstrauisch. Natürlich war sie das. Das wäre er an ihrer Stelle auch gewesen. Sie konnte ja noch nicht einmal sicher davon ausgehen, dass er wirklich der war, der er vorgab zu sein. Ben Weigl, ein ehemaliger Schüler. Wie viele Schüler mochte sie in all den Jahren unter ihrer Aufsicht gehabt haben? Ob sie sich wirklich an jeden einzelnen erinnerte?

Frau Krämer hatte ihn erkannt und sich an ihn erinnert. Vielleicht hatten die beiden sich über ihn unterhalten? Die Stadt war klein. Es wurde viel geredet. Das würde erklären, warum dieses Gespräch so ganz anders verlief als das gestrige mit Frau Krämer. Keine Spur von Ablehnung. Nur die drängende Frage nach dem Warum.

„Das ist schwer zu erklären. Vielleicht, wenn wir uns irgendwo treffen könnten. Das lässt sich besser persönlich besprechen als am Telefon.“

„In Ordnung. Also sagen wir um eins an der alten Schule. Was denkst du, schaffst du es pünktlich dort zu sein?“

„Ja!“, Ben war viel zu überrascht, um etwas anderes zu antworten. Seine Fragen waren wie weggeblasen. Unwichtig, angesichts der vagen Hoffnung, dass sie ihn treffen und anhören würde. „Ja, klar. Um eins ist super. Dankeschön, Frau Hinrich!“

„Dafür nicht, Ben. Wer weiß, ob ich dir überhaupt helfen kann.“

Ben hegte daran keinen Zweifel, er wusste es.

Er wusste, dass sie etwas verändern würde. Auf die eine oder andere Weise würde sie ihm helfen. Er könnte seine Träume endlich als Hirngespinste abtun und zum normalen Leben zurückkehren. Die Endgültigkeit dieser Option erschreckte ihn. Seine Träume verfolgten ihn nun schon seit Monaten. Seit Wochen waren sie so intensiv, dass er kaum noch Schlaf fand. Kaum vorstellbar, dass das nun schon bald vorüber sein sollte. Die Alternative war, dass sie das Tor zu seinen Erinnerungen öffnete und alles noch viel schlimmer machte. Was, wenn seine Angst real gewesen war? Sobald er wüsste, wovor er sich gefürchtet hatte, wäre es für eine Umkehr zu spät.

In beiden Fällen hatte er etwas, das er mit Theo aufarbeiten und hinter sich lassen konnte. So, wie er diese kleine Stadt hinter sich lasse wollte. Ihre winzigen Häuser mit den bunten Fassaden und dem allgegenwärtigen Fachwerk. Er fühlte sich wie in einer überdimensional großen Ausgabe einer Modelleisenbahn. Noch nicht einmal die gab es in seiner Heimatstadt. Selbst für eine Zuganbindung war Neuenrode viel zu klein. Zu unbedeutend.

‚Heimat!‘, schnaubte er verächtlich. Was war das schon? Der Ort seiner Geburt? Der Ort, an dem er laufen und sprechen gelernt hatte? An dem irgendetwas Bedeutsames in seiner Vergangenheit geschehen war, das ihn nun unwiderruflich zu seiner Heimat machte? Was sagte das über ihn aus? Machte es ihn zu einem besseren Menschen, weil er eine gewisse Zeit hier gelebt hatte? War dieses Örtchen überhaupt noch ein Teil von ihm?

Heimat sollte etwas sein, mit dem wir uns identifizieren. Etwas, von dem wir voller Stolz sagen können, das bin ich. Ben kannte Menschen, die von sich behaupteten, Hamburger zu sein. Geboren, gelebt und gestorben in Hamburg. Das waren echte Hamburger. Niemand konnte ihnen dieses Status nehmen und es erfüllt sie mit Stolz. Es gab sie noch, stolze und unbeugsame Kinder des Nordens. Gleich welcher Gesellschaftsschicht sie entstammten, strahlten sie eine Würde aus, die unergründliche war. Das war Hamburg. Das waren sie und ihre Heimat.

Nicht die seine, obwohl er hier seit mehr als zehn Jahren lebte und sich wohlfühlte.

War Heimat also nur der Ort, an dem seine Wurzeln lagen? Wo seine Familie lebte? Die gab es nicht mehr. Die wenigen Verwandten, die ihm geblieben waren, lebten so weit verstreut, wie es nur möglich war. Sie fühlten sich keinem Stück Land verbunden, lebten in Berlin und Hamburg, betrieben ein Gehöft auf dem Land oder verrichteten ihr Tagwerk in irgendeiner Fabrik. Er hatte keine Wurzeln.

Was war dann also seine Heimat?

Nur ein Ort der Erinnerung? Oder doch etwas mehr? Was verband er sonst noch mit diesem Ort? War nicht genau das, das eigentliche Problem? Das Nicht-Verbunden-Sein? Nicht dazu zu gehören? Anders zu sein?

Dennoch spürte er diese tiefe Sehnsucht in sich. Ein warmer Hauch, der ihn sanft streifte und dann einhüllte, zusammen mit etwas, das er nicht begreifen konnte. Es gab eine Bindung. Irgendetwas war da, stark und ungebrochen.

Es war zum Verzweifeln und es schmerzte ihn.

Ben blieb abrupt stehen und starrte auf seine schmerzenden Füße. Er war die ganze Zeit über gelaufen. Durch die Stadt, in den Park und dann Runde um Runde um den Teich herum. Sein Freund, der Schwan, begleitete ihn seit geraumer Zeit auf dem Wasser und betrachtete ihn nun neugierig von der Seite. Ohne Scheu sahen sie einander an. Auge in Auge.

Ben kramte in seiner Jackentasche und fand tatsächlich noch ein paar Krumen, die er ihm zuwerfen konnte. Wie am Tag zuvor fing er sie geschickt in der Luft auf und belohnte Ben mit einer eleganten Verbeugung.

Ein Abschied.

Ben sah auf die Uhr und stimmte zu. Wenn er pünktlich an der Schule sein wollte, dann musste er sich jetzt sputen.

Er erkannte Frau Hinrich daran, dass sie die einzige Person war, die vor der Schule stand. Sie musste es sein. Sehr zart, ein kecker Kurzhaarschnitt und ein freundliches Gesicht. Sie trug eine schmal geschnittene Hose und ein hellgrünes Shirt. Sie sah darin so gewöhnlich aus, dass Ben sich beim besten Willen nicht erinnern konnte, sie jemals irgendwo gesehen zu haben.

Noch bevor er sie ganz erreicht hatte, streckte sie ihm ihre Hand entgegen und nötigte ihn, sie zu ergreifen. Er mochte diese aufgezwungenen Höflichkeitsrituale nicht. Sie waren einander fremd und mussten so etwas nicht tun. Selbst wenn sie sich einmal gekannt, hatten, war das inzwischen längst in Vergessenheit geraten.

Ben nahm ihre Hand in beide Hände, zog sie dicht an sich heran. Sie stand nur einen Lufthauch von ihm entfernt und musste zu dem fast zwei Köpfe größeren Mann aufsehen. Die Situation war ihr sichtlich unangenehm. Ben war sich sicher, dass sie seine Geste verstanden hatte und ließ sie los.

„Hallo Frau Hinrich“, fügte er versöhnlich hinzu. „Danke, dass Sie sich die Zeit für mich nehmen.“

„Nun, dafür bin ich ja da“, stammelte sie. Was genau sie damit meinte, blieb ihr Geheimnis. Ben deutete auf die Schultür: „Wollen wir?“

„Bitte, nach dir. Sie ist offen. Wir können überall hingehen, ich darf nur nicht vergessen, alles wieder abzuschließen, sonst bekomme ich am Montag eine Menge Ärger von den Klassenlehrern.“

„Dann werde ich ein Auge darauf haben“, versprach Ben und legte die Hand auf den Türgriff. Er war warm. Natürlich war er das. Sie erlebten den Beginn eines wundervollen Sommers und er hatte dieselbe angenehme Temperatur wie seine Umgebung. Seine Oberfläche war so glatt, dass sie sich beinahe weich anfühlte. Wie viele Kinderhände hatten ihn wohl schon berührt und ihm damit sein blankpoliertes Aussehen verliehen?

Was auch immer er erwartet hatte, das hier war ein völlig normaler Türgriff.

Im Stillen wiederholte Ben sein Mantra: Alles ist ganz normal. Bloß nicht durchdrehen.

Er öffnete die Schultür und ging hinein.

Für einen winzigen Moment war es, als würde er Raum und Zeit durchschreiten. Als könnte er wieder der zwölfjährige Schüler sein und müsste sich sputen, um die nächste Stunde nicht zu verpassen. So schnell, wie er gekommen war, war der Moment auch wieder verschwunden. Das war nicht die Schule aus seinem Traum. Nicht so düster. Die Wände leuchteten in frischen Farben und hübsche Bilder hingen daran. Alles war kleiner. Enger. Wenn er seine Arme ausstreckte, so konnte er die Wände des Flurs beinahe zu beiden Seiten berühren.

Es war anders und doch war es ihm nicht fremd. In den dunklen Ecken lauerten die Schatten der Vergangenheit und warteten auf ihn. Bei passender Gelegenheit würden sie sich ihm zeigen. Er wusste, sie waren nicht hier und würden ihn nicht aufschrecken. Frau Hinrich war bei ihm. Sie wartete darauf, dass er sich für eine Richtung entscheiden würde.

