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Bittersüße Mandeln

von Hanna von Feilitzsch (Autor:in)
464 Seiten

Zusammenfassung

Während Stella um das Leben der Mutter bangt, trifft sie in der Athener Klinik ihre Verwandtschaft wieder. Oddy, der Bruder der Mutter, erzählt die Geschichte der Familie, angefangen mit der Flucht der Großmutter. Er entführt Stella in eine fremde Welt, in der andere Regeln gelten, Moral und Ehre die tragenden Pfeiler sind, und das "Böse" eine nicht greifbare Rolle spielt. Doch auch die archaische Gesellschaft ist im Wandel. Immer tiefer wird Stella in den Strudel der Erzählung gezogen, bis sie erkennt, dass sie ein Teil davon ist.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Hanna von Feilitzsch

Bittersüße
Mandeln

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Roman

Feilitzsch Verlag

1. Auflage 2021

© Feilitzsch Verlag, Rottach-Egern

© Hanna von Feilitzsch

Überfahrtstr. 2

83700 Rottach-Egern

Coverdesign: Irene Repp

https://daylinart.webnode.com/

Illustration: © Nathalie Waldschmidt

Bildrechte: © Annuta – adobestock.com

Absatztrenner: © Sophia von Feilitzsch

Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Gesetzt aus der ITC Legacy Serif

ISBN 978-3-930931-08-8

 

www.Feilitzsch-Verlag.com

Instagram: @feilitzschverlag

@hannafeilitzsch

Das Flugzeug setzte mit einem Ruck auf der Rollbahn des Athener Flughafens auf. Stella griff nach dem Handgepäck. Seit dem Anruf hatte sich alles überschlagen. Oddy, Mutters Bruder, war am Apparat gewesen.

»Deine Mutter liegt im Krankenhaus. Sie hatte einen Schlaganfall.«

Es war keine Frage für Stella, dass ihre Mutter so schnell wie möglich nach Deutschland verlegt werden musste. Das griechische Gesundheitssystem war seit der Krise häufig mit negativen Berichten in der Presse gewesen. Durch jahrelange Sparmaßnahmen hatte es Federn lassen müssen, und in vielen staatlichen Kliniken fehlte es am Nötigsten. Stellas Bruder Georg, den sie nach zahlreichen Wählversuchen endlich in seinem brasilianischen Forschungscamp ans Feldtelefon bekommen hatte, schloss sich ihrer Meinung an. Er hatte angeboten, sofort nach Europa zu fliegen, um die Schwester in der schwierigen Situation zu unterstützen. Stella hatte ihn beruhigt und versichert, sie könne Mutters Rücktransport und alles Weitere ohne Probleme alleine organisieren, wusste sie doch, wie abgelegen seine Station an dem Nebenfluss des Amazonas war.

Stella hatte schnell festgestellt, dass ihr Vorhaben nicht einfach umzusetzen war, und vor allem von Deutschland aus nicht zu arrangieren. Die Dame des Verbands, den Stella umgehend wegen des Rücktransports kontaktiert hatte, und die ihr versichert hatte, sie solle sich keine Gedanken machen, es handle sich nur um eine Formsache, die Mutter läge in Kürze in einem Ambulanzjet, schließlich befände sich die Patientin nicht auf einer Südseeinsel, sondern mitten in Europa. Diese Dame war bald eines Besseren belehrt worden.

Das Taxi brauchte eine halbe Stunde, um Stella vom Flughafen in die Innenstadt zu bringen. Die Athener Straßen waren zu dieser späten Abendstunde fast leer. Wahrscheinlich hatte der Nieselregen die Fußgänger von den Straßen gefegt, dachte Stella. Das Licht der Straßenlaternen spiegelte sich im Asphalt. Als der Fahrer vor dem Krankenhaus anhielt, hörte der Regen auf. Stella bezahlte das Taxi, stieg aus und blieb einen Moment lang auf dem Gehweg stehen. Sie ließ den Blick über den mehrstöckigen Bau der Klinik gleiten, die hinter einem zwei Meter hohen Zaun lag. Trotz der Dunkelheit konnte Stella die Löcher in der Fassade erkennen, sogar einige Risse im Mauerwerk. Sie zog ihren Poncho enger um die Schultern und hoffte, dass das Innere des Gebäudes vertrauenserweckender wäre.

Neben der Einfahrt stand ein quadratischer Glaskasten, aus dem Mitarbeiter eines Sicherheitsdienstes die nächtlichen Besucher kontrollierten. Bereitwillig ließ der Angestellte Stella durchs Tor treten. Im Hof saßen zwei Dutzend Patienten auf Bänken. Die meisten von ihnen hingen am Tropf, rauchend und diskutierend. Ihre abgetragene Kleidung ließ ahnen, dass sie zu den Ärmsten der Gesellschaft gehörten. Die Wirtschaftskrise hatte viele Menschen an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Auch wenn der Großteil der Experten meinte, es ginge bergauf mit der Wirtschaft, zeigte dieser Anblick Stella, dass der Aufschwung nicht bei der gesamten Bevölkerung angekommen war.

Sie folgte der Beschilderung zu den Fahrstühlen, vorbei an einer plastikverhangenen Baustelle, deren rot-weißes Absperrband leuchtete. Was würde sie erwarten? Sie tastete nach den Familienfotos in der Tasche. Stella hatte nicht mit leeren Händen kommen wollen und dachte das wäre eine gute Idee. Im Laufe des Tages hatte sie von Oddy erfahren, dass auf den Röntgenaufnahmen vom Kopf der Mutter, die der Arzt angeordnet hatte, der Schlaganfall nicht sichtbar war. Der Onkel und Stella wussten nicht, ob es sich dabei um ein gutes Zeichen handelte. Ein merkwürdiges Gefühl, mit Oddy über derart private Dinge zu sprechen. Das letzte Mal hatte sie ihn als Kind getroffen. Er lebte in Amerika, hatte dort eine beachtliche Karriere gemacht. Erst bei einem Radiosender, dann beim Fernsehen. Sie hatte ihm am Telefon für die Zeit gedankt, die er sich für ihre Mutter nahm. Er hatte entgegnet, dass dies eine Selbstverständlichkeit wäre, schließlich sei sie nicht nur ihre Mutter, sondern auch seine Schwester.

Der Fahrstuhl hielt mit heftigem Ruck im dritten Stock. Die Schlaganfallpatienten waren auf einer Station im rechten Flügel untergebracht. Die Schwester, die nach mehrmaligem Klingeln die Eingangstür aufsperrte, wies ihr den Weg, vorbei an offenstehenden Türen, die die Sicht frei gaben auf geräumige Vierbettzimmer. Wände und Boden waren in einem Kreideton gehalten, die Krankenbetten Zeugen schweren Leids.

Stella stand in der Tür. Hatte sich die Schwester in der Zimmernummer geirrt? Keine der Frauen in diesem Raum hatte im Entferntesten Ähnlichkeit mit ihrer Mutter. Ausnahmslos Greise schienen unter den Laken zu liegen. Neben jeder Patientin saßen Angehörige, die jetzt alle Stella anstarrten. Groß, blond, wie ein Paradiesvogel, der sich verirrt hatte, traute sich Stella kaum einzutreten. Da erhob sich plötzlich ein Mann von einem Stuhl am Fenster.

War das Oddy?, fragte sich Stella. Mit raschem Schritt kam er auf sie zu, wobei er sein rechtes Bein leicht nachzog. Trotz seiner offensichtlichen Müdigkeit sah er gut aus, groß und athletisch, was ihn deutlich jünger wirken ließ, als er sein musste. Seine hellblauen Augen, die Stella an die ihrer Mutter erinnerten, leuchteten unter den dunklen Brauen. Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln, als er vor der Nichte stand. Jetzt lächelte auch sie für einen Moment.

»Wo liegt sie?«, fragte Stella leise, und ließ dabei den Blick über die Patienten schweifen. Oddy machte ein Zeichen in Richtung Fenster. Obwohl Stella dagegen ankämpfte, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Langsam ging sie auf das Bett zu. Oddy richtete die Mutter auf, wobei er sagte, wie sehr sie sich auf ihren Besuch gefreut, ja, wie sehr sie gewartet habe. Stella schloss die Mutter vorsichtig in die Arme, die sie seltsam leer ansah. Ihre Pupillen waren von der Farbe einer schlammigen Pfütze, und ihr Gesicht zeigte keine Gefühlsregung. Ihre Mutter war um dreißig Jahre gealtert, seit Stella sie das letzte Mal gesehen hatte. Der Kopf war verschoben und auf eine merkwürdige Art aufgedunsen, die Haut bleich. Ihr Körper schien unter der Decke seltsam gekrümmt.

»Sie kann nichts mehr sagen. Gestern hat sie noch gesprochen, Worte, Sätze, abgehackt, kaum verständlich«, flüsterte Oddy. »Ich glaube, meine Schwester wollte mir sagen, dass sie nach Hause möchte.«

Jetzt flackerten nur noch ihre Augenlider im Licht der Neonröhren, und der linke Arm führte unkoordinierte Bewegungen aus.

»Wir müssen sie schnell nach München bringen.« Sein Deutsch war erstaunlich gut, fast akzentfrei.

Während Stella den diensthabenden Arzt aufsuchte, war eine Frau in Schwesterntracht, wie Stella sie aus alten Filmen kannte, am Bett der Mutter aufgetaucht.

»Ich habe eine Pflegerin für die Nacht engagiert. Wir können sie nicht alleine lassen.« Laut Oddy kam der Sicherheitsdienst um elf Uhr, und dann mussten alle Angehörigen bis auf eine Person pro Patienten die Klinik verlassen. Stella beobachtete Elpida, so stellte sich die Griechin albanischen Ursprungs vor, wie sie der Mutter mit geübten Handgriffen die Stirn abwischte, Laken und Kissen gerade zog, und den Tropf kontrollierte. Sie fühlte ihre Körpertemperatur, zog ihr dicke Socken an, und holte eine weitere Decke aus dem Schrank.

»Ich bleibe bis morgen früh um neun Uhr. Ich passe gut auf die Arme auf«, kündigte die stämmige Frau an, als ein blau gekleideter Sheriff mit Waffe am Gürtel erschien. Er trieb die Anwesenden an, sich von den Angehörigen zu verabschieden.

Das zaghafte Murren, das erklang, begleitete Stella bis in ihre Träume. Ebenso der Anblick der Mutter, die vor einer Woche aufgebrochen war, um sich nach etlichen Jahren mit den Geschwistern in Athen zu treffen, damit das Erbe der Eltern endlich aufgeteilt werden konnte. Ein Punkt, der seit Jahren anstand und vor dem sich alle Beteiligten gescheut hatten. Zu viele Emotionen standen im Raum, der Graben tief, der sich zwischen einzelnen Familienmitgliedern gebildet hatte. Dann kamen Bilder auf, von der Frau im Krankenbett, die Mutter vertraut und doch anders. Zaghaft hatte sie nach den Fotos gegriffen, die Stella ihr mitgebracht hatte, als ob sie sich daran festhalten wollte, an einer Welt, die nah und gleichzeitig fern lag. Eines der Fotos, das Stella ihr falsch herum gereicht hatte, drehte sie mit einer einzigen Bewegung um, bis sich die einzelnen Bilder in einem endlosen Meer von kleinen und großen Seifenblasen auflösten.

Am nächsten Morgen stand Stella um Viertel vor zehn Uhr in einer langen Schlange, die sich vor den Fahrstuhltüren gebildet hatte. Die Menschen redeten durcheinander, lachten, jammerten, bekreuzigten sich immer wieder. Weitere Besucher schienen in den Gang zu drängen. Die Klinik glich einer Versammlungshalle, die aus allen Nähten zu platzen schien. Stella fühlte sich alleine, ängstlich und müde. Obwohl es ihrem Wesen entsprach, zuversichtlich zu sein, wusste sie nicht, wie sie die Aufgabe bewerkstelligen sollte, die Mutter nach Deutschland zu verlegen. Der Assistenzarzt hatte ihr in einem Gespräch gestern Nacht keine allzu großen Hoffnungen gemacht. Dabei ging es nicht um den Gesundheitszustand der Mutter, der schien auf eine merkwürdige Art nebensächlich geworden zu sein, einzig und alleine die Verlegung nach Deutschland stand im Focus. Der Arzt hatte Stella mitgeteilt, sie hätten Regeln, an die sich die Klinik halten musste. Dazu gehöre, am Telefon keinerlei Auskünfte zu geben, und falls das notwendig war, um einen Transport ins Ausland zu organisieren, könne er ihr nicht helfen. Der Chefarzt müsse entscheiden, ob eine Ausnahme gemacht werden könnte. Seine Stimme hatte ernst geklungen, als er ihr mitteilte, es handle sich schließlich um ein Politikum. Er hatte ihr angeboten, gleich morgens beim Primar einen Termin zu vereinbaren. Stella hatte auf den Arzt eingeredet, erst freundlich, dann forsch, dass sie keine Zeit verlieren dürften, dass sie sofort einen Verantwortlichen sprechen müsste, aber er hatte den Kopf geschüttelt.

»Sie müssen sich gedulden«, hatte er bestimmt gesagt, »so einen Fall hatten wir noch nie. Soweit ich weiß, wollte bisher aus diesem Krankenhaus noch nie ein Patient ins Ausland gebracht werden. Es ist eine der besten Kliniken des Landes.«

Mittlerweile war Stella fast an die Fahrstuhltüren herangerückt. Als der Aufzug anhielt, wollte sie sich mit einer Gruppe Besucher in die Kabine drängen. Geschrei ertönte, sie wurde zurückgeschoben. Sie verstand die Aufregung nicht. Was hätte sie in diesem Moment darum gegeben, die Sprache ihrer Mutter zu beherrschen. So verwies sie hilflos mit ein paar englischen Worten auf das Messingschild, das sie am Lift entdeckt hatte, auf dem in mehreren Sprachen 12 Personen zu lesen stand.

Nach einem weiteren Anlauf schaffte Stella es in den dritten Stock. Als die junge Frau durch die Tür trat, erkannte sie, dass Oddy bereits am Bett der Mutter saß. Er hielt die Hand seiner Schwester und redete ihr mit leisen Worten zu. Oddy war der einzige Angehörige, der sich zu dieser frühen Uhrzeit im Krankenzimmer aufhielt. Stella zog einen Stuhl ans Bett. Ihre Mutter hatte für ein paar Sekunden die Augen aufgemacht, als die Tochter sie mit einem Kuss begrüßte, und Stella meinte, ein Lächeln bemerkt zu haben. Dann war die Mutter in einen ruhigen Schlaf gefallen, dämmerte vor sich hin, wie die anderen Patienten auch. Stella sah den Onkel, der weiterhin die Hand ihrer Mutter hielt, neugierig von der Seite an. Sie war etwa zehn Jahre alt gewesen, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Oddy war zum Begräbnis seiner Mutter ins Elternhaus gekommen genau wie alle anderen Geschwister auch. Sie konnte sich an diese Tage erinnern, als ob es erst gestern gewesen wäre. Es war bitterkalt, im Januar auf der Peloponnes, der Wind pfiff nachts mit Geheule um die Häuser. Sie hatte Angst gehabt und war zu ihrem Bruder Georg ins Bett geschlüpft. Am Tag der Beerdigung begrüßte sie der Himmel blau und klar, und die Sonne schien. Sie stand an der Hand der Mutter am Grab, abseits von den vielen Menschen, die den Sarg der Großmutter begleitet hatten. Oddy war nach der Beerdigung zu ihnen gekommen und hatte ihr rot-weiße Zuckerstangen geschenkt.

»Hast du gut geschlafen?«, eröffnete Oddy das Gespräch. Stella strich sich eine Strähne aus der Stirn. Ihre Haare waren nachlässig zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie fing zu erzählen an, von dem morgendlichen Telefonat mit dem Rückholdienst, davon, dass heute eine Entscheidung gefällt werden musste. Beide wussten, dass es um Leben oder Tod ging. Die Nichte berichtete weiter, dass sie, bevor sie ins Zimmer gekommen war, an der Tür des Arztzimmers geklopft hatte und weggeschickt worden war. Die Krankenschwester meinte, sie solle sich bis zur Visite gedulden, sie würde die ganze Station in Aufregung versetzen mit ihren Forderungen.

»Wir schaffen das«, sagte Oddy. »Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um zu helfen.«

Ein dankbares Lächeln überzog Stellas Gesicht. Auf ihre Frage, ob er nicht zurück in die Staaten müsste, schüttelte er den Kopf. Er hatte den Rückflug bereits verschoben. Stella konnte sich denken, dass sein Terminkalender dicht gefüllt war, in einem anderen Land, in einer anderen Zeitzone. Als sie noch ein Kind war, hatte sie die Mutter gelegentlich nach der Herkunftsfamilie gefragt und ausweichende Antworten bekommen. Irgendwann, in den Anfangszeiten des Internets, hatte Stella ihre Angehörigen gegoogelt, war auf Spurensuche gegangen. Von Oddy gab es zahlreiche Meldungen. In Amerika war er ein Star, hatte seit vielen Jahren eine eigene Fernsehsendung. Er war zwar nicht so populär wie die Mitwirkenden der großen Serien, deren Einschaltquoten alle Rekorde brachen, und manche YouTuber hatten ihn lange überrundet. Er sprach ein spezielles Publikum an und nach seinen Followern auf den Social Media Plattformen zu urteilen hatte er eine riesige Fangemeinde.

Langsam füllte sich das Zimmer. Angehörige schwirrten herein, nahmen neben den Patienten Platz oder standen herum. Die Menschen schienen sich alle zu kennen, tauschten Neuigkeiten aus, sprachen über Befunde und Therapien, spendeten sich gegenseitig Trost. Der Geräuschpegel nahm zu, was die Kranken in den Betten nicht zu beeinträchtigen schien. Ganz selbstverständlich wurden Oddy und sie in die Gespräche miteinbezogen, Fragen wurden gestellt, Informationen über den Ablauf auf der Station ausgetauscht. Irgendwann war Alles besprochen und ein jeder Besucher konzentrierte sich auf den eigenen Angehörigen.

»Takis und seine Frau werden am Nachmittag kommen. Sie sind beim Anwalt«, sagte Oddy, und fügte erklärend hinzu: »Wegen des Hausverkaufs.«

Nach einer Stunde betrat der Klinikchef mit einem Team das Zimmer. Eine Aura umgab ihn, die Stella den Atem stocken ließ. Der weißhaarige Leiter des Krankenhauses machte eine unmissverständliche Geste, und alle mussten den Raum verlassen. Im Hinausgehen versuchte Stella vergeblich, Gehör zu finden. Auch aus allen anderen Zimmern strömten Besucher, angetrieben vom Personal, in einen Gang, da die gesamte Station während der Visite geschlossen wurde.

Oddy und Stella setzten sich in ein Café, das in unmittelbarer Nähe des Krankenhauses lag. Die Sonne strahlte zum Fenster herein und brachte etwas von einem unbeschwerten Sommertag in den Raum. Der Kaffee schmeckte süß, und die Cremeschnitten, die sie bestellt hatten, erinnerten Stella an die Kuchen aus ihrer Kindheit. Oddy hatte Hunger. Während Stella den Anruf des Wohlfahrtsbunds beantwortete, hatte er den Kuchen aufgegessen. Stella stocherte in ihrem gedankenverloren herum, dann schob sie den Teller weg.

»Wenn wir bis zum Nachmittag keinen Arzt ans Telefon bekommen, dann schalten wir die Botschaft ein. Dann muss das Ambulanzflugzeug ohne Rücksprache mit einem Arzt geordert werden.« Sie schaute zum Fenster hinaus, den vorbeigehenden Passanten hinterher. Die Erde drehte sich weiter, als ob nichts geschehen wäre.

»Ich werde Georg kontaktieren. Ich möchte nicht die alleinige Verantwortung übernehmen. Der Transport stellt ein Risiko dar.« Sie seufzte. »Und Francis, den Lebensgefährten meiner Mutter. Er vergeht vor Sorge.«

Ein Schatten legte sich über Oddys Gesicht, für einen Moment verengten sich seine Pupillen.

»Natürlich«, sagte er. Er sah in Richtung Theke und hob die Augenbrauen. Stella nickte und suchte in der Handtasche nach dem Geldbeutel. Oddy winkte ab.

»Ich bin dein Onkel«, sagte er bestimmt. »Mach deine Tasche zu. Seit Beginn der Krise wimmelt es in der Stadt vor Dieben.«

Sie sah ihm nach, als er aufstand. Er erinnerte sie an jemanden, sein Gesicht, der Ausdruck, aber so sehr sie darüber nachdachte, sie konnte nicht sagen, an wen.

Während sie zurück zur Klinik gingen, fragte Oddy vorsichtig nach Stellas Leben. Erstaunt realisierte sie, dass der Onkel mehr von ihr wusste als umgekehrt. Über ihren Mann und die vier Kinder, auch über ihre Arbeit als Bildhauerin.

»Nächste Woche habe ich eine Ausstellung.« Sie blies die Wangen auf und schüttelte den Kopf. »Ich weiß gar nicht, wie ich das alles schaffen soll.« Stella verstummte. Sie wollte Oddy nicht mit ihren persönlichen Problemen behelligen. Weder mit ihrer Arbeit noch der Geschichte mit der Kuratorin, mit der sie sich während der Vorbereitungszeit überworfen hatte, da sie den Kern der Skulpturen nicht erfasst hatte, und auch nicht mit dem bevorstehenden achtzehnten Geburtstag ihrer ältesten Tochter, den sie womöglich verpassen würde.