Welche sollte er wählen? Auf der einen Seite mündete der Gang in einem großen Panoramafenster, durch das er die Autos auf der Straße erkennen konnte. Ben wusste nichts damit anzufangen und entschied sich für den Gang links von ihm. Er wirkte vertrauter, wenn auch nicht unbedingt vertrauenserweckend. Dieser Gang hatte weder Fenster vorzuweisen noch war er bis zum Ende einsehbar. Etwa zehn Meter von ihnen entfernt verlief er in einer sanften Biegung nach links und entzog sich seinem neugierigen Blick.

Die Eingangstür fiel mit einem lauten Knall ins Schloss. Ben schreckte ungewollt auf. Die Enge griff nach ihm. Düsternis hüllte ihn ein und die Angst kroch an ihm hoch. Willkommen zurück! Oh ja, das war ihm allerdings vertraut. Seine Angst versuchte ihn zu lähmen, doch Ben kämpfte dagegen an. Er zwang sich, einen Schritt nach vorne zu machen. Weiter hinein. Er musste sehen, wohin der Gang führte.

Jeder Schritt war eine Qual. Seine Beine waren steif und gehorchen seinem Willen nicht. Jeden Schritt tat er ungelenk und unter äußerster Anstrengung. Er hatte Angst, er könnte das Gleichgewicht verlieren. Seine Beine waren schwer und dann wieder federleicht. Sein Herz schlug immer schneller.

Panik. So musste es sich anfühlen, wenn man in Panik geriet.

In dem Versuch, sich zu beruhigen sah er nach oben. Modrig braunes Licht kroch an den Wänden entlang und auf ihn zu. Es kam vom anderen Ende des Ganges. Von dem Ende, das er nicht sehen konnte. Also musste dort eine schwache Lichtquelle sein.

Seine Schritte hallten in dem leeren Gebäude. Hundertfach hörte er ihr leises Echo. Waren es wirklich nur seine Schritte, die er so deutlich vernahm? Waren sie es? Wo waren sie?

Würden sie sich zu erkennen geben, sobald er die Biegung erreicht hatte?

‚Atme!‘, rief er sich zur Ordnung.

Sein Brustkorb weitete sich. Sauerstoff strömte in seine Lungen und erfrischte seinen Geist.

‚Gut so. Das ist nicht dein Traum. Du bist wirklich hier. Du bist nicht allein. Jemand ist mit dir hereingekommen. Also sieh dich um, es ist eine ganz normale Schule.

Alles ist ganz normal.‘

Beim nächsten Schritt würde er um die Ecke biegen und erkennen, dass er sich völlig umsonst gesorgt hatte. Wahrscheinlich sah es hier ganz anders aus als in seinem Traum. Alles wäre heller, bunter und freundlicher.

Ben vernahm ein schlurfendes Geräusch direkt hinter sich. Wie von einer Tarantel gestochen fuhr er herum und starrte ins Dunkel. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Seine Lunge verweigerte ihm ihren Dienst und sein Kopf drohte zu zerbersten.

Was zur Hölle war das gewesen?

Niemals zuvor waren sie ihm so nahe gekommen. Wie hatte er so dumm sein und ihnen in die Falle gehen können? Das war ihr Reich. Hier hatte er ihnen nichts entgegenzusetzen. Diesmal würden sie ihn bekommen.

„Entschuldige“, flüsterte Frau Hinrich. „Ich wollte dich nicht erschrecken.“

Sie stand gebeugt über einen Müllbehälter und schob ihn auf seinen Platz zurück. Ben vernahm dasselbe schlurfende Geräusch noch einmal und erschauerte erneut.

„Schon gut“, murmelte er verlegen. Was tat sie da nur? Warum musste sie ausgerechnet jetzt damit anfangen hier aufzuräumen?

„Soll ich das Licht anschalten?“, fragte sie behutsam.

„Nein!“

Nein, das würde den Eindruck zerstören. Deswegen war er doch gekommen. Er musste es schaffen. Wieder versuchte er sich zu beruhigen. Einatmen. Ausatmen.

Umdrehen.

Ein letzter Schritt.

Er hatte Angst. Wirkliche, pure Angst.

Er legte seine Hand an die Mauer und schob sie langsam nach vorne. Er spürte den rauen Putz unter seiner Hand, die Kälte des Mauerwerks. Wie von selbst folgte ihr sein Körper. Er hielt den Atem an. Behutsam schob er sie um die Biegung herum.

Sie war noch da.

Ganz normal. Nichts war geschehen.

Ben fasste all seinen Mut zusammen und ging weiter.

Über ihm schwappte die tosende Brandung zusammen. Eine Urgewalt, lärmend und absolut tödlich. Da war sie, seine Panik und er konnte nichts dagegen tun.

Da waren sie.

Viele von ihnen. Sie liefen auf ihn zu. An ihm vorbei. Beachteten ihn nicht. Ein langer, gerader Gang. Hohe Wände. Dunkel. Grau. Unheimlich.

Das war der Ort, an dem seine Träume jedes Mal begonnen hatten. Die hohen Türen, mit den winzigen Oberlichtern. Das vergilbte Glas am Ende des Ganges, durch das kaum noch Licht hereinfiel. Vielleicht hatte es das nie getan? Die Wände waren kahl und kalt.

Ben rannte los. Erst am Ende des Ganges würde er in Sicherheit sein. Dort befand sich der Raum, in dem er den Jungen getroffen hatte.

Er musste ihn sehen. Den Raum.

Den Jungen.

Auf dem Weg dorthin blendete er alles um sich herum aus. Nichts sehen. Nichts hören. Nur fort von hier. So weit wie möglich weg von den anderen. Viel schneller als erwartet, erreichte er die rettende Tür. Er zerrte am Griff und musste feststellen, dass sie verschlossen war.

‚Bleib ruhig!‘, schalt er sich. ‚Sie sind nicht hier. Niemand ist hier. Frau Hinrich wird sofort bei dir sein und dich hineinlassen.‘

Atemlos starrte er auf die verschlossene Tür. Er würde nicht zurückblicken. Sie kamen. Frau Hinrich kam. Er hörte ihre Schritte, das leise Klappern ihres Schlüssels.

Was erwartete ihn hinter dieser Tür? Wäre er dort in Sicherheit? Ein Garten der Glückseligkeit? Stand er vor einem Zaubertor, durch das diese unheimliche Atmosphäre nicht dringen konnte?

Sie war fast bei ihm.

Er würde es gleich herausfinden. Er würde hineingehen und …

Ja, was eigentlich? Aufwachen?

‚Sei vernünftig, Ben! Du wirst ihr ein paar Fragen stellen. Zu dem Jungen. Über dich.‘

Über die anderen.

‚Nein! Ganz bestimmt nicht. Nein!‘

Sie würden eine nette kleine Unterhaltung führen und dann würde er von hier verschwinden. Er hätte nicht herkommen sollen. Nicht an diesen Ort. Noch nicht einmal in diese Stadt. Niemals. Nie mehr.

Er hörte, wie der Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde, sah, wie er sich darin drehte. Die Tür sprang auf und der Spuk war vorbei. Ben atmete erleichtert auf.

Er fand ein völlig normales Klassenzimmer vor. Stühle, Tische, eine Tafel. Hohe Fenster, die auf den Schulhof wiesen und ihn ratlos zurückließen. Ein Ort der Glückseligkeit, weiß Gott. Doch nicht der, den er erwartet hatte.

„Was war das eben mit dir?“, fragte Frau Hinrich.

Angst.

Es war das erste, was ihm einfiel. Das Einzige, das einen Sinn ergab. Angst, so rein und so intensiv, wie er sie noch nie in seinem Leben verspürt hatte.

Ben ballte die Fäuste, bis es schmerzte. Er wusste noch immer nicht, wovor er sich eigentlich gefürchtet hatte. Aber es war schlimmer als jemals zuvor.

„Ben?“, versuchte sie es noch einmal. „Wieso bist du hier?“

„Ich träume.“

Er drehte sich zu ihr herum und bat sie mit einer ausladenden Bewegung, sich zu setzen. Das zu erklären, würde eine Weile dauern.

„Jede verdammte Nacht träume ich von diesem Ort. Der Gang, draußen, er hat sich nicht verändert. Ich hatte gehofft, ich könnte mich an irgendetwas erinnern. Herausfinden, warum mich meine Träume immer wieder hierher zurückbringen.“

„Es hat nicht funktioniert, oder?“

„Nein.“

Er spürte das Brennen der Sonne auf seiner Haut. Wärme. Doch sie wirkte nur äußerlich. In seinem Innersten fror er erbärmlich. Seine Hände waren eiskalt.

„Es sind keine guten Träume“, erriet sie.

Ben schüttelte leicht den Kopf. Er sah sie nicht an. Seine Schuhe hatte dieselbe Farbe wie der Boden unter ihm.