Wieder standen sie vor dem Fahrstuhl. Die Zahl zwölf auf dem Messingschild war mit einem schwarzen Textmarker mit einer großen sechs übermalt worden. Während sie um einen Platz anstanden, fragte Oddy, in die Runde der Wartenden, nach dem Grund für diese Einschränkung.

»Letzte Woche ist ein Fahrstuhl in die Tiefe gestürzt«, antwortete ein alter Mann. »Es ist kein Geld da, weder für eine Reparatur noch für die Wartung der übrigen Kabinen. In diesem Haus fehlt es an vielen Stellen ebenso wie in den meisten anderen Krankenhäusern der Stadt.«

Der Tag verging mit Warten. Mehrfach lief Stella den Gang entlang, klopfte an die Tür, um die Ärzte an den Termin zu erinnern. Jedes Mal wurde sie von einer Sekretärin vertröstet, deren Miene wie aus Stein gemeißelt war. Am Nachmittag kam Onkel Takis mit seiner Frau zu Besuch. Er begrüßte Stella freudig, nahm sie in den Arm und drückte sie an sich, als ob sie ein Leben lang engen Kontakt gepflegt hätten. Dann schob er sie zu Anastasia, die Stella in die Wange kniff, und ihr Komplimente machte, über ihre Figur und ihre Kleidung, die sie wie ein junges Mädchen wirken ließen. Takis und Anastasia nahmen aufrichtig Anteil an dem Vorgefallenen.

»Deine Mutter hätte sofort auf eine Schlaganfalleinheit gebracht werden müssen. Aber wir wussten nicht …«, sagte Takis entschuldigend, der seine Schwester im Krankenwagen begleitet hatte. Takis sprach von einem rollierenden System, bei dem an jedem Tag ein anderes Krankenhaus in der Innenstadt angefahren wurde. Stella sah, wie ihre Mutter immer wieder die Augen öffnete, die Iris von fiebrigem Glanz überzogen. Die Krankenschwester, die in regelmäßigen Abständen im Zimmer auftauchte, maß Blutdruck und Temperatur, trug dann die Werte in Tabellen ein, kontrollierte den Tropf, der die Mutter mit Flüssigkeit versorgte, und attestierte, dass alles in Ordnung wäre. Stella fühlte Ohnmacht. Die Mutter lag vor ihr, an der Schwelle zum Tod.

Sie saßen beisammen, nur auf sich konzentriert. Eine Insel in dem großen Zimmer, das mittlerweile mit weiteren Besuchern gefüllt war. Stella hatte Takis ebenfalls bei der Beerdigung ihrer Großmutter das letzte Mal gesehen, seine Frau hingegen noch nie. Vor langer Zeit hatte sie ein Hochzeitsfoto gefunden. Das zeigte Takis in einem altmodisch geschnittenen Wollanzug, und seine Braut mit akkurat geföhnten Haaren. Sie wirkten verliebt und glücklich. Das Paar hatte sich im Laufe ihres gemeinsamen Lebens einander angeglichen. Fast sahen sie wie Geschwister aus, mit ihren kurzen, grauen Haaren, demselben herzlichen Lachen, synchron wirkenden Gesten, und ihrem breiten Englisch. Sie trugen rote Windjacken zu dunklen Jeans und weißen Hemden, was sie im Licht des Krankenzimmers wie Fremdkörper wirken ließ. Takis war hilflos beim Anblick des Leids der Schwester. Er wusste nicht, was er sagen oder tun sollte, Anastasia hingegen hatte keine Berührungsängste. Sie griff nach einem Lappen und wischte die schweißnasse Stirn der Schwägerin ab.

»Sie hat Fieber«, stellte sie fest.

Besorgt schaute Stella auf die Uhr. Bald würde der medizinische Dienst die Deutsche Botschaft einschalten. Sie wollte nicht an das Ende denken, das ihnen hier bevorstehen könnte. Noch bevor sie sich auf den Weg zum Chefarzt machte, stand er in der Tür, hinter sich zwei junge Assistenzärzte. Unerwartet freundlich trat er auf Stella zu, beantwortete geduldig ihre Fragen. In hervorragendem Englisch erklärte er, wie leid ihm der Zustand der Mutter täte, und sie alles Mögliche in Bewegung setzen würden, um ihr zu helfen, gesund zu werden. Er selbst verbürgte sich dafür, dass sie bis an ihre Grenzen gehen würden. Er schien nicht zu verstehen, warum Stella ihrer Mutter den Transport zumuten wollte.

Stella setzte ihr freundlichstes Lächeln auf. Mit blumigen Worten dankte sie ihm für die hervorragende Betreuung. Sie wisse ihre Mutter in besten Händen, nirgendwo auf der Welt würden sie eine adäquatere Behandlung bekommen, nur der Umstand, dass ihre gesamte Familie in Deutschland war, sei der Grund für die gewünschte Verlegung.

»Sie muss nach Hause«, sagte Stella. »Ich danke Ihnen aufrichtig für alles, was Sie für meine Mutter getan haben.« Der Arzt fühlte den Puls der Patientin, las in den Tabellen. Stella sagte mit sanfter Stimme: »Bitte sprechen Sie mit dem Ambulanzteam.«

Der Arzt legte die Stirn in Falten und sagte: »Ich darf keine Informationen herausgeben. Erst, wenn sie entlassen ist, bekommen Sie die Dokumentation. Das sind die Regeln.« Stella nahm ihr Handy aus der Handtasche. »Bitte«, sagte sie eindringlich, »bitte bestätigen Sie, dass meine Mutter transportfähig ist. Stellen Sie sich vor, es wäre Ihre Mutter.«

Jetzt nickte der Chefarzt verhalten und ließ sich das Telefon geben.

Mit Einbruch der Dämmerung war es im Krankenzimmer ruhiger geworden. Das Kommen und Gehen von Pflegern und Krankenschwestern unterschiedlichster Nationalitäten, die Werbung für die eigene Person machten, um sich für einen oder mehrere Tage eine Arbeit zu ergattern, hatte aufgehört. In Griechenland wurde der Patient nicht allein gelassen. Entweder saß ein Familienmitglied an seinem Bett oder eine andere Person, die sich damit Geld verdiente. Der Großteil der Besucher hatte sich verabschiedet. Nur ein oder zwei Angehörige saßen neben den einzelnen Bettstätten.

Stella hatte Oddy gefragt, ob er nicht nach Hause gehen wollte, um Kraft zu schöpfen. Er hatte verneint, dann gelächelt: »Ich habe meine Schwester so viele Jahre nicht gesehen. Wenn es für dich in Ordnung ist, bleibe ich eine Weile länger. Wenn ich an damals denke …« Seine Gedanken schienen sich in der Vergangenheit zu verlieren. Stella hatte genickt und ihrerseits die Gedanken schweifen lassen. Im Laufe der Jahre hatte sie viele Facetten ihrer Mutter kennengelernt. Sie konnte liebevoll, manchmal zärtlich sein, ihren Kindern zugewandt und grenzenlose Geduld aufbringend. In den Abendstunden arbeitend für das Geschäft, das sie sich mühevoll aufgebaut hatte. Stella sah die Mutter vor sich, wie sie beharrlich an einem Schnittmuster tüftelte, damit das Ergebnis perfekt war, und ihre Kundin in dem von ihr entworfenen Kleid eine gute Figur machte, all die Anstrengung, um ihren Kindern ein Minimum an Wohlstand zu bieten. Sogar in den schwierigen Pubertätsjahren Verständnis aufbringend, und ihrem Bruder und ihr manchen Wunsch erfüllend, wenn sie gute Zensuren nach Hause brachten, damit sie eines Tages ein leichteres Leben haben würden. Stella sah die Mutter ausgelassen auf ihrer Hochzeit, stolz auf den Schwiegersohn, den aufstrebenden Architekten, der ihre Tochter glücklich machte. Mutter tanzte mit ihrem Partner Francis, der sie begleitete, soweit Stella zurückdenken konnte. Sie dachte an Mutters Strahlen, als sie ihr erstes Enkelkind in den Armen hielt, dann umringt von weiteren Enkelkindern. In ihren Gedanken tauchte die Mutter auf, verunsichert und verstört, als Georg ihr vor zwei Jahren mitteilte, er hätte einen Forschungsauftrag angenommen, der ihn bis in die Tiefen des Amazonasgebiets führte. Sie war unermüdlich für sie da gewesen, hatte wie eine Löwin für das Wohl ihrer Kinder gekämpft. Nun lag sie hier, ein Schatten ihrer selbst. Jetzt würde Stella für die Mutter kämpfen.

Oddy stand auf. »Ich muss mich etwas bewegen. Mein Bein …«, sagte er leise. Stella blickte ihm nach, wie er aus dem Zimmer ging. Dabei setzte er sein rechtes Bein mit einer schleppenden Verzögerung auf, der Spezialschuh, der manchmal unter dem Hosenbein herausblitzte, der linke Arm, der ihm Halt zu geben schien. Als er wenige Minuten später zurückkam, wirkte Oddy dynamischer, kraftvoller. Er hatte ein verbindliches Lächeln auf dem Gesicht. Jetzt erinnerte sein Anblick an die Bilder auf seiner Fanpage. Sie musste sein Lächeln unwillkürlich erwidern. Sie war in diesem Moment unbeschreiblich froh, nicht allein hier zu sein. Oddy war bei der Erledigung der Formalitäten eine große Hilfe gewesen. Stella bereute, dass sie den Griechischunterricht häufig geschwänzt hatte und deshalb nur über Grundkenntnisse verfügte. Des Onkels bloße Anwesenheit in der für sie fremden Welt wirkte beruhigend. Es hatte sich eine unerklärliche Vertrautheit eingestellt. Seit Stunden saß sie mit einem Mann zusammen, von dem sie kaum etwas wusste, und trotzdem bestand ein Band zwischen ihnen, das sie nicht erfassen konnte. Oddy nahm wieder an der Seite seiner Schwester Platz und griff schweigsam nach ihrer Hand.

Mit zunehmender Dämmerung breitete sich die Stille weiter aus, ergriff Besitz von ihnen. Irgendwann fing Oddy zu reden an, leise, langsam.

»Stella«, sagte er, »ich bin froh, dass ich deine Mutter und dich in diesen schweren Momenten begleiten kann.« Er schien ihre Gedanken lesen zu können. Bevor Stella ihm eine Antwort geben konnte, fuhr er fort: »Es hat sich unbemerkt entwickelt. Deine Mutter wollte sich schützen. Sie hat das Band zur Familie gelockert, und irgendwann die Verbindung gekappt, um eine Freiheit zu spüren, die sie vorher nie kannte. Sie wollte sich von allen Einflüssen befreien … in eine neue Welt tauchen.«

Stella nickte. »Das mag sein. Für meinen Bruder und mich war das nicht einfach. Wurzeln haben wir nie kennengelernt. Manchmal hatte ich als Kind das Gefühl, nicht im Boden verankert zu sein.« Sie sah ihr Leben wie durch einen Nebel, der sich verdichtete und wieder auflöste, und einen Blick auf die Tage ihrer Kindheit freigab.

»Das Leben ist dazu da, die eigene Existenz in eine höhere einzuordnen und zu begreifen. Das ist kaum möglich, wenn man in der Leere verhaftet bleibt«, sagte Stella.

Oddy zog die Nase kraus. Im schwachen Licht des Zimmers wirkte er kaum älter als sie. Seine Sommersprossen verliehen ihm ein lausbubenhaftes Aussehen und die Augen waren wach. Die Aufnahmen auf seiner Fanpage schoben sich über die Realität.

»Das Verhalten deiner Mutter wirkt auf den ersten Blick egoistisch. Aber du würdest sie verstehen, wenn du ihre Geschichte kennen würdest. Vielleicht uns alle. Wir haben diesen Zustand zugelassen«, sagte er leise. »Es waren vollkommen andere Zeiten. Sie war jung. Sie musste sich irgendwann befreien. Sonst wäre sie eingegangen, wie eine Pflanze ohne Wasser.« Stellas Miene verdüsterte sich unwillkürlich.

»Ich werde ein bisschen herumlaufen. Es ist nicht immer einfach.« Oddy stand auf.

Stella wusste nicht, was er mit der Aussage meinte, als er mit schleppendem Schritt aus dem Zimmer hinausging. Das Sitzen oder die Vergangenheit?

Oddy kam mit zwei Bechern Kaffee und Sandwiches zurück. Hungrig griff Stella zu. Stunden waren vergangen, seit sie das letzte Mal etwas gegessen hatte. Bis jetzt war es ihr nicht aufgefallen. Nicht einmal, als sie auf der Straße neben der Bäckerei stand, und mit Georg über den Heimtransport gesprochen hatte, und danach Francis angerufen hatte, um seinen Segen für ihr Vorgehen zu bekommen, war ihr in den Sinn gekommen, dass ihr Körper nach Nahrung verlangen könnte. Nachdem sie sich gestärkt hatten, sagte Oddy: »Vielleicht ist der Zeitpunkt gekommen, an dem ich dir die Geschichte erzählen sollte, die deiner Mutter, die auch gleichzeitig die unserer Familie ist.« Er rückte näher ans Bett. Vorsichtig fuhr er über die Wange seiner Schwester, strich ihr die Haare aus der Stirne.

»Ich werde an dem Punkt anfangen, an dem die Weichen neu gestellt wurden.« Er lächelte. »Unsere Mutter, deine Großmutter, war eine mutige Frau. Sie hat damals unser Schicksal in die Hand genommen.«

Stella sah zum Fenster hinaus, das den Blick auf einen mit Müllcontainern vollgestellten Hinterhof freigab. Es war ein Anblick unbeschreiblicher Tristesse.

»Ob ich das gerade jetzt verkrafte?«

Oddy nickte und musste unwillkürlich lachen.

»Wo denkst du denn hin? Es ist keine traurige Geschichte. Es ist eine Geschichte prall voll mit Leben.«

Stella löste den Blick von den Männern, die in einem der Container nach etwas Brauchbarem wühlten. Als Stella gestern Nacht das Krankenhaus verlassen hatte, hatte sie an vielen Orten der Stadt Menschen gesehen, meist mit dunkler Hautfarbe, die sich nicht anders zu helfen wussten. Flüchtlinge waren in diesem Land besonders arm dran.

»Ob Mutter möchte, dass du mir die Geschichte erzählst?«, fragte sie. Ein weiteres Lachen ließ Oddys Grübchen am Kinn hüpfen. »Bestimmt hätte sie das gewollt. Das ist alles so lange her. Letzte Woche, als wir Geschwister beieinandersaßen, hat sie von dir und deinem Bruder erzählt. Davon, wie stolz sie auf euch ist. Sie wollte ein Treffen organisieren …« Er zog die Decke hinauf bis zum Hals und fühlte ihre Stirn.

»Sie erscheint mir nicht mehr so warm.« Er blickte auf die Armbanduhr. »In zwei Stunden kommt Elpida für die Nachtschicht. Bis dahin haben wir Zeit.« Er nahm einen Schluck aus dem Kaffeebecher.

»Ich habe im Laufe des Lebens eine Vorliebe für Philosophie entwickelt. Einer unserer größten Philosophen, Sokrates, hat einmal gesagt: Die Geschichte endet nicht mit uns. Unsere Großeltern wussten das so gut wie meine Generation. So geht es immer weiter.«

Ohne auf Stellas Antwort zu warten, fing er mit ruhiger Stimme zu erzählen an. Es kam ihr vor, als ob sie bereits bei seinen ersten Worten in eine andere Welt eintauchte, weit weg von der Farblosigkeit dieses Zimmers. Ein Strudel, der sie erfasste und in eine Welt zog, die bunt war, voll vertrauter, längst verloren geglaubter Empfindungen.

Ein rettender Besuch

PELOPONNES, AUGUST 1944

Das Bergdorf Mikro Chorio lag einsam und verlassen in der gleißenden Mittagshitze. Kein menschlicher Laut durchzog die Stille, so als ob alle Bewohner, die von unzähligen blühenden Kakteen und Feigenbäumen überwucherte Talmulde verlassen hätten. Düster ragte ein halbes Dutzend Wehrtürme über der Ebene auf, einer höher als der andere. Schattenlos standen sie in der prallen Sonne, grau wie das Gestein der umliegenden Berge, aus denen sie erbaut worden waren.

Manolis war den weiten Weg aus dem Gebirge heruntergekommen, fast zwei Tage durch Schluchten und Täler geklettert, seiner Familie entgegen, die er seit mehreren Monaten nicht mehr gesehen hatte. Er hatte diese Strapazen auf sich genommen, immer auf der Hut vor den deutschen Besatzern und vor den rivalisierenden Banden, die in den Bergen, seitdem der Bürgerkrieg im Lande schwelte, ihre Lager aufgebaut hatten. Das alles hatte er getan, um den fünfzehnten August, der einer der höchsten Feiertage war, mit seiner Frau und den Kindern feiern zu können.

Manolis hatte seinen Besuch durch niemanden ankündigen lassen, und so war die Überraschung umso größer, als Anna während der Mittagsruhe seinen wohlbekannten Pfiff hörte. Schnell sprang sie die Leitern nach unten. Dann schaute sie mit einem kurzen Blick aus dem schmalen, langen Fenster, das die Form einer Schießscharte hatte, um sich zu vergewissern, dass sie nicht nur geträumt hatte. Als sie ihren Mann im Schatten des großen Maulbeerbaums vor dem Eingangstor erkannte, machte ihr Herz einen Freudensprung. Manolis. Er war am Leben. Seit er zu den Partisanen gegangen war, betete sie darum, dass der liebe Gott ihn verschonen mochte. In manch langer Nacht hatte sie sich den Kopf zermartert, sich gefragt, ob sie ihren Mann überhaupt jemals wiedersehen würde, oder ob sie als Witwe mit vier unmündigen Kindern durchs Leben gehen müsste. Anna hatte nicht damit gerechnet, dass Manolis am Tag der »Panagia« der Heiligen Mutter Gottes, den beschwerlichen und vor allem gefährlichen Weg aus dem Gebirge herabsteigen würde, um ihn nach wenigen Stunden zurückzugehen. Manolis war stets auf Sicherheit bedacht; nie würde er sich leichtfertig einer Gefahr aussetzen, wenn es dafür keinen ernsthaften Grund gab. Und der konnte nicht nur der Feiertag sein, auch wenn er das immer wieder beteuerte, als er sie stürmisch an sich drückte.

Das Dorf war mittlerweile fast leer. Wenige Frauen hielten die Stellung – wenn sie nicht ebenfalls in die Berge, wie der Widerstand im Volksmund genannt wurde, gegangen waren. Der Hass auf die Fremdherrscher und die Politik der letzten Jahre waren schuld an diesem Leben. Die Zeiten, als die Besatzer im Lande weilten, waren unermesslich hart gewesen, aber nichts im Vergleich zu dem, was die Menschen nun erleben mussten: Rivalisierende Partisanenverbände kämpften mit Leib und Seele für ein besseres Griechenland. Die Volksbefreiungsarmee, ELAS genannt, war ein Sammelbecken der Kommunisten, Sozialisten und Liberalen auf der einen Seite, die EDES, die Nationale Republikanische Liga, die deutliche republikanische Züge aufwies, auf der anderen Seite, und gegen die Deutschen aber auch gegen jedwede Einmischung, und letztendlich sogar gegeneinander.

Der Widerstand der Bevölkerung war in Folge einer Hungersnot angestachelt worden, auf Grund der weit mehr als einhunderttausend Menschen zu Tode gekommen waren. Die beispiellose Ausbeutung des Landes durch die Italiener und Deutschen, und die Seeblockade der Alliierten, allen voran der britischen Streitkräfte, hatten die Einfuhr des dringend benötigten Getreides verhindert, in der Annahme, dass, je größer der Hunger, desto größer der Widerstand gegen die Besatzer wäre. Als die Stimmung im Lande aufgewühlter wurde, hatte Manolis sein Bündel gepackt und sich den ELAS Truppen angeschlossen. Er konnte nicht tatenlos dasitzen und die anderen alleine für ihre Freiheit kämpfen lassen. So ließ er seine junge hübsche Frau Anna mit ihren Kindern in Mikro Chorio zurück, dem Ort, an dem seine Familie seit hunderten von Jahren heimisch war. Er hatte Anna sanft übers Haar gestrichen, und gemeint, sie würde das schon schaffen: »Ich muss unser Land retten.« Anna hatte ihn zweifelnd angesehen und war aus dem Zimmer gegangen. Er sollte ihre Tränen nicht sehen. Sie wollte vor ihm keine Schwäche zeigen. Dabei hatte sie überhaupt keine Ahnung, wie sie die nächsten Monate mit den Kindern überleben sollte. Die Speisekammer war leer und die Felder verwüstet. Kalliopi, ihre Größte, war erst sechs, dann folgten Sophia mit fünf und Ioannis mit einem Jahr. Zudem war sie zu diesem Zeitpunkt hochschwanger mit Takis gewesen. Ihre kleine Tochter Voula war wenige Wochen vor Manolis’ Ankündigung mit noch nicht einmal drei Jahren in ihrem Gitterbett verstorben. Eigentlich konnte man sagen, dass auch sie ein Opfer der Hungersnot war, aber Manolis und sie beteuerten, sie wäre an einer harten Brotrinde erstickt. Anna wollte nicht an diesen traurigen Tag zurückdenken. Allein der Gedanke daran raubte ihr die Luft zum Atmen, schien jeglichen Lebenswillen in ihr abzutöten. Aber was sollte sie tun? Es musste weitergehen. Sie musste an die anderen Kinder denken. Vielleicht war dieser Vorfall neben der allgemeinen politischen Lage der eigentliche Auslöser für Manolis’ Fortgehen gewesen. Er wollte die Lebensumstände ändern, wollte verhindern, dass das Hungern weiterging und noch mehr Familien in den Abgrund riss. Sie hatten darüber gesprochen, ob sie mit ihm zusammen in die Berge gehen und die Kinder bei Verwandten lassen sollte, aber Anna hatte keine Andartissa werden wollen, wie viele der anderen Frauen. Sie hatte sich entschieden, alleine zurückzubleiben und die Familie zusammenzuhalten. »Du bist eine starke Frau«, hatte Manolis ihr beim Abschied ins Ohr geflüstert und die Tür ins Schloss gezogen.