„Woran erinnerst du dich?“

„Da waren Kinder. Viele Kinder. Sie haben keine Gesichter, ihre Körper sind unscharf. Sie laufen an mir vorbei und durch mich hindurch.“

„Mhm“, ermutigte sie ihn zum Weitersprechen. „Das passt. Woran erinnerst du dich noch.“

„Sie machen mir Angst. Sie dürfen mich nicht sehen. Aber die Gefahr besteht wohl auch gar nicht, weil sie mich kaum beachten.“

„Sehr gut. Was denkst du, machen sie gerade?“

„Sie laufen an mir vorbei, verfolgen jemanden anderen. Einen Jungen.“

Sie nickte, also sprach er weiter: „Ich möchte nicht, dass sie ihn verfolgen. Sie sollen ihm nicht wehtun. Doch ich darf nicht zu ihm. Er will es nicht.“

„Kannst du ihn beschreiben? Siehst du ihn besser als die anderen?“

„Wie ein Zigeunerjunge. Dunkle Locken, schwarzen Augen. Braungebrannt. Ein bisschen wie Huckleberry Finn. Die Hose zerschlissen, die Füße schmutzig.“

Sie kicherte: „So hast du ihn also in Erinnerung? Wie einen verwahrlosten Tagelöhner und Herumtreiber?“

Ben sah sie verblüfft an.

„Ihn? Sie wissen, wer er ist?“

„Ich kann es mir denken“, nickte sie. „Das konnte ich schon, bevor du ihn mir beschrieben hast. Du hattest an dieser Schule nur einen einzigen Freund. Niemand sonst hat es geschafft, dein Vertrauen zu erringen. Er muss es sein, auch wenn er alles andere als ein heruntergekommener Vagabund war.“

„Wer war er?“

„Gordon. Sein Name war Gordon. Erinnerst du dich an ihn?“

Ben schüttelte den Kopf. Es gab also tatsächlich eine Verbindung zwischen ihnen. Nicht nur das, sie waren sogar eng befreundet gewesen. Wieso nur erinnerte er sich nicht an ihn?

„Gordon und wie weiter?“

„Gordon Wexler. Er war ein Einzelgänger, so wie du. Womöglich habt ihr euch deshalb so gut verstanden. Solange es ging, wart ihr beide unzertrennlich.“

„Solange es ging? Was ist denn passiert?“

Sie schüttelte sanft den Kopf, als wollte sie eine Erinnerung abschütteln.

„Er musste fort, ist zusammen mit seinen Eltern weggezogen. Du warst danach nicht mehr wiederzuerkennen, hast niemanden an dich herangelassen. Deine Noten waren weiterhin tadellos, aber du hast von diesem Tag an mit keinem von uns mehr gesprochen.“

Er sah den Schmerz in ihren Augen. Sie rang mit sich und flehte ihn an, keine Fragen mehr zu stellen.

„Wann war das?“, fragte er schroff. „Wie alt war ich, als das passiert ist?“

„Ihr wart noch sehr jung. Diese vorpubertäre Phase zwischen zwölf und dreizehn. Der Stimmbruch war bereits vorüber, aber körperlich wart ihr noch Kinder.“

Ben konnte es nicht fassen und rechnete nach. Mit sechzehn war er von hier verschwunden. Drei lange Jahre an dieser Schule in vollkommener Selbstisolation. Eine verdammt lange Zeit, ohne einen einzigen Vertrauten an seiner Seite.

„Sie wollen mir ernsthaft weismachen, dass ich all die Jahre nicht einen einzigen Freund gehabt habe? Das ist nicht normal, finden Sie nicht?“

„Nein, das ist es nicht. Aber irgendwann haben beide Seiten dieses Arrangement akzeptiert. Es zu ändern, hätte nur neuen Streit hervorgerufen.“

„Was für Streit?“, horchte Ben auf.

Diesmal presste Frau Hinrich ihre Lippen aufeinander. Kein Wort würde ihr mehr darüber entweichen. Sie hatte schon zu viel gesagt. Ben wusste, dass er es für heute dabei belassen musste.

Er hatte mehr erfahren, als er erhofft hatte. Er wusste nun, dass es diesen Jungen tatsächlich gegeben hatte. Er hatte sogar einen Namen: Gordon Wexler. Das war nicht viel, aber vielleicht ein guter Anfang.

‚Halte dich an die Fakten!‘, hatte Theo ihm geraten.

Das war leichter gesagt als getan, denn bis auf diesen Namen gab es nur wenige weitere Fakten für ihn. Gordon hatte die Schule mit zwölf oder dreizehn Jahren verlassen. Das bedeutete, dass er in keinem Jahrbuch auftauchen würde. Also gab es kein Foto von ihm. Nichts, anhand dessen er seinen Traum hätte überprüfen können.

Seine Erinnerung ließ ihn nach wie vor im Stich und er konnte sich an rein gar nichts erinnern. Was das anbelangte, war er so schlau wie vor seiner Reise.

Immerhin hatte er einen Namen. Gordon Wexler war nicht gerade ein Allerweltsname. Ben kramte sein Handy hervor und tippte ihn in die Suchmaschine ein. Zwei Millionen Einträge in weniger als einer Sekunde. Vielleicht war es ja doch ein Allerweltsname? Die meisten Einträge stammten aus dem englischsprachigen Raum und betrafen einen Gordon Wexler aus der Zeit der Prohibition. Den konnte er guten Gewissens ausschließen und setzte den Filter auf Deutsch.

Erneut wurden ihm vergilbte Fotos des Alkoholschmugglers und diverse Artikel über ihn angezeigt. Dazwischen gab es einige Irrläufer. Die Qualität der Treffer besserte sich auch nicht, als er den Suchfilter auf Wexler einschränkte. Wenn es einen Mann mit diesem Namen gab, dann verfügte er über kein digitales Profil.

Es musste doch einen Eintrag zu ihm geben? Niemand schaffte es ein Leben lang spurlos durch das Internet. Es gab immer einen Wettkampf oder einen Zeitungsartikel, in dem man erwähnt wurde, überlegte Ben. Frau Krämer hatte so eine Geschichte erwähnt. Es sollte Gras darüber wachsen. Auch Frau Hinrich hielt sich dazu bedeckt. Aber es hatte sie gegeben und ganz bestimmt hatte jemand etwas dazu veröffentlicht. Er musste den Beitrag nur finden. Sie waren zwölf Jahre alt gewesen. Fünfzehn Jahre waren also vergangen. Ben fügte 2005 zu seiner Suche hinzu.

Nichts.

Egal, wie er die Suchkriterien wählte. Für das Internet war Gordon Wexler und was auch immer es über ihn zu erzählen gab wohl zu uninteressant. Wenn überhaupt etwas dazu veröffentlicht worden war, dann hatte man Gordons Namen und alles, was ihn auf die richtige Spur hätte bringen können, fein säuberlich aus der Berichterstattung herausgehalten.

Ben schloss die Suchanfrage und sperrte den Bildschirm. Nur um ihn gleich wieder zu aktivieren und die Uhrzeit abzufragen. Es war kurz nach drei Uhr nachmittags. Er steckte sprichwörtlich in einer Sackgasse, inmitten dieser öden Kleinstadt und beides frustrierte ihn zusehends. Er wusste, dass sie ihn beobachteten. Schon kurz nach seiner Ankunft hatten sie ihn bemerkt. Sie wussten, wer er war und wonach er suchte. Ihr Schweigen machte ihn fertig.

Je länger er blieb, desto unwillkommener fühlte er sich.

Er musste zurück nach Hamburg. Die Anonymität der Großstadt würde ihm guttun. Der Abstand würde ihm helfen zu vergessen und mit der Zeit würde Gordon Wexler an Bedeutung verlieren. Es war nur ein Name, den er nicht kannte und an den er sich schon bald nicht mehr erinnern würde. Ben würde die Vergangenheit ruhen lassen und alles vergessen, was er erfahren hatte.

Der Sommer stand vor der Tür und würde ihm genügend Ablenkung bieten. Ben tat das, was er immer tat, wenn die Einsamkeit nach ihm griff und stürzte sich ins Leben.

DREI

Drei Monate waren seit diesem ergebnislosen Wochenende im Harz vergangen. Neuenrode war wieder zu dem bedeutungslosen kleinen Kaff seiner Kindheit verkommen und Gordon Wexler war nur ein Name. Ein Name, den er nicht vergessen konnte und der sich immer wieder in seine Gedanken schlich.

Drei Monate, die er wie im Rausch erlebt hatte. In denen er alles verdrängte, was ihn bedrückte. Der Sommer hatte die Stadt in seiner hitzigen Umarmung gefangen gehalten. Unbarmherzig raubte sie ihnen den Schlaf und lähmte ihren Verstand. Ben hatte viel Zeit am Strand verbracht. Jede freie Minute. Er hatte sogar jemanden kennengelernt, der ihm das Leben versüßte.

Daniel.

Ein typischer Beach-Boy. Blonder Lockenschopf, braungebrannt, durchtrainiert. Ausdauernd. Es war gut, solange es währte. Erfüllend und ohne Verpflichtungen. Doch Ben musst sich allmählich eingestehen, dass es so nicht bleiben würde. Je kürzer die Tage wurden, desto mehr drängte Daniel ihn um eine Entscheidung.

Er wusste, wie es enden würde. Ben nahm seine Eroberungen grundsätzlich nicht mit zu sich nach Hause. Auch mit Daniel würde er diesem Prinzip treu bleiben.

Also nahm er es kommentarlos hin, als Daniel ihm verkündete, dass er seinen Stellplatz abgemeldet hatte.