Angst dominierte von da an Annas Leben. Nicht mehr die Blutfehden der alten Tage machten den Alltag gefährlich, Anna machte hastig ein Kreuzzeichen beim Gedanken an diesen unseligen Brauch, der auch ihr Leben über Jahre hinweg mit unglaublicher Furcht erfüllt hatte, es war noch viel schlimmer gekommen. Die deutsche Wehrmacht hatte Zeichen gesetzt, oft an Orten, wo heftiger Widerstand geleistet wurde, hatte sie die Zivilbevölkerung ausgerottet und ganze Siedlungen zerstört. Orte wie Viannos im Süden auf der Insel Kreta, Komeno im Epiros, Distomo und Kalavrita gab es nicht mehr. Sogar vor dem Kloster Agia Lávra hatten sie nicht haltgemacht. Der Pope im Dorf hatte Anna aus einer Zeitung vorgelesen, dass auch Klisoura betroffen war, der Ort ihrer Vorfahren mütterlicherseits. Manchmal wünschte sich Anna, dass sie selbst die Buchstaben aneinanderreihen und so den Sinn der auf das Papier gedruckten Worte verstehen könnte. Im Winter des vergangenen Jahres war es zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen den beiden rivalisierenden Partisanenorganisationen gekommen, man hörte von schrecklichen Übergriffen und Hinterhalten. Anna betete jeden Tag aufs Neue zu Gott, dass sie alle diese harte Zeit gesund überstehen und Manolis eines Tages heil zu ihnen zurückkommen würde.

Anna freute sich, dass sie ihn jetzt gesund und munter im Arm halten konnte. Sie hatte zur Feier des Tages ein kleines Lamm gegrillt. Seit Wochen hatte sie es ganz hinten im Stall versteckt, und die Kinder durften das süße Tier nicht einmal für ein paar Minuten aus seinem Verschlag zum Spielen holen. Fleisch war Gold wert, und man musste ständig mit einem Diebstahl rechnen. Während Manolis auf seiner Strohmatratze schlief, er war nach seiner Ankunft wie ein Stein auf das Lager gefallen, war Anna zu den Kindern gegangen, die sich nach der Mittagsruhe in den schattigen Innenhof verzogen hatten, um dort mit steinernen Murmeln zu spielen. Sie nahm ihnen das Versprechen ab, ganz ruhig zu bleiben. Aufruhr war das Letzte, was sie brauchen konnten. Wenn ein andersdenkender Nachbar mitbekommen würde, dass sich Manolis bei ihnen aufhielt, dann könnte das die allerhöchste Gefahr für sie bedeuten. Mit den Republikanern war nicht zu spaßen, natürlich nur dann, wenn man selbst der ELAS angehörte. Sonst konnten die Nachbarn die nettesten Menschen sein, wie vor dem Krieg auch. In ihren Adern floss dasselbe Blut, und mit vielen von ihnen waren sie verschwistert oder verschwägert. Aber im Moment spielte das keine Rolle. »Euer Vater ist hier«, flüsterte sie. Die Kinder blieben sitzen, den Mund offen vor Staunen. Nur Kalliopi sprang auf, warf vor Aufregung die langen Zöpfe in die Luft und hüpfte von einem Bein auf das andere.

»Bleibt er jetzt wieder für immer bei uns?« Sie dachte an die Zeiten, als das Familienoberhaupt bei ihnen gelebt und dafür gesorgt hatte, dass die Töpfe gefüllt waren. Unermüdlich war er auf die Jagd gegangen, und hatte Wachteln und Hasen mit nach Hause gebracht, oder Oktopusse oder gar Schildkröten aus dem Meer gefischt. Jetzt ging sie fast täglich mit knurrendem Magen ins Bett, da der eingeweichte Zwieback, mit dem sie sich häufig über Tage hinweg begnügen musste, nicht richtig satt machte. Anna sah die Enttäuschung, die sich in Kalliopis Augen spiegelte, als sie hörte, dass ihr Vater schon morgen zurück in sein Lager musste. Sie zog den Mund zu einer Schnute und erklärte der Mutter altklug, dass es so nicht mehr weitergehen könne. »Wir werden noch alle verhungern. Wie unsere kleine Voula.« Noch während sie auf die Mutter einredete, war der Vater in der Tür erschienen. Mit einer Größe von einemmeterachtundneunzig stieß er fast am Türrahmen an. Er war der größte Grieche, den Anna jemals gesehen hatte, und auch der Schönste mit seinen blonden Locken, den hellen, ausdrucksvollen Augen und seinem markanten Gesicht. Sie musste unweigerlich an ihre Hochzeit denken. An diesem Tag hatte sie Manolis das erste Mal von Angesicht zu Angesicht gesehen. Sie war sehr aufgewühlt gewesen, als sie neben diesem baumlangen Kerl, dem sie gerade bis zur Brust reichte, um den Altar ging. Als sie dann vor dem Priester standen, schaute sie ungläubig nach oben. Neugierig und keck, ohne versteckte Scham, die den Griechinnen oft zu eigen war, zu diesem Riesen hinauf, der ihr vor Gott angetrauter Ehemann werden sollte; bis sich endlich ein Hochzeitsgast erbarmte, einen Schemel holte, und die Braut kurzerhand auf diesen hob, so dass sie die fast zwei Stunden dauernde Litanei auf einer Höhe mit ihrem Bräutigam verfolgen konnte. Nun betrachtete sie ihn auf Augenhöhe, frei und stolz. Und auch er sah sie an, mit seinem geraden, strahlenden Blick unter den dunkelbraunen Brauen, den sie mittlerweile so sehr liebte. Als sie an jenem sonnigen Tag an seiner Seite aus der Kirche trat und sie gemeinsam die Koufeta, die Hochzeitsmandeln, verteilten, hatte sie sich glücklich und dann aufgeregt gefragt, was das Leben für sie an seiner Seite bereithielt. Auch er war mit der Wahl zufrieden, die seine Eltern für ihn getroffen hatten, mit diesem Mädchen aus dem Landesinneren, fast vier Tagesreisen von ihrem Dorf entfernt. Er hatte die Leute oft von Annas Schönheit und Anmut reden hören, und die Geschichten waren wahrlich nicht übertrieben gewesen. Unter dem zarten Schleier umschmeichelten ihre langen braunen Haare das feine Gesicht mit den leuchtend blauen Augen, in denen sich das Meer widerzuspiegeln schien, die kleine, gerade Nase und ihren vollen Mund, der rot war wie eine Blüte im Sommer. Ihre Figur war zierlich und schlank, mit einer Taille, die er, wie ihm schien, mit einer Hand umfassen konnte. Höchstens einen Meter fünfundfünfzig groß, jedoch gut proportioniert, und in ihrem langen, spitzenüberzogenen Hochzeitskleid wie eine edle Porzellanpuppe anzusehen. Darüber hatten sie oft in den letzten Jahren gesprochen. Anna schüttelte den Kopf, als wollte sie damit die Gedanken an die Vergangenheit loslassen.

Kalliopi, Sophia und Ioannis fielen dem Vater in die Arme. »Du darfst nie mehr weggehen«, murmelte Sophia. Manolis war ein lieber Vater, immer zu einem Spaß aufgelegt und nicht schnell verärgert. Er suchte die Nähe der Kinder und hielt sie nicht auf Distanz, wie es sonst in vielen griechischen Familien üblich war. Seine Frau und die Kinder waren sein Ein und Alles. Anna merkte, wie ergriffen er jetzt war. Aber trotzdem konnte er ihnen den Gefallen nicht tun. Das Wohl seines Landes stand im Moment im Vordergrund. Nur wenn er und ebenso viele andere Mitbürger für die Freiheit kämpften, konnten seine Kinder eines Tages ein sorgenfreies Leben führen.

Sie gingen hinter das Haus, zu der Feuerstelle, auf der das Lämmchen an einem Spieß über der Flamme schmorte. Anna hatte ihren greisen Vater daneben gesetzt. Sie konnte in diesen Zeiten nicht wissen, ob der ungewohnte Duft nach Gebratenem nicht Diebe aus der Nachbarschaft anlockte. Auch in der Ansiedlung mit gerade einmal achtzig Einwohnern, die fast alle denselben Nachnamen trugen, fühlte sich Anna nicht mehr sicher. Ihr Vater, der alte Sophokles, war eingenickt, sein Kopf war auf den aus Weidenholz geschnitzten Spazierstock gesunken, und sein Gesicht hatte einen träumerischen Ausdruck angenommen. Als die Kinder lachend das Lämmchen begutachteten, wurde er kurz wach und sackte dann gleich wieder in sich zusammen. Um seinen fünfundneunzigsten Geburtstag herum hatte er angefangen, immer mehr in seiner eigenen Welt zu leben. Dort war er glücklich und störte niemanden durch ständiges Nörgeln, das die Männer, die in die Jahre gekommen waren, manchmal an den Tag legten.

Für Anna war ihr Vater schon immer ein alter Mann gewesen. Sie war ein Nachzügler, das einzige Kind, das Sophokles mit seiner dritten und letzten Frau in die Welt gesetzt hatte. Der Vater war zum Zeitpunkt ihrer Geburt, sie war das achtzehnte und letzte seiner Kinder, siebzig Jahre alt gewesen. Ihr ältester Bruder war genau ein halbes Jahrhundert vor ihr geboren. Bereits als Kind kam Anna ihr Vater unermesslich betagt vor, obwohl er trotz seines Alters wettergegerbt und drahtig war, und stets seiner harten Arbeit nachging. Sie hatte schon in jungen Jahren angefangen, sich um ihn zu kümmern, und so war es bis heute geblieben. Vor fünf Jahren hatte sie ganz die Verantwortung für ihn übernommen und er war zu ihnen übergesiedelt.

Anna hatte sich zur Feier des Tages umgezogen. Sie trug ihre dicken Haare zu einem Zopf geflochten, den sie sich quer über die Stirn gebunden hatte. Über einem langen weißen Kleid trug sie eine reich bestickte und an den Ärmeln und der Mitte gefranste Dalmatika, die von Generation zu Generation weitergegeben worden war. Sie holte sie nur zu besonderen Gelegenheiten aus der Hochzeitstruhe, in der sie ihre gesamte Aussteuer hütete. Die mit Goldfäden verzierten Pantoffeln, die eigentlich zu der schönen Tracht gehörten, hatte sie gegen Nahrungsmittel eintauschen müssen, wie einige andere Wertgegenstände auch, um ihren Kindern das Überleben zu sichern. So steckten die Füße in einfachen Mokassins aus ungegerbtem Leder.