„Dir ist schon klar, dass ich dann von hier fortgehen werde?“, vergewisserte er sich Bens ungeteilter Aufmerksamkeit.

„Das eine bedingt das andere. Was sollte ich daran nicht verstehen?“

„Die Saison ist vorbei, ich muss mir überlegen, wo ich den Winter verbringen will.“

Daniel versuchte wirklich alles, um seine Gedanken in die richtige Richtung zu lenken. Zu Bens Leidwesen hatte er noch nicht verstanden, dass es für ihn diese Option nicht gab. Daniel würde niemals bei ihm einziehen, nicht für einen Winter und erst recht nicht auf unbestimmte Zeit. Es hatte keinen Sinn, ihre bevorstehende Trennung weiter zu umschiffen.

„Hast du schon eine Idee, wohin die Reise gehen soll?“, versuchte Ben wenigstens etwas Interesse zu bezeugen. Daniel kaufte ihm das nicht ab. Er fühlte sich nicht ernst genommen und machte seinem Frust ungeniert Luft.

„Dein Ernst!?“, blaffte er ihn an. „Worüber reden wir eigentlich die ganze Zeit? Seit Wochen liege ich dir damit in den Ohren. Ich könnte mich an der Uni einschreiben. Meine Trainerlizenz machen und mir dann nen Job suchen. Notfalls fange ich erstmal irgendwo an zu kellnern, aber ich brauche ein Signal von dir, dass es für dich ok ist. Es würde bedeuten, dass wir uns ab dann jeden Tag sehen.“

Bingo! Genau das hatte Ben befürchtet. Daniel war zumindest anständig genug, dass er ihm nicht auf der Tasche liegen wollte. Er hatte sogar eine grobe Vorstellung davon, wie er seinen Teil zu ihrem Lebensunterhalt leisten konnte. Immerhin. Dummerweise dachte er darüber nach, in Hamburg sesshaft zu werden und sich eine Zukunft aufzubauen. Für jemanden, der einen Lebenspartner suchte, mochte das perfekt sein.

Nicht für ihn.

„Wieso das?“, stellte er sich begriffsstutzig.

„Weil es das ist, was jeder andere wollen würde.“

Ein letzter verzweifelter Appell an sein Herz, bevor er es endgültig verstand. Daniel schossen die Tränen in die Augen.

„Es ist das normalste von der Welt“, fuhr er weinerlich fort. „Zwei Menschen verlieben sich ineinander, ziehen zusammen und sind glücklich bis an ihr Lebensende.“

„Ist das nicht ein bisschen kitschig?“

„Du bist ein Arschloch, weißt du das?“

Er war wütend. Das war sein gutes Recht. Sie beide wussten, dass Ben gerade dabei war, ihn abzuservieren. Es würde kein gemeinsames Leben geben. Niemals.

Daniel klaubte sein Shirt vom Boden auf und versuchte, es sich über den Kopf zu stülpen. Es war so ineinander verdreht, dass es ihm partout nicht gelingen wollte. Ben stoppte ihn, bevor er lauthals loslachen müsste. Selbst er wusste, dass das ein denkbar unpassender Moment dafür sein würde.

„Was tust du da?“, redete er dem Lockenschopf ins Gewissen.

„Wonach sieht es denn aus?“

„Du schmeißt mich jetzt nicht mitten in der Nacht raus? Bis Hamburg sind es anderthalb Stunden Fahrt und ich habe einige Bier intus. Lass uns morgen früh darüber reden und wenn du dann immer noch willst, dass ich gehe, werde ich es tun.“

„Nicht ich bin es, der will, dass du gehst. Das weißt du sehr genau.“

„Ich habe dir nie etwas vorgemacht“, raunte er ihm zu. „Du weißt, warum ich hier bin.“

Die Stille zwischen ihnen hatte etwas Heilsames. Bens Behauptung stimmte, jede ihrer Begegnungen war darauf hinausgelaufen, dass sie Sex gehabt hatten. Ausnahmslos. Keine Party war zu wild, um nicht die aufgestaute Lust zwischen zwei Laken zu entladen. Ein romantisches Essen gelangte ihm bestenfalls als Vorspiel für eine aufregende Nacht. Oh ja, Daniel wusste, warum er bei ihm war. Nun hockte er nackt auf der Bettkante und starrte vor sich hin. Er massierte seine Handflächen mit solch einer Inbrunst, dass Ben sich wünschte, sein Schwanz würde die gleiche Zuneigung erfahren. Er griff nach Daniels Schulter und zog ihn zu sich auf die Matratze zurück.

Willenlos ließ ihn dieser gewähren. Die Trauer lähmte ihn, während sein Körper längst auf Bens erfahrende Hände reagierte. Er sah dabei zu, wie diese Hände über seinen Körper streiften. Wissend, wo sie ihn berührend mussten, um seine Lust weiter zu steigern. Wie sie seine Schenkel teilten und ihn sanft in die Matratze drückten. Er bebte bei jeder seiner Berührungen. Er war flüssiges Wachs unter ihm und je heißer ihm wurde, desto härter schwoll sein Schwanz an. Bens Interesse galt nur seinem dicken Gerät. Langsam umschloss er das helle Fleisch seines Schaftes. Millimeter für Millimeter ließ er seine Hand nach oben zu der deutlich abgegrenzten Eichel gleiten und drückte ihren Rand sanft weiter nach oben. Daniel wimmerte um mehr. Er wand sich und presste sich ihm mit aller Kraft entgegen.

‚Härter‘, schoss es Ben durch den Kopf. Diesmal musste Daniel ihm nichts mehr beweisen. Er würde genauso schnell kommen wie jeder andere Typ auch. Etwas heftiger vielleicht, dachte er mit Blick auf das wimmernde Bündel unter sich. Er wollte ihn unbedingt dazu bringen, als Erster abzuspritzen. Ein letztes Gefühl der Macht über seinen bald verflossenen Liebhaber.

Also kniete er sich zwischen Daniels Beine und drückte seine Schenkel weiter auseinander. Sein Schwanz jubelte beim Anblick der beiden runden Pobacken. Dazwischen befand sich das Tor zur Glückseligkeit. Sehr einladend, doch auch das hübsche Ensemble darüber, war nicht von schlechten Eltern. Sein Blick wurde von zwei eng umspannten Bällen und einem prall aufgepumpten Schwanz gefangen genommen. Ben musste schwer schlucken. Es war eine Schande, diesen hübschen Burschen ziehen zu lassen.

Daniel masturbierte sich inzwischen ungehemmt selbst und drängte ihn in die Zuschauerrolle.

‚So nicht, mein Freund!‘, insistierte Ben. Er wusste, wie leicht er ihn davon abbringen konnte. Sobald er Hand an ihn legte, gerieten seine rhythmischen Bewegungen durcheinander. Als Ben seinen Finger in ihn einführte, war es mit seiner Konzentration vorbei. Jedes Mal, wen er seine Prostata traf, verharrte er einen Moment und wartete, bis das intensive Gefühl vorüber war. Daniel spreizte seine Beine ein Stückchen mehr und half ihm so, sich vorzubereiten.

Er war längst bereit für ihn. Ben fickte ihn inzwischen mit drei Fingern. Er ließ sie in seinem Inneren kreisen und brachte es für Daniel zum Vibrieren. Es war schön, ihm dabei zuzusehen, wie er ganz in seiner Ekstase aufging. Sklave seiner Lust. Seinem Willen untertan.

Ben stellte sich vor, wie er seinen Schwanz langsam in ihn schieben würde. Er wollte ihn ficken. Möglichst bald. Der Druck in seinem Schwanz war kaum noch auszuhalten. So als müsste er noch beim Versuch, sich in ihn zu zwängen explodieren.

Er wartete.

Darauf, dass Daniel ihn auffordern würde, genau das zu tun. Darauf, dass Daniel seinen Schwanz packen und ihn benutzen würde. Auf ein Zeichen, dass Daniel diesen Fick genauso dringend brauchte wie er selbst.

Zu spät verstand er, dass Daniel ihn nicht brauchte. Zumindest nicht seinen schmerzhaft angeschwollenen Schwanz. Daniel nahm, was er kriegen konnte und seine Finger in seinem Arsch brachten ihn gerade schnell genug ans Ziel. Dieser kleine Mistkerl schwebte auf Wolke sieben, noch bevor sich Ben darüber im Klaren war. Zum ersten Mal in ihrer kurzen Beziehung würde Ben leer ausgehen. Er hätte wütend auf ihn sein sollen. Frustriert. Stattdessen sah er gebannt zu, wie Daniel vor ihm kam.

Er hatte nie darauf geachtet, was mit seinem Liebhaber geschah, wenn es so weit war. Viel zu sehr war er dann mit seinem eigenen Orgasmus beschäftigt, der dann unmittelbar bevorstand oder gerade verebbte. Getreu dem Motto, jeder ist seines eigenen Glückes Schmied, war es ihm noch nie passiert, dass er jemanden bediente, ohne dabei selbst zum Schuss zu kommen.

Das hier war Premiere für ihn.