Es war ein heißer Abend. Die Hitze war drückend im Innenhof. Kein Lüftchen war zu spüren, und nichts erinnerte an die heftigen Winde des Winters, den Ostwind und den Tramontana, die böige Windströmung, die durch alle Ritzen pfiff, und vor der sich die Menschen furchtsam im Inneren der Türme und Häuser verschanzten. Manolis schaute Anna nachdenklich an, die eine Flasche mit selbstgebranntem Ouzo brachte und ihn vorsichtig in Gläser schenkte.

»Es ist eine heiße Nacht. Essen wir im Kühlen.« Anna nickte, drückte dem Vater ein Glas mit der durchsichtigen Flüssigkeit in die eine und eine Scheibe Lammfleisch auf einer Gabel in die andere Hand. Sophokles, sofort aus dem Schlaf erwacht, kippte den Schnaps in einem Zug hinunter, dann biss er genüsslich von dem Gebratenem ab, langsam mit seinen fünf verbliebenen Zähnen kauend. Anna stellte das Fleisch, ein paar Kartoffeln, Bohnen und Birnen, in einen Korb, legte einen großen bauchigen Kürbis voll mit Wein dazu, und hängte die Schätze an die Seilwinde. Manolis nahm eine Laterne und ging den Kindern voraus, in den Turm. Sie stiegen die steilen Leitern hinauf, Stockwerk um Stockwerk, bis sie vom Klettern außer Atem auf dem Dach angelangt waren, das von einer niedrigen, zinnenartigen Mauer umgeben war. Die Kinder strahlten. Noch nie hatten sie dort mit den Eltern essen dürfen.

»Man kann bis ans Ende der Welt sehen«, rief Sophia aufgeregt. Endlos erschien ihr der Blick in die Dunkelheit, nur unzählige Sterne und der riesige Mond waren über ihnen, und die Familie scheinbar ganz alleine auf der Erde, denn ihr Turmplateau war das Höchste der ganzen Gegend. Man musste aufstehen, um die anderen Turmkronen zu sehen, alle unbeleuchtet und leer im Mondlicht. Auch jetzt war niemand im Freien, die wenigen zurückgebliebenen Dorfbewohner hatten sich an diesem hohen Feiertag in ihre Häuser zurückgezogen. Es gab keinen Lauf durchs Dorf und auch keine Kirmes, wie sonst an diesem Tag in ganz Griechenland. Es waren seltsame Zeiten, geprägt von Hass und Fanatismus, die Freunde und Verwandte zu Feinden werden ließen.

Manolis zog den Korb mit der Seilwinde nach oben, anschließend folgten Stühle und ein kleiner Zinktisch. Kurze Rufe schallten durch die Nacht, dann drückte Anna ihren Vater auf sein Lager aus Reisig, packte den winzigen Takis an ihre Brust und stieg behände wie eine Bergziege die Leiter nach oben, dem auf einmal fröhlichem Gelächter ihrer Familie entgegen, welches sie während der letzten Monate vermisst hatte.

Als Manolis sich am nächsten Tag in der Morgendämmerung von Anna mit nicht enden wollenden Umarmungen und Liebesschwüren verabschiedete, wurde er plötzlich ernst.

»Du musst von hier weggehen, Anna. Es ist ein Angriff auf das Tal geplant. Schon in den nächsten Tagen.« Anna schaute Manolis verständnislos an. »Sie werden euch alle umbringen. Geh nach Athen. Bitte. Dort seid ihr sicher. Ich werde dich nach unserem Sieg finden.« Sie runzelte die Stirn. Er konnte doch nicht allen Ernstes annehmen, dass sie alleine mit den Kindern und dem alten Vater den weiten Weg bewältigen konnte. Sie würden Monate brauchen. Ihr Stall war leer, kein Pferd oder Esel konnte ihren Wagen ziehen, und an die Gefahren gar nicht zu denken.

»Du bist verrückt, Manolis. So weit kann keine Frau alleine mit ihren Kindern und einem Greis gehen. Und auch wenn … hier ist mein Zuhause.« Manolis nickte ernst. »Ich kann dich gut verstehen. Es ist auch mein Zuhause. Seit Generationen hat meine Familie in diesem Dorf gewohnt. Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr.«

Er hatte sein Leben aufs Spiel gesetzt, um seine Familie vor dem wahrscheinlichen Tod zu bewahren. Das also war der eigentliche Grund seines Besuchs gewesen.

Warten auf den Angriff

PELEPONNES, AUGUST 1944

Die Warnung hatte Anna in Unruhe versetzt. Würden die Anhänger der EDES ihr Dorf dem Erdboden gleichmachen und Frauen, Kinder und Alte töten? Die eigenen Landsleute umbringen, weil sie einer anderen Ideologie folgten? Anna konnte und wollte sich so etwas Grausames nicht vorstellen. Das waren Griechen, ihr Volk, ihr Fleisch und Blut. Das waren keine Feinde, nicht Italiener, Deutsche oder Fremde. Anna hielt diese insgeheim für Barbaren, die sie und ihre Landsleute nicht verstanden. Manolis hatte sie unergründlich angeschaut, als sie ihn mit Fragen bestürmte, und vor sich hingemurmelt, dass das jetzt nicht mehr zählte. Und keine Partei wäre im Hinblick auf die momentan durchgeführten Übergriffe besser als die andere. Die Leute von der ELAS’ hatten vor Tagen auf der anderen Seite des Taygetosgebirges ein Dorf verwüstet. Es wurde gemunkelt, dass der Angriff eine Vergeltungsmaßnahme war. Zudem gab es Banditengruppen, die ebenfalls für Überfälle verantwortlich waren. Anna dachte an den Vater und erinnerte sich an Manolis’ Worte, kurz bevor er ging: »Beim ersten Anzeichen eines Angriffs musst du fliehen. Auf der Stelle. Du musst euch in Sicherheit bringen. Versprich es mir!«

»Und mein Vater? Ich kann ihn nicht mitnehmen.«

Manolis sagte: »Du musst ihn alleine lassen. Er hat sein Leben gelebt. Denk an unsere Söhne und Töchter.«

Wenige Stunden nachdem Manolis sich auf den Weg zurück zur Einheit gemacht hatte, kam ein Freund mit einem Eselskarren und lud den Vater aufs Gefährt, sein leises Lamentieren ignorierend. Der alte Mann verstand nicht, warum er seine gewohnte Umgebung verlassen sollte. Der Besitzer des Karrens ließ sich nicht abbringen, schließlich hatte er erst einen Teil des großzügigen Obolus für die Arbeit erhalten, den Rest würde er bei Sophokles’ Eintreffen am Ziel bekommen. Manolis hatte ihn geschickt, denn Annas Mann wusste genau, dass sie es nicht übers Herz bringen würde, den Vater zurückzulassen.

Anna drückte des Vaters Hand. Sie fühlte sich wie hauchdünnes Pergament an, unendliche Jahre alt, aus einer anderen Zeit. Jetzt lachte er sein zahnloses Lachen. Würde sie ihn jemals wiedersehen? Mit Tränen in den Augen winkte sie dem Karren hinterher, bis er nicht mehr in Sichtweite war. Ständig ging ihr der Gedanke durch den Sinn: Warum sollten die Republikaner gerade ihr Dorf angreifen? Es gab unzählige Ansammlungen von Häusern in diesem Tal. Vielleicht hatte Manolis sich getäuscht? Sie verdrängte die aufsteigende Angst. Das Leben ging weiter. Sie musste ihre hungrigen Kinder versorgen und das Verlassen der Heimat vorbereiten.

So vergingen die folgenden Tage mit schwerer Arbeit. Anna legte Birnen ein und backte Paximadi, den würzigen Zwieback, der nicht nur ihr einziges Grundnahrungsmittel geworden war, sondern sich auch zum Mitnehmen auf der Flucht eignete. Einen Sack hatte sie vollgemacht und in der Speisekammer beiseite gehängt. Das Wasser war im Hochsommer fast ganz zur Neige gegangen. Die Zisternen waren bei den hohen Temperaturen ausgetrocknet, und die Kinder verlangten weinerlich nach Flüssigkeit. Im nahen Umkreis waren alle Brunnen versiegt. Bis zu einem der kleinen Rinnsale, die im August langsam aus den Felsen plätscherten, war es ein weiter Weg. Anna wusste, dass sie eine Flucht nur mit ausreichend Wasser überleben würden.

Früh am Morgen zog sie mit ihrer Tochter Kalliopi los. Große Fässer auf dem Rücken geschultert kletterten sie über Felsbrocken, dem Gebirge entgegen. Als sie nach knapp drei Stunden an der Quelle angekommen waren, sah Anna den Bach, der träge über das Gestein lief. Nachdem sie das erste Fass in Position gebracht hatten, setzten sie sich in den Schatten der hohen Zypressenbäume. Kalliopi wollte alles über die Ziele und Pläne ihres Vaters wissen. Obwohl sie sein Ansinnen verstand, zu helfen, ihr Land für sie alle zum Besseren zu wandeln, machten ihr die Gefahren, die ihrer aller Leben verändert hatten, schwer zu schaffen. Das Mädchen seufzte tief: »Wenn Vater noch bei uns wäre, würde es uns trotz allem vielleicht besser ergehen.« Sie sah zur Mutter auf und besann sich. »Das Wohl der Allgemeinheit steht vor dem Wohl des Einzelnen«, sagte sie altklug. Diesen Satz hatte sie von klein auf in ihrem gesamten Umfeld immer wieder gehört. Laut rief sie aus: »Wenn ich alt genug bin, werde ich auch eine Andartissa. Dann werde ich in die Berge gehen, wie eine Amazone, und werde für eine gerechte Welt kämpfen. Genauso, wie das Vater macht.«

In der Ferne sah Anna bekannte Gestalten. Eleni, die Frau von Stavros, eines Cousins und Wegbegleiters ihres Mannes, kam mit ihrem Sohn Franziskus den steilen Weg zur Quelle emporgestiegen, ebenfalls mit Gefäßen auf dem Rücken. Die Familie wohnte im Nachbarort Aeropolis, der größten Stadt der westlichen Peloponnes. Auch dort war die Wasserversorgung in den Sommermonaten nicht besser als in den umliegenden Dörfern. Die Neuankömmlinge gesellten sich zu ihnen in den Schatten. Eleni machte kein Geheimnis aus ihren Sorgen, die ihr mittlerweile den Schlaf raubten. Sie hatte seit Monaten kein Lebenszeichen von ihrem Mann erhalten, der sich wie Manolis derselben Einheit der Partisanen angeschlossen hatte. Die Männer hatten von Kindesbeinen an viel Zeit miteinander verbracht, gemeinsam die Ziegen der Familien gehütet und waren tagelang umhergestromert, hatten Hasen mit der Flinte geschossen und im Meer Fische mit einem langen Speer gefangen. Als die Freunde älter wurden, hatten sie gemeinsam heimlich die erste Zigarette geraucht, und alle politischen Ereignisse, die das Land aufgewühlt hatten, lautstark diskutiert. Am Ende der heftigen Debatten waren sie immer einer Meinung gewesen. Kein Blatt passte zwischen sie, Brüder im Geiste, wie Stavros bei jeder Gelegenheit beteuerte. Die Tatsache, dass Manolis vom Vater zum Studium der Ingenieurwissenschaften ins weit entfernte Athen auf die Universität geschickt worden war, während Stavros in der Mani blieb, um weiterhin die Eltern zu unterstützen, hatte der Freundschaft keinen Abbruch getan. Nach Manolis’ Rückkehr entwickelte sich beider Leben in eine nahezu übereinstimmende Richtung. Sie hatten fast zur selben Zeit geheiratet, und die Frauen waren von einem ähnlichen Typ, die alsbald selbst Freundinnen geworden waren.

Kalliopi konnte die Neuigkeiten nicht bei sich behalten. »Vater war da. Am Tag der Panagia«, sprudelte es aus ihr heraus. Fragend schaute Eleni Anna an. Hatte Manolis wirklich den weiten und gefährlichen Weg auf sich genommen? Das Gebirgsgebiet war zwar überwiegend in der Hand der Andarten, aber sie hatten sich, so wurde gemunkelt, mittlerweile in rivalisierende Fraktionen gespalten, von denen jede die Vorherrschaft für sich beanspruchte. Anna nickte bestätigend.

»Manolis wollte mich und die Kinder sehen.«

»Hat er etwas über Stavros erzählt? Geht es ihm gut?«, fragte die Freundin aufgeregt. Anna musste sie enttäuschen. Er hatte ihn mit keiner Silbe erwähnt. Anna erzählte, dass Manolis lustig, geradezu albern mit den Kindern gewesen war, und zärtlich, wenn sie alleine waren. Doch er hatte keinerlei konkrete Informationen gegeben. Auf alle Fragen hatte er ihr seinen Finger auf die Lippen gelegt und beteuert, dass er sie nicht in Gefahr bringen wolle. Mit leiser Stimme, damit die Kinder, die lauschend neben ihnen saßen, nicht alles mitbekamen, sagte Anna weiter: »Du weißt, was das bedeutet. Es gibt nichts Neues. Sie bringen immer noch Männer nach Ägypten. Für die geplante Übergangsregierung.«

Eleni seufzte. »Dann lauern wenigstens keine unbekannten Gefahren auf sie. Auf diesen Wegen haben sie die jüdischen Flüchtlinge nach Palästina geschleust.«

Anna bekreuzigte sich hastig bei dem Gedanken. Fast alle Griechen hatten überhaupt kein Verständnis für die Judenverfolgungen der SS gehabt. Es hatte sich schnell im Land herumgesprochen, wie reibungslos grausam die Deportation der jüdischen Bevölkerung aus Thessaloniki in deutsche Vernichtungslager funktioniert hatte. Etwa fünfzigtausend Menschen waren plötzlich verschwunden. Das machte gut ein Fünftel der Bevölkerung der thessalischen Stadt aus. Die orthodoxe Kirche hatte heftig gegen dieses unglaublich barbarische Vorgehen protestiert, ebenso die Vasallenregierung in Athen, und sogar die deutsche Botschaft. Eleni bekreuzigte sich. Sie hatten alle nicht das kleinste Problem mit den Juden. Kein einziger Grieche, den sie kannten, war ein Antisemit. Viele griechische Geschäftsleute schmeichelten sich damit, sogar den geschäftstüchtigsten Juden übers Ohr zu hauen. Die Juden waren ein beliebter Teil der Bevölkerung, umgängliche, friedliche, gebildete Menschen, und Thessaloniki galt als »Mutter Israels«. Die Frauen hatten verstanden, dass die ELAS und damit ihre Männer der jüdischen Bevölkerung zur Flucht verhelfen mussten, auch wenn das ein gewisses Risiko mit sich brachte. Sie konnten schließlich nicht herzlos sein.

Anna schickte Kalliopi zur Quelle, das Fass zu wechseln. Jedes einzelne durfte nicht zu voll werden, denn sonst konnten sie die schwere Last nicht bis nach Hause tragen. Das traf vor allem für Kalliopis deutlich kleineres Behältnis zu. Eleni machte dem Sohn ein Zeichen, dass er dem Mädchen zur Hand gehen sollte. Als die Kinder außer Reichweite waren, raunte Eleni Anna zu, dass sie große Angst hätte, weil im Moment unzählige Vergeltungsschläge durchgeführt wurden.

»Die Deutschen bekämpfen die Banden und haben mehrere Dörfer dem Erdboden gleichgemacht. Und die Banden haben heftige Auseinandersetzungen. Ich weiß nicht, wer das geschürt hat.« Eleni seufzte. »Wie die Kindsköpfe. Früher waren sie Freunde, und heute gibt es Republikaner und Kommunisten … so unermesslich viel Gewalt …«

Anna gab ihr recht. Aber sie wusste, dass es um eine bessere Welt ging, Manolis hatte es ihr oft genug zu verstehen gegeben. Eleni senkte die Stimme. »Auf der anderen Seite des Taygetosgebirges haben unsere Leute ein ganzes Dorf verwüstet. Ich weiß es vom Popen … jetzt wollen sie sich rächen. Ich bete zu Gott, dass es nicht in Aeropolis ist.« Sie schloss die Augen und bekreuzigte sich dreimal.

»Das einzige Gute ist, dass Stavros in den Bergen keine Dummheiten anstellen kann.«

Anna wollte nicht wissen, was die Freundin mit der Aussage meinte. Sie hatte im Dorf allerlei Gerede gehört. Anna berichtete von Manolis’ Warnung, von der Aufforderung, sich mit den Kindern auf den Weg zu machen. Düster saßen die Frauen beisammen.

»Ich will nicht weg. Das Dorf ist meine Heimat«, sagte Anna traurig. »Was soll ich in Athen? Mikro Chorio ist mein Zuhause, auch wenn das Leben anstrengend ist.«

Eleni schüttelte den Kopf. »Das hilft alles nichts. Wir wollen nicht gehen, weil der Alltag mühsam ist. Wir gehen, wenn die Gefahr besteht, dass unsere Familien brutal ausgerottet werden.« Sie atmete tief ein. »Die Bündel sind gepackt. Ich werde flüchten, wenn die Antikommunisten vor unserer Tür stehen.«

Auf dem Weg nach Hause war Anna schweigsam. Kalliopi, die ihre Mutter nie so still erlebt hatte, bekam Angst. Hatte Eleni etwas über ihren Vater erzählt? Ist er heil zurück in sein Lager gekommen? Anna beruhigte das hochaufgeschossene, dünne Mädchen, das die schwere Last klaglos durch den heißer werdenden Vormittag trug.

»Deinem Vater geht es gut. Mach dir keine Sorgen. Es kann sein, dass wir …« Anna verstummte abrupt. Sie brachte es nicht übers Herz, die Tochter zu beunruhigen. Die Kleine hatte keine sorglose, fröhliche Kindheit gehabt, so wie Anna es sich für das Mädchen gewünscht hätte. Kalliopi war bereit zu helfen und mit ihren jungen Jahren Verantwortung zu übernehmen, war ihr selbst in der größten Not eine Stütze. Kalliopi steckte ihre Bedürfnisse zurück, damit es den jüngeren Geschwistern an nichts fehlte. Anna wollte ihr nicht zusätzlich Sorgen bereiten. Vielleicht zerschlugen sich die düsteren Prognosen, und der Angriff würde an einem anderen Ort oder womöglich gar nicht stattfinden. In Aeropolis, wie Eleni befürchtete, oder weiter entfernt. Seit Manolis’ Warnung waren drei Tage vergangen und noch war alles ruhig. Kalliopi schaute die Mutter mit großen Augen an.

»Was ist mit uns?«, fragte sie angsterfüllt. Anna redete eindringlich auf sie ein, so als ob sie sich selbst die Worte glauben machen musste.

»Mach dir keine Sorgen. Bald sind wir alle wieder zusammen und dein Vater muss nie mehr kämpfen.«

Nachdem in der Küche das Wasser in alle Krüge verteilt und der Rest in die Zisterne gekippt worden war, ging Anna ins Schlafzimmer. Sie schaute aus dem vergitterten Fenster. Friedlich lag die Ebene in der Nachmittagssonne, nur das Zirpen der Zikaden war zu hören. Einer Fata Morgana gleich lag das Meer in der Ferne, klar und doch entrückt, so, als ob Anna es niemals mehr erreichen konnte. Wie lange war es her, dass sie mit den Kindern in den Wellen gebadet hatten? Wie sehr hatten Kalliopi und Sophia gejauchzt und von dem kühlen Nass nicht genug bekommen? Damals waren die beiden Schwestern auf der Welt gewesen. Anna hatte noch nicht geahnt, wie groß die Familie werden würde. Nach jenem Sommer hatten sie nicht mehr den Mut aufgebracht, an den mehr als fünf Kilometer entfernten Strand zu gehen. Überall lauerten Gefahren, Italiener, Deutsche, Barbaren und die eigenen Landsleute. Manolis hatte recht. Sie musste sich bereitmachen. Die Sachen packen und die Kinder in Sicherheit bringen, von ihrem Zuhause flüchten, wenn die EDES-Anhänger das Dorf stürmen sollten.

Anna öffnete die Truhe mit der Aussteuer. Sie nahm ein großes Laken heraus, breitete es auf dem Bett aus und schaute die Schränke durch. Eine Flut von Kleidungsstücken sammelte sich auf dem gestärkten Betttuch. Anna begutachtete die Auswahl, dachte kurz nach und wühlte in der Hochzeitstruhe. Sie zog ein etwa fünf Zentimeter dickes Paket hervor, eingebunden in ein bunt bedrucktes Plakat. Sie hob es an die Lippen, hauchte vorsichtig einen Kuss darauf und steckte es sorgsam in die Mitte der Kleidungsstücke. Dann packte sie die Lakenenden und verschloss das Bündel mit einem dünnen Band. Besonnen stieg sie mit der Last die schmalen Leitern nach unten, stets in Sorge, in der Öffnung stecken zu bleiben. Im Hof zog sie einen Leiterwagen heran, hievte das Bündel darauf. Jetzt, am Nachmittag, lief sie nicht Gefahr, jemandem zu begegnen. Vor sechs Uhr lagen alle Frauen und Kinder auf ihren Pritschen, um der drückenden Hitze zu entgehen. Sie zog den Wagen zum Rand des Grundstücks und verbarg ihn hinter einer Scheune, in der Manolis allerlei Gerätschaften gelagert hatte. Dann eilte sie zurück ins Haus. In der Kammer griff sie nach zwei Flaschenkürbissen und goss sie mit frischem Wasser voll. Anschließend nahm sie den aufgehängten Sack und füllte ihn bis zum Rand mit dem Zwieback aus der Vorratsdose. Ein paar Stück ließ sie für das Abendessen zurück. Ihr Blick fiel auf die getrockneten Birnen, die letzten, die sie besaß. Auch das Obst nahm sie mit ins Versteck.