Daniels Muskeln waren zum Bersten gespannt. Er hatte ihn stets als eher schlank betrachtet. Jetzt traten seine Bauchmuskeln so deutlich hervor, wie bei einem dieser Fitnessmodells. Die kleine Kuhle in ihrer Mitte markierte den Übergang in die intime Zone. Dort lag sein rechtes Handgelenk und umspannte den dunkelrot leuchtenden Kopf seines Schwanzes.

Die vielen Muskelkontraktionen auf seinem Unterarm faszinierten Ben. Kurze, schnelle Bewegungen, mit denen sich Daniel bis zum finalen Schuss gebracht hatte. Die andere Hand umklammerte seine Hoden. Er konnte sich damit zusätzlich stimulieren, hatte aber damit aufgehört als Ben seine Finger in ihn geschoben hatte. Diese doppelte Stimulation war zu viel für ihn gewesen.

Ben sah, wie sich Daniels Bauchdecke nach innen zog. Er atmete jetzt betont langsam ein. Dann hielt er den Atem an, oder er ließ die Luft so langsam entweichen, dass Ben es nicht mehr wahrnehmen konnte. Er musste jeden Moment so weit sein, doch anders als sonst kündigte er es diesmal nicht mit dem entsprechenden Geräuschpegel an. Still und fokussiert behielt er diesen Moment so lange wie möglich für sich. Seine Gesichtszüge waren angespannt, als konzentrierte er sich einzig auf seinen bevorstehenden Orgasmus.

Daniels neuer Egoismus gefiel ihm. Er war nun unerreichbar für ihn, so als wären sie bereits getrennt. Seine Macht über ihn war gebrochen. Bisher hatte er sich für einen guten Liebhaber gehalten. Unverzichtbar für einen wahrhaft befriedigenden Orgasmus. Doch Daniel bewies ihm gerade das Gegenteil. Er kam sehr gut ohne ihn zurecht.

Daniel lenkte sein Sperma direkt auf den Bauch, selbst dieser Anblick blieb ihm also verwehrt. Alles, was er von ihm bekam, war ein leises Stöhnen und ein paar starke Muskelkontraktionen, die ihm anzeigten, wie der Orgasmus verebbte.

Dennoch genoss er den besonderen Moment und den speziellen Anblick.

War er gut gewesen? Oder eher mittelmäßig? Er hatte keinen blassen Schimmer. Er wusste nur, dass Daniel ihm diesmal keine Show abgeliefert hatte.

Eine eindrucksvolle Lektion.

Explizit für ihn.

Daniel öffnete seine Augen. Er sah darin die blaue See. Tosendes Meer, dass sich allmählich beruhigte.

Na schön, dieser Orgasmus war phänomenal gewesen.

„Dein Ernst jetzt?“, fragte er unsicher. Ahnend, dass er leer ausgehen würde.

„Was hast du erwartet? Einen Blowjob? Dafür, dass du mich eben abserviert hast?“

Die Bitternis in diesen Worten machte ihm bewusst, wie verletzt Daniel sein musste. Er hatte Mist gebaut und das wusste er, auch ohne, dass er es ihm auf die Nase band. Daniel hatte es ehrlich mit ihm gemeint. Den ganzen Sommer hatten sie miteinander gerungen, welchen Stellenwert ihre Beziehung einnehmen würde. Die Erkenntnis, dass es keinen gemeinsamen Konsens geben würde, stand zwischen ihnen.

Aber in Daniels Augen sah er noch immer die tosende See. Der Duft des gerade erlebten Orgasmus raubte ihm den Verstand. Er beugte sich so weit über ihn, wie es ihm ohne eine Berührung möglich war.

Auge in Auge.

Sein Atem auf seinen Lippen.

Daniel hielt seinem Blick stand, sein Blick wurde kühl und die Erregung darin ging verloren. Ben wusste, er könnte ihn ohne Weiteres wieder zurückgewinnen. Nur ein einzelner Kuss und er wäre Wachs in seinen Händen. Er müsste nur seine Hüften auf ihn sinken lassen, ihn seine Erregung spüren lassen und Daniel würde sich ihm hingeben, würde genießen, was er bereit war, ihm zu geben.

Er wollte es nicht. Er hatte ihn lange genug benutzt.

„Es tut mir leid“, hauchte er auf seine Lippen und ging.

Hinaus in die alles verhüllende Nacht. Fort von Daniel.

Das Meer war dunkelblau. Der eisige Wind trieb hohe Wellen gegen die Küste. Eine Urgewalt. Älter als das Leben selbst. Älter als die Liebe, die alles verband und die es für ihn nicht gab. Ben wäre gerne noch geblieben. Er liebte das Meer, egal zu welcher Jahreszeit. Aber er musste fort von hier, weit weg von Daniel und seinem Liebeskummer. Das schlechte Gewissen nagte an ihm und machte ihm mehr zu schaffen, als diese unbarmherzige Kälte, die seine Glieder lähmte und seine Gefühle mit sich nahm.

Hastig streifte er sich sein Shirt über, behielt aber seine Schuhe in der Hand. Er wollte den kühlen Sand unter seinen Füßen spüren, den warmen Asphalt und die spitzen Steine auf dem Parkplatz. Er wollte irgendetwas fühlen, das ihn von Daniel abzulenken vermochte.

Er fühlte sich mies, obwohl es für sie beide doch so am besten gewesen war. Es war ein Befreiungsschlag gewesen.

Schmerzhaft, aber notwendig.

Nun waren sie frei, das zu finden, wonach sie suchten. Zu tun, wonach ihnen war, ohne auf die Gefühle des anderen Rücksicht nehmen zu müssen. Sie konnten ihre eigenen Entscheidungen treffen und ihr Leben nach ihren Vorstellungen planen.

Wem wollte er etwas vormachen?

Er war allein und er war nicht stolz auf das, was er getan hatte. Ein langer Winter stand ihm bevor. Die Tage wurden kurz und die Nächte stürmisch. Das war die Jahreszeit, in der die Menschen zusammenrückten. Die Zeit, in der er sich in die Einsamkeit zurückzog.

Er zog sie jeder Form von einer Beziehung vor. Einsamkeit bedeutete nicht allein zu sein.

Ben stieg in seinen Wagen und lenkte ihn in Richtung Hamburg. Die Metropole mit ihren Bars und Clubs. Eine riesige Szene, die sich aus dem nie endenden Fundus der über fünf Millionen Einwohner nährte und in der es Ben meist gelang, seiner trüben Stimmung zu entfliehen.

Der Reihe nach ging er die Clubs durch, die er den Sommer über vernachlässigt hatte. Ihm stand der Sinn weder nach lauter Musik noch nach endlosen Gesprächen. Das schränkte die Auswahl auf ein Minimum ein. Zwei um genau zu sein. Beide ausgestattet mit einem großzügig angelegten Darkroom. Der eine exklusiv und nur für Mitglieder, der andere versprach das, wonach er gerade verlangte. Schneller, anonymer Sex.

Ben klickte sein Handschuhfach auf und kramte die rote Schachtel vor. Seine Notfallration für genau solche Momente. Ein paar Kondome würden genügen, um runterzukommen. Er verstaute sie in seiner Gesäßtasche und konzentrierte sich dann wieder auf den Verkehr.

Hamburg war so voller Menschen, dass einem keine Zeit blieb, um Trübsal zu blasen. Wenn man es darauf anlegte, konnte man der Realität rund um die Uhr entfliehen. Alles was er dazu benötigte waren ein freier Parkplatz und eine überschaubare Menge an Kleingeld. Der Rest ergab sich von ganz allein. Ben war nicht auf einen bestimmten Typ Mann festgelegt, solange dieser auf sein Erscheinungsbild achtgab. Hauptsache der Typ war willig und bereit, sich ihm unterzuordnen.

Ben musste grinsen, als sich sein Schwanz zuckend bemerkbar machte.

Was würde er heute Nacht finden?

‚Alles bloß keinen zweiten Daniel!‘, schoss es ihm durch den Kopf.

Der Bursche kratzte wohl doch mehr an seinem Ego, als er sich eingestehen wollte. Was sollte es! Dann eben keinen Beach-Boy für heute Nacht, das sollte doch zu machen sein. Wahrscheinlich würde er also bei einem muskelbepackten Südländer oder einem bärtigen Wikinger landen. Es war ihm egal, solange sie beide dasselbe wollten.

Er stellte seinen Wagen in einem Parkhaus ab und lief die letzten Meter zu Fuß. Vor dem Lokal standen einige Pärchen und waren in ihrer Verliebtheit ein besseres Aushängeschild als die unscheinbare Neontafel über dem Eingang. Sie sprachen leise oder rauchten schweigend eine Zigarette miteinander. Die Zeiten, zu denen man als Gay unbedingt laut und schrill sein musste, gehörten Gottseidank der Vergangenheit an.

Bens Aufmerksamkeit wurde von einer Gruppe Halbstarker angezogen, die neugierig um sie herumtänzelten und sich dabei ganz unscheinbar dem Eingang näherten. Sie waren noch keine zwanzig und vermutlich war es ihr erstes Mal in einem Gay-Club. Eine Mutprobe vielleicht oder eine verlorene Wette. Was auch immer sie hierhergeführt hatte, sie würden gleich den Schock ihres Lebens erleben.

Ben folgte ihnen auf dem Fuß, um nichts von dem Ereignis zu verpassen und so stand er mitten unter ihnen, als sie unmittelbar hinter dem Eingang erstarrten und die Dunkelheit angstvoll absuchten. Sie hatten wohl nicht erwartet, dass man so wenig und doch so viel erkennen würde.

Schon hier am Eingang war klar zu erkennen, dass es beim gegenseitigen Kennenlernen weniger um den Austausch von verbalen Nettigkeiten ging. Die Männer standen viel zu dicht beieinander und ihre Hände erkundeten teilweise sehr offensichtlich fremdes Terrain. Auch Ben war nicht zum Reden gekommen. Die Versuchung, direkt in einen der Nebenräume abzubiegen war groß. Doch seine Neugierde auf den Verlauf des spätpubertären Abenteuers war stärker.

Weiter vorne öffnete sich der Raum und weitete sich für die Unentschlossenen zu einer Bar. Ben winkte den Barkeeper zu sich und nahm seine Beobachtungen wieder auf. Immer noch zögerlich setzte sich der Trupp in Bewegung. Als hätten sie Angst, einer von ihnen könnte verloren gehen, blieben sie dicht beieinander stehen. Wie kleine Schafe, dachte Ben. Nur, dass diese hier, sich freiwillig in eine Herde hungriger Wölfe begeben hatten. Schüchtern bestellten sie ihre Getränke. Der Barkeeper zwinkerte Ben amüsiert zu und reichte ihm die kleinen Flaschen für die Jungs über den Tresen.

„Was bekommst du?“, fragte er anschließend und deutete auf den Platz vor ihm.

Er hatte ein hübsches Gesicht. Seine Augen leuchteten wie zwei Sterne und sein Lächeln brachte Eisberge zu schmelzen. Ben hätte ihn attraktiv gefunden, wenn er nicht diesem typisch schwulen Klischee entsprochen und sich für ein aufreizendes Lederoutfit entschieden hätte.

„Gib mir ein Schwarzes“, entschied er spontan.

Im Grunde war ihm egal, was er ihm bringen würde. Er war vielmehr an der Geschichte, die sich hinter seinem Rücken fortsetzte, interessiert. Ben nahm sein Bier entgegen und drehte sich herum. Die Jungs waren noch an Ort und Stelle. Allerdings standen sie nun schon etwas weiter auseinander. Sie ließen die Blicke streifen und tauschten kurze Informationen aus. Der erste Schrecken war also überwunden.

Gott, sie waren so verdammt jung, dass Ben sich schlagartig um Jahre gealtert fühlte. Wie lange war es her, dass er selbst in diesem Alter gewesen und zum ersten Mal in einem Gay-Club gelandet war? Zehn Jahre? Weniger? Hatte er sich damals auch so aufgeführt, dass ihn jeder sofort als den Frischling erkennen könnte?

Zumindest hatte er es nie darauf angelegt, ein halbes Dutzend testosterongeschwängerter Duracell-Häschen zu einem Ausflug in die nächstbeste Schwulenbar zu überreden. Diese Häschen wirkten so deplatziert wie in einem Fuchsbau. Unsicher, welchen der vielen Auswege sie nehmen sollten und stets zur Flucht bereit, falls sich der böse Fuchs zu erkennen gäbe und sie anspräche. Wer von ihnen war wohl auf diese grandiose Idee gekommen?

Der große Klotz im kurzärmeligen Hemd mit dezentem Karomuster war es vermutlich nicht gewesen. Selbst wenn er schwul sein sollte, stand er noch viel zu sehr unter dem Einfluss seiner Mutter, als dass er es schon bemerkt hätte. Kein Schwuler, der etwas auf sich hielt, würde sich diesem Kleiderdiktat beugen. Dicht an seiner Seite hielt sich ein abgemagerter Typ. Bleich und im weißen Hemd mit heller Hose hielt er den Blick stets gesenkt. Bei dem konnte sich Ben partout nicht vorstellen, dass er überhaupt wusste, dass Sex mit einer zweiten Person möglich war. Selbst wenn, dürfte er dazu nicht allzu viele Gelegenheiten gehabt haben.

Für die anderen Twinks gab es dagegen durchaus eine Zielgruppe. Jungenhaft schlank und hübsche Züge zogen sie allmählich die Aufmerksamkeit der anderen Clubbesucher auf sich. Nachdem sie ihre Schüchternheit abgelegt und festgestellt hatten, dass niemand über sie herfallen würde, machten sie sogar einen recht aufgeweckten Eindruck.

Der große Klotz fixierte Ben mit den Augen und deute mit einem Kopfnicken auf ihn. Augenblicklich flogen alle Köpfe zu ihm herum. Ben lachte in sich hinein, sie machten es ihm aber auch zu einfach! Er nutzte die Gelegenheit für einen eingehenden Scan und blieb an zwei leuchtenden Sternen hängen.

Halleluja!

Wie hatte er das übersehen können. Die Augen, der Mund, das hübsche Gesicht. Triumphierend warf er einen Blick auf die ältere Version hinter dem Tresen und fing sich dessen freches Grinsen ein. Das also war der Grund für ihre Anwesenheit.

Der Kleine starrte ihn unverhohlen an. Sein Blick hing an seinen Lippen, als wartete er nur darauf, dass er ihn zu sich rufen würde. Das versprach, interessant zu werden. Er war einen halben Kopf kleiner als seine Freunde. Zierlicher. Beides erklärte, wie es dieses Schmuckstück geschafft hatte, sich vor ihm zu verbergen.

Bis jetzt. Ben würde ihn nicht von der Angel lassen, bis er hatte, was er von ihm wollte.

Der Kleine starrte ihn weiter an. Er hielt die Verbindung zu ihm aufrecht, so dass sie auch seinen Freunden nicht länger verborgen bliebe. Er biss sich nervös auf die Unterlippe und hakte kokett die Finger in den Bund seiner Jeans. Die Grundprinzipien des erfolgreichen Flirtens hatte er demnach verinnerlicht. Jetzt kam es nur noch darauf an, wie weit er gehen würde.

Ben stellte seine noch halbvolle Flasche auf den Tresen ab und ging zu ihm. Er ließ sich Zeit.

Fünf Schritte blieben dem Kleinen, um es sich anders zu überlegen.

Vier Schritte, um den Blick zu senken.

Drei Schritte, um sich von ihm abzuwenden.

Zwei Schritte, um zu seinem Bruder zu flüchten.

Einen Schritt, um sich hinter seinen Freunden zu verbergen.

Er sah ihn immer noch an. Große, strahlende Augen. Ein feiner Mund. Ben sah, wie sich sein Adamsapfel auf und ab bewegte. Sein Schwanz zuckte zustimmend. Er wollte ihn.

„Komm mit!“, befahl er, indem er sich zu ihm beugte. Ein mild würziger Duft umhüllte ihn. Holzig. Männlich. Er passte zu ihm.

Die anderen sahen ihn irritiert an, als er an ihnen vorbeiging. Die Brautschau war vorüber. Sie war viel zu schnell für sie gegangen. Noch ehe sie wirklich verstanden, wozu er ihren Freund soeben eingeladen hatte, verabschiedete der sich mit einem eindeutigen Strahlen im Gesicht von ihnen.

Ben beschleunigte seine Schritte erst, als er eine Hand in seinem Rücken spürte. Eine flüchtige Berührung, die ihm Stromschläge unter die Haut jagten. Herrgott, er musste dringend jemanden ficken. Ben hoffte inständig, dass der Kleine keinen Rückzieher machte.

Er drückte die Tür zum Darkroom auf und zog den Kleinen mit sich. Hinter ihnen schwang die Tür zurück ins Lot. Angenehme Dunkelheit umgab ihn und machte ihn orientierungslos. Ben verharrte einen Moment. Jemand schmiegte sich an ihn und zog ihn zu einem Kuss heran. Er wollte protestieren und roch Sandelholz.

Sein kleiner Gespiele ging ganz schön ran.

Das war gut, aber sie waren nicht hier, um Zärtlichkeiten auszutauschen. Ben schob ihn an die Wand und presste sich gegen ihn. Er nahm sein Kinn in die Hand und führte ihn an seine Lippen. Mit der Hand an seiner Kehle drückte er ihn hart nach hinten. Er erhielt keine Gegenwehr.

Gut, dass sie das geklärt hatten. Ben senkte sich zu einem längeren Kuss herab und spürte die weiter unten wachsende Männlichkeit. In diesem Alter war er schneller bereit, als er die Hose öffnen konnte. In diesem Zustand konnte er ihn zu allem überreden. Er wäre nicht der Erste, der die süße Kombination aus Unerfahrenheit und Experimentierfreude ausnutzte. Wenn er ihm weiter so gefährlich nahe bliebe, würde jede Moral über Bord werfen und sich nehmen, wonach es ihm gelüstete.

Ben löste sich aus dem Kuss.

„Dein erstes Mal hier?“, raunte er in sein Ohr. Kopfschütteln. Er wusste nicht, ob er sich darüber freuen sollte oder nicht. Der Kleine wusste also, worauf er sich eingelassen hatte. Für Bens Befinden war er zu jung dafür, doch das musste er mit sich selbst ausmachen. Sein großer Bruder arbeitete an der Bar. Seine Freunde feierten vor der Tür. Das gab ihm ein Gefühl von Sicherheit. Er war ihm gefolgt, um sich mit ihm zu vergnügen.

„Schon mal gefickt?“

Die spontan folgende Antwort fiel anders aus, als Ben sie erwartet hatte. Seine Hose wurde geöffnet. Der Kleine schnappte sich seinen Schwanz und begann ihn zu wichsen. Ziemlich gut sogar. Ben sog heftig den Atem ein und stemmte seine Fäuste gegen die Wand. Er taumelte und ließ den Burschen gewähren, bis er seine volle Länge in den Händen hielt. Er sollte wissen, was auf ihn erwartete.

Dann schob er seine freie Hand unter das Shirt des Kleinen. Seine Brustwarzen waren herrlich fest und steil aufgerichtet. Ben konnte nicht widerstehen und zwickte sanft hinein. Das Herz darunter raste.

Er ließ seine Hand hinabgleiten, fuhr über seine rechte Seite nach hinten zu der festen Wölbung. Willig schob sich ihm der Kleine entgegen und hielt seinen harten Prügel weiter fest umklammert. Er hatte nur noch Raum für kleine Wichsbewegungen. Diese vollzog er aber dafür mit umso mehr Druck, um ihn weiter zu reizen. Ben ahnte, was er vorhatte und positionierte sich so, dass er nur noch den unempfindlicheren Teil seines Schaftes massieren konnte.

Dann ließ er seine Hand durch die kleine Kuhle in seine Arschspalte gleiten. Ein wohliges Stöhnen quittierte Ben, dass er soeben an seinem Hintereingang passiert hatte und dort willkommen war.

„Letzte Chance, für einen Rückzieher“, raunte er an sein Ohr.

„Nicht bei dem, was ich gerade in der Hand halte“, erhielt er endlich eine verbale Antwort von seinem Gespielen.

„Nur schade, dass es damit jetzt vorbei ist“, beschied Ben und schob die fremden Hände mit Nachdruck beiseite. „Umdrehen!“

Keine Reaktion.

Ben kamen Zweifel, ob er nicht zu harsch gewesen war. Hatte er ihn überschätzt und brauchte er doch mehr Zuwendung? Er entschied sich zu warten.

Zögerlich löste der Kleine die Hände aus seinem Griff und machte sich an seiner Hose zu schaffen. Ben half ihm und schob den lästigen Stoff über seine Hüfte.

„Kannst Du ein Kondom benutzen?“

Schüchtern, aber bestimmt. Bens Zurückhaltung war wie weggeblasen. Der Kleine gefiel ihm zusehends. Er führte ihn zu seinem Vorrat und ließ ihn eins davon hervorziehen. Dann schob er auch seine Hose nach unten und nahm es ihm wieder ab. In dieser Dunkelheit würden sie Ewigkeiten brauchen, wenn er es sich nicht selbst überstreifte.

„Bist du vorbereitet?“, fragte er ihn.

„So bereit man es für jemanden in deiner Größenordnung sein kann“, wurde er wieder keck und drehte ihm erwartungsvoll den Rücken zu. Sein fester Hintern presste sich gegen seinen prallen Ständer, der der Länge nach in seiner Spalte lag. Mit der Hand tastete er nach ihm und drückte ihn in Position.

„Nicht so hastig!“, warnte Ben ihn.

Ben legte die Hand zurück an die Wand vor ihnen. Unter keinen Umständen würde er in ihn eindringen, bevor er wusste, dass er wirklich bereit für ihn war. Er griff zwischen seine Beine, umschloss seine Hoden und führte seine Finger von da aus zu seinem Po.

Er fand den kleinen Eingang, den er suchte. Er fühlte sich warm und feucht an. Er konnte mühelos einen Finger in ihn einführen.

„Kapseln?“, versicherte er sich.

„Ich wusste ja, wohin wir gehen.“

Er hatte es also darauf angelegt, jemanden zu finden. Ben wusste nicht, ob er sich geehrt fühlen sollte. Letztendlich war es ihm egal. Sie waren beiden aus demselben Grund hier. Ben umrundete seine Rosette ein paar Mal und schob beim nächsten Mal zwei Finger hinein. Spielend leicht. So tief es ging. Diesmal wurde der Kleine gierig und fickte sich selbst auf seinen Fingern.

„Mehr?“

„Ja, verflucht. Gib ihn mir endlich.“

Drei Finger. Die er leicht auseinander und wieder zusammenzog. Zur Antwort erhielt er ein Wimmern und einen Hintern, der sich ihm lustvoll entgegenschob.

Es war genug. Ben setzte seinen Schwanz an und ließ ihn selbst bestimmen, wann er bereit für ihn war. Als er den ersten Widerstand überwunden hatte, hielt er inne.

Der Bursche musste sich unbedingt an ihn gewöhnen, sonst würde es für sie beide zu einer Tortur werden. Mit sanften, kleinen Bewegungen glitt er sanft in ihn. Ben spürte nur noch Reibung. So intensiv, dass er Mühe hatte sich zurückzuhalten. Er stand kurz vor der Explosion, als er endlich ganz in ihm war und sie gemeinsam innehielten.

Sie beide brauchten diese Pause. Die Ruhe vor dem Sturm. Der Moment, wo man alle Bedenken ablegt und sich auf seine reine Lust fokussierte. Von hier an gab es kein Zurück mehr.

Ben legte beide Hände auf die schmale Hüfte und nahm sich, wofür er gekommen war. Erst langsame, ausladende Stöße, damit sich der Kleine an seine Länge gewöhnen konnte. Dann ging er zu einem schnellen und harten Fick über. Jedes Mal so intensiv, dass er nur noch Sterne sah und er nichts mehr wahrnahm als diesen prächtigen Hintern vor seinen Lenden. Er wollte diesen Abend vergessen. Daniel und den langen Sommer mit ihm aus seinem Gedächtnis tilgen und nur noch ficken, bis der Orgasmus alles mit sich nahm, was ihn in dieser Nacht quälte.

Aus weiter Ferne registrierte er, dass der Kleine eine Hand an seinen Schwanz legte und anfing sich zu wichsen. Leichtsinn! Er brauchte beide Hände, um sich unter Bens heftigen Stößen von der Wand abzustützen.

Also legte er eine Hand auf dessen Schulter und zog ihn zu sich nach oben ins Hohlkreuz. Seine freie Hand lag jetzt vor ihm an der Wand und schützte sein hübsches Gesicht vor ernsthaften Blessuren. Dennoch drehte er den Kopf zur Seite und sah ihm über die Schulter dabei zu, wie er ihn fickte. Ben wusste nicht, was er aus dieser Position zu sehen hoffte. Dafür konnte er jedoch ganz genau sein lustvoll verzerrtes Gesicht erkennen. Das genügte, damit seine Triebe wieder die Oberhand gewannen. Seine Fantasie lieferte ihm ein Bild dessen, was er nicht sehen konnte. Die Hand, die eifrig seinen Schwanz wichste. Der runde Hintern, der sich ihm aufopferungsvoll entgegenreckte. Die festen Muskeln dieses jungenhaften Körpers, die sich über seinen Rücken spannten.

Der Druck in seinen Hoden nahm unentwegt zu. Er spürte, wie sich das Kribbeln von hier ausbreitete und ihn mehr und mehr von seiner Umgebung absonderte. Nur noch sein dicker Prügel, der sich voller Enthusiasmus in diese unglaubliche Enge zwängte. Er wusste, dass sein Orgasmus unmittelbar bevorstand und versuchte ihn noch ein wenig länger hinauszuzögern. Er wollte unbedingt, dass der Kleine vor ihm kam.

Dann spürte er die Kontraktionen und im nächsten Moment überrollte ihn seine eigene Welle immenser Lust. Ben presste sich und den Kleinen an die Wand und versuchte nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten, während er selbst abspritzte.

Ein seltsames Gefühl, er fühlte sich wie Gewinner und Verlierer zur gleichen Zeit. Eine triumphale Niederlage. Er war zufrieden.

Sein Herz schlug heftig gegen seine Brust, während er allmählich in die Wirklichkeit zurückkehrte. Ben zog sich zurück. Er gab dem Kleinen die Gelegenheit, sich zu säubern und entsorgte währenddessen das Kondom im nächsten Mülleimer.

„Fickst du immer so hart?“, raunte der Süße neben ihm. Er suchte seine Nähe.

„Habe ich dir wehgetan?“

„Nein“, antwortete er schnell. „Ich würde es gerne wiederholen?“

„Daraus wird nichts. Ich habe kein Interesse an Wiederholungen.“

Er sollte gehen. Dringend. Bevor das Ganze zu etwas ausartete, das er heute schon einmal erlebt hatte.

„Verstehe“, kam es kleinlaut. Die Enttäuschung war ihm selbst in dieser Dunkelheit anzumerken. „Das ist schade.“

Zu spät.

Zu seiner Überraschung zwängte sich der Kleine unter seinem Arm hindurch und ging, bevor er etwas sagen konnte. Die Berührung seiner schmalen Hand brannte auf seiner Brust. Ben sah noch, wie er sich wieder zu seinen Kumpels gesellte, ehe die Tür zu schwang und die Dunkelheit ihn umarmte.

Hände griffen nach ihm. Sie luden ihn ein, näher zu kommen. Mitzumachen.

Bens Bedürfnis nach schnellem Sex war befriedigt.

Er ging und verließ das Lokal.

Hier draußen standen noch dieselben Pärchen knutschend vor der Tür und auf dem Platz verteilt. Als ob die Zeit stehen geblieben wäre und es keinen Morgen gäbe. Wie spät es wohl sein mochte?

Er suchte den Horizont nach einem Lichtstreif ab. Es war dunkel und diese Nacht noch nicht zu Ende. Diese Nacht währte ewig. Ben freute sich auf sein Bett und auf den nächsten Morgen. Ein neuer Tag. Der erste Tag, an dem er die Episode mit Daniel hinter sich lassen konnte.

Er würde so lange schlafen, bis ihn die Sonne aus den Federn trieb. Er würde ausgiebig duschen und dann irgendwo etwas Essen gehen. Er liebte diese urigen Lokale. Winzig klein und in privater Hand mussten sie sein. In ihnen gab es mehr Blumenkübel als Gäste und der Kuchen wurde noch von der Chefin höchstpersönlich gebacken. Darin konnte man stundenlang unbemerkt in einer Ecke sitzen, ein gutes Buch lesen und die Menschen um einen herum beobachten.

Ja, das klang nach einem guten Plan für ein langes Wochenende. Ben wollte niemanden treffen oder auch nur sprechen. Vielleicht würde er eine Extrarunde im Studio drehen und ein paar Gewichte auflegen. Vielleicht aber auch nicht.

Fürs Erste war er einfach nur müde und froh, als er endlich in sein Bett fallen durfte.

Er warf seine Klamotten achtlos von sich und schlief nackt. Verwöhnt von den tropischen Sommernächten hüllte er sich lediglich in ein dünnes Laken, hielt aber die Fenster geschlossen. Die Großstadt hatte die unangenehme Eigenschaft, viel zu früh viel zu laut zu sein. Außerdem mochte er es nicht, wenn er in seinem eigenen Bett fror und der Sommer neigte sich nun mal dem Ende zu.

Sein Schlaf war traumlos. Schon seit vielen Nächten schlief er wie ein Toter. Mitunter wachte er in derselben Position auf, in der er eingeschlafen war. Er wusste, dass es an zu wenig Schlaf lag und er einfach nur erschöpft war. Doch es war besser als die ewigen Alpträume, die ihn noch vor wenigen Wochen geplagt hatten und so gönnte er sich weiterhin keine Verschnaufpause. Arbeitete, trieb wie ein Besessener seinen Sport und machte die Nacht zum Tag. Lange würde er das nicht mehr durchhalten. Er musste endlich einmal ausschlafen. Am besten wäre es, wenn er ein paar Tage richtig frei machen würde.

Seine Gedanken verloren sich und er driftete in einen tiefen Schlaf. Er wusste, dass es ein Traum war, sobald er erkannte, wo er sich befand. Die dunklen Gänge seiner Schule ängstigten ihn noch genauso sehr wie vor vielen Wochen.

Sein Traum hatte sich verändert. Er war kein Kind mehr. Er war Ben und er war nackt. Es war ihm peinlich, obwohl sich niemand in seiner Nähe befand. Er wusste, dass sie kommen würden. Diesmal würden sie ihn finden und ihn jagen. Er fürchtete sich. Genauso wie er es als Kind getan hatte. Ben zwängte sich in eine dunkle Ecke und beobachtete seine Umgebung. Er achtete auf jedes kleine Geräusch.

Die ersten Schemen tauchten auf und huschten an ihm vorbei. Sie zu sehen war gruselig. Er hatte ihr Erscheinen unzählige Male erlebt und jedes Mal geriet er in Panik. Sie kam und griff mit ihren eisigen Fingern nach seinem Herzen. Ben fror. Eine Gänsehaut überlief ihn und setzte ihm mit ihren feinen Nadelstichen zu.

Er sah die Kinder jetzt deutlicher. Mädchen, mit langen Zöpfen. Sie kicherten und liefen so dicht an ihm vorbei, dass er sie beinahe berühren konnte. Plötzlich drehte sich eines zu ihm herum und sah ihn mit ihren dunklen Augen direkt an. Ben erschrak heftig. Er wollte nicht, dass sie ihn ansah. Wollte nicht, dass sie ihn ansprach oder gar berührte. Sein Herz geriet ins Stolpern. Dann war der Spuk vorbei und er war wieder allein.

Seine Beine bewegten sich wie von selbst den Gang entlang und er näherte sich dem Zimmer, in das der Junge vor den Kindern geflohen war. Gordon! Der Name des Jungen war Gordon Wexler.

Er kam nicht. Ben wusste instinktiv, dass er sich ihnen allein stellen musste. Im selben Moment, wo er das begriff, waren sie auch schon bei ihm. Sie bildeten einen dichten Kreis um ihn. Eine Mauer des Schweigens, aus der es niemand wagte, ihn zu berühren.

Ihre Anwesenheit war ihm unangenehm. Sie beobachten ihn, bedrängten ihn, ohne dass er wusste, was genau sie von ihm erwarteten. Er war nicht mehr nackt, sondern trug eine Jeans und ein dunkles T-Shirt. Seine Angst vor ihnen war geblieben. Er traute ihnen nicht über den Weg. Jemand griff nach seiner Hand. Nicht mehr als ein flüchtiges Streifen seiner Haut, bevor er sie entsetzt wegzog. Er verabscheute ihre Berührung. Ekelte sich vor ihnen und wollte, dass sie ihn in Ruhe ließen!

Ben erwachte, weil er kaum noch Luft bekam. E nahm einen tiefen Atemzug, doch seine Lungen füllten sich nicht mit Luft. Sofort war die Panik wieder bei ihm.

‚Du wirst sterben!‘

Nein, das war nur ein Traum. Er konnte jederzeit atmen, sobald er diese Blockade in seinem Kopf überwunden hatte.

‚Sie haben dich. Jetzt werden sie das mit dir machen, wovor du dich immer gefürchtet hast.‘

Ben brachte all seine Konzentration auf und versuchte herauszufinden, wo er sich befand. Kein Traum. Er war wach. Seine Augen waren weit geöffnet. Dunkelheit umgab ihn. So absolut, wie es sie nirgends auf der Welt gab.

Das ergab keinen Sinn. Jetzt bloß nicht in Panik verfallen!

Wärme. Etwas Weiches berührte sein Gesicht. Es war überall. Unausweichlich. Die Luft wurde immer dünner. Mit aller Gewalt wurde sein Kopf in diese luftleere Dunkelheit gezogen. Sie wurde fester, je weiter er darin vordrang. Ben zog sich instinktiv zurück.

Schlagartig konnte er die Luft wieder atmen. Sauerstoff füllte seine Lungen und schärfte seinen Verstand.

Licht blendete seine Augen.

Er war so ein Idiot!

Wütend boxte er das Kissen von der Matratze und setzte sich auf. Der Wecker neben seinem Bett zeigte 11:30. Das hatte er nun davon, dass er einmal ausschlafen durfte. Er fühlte sich, als hätte ihn ein Bus überfahren und seine Alpträume waren zurück.

Sie waren schlimmer als jemals zuvor.

Ben wählte eine Nummer, die er schon fast vergessen hatte und von der er nicht wusste, ob er sie noch verwenden durfte. Mike nahm sofort ab und begrüßte ihn mit einem freundlichen: „Hi.“

Er hatte mit Schlimmerem als mit so einer einsilbigen Begrüßung gerechnet. Es war an ihm, sich zu erklären.

„Hi. Hier ist Benedikt Weigl.“

„Ich weiß, wer du bist. Deine Nummer ist eingespeichert.“

Ben musste schmunzeln. Natürlich war sie das. So wie er es nicht fertig gebrachte hatte Mikes Nummer aus seinem Speicher zu löschen.

„Ich brauche deine Hilfe.“

„Das habe ich vermutet, sonst hättest du dich wohl kaum nach so langer Zeit bei mir gemeldet.“

„So lange war es nun auch wieder nicht“, rechtfertigte Ben sich.

„In drei Monaten kann ich eine Menge Beweise verschwinden lassen.“

Ben fühlte sich ertappt. Genau deswegen rief er bei ihm an. Nicht unbedingt, um irgendwelche Beweise sicherzustellen, aber durchaus um Licht in eine Geschichte zu bringen, über die niemand mit ihm sprechen wollte. Mike war Polizist und noch dazu sein einziger Kontakt in Neuenrode. Niemand wäre besser geeignet, um ihm bei seinem Vorhaben zu helfen. Er würde wissen, wie man in seinem Fall am besten vorgehen konnte.

„Womit wir schon beim Thema sind“, gestand er ein.

„Hast du etwas herausgefunden?“

„Nicht viel. Sein Name ist Gordon Wexler. Er ist mit zwölf oder dreizehn Jahren von hier weggezogen.“

„Das war also wann?“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752143720
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
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Autor

  • Zarah Lu (Autor:in)

Zarah Lu ist das Pseudonym einer deutschen Autorin. Ihre homoerotischen Liebesgeschichten beschreiben besondere Helden in ungewöhnlichen Situationen und bedienen sich gelegentlich aus den Bereichen Fantasy und Paranormal. Zarah Lu dringt tief in die Gedankenwelt ihrer Protagonisten vor und nimmt auch in pikanten Momenten kein Blatt vor den Mund.
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Titel: Raven: Spuren im Nebel