Am Abend saß Anna mit den Kindern um den großen Tisch im Innenhof. Ihr Mahl war kümmerlich. Es bestand aus getrocknetem Kaninchenfleisch und Trauben, dazu gab es für jeden einen in Wasser eingeweichten Zwieback. Als Ioannis hungrig nach mehr verlangte, fand sie in der Speisekammer ein kleines Stück von dem würzigen, getrockneten Brot, das sie in zwei Teile brach. Die eine Hälfte für ihn, die andere reichte sie Sophia. Mit knurrendem Magen brachte sie die Kinder zu Bett. Zärtlich deckte Anna sie zu und drückte einem nach dem anderen einen Kuss auf die Stirn. Sie hoffte sehr, dass sich die Vorhersage nicht erfüllte und sie in ihrem Zuhause bleiben konnten.

Anna fiel in einen leichten Schlaf. Als Mitternacht vorbei war, ließ ein ungewohntes Geräusch sie aufschrecken. Im ersten Moment konnte sie es nicht einordnen. In Mani hieß es, trieben die Geister im Sommer während der heißesten, im Winter während der finstersten Stunde ihr Unwesen.

Nein, das war kein Geist, der sich in die Sommernacht verirrt hatte, das Geräusch war real. Es war Getrampel von schweren Männerschuhen. Das waren die Rechten. Anna sprang auf und weckte Kalliopi.

»Wir müssen fliehen. Die Antikommunisten …«, und danach rüttelten sie gemeinsam die Kleineren wach. Angstvoll machte Anna den Kindern ein Zeichen, leise zu sein. Mit Takis auf dem Arm und Sophia an der Hand rannte sie vor Kalliopi und Ioannis aus dem Haus. Im Windschatten der Büsche entlang, bis hin zur Scheune. Schreie waren zu hören, Schüsse. Am Ortsrand ging ein Haus in Flammen auf. Sie sahen, wie drei bewaffnete Männer ihren Turm stürmten, Befehle brüllend. Anna schob die Kinder in den Schuppen, in eine Ecke, wo sie sich hinter einem hohen Stapel Olivenholz versteckten. Takis fing zu weinen an. Beruhigend wiegte sie ihn hin und her. Auf einmal ertönte ein lauter Knall. Durch eine fast blinde Glasscheibe sah sie, wie das untere Stockwerk ihres Hauses in Flammen stand. Ihr Heim mit den dicken Natursteinmauern, das ihnen zu jeder Zeit uneingeschränkt Sicherheit vermittelt hatte, brannte lichterloh. Der Boden mit den Mosaiken, Szenen aus den Reisen des Odysseus. Ein wahrer Grieche mit Erfindungsgeist, der ihn jede Situation bewältigen ließ. Etwas von seiner Geistesgegenwart bräuchte Anna in diesem Moment.

Takis weinte lauter. Das Getrampel kam näher. Anna zitterte am ganzen Körper. Wenn das Geschrei des Jüngsten sie verriet, wären sie alle tot. Sie musste ihn zum Verstummen bringen. Mit Tränen in den Augen nahm sie eine Decke und presste sie auf seinen Mund. Der Einjährige zuckte und das Weinen erstarb. Annas Herz schlug dumpf bis zum Hals. Die Tür des Schuppens öffnete sich. Eine Lampe leuchtete den kleinen düsteren Raum aus. Gerätschaften, Holz, Spinnweben. Kein einladender Ort. Anna wurde schwarz vor Augen. Jetzt war es aus, schoss es ihr durch den Kopf. Sie hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können, dass ihre Lungen komplett leer wären. Die Angst lähmte sie und durchzog ihren Körper bis in die Fingerspitzen. Die Kinder hatten sich eng an sie geklammert. Takis lag reglos in ihren Armen, schwer wie ein Mühlstein. Plötzlich brüllte eine Stimme: »Die Hütte ist leer.«

Sekunden später war der Mann verschwunden. Anna stand einen Augenblick lang unbeweglich da, dann kam Leben zurück in ihren Körper und die Lungen füllten sich mit Sauerstoff. Sie riss die Decke von Takis’ Gesicht. Seine Augen waren geschlossen. Anna schüttelte das kleine Wesen vorsichtig. Da öffnete er seine Lider und schaute sie angsterfüllt an. Ein leises, klagendes Weinen ertönte. Anna musste unwillkürlich lächeln. Trotz des Schreckens, der Brutalität um sie herum, und dem Verlust ihres fast gesamten Hab und Guts und ihres Zuhauses, ihrer Heimat, durchfuhr sie ein warmes, sanftes Gefühl des Glücks. Sie hatten überlebt. Jetzt konnte die Reise losgehen. Die Flucht von Mikro Chorio nach Athen.

Die Flucht

GRIECHENLAND, AUGUST BIS NOVEMBER 1944

Anna lief erst mit den Kleinen bis zur Festung, die verfallen am Ortsende lag. Diese Ruine, die vor Hunderten von Jahren als Hindernis für die Türken erbaut worden war, bot den ersten Schutz vor den Angreifern. Zwischen den verfallenen Mauerresten, die dunkel und unwirklich im Mondlicht lagen, würde sie keine Menschenseele vermuten.

Anna verschnaufte kurz.

»Mutter, bitte … geh nicht zurück. Wir müssen weg hier«, bettelte Kalliopi. Sophia fiel weinend mit ein.

»Mutter, bleib bei uns.« Sie hatten Angst, die wild gewordenen Aufständischen könnten sie erwischen und auf der Stelle kaltblütig umbringen. Anna beruhigte sie schnell. Die Republikaner erfüllten gerade die grausame Mission, niemand würde in solch einem Moment zurück zu ihrem verlassenen Schuppen gehen.

»Ohne Proviant und Leiterwagen überstehen wir den weiten Weg bis nach Athen ganz bestimmt nicht.« Sie bekreuzigte sich dreimal und lief Richtung Dorf, schlich sich zurück aufs Grundstück. Wie in Trance zog sie den Wagen den steilen Pfad hinauf. Während der vergangenen Minuten hatte sie schreckliche Gefühle durchlebt. Sie hatte lichterloh brennende Häuser gesehen. Das Zuhause von Verwandten und Freunden, ihren Nachbarn und den Bekannten, Schreie und Schüsse gehört. Aber was sollte Anna tun? Sie konnte den Bewohnern nicht helfen und würde dadurch nur ihr eigenes Leben gefährden. Die Kinder mussten in Sicherheit gebracht werden, die sonst wehrlos in die Hände der Feinde fallen würden. Die lodernden Flammen brannten sich in Annas Seele, machten sie stark, und ließen den Samen keimen, dass sie für Gerechtigkeit und ein sicheres Leben kämpfen wollte.

Zurück bei den Kindern bettete Anna Takis und Ioannis in den mit Tüchern gepolsterten Leiterwagen, neben die Lebensmittel. Gemeinsam mit Kalliopi zog sie das Gefährt auf die Anhöhe. Sophia im Schlepptau, müde den Daumen im Mund. Anna blickte ein letztes Mal aufs Dorf, in dem sie seit der Heirat gelebt hatte. Der Ort, der Hoffnung verströmt hatte, Hoffnung auf das Glück, mit ihrem Mann viele gesunde, kräftige Söhne zu bekommen, und Töchter, so hübsch wie alle Frauen in ihrer Familie. Die Hoffnung, zum Wohlstand zu gelangen, die Ländereien des Klosters zu pachten, so, wie es ihr Vater an einem anderen Ort gemacht hatte. Die sichere Burg. Und nun – sie konnte nicht hinschauen, ohne dass Tränen über ihre Wangen liefen. Das Dorf war zu einer grausamen Feuerhölle geworden. Anna schloss die Augen und drehte sich um. Sie wollte nie wieder zurückkommen.

Noch in der Nacht gingen sie bis zum Meer hinunter nach Limeni, und während der nächsten Tage weiter an der Küste entlang. Schnell fanden sie ihren Rhythmus. Sie starteten am frühen Morgen und schritten voran, bis die Sonne höher stieg und ihnen die spätsommerlichen Temperaturen den Marsch unerträglich machten. Dann rasteten sie, um am frühen Abend bis spät in die Nacht weiter zu marschieren. Sie schliefen in Höhlen, unter Bäumen oder ziemlich schutzlos am Strand, stets darauf bedacht, keinem Menschen zu begegnen. Die deutschen Besatzer wagten sich nicht bis ins Innere der Mani. Die Republikaner jedoch konnten überall sein, und waren alles andere als zimperlich. Wann immer Anna Menschen in weiter Ferne sah und sie das Gefühl beschlich, es handelte sich nicht um Bewohner der Gegend, verließ sie den Weg und suchte sich mit den Kindern ein Versteck. Anfangs hatten die Großen gemault, wenn sie den Kurs verlassen mussten, aber je mehr Zeit verging, desto wortkarger wurden sie. Mittlerweile waren sie so schwach, dass sie sogar zu weinen aufgehört hatten. Kalliopi und Sophia setzten mechanisch einen Fuß vor den anderen. Die beiden Jungen lagen apathisch im Leiterwagen, unter einem Sonnensegel, das die Mutter zum Schutz vor der Hitze gebaut hatte. Manchmal befürchtete Anna, dass sie diese weite Reise nicht überleben und sie ihren Mann nie mehr wiedersehen würde.

Während der nächsten Tage sahen sie wiederholt Partisanengruppen in der Ferne. Niemand konnte wissen, was diese Burschen, ob es Rechte, irgendwelche Freischärler oder Männer der ELAS waren, im Schilde führten. Das Grauen, das sie erlebt hatten, machte Anna noch vorsichtiger. Sie hatten auf ihrem Weg tote Kämpfer beider Fraktionen gesehen, an den Überresten der jeweiligen Uniformen zu erkennen, meist grausam verstümmelt, oft von der Sonne verwest. Sie hatte versucht, den Kindern diese schrecklichen Anblicke zu ersparen, sie sollten nicht so früh begreifen müssen, dass der Mensch oft das schlimmste Tier war, für seine Ziele brutal mordend. Sie verlegte die Route ins Hinterland, und auch wenn der Weg beschwerlicher war, bot er mehr Schutz vor den lauernden Gefahren. Allerdings musste Anna darauf achten, dass sie genügend Abstand zu den Bergen hielten.

In dieser Region fanden, wie Anna von einer Familie, die sich wie sie auf der Flucht befand, die einzige, die ihr auf der von ihr gewählten Route begegnete, erfahren hatte, die meisten Partisanenkämpfe statt. Anna führte die Kinder ums Gebirge herum. Sie folgten einem trockenen Bachbett, angefüllt mit von der Sonne gebleichten Kieseln, das sich endlos nach Norden schlängelte. Sie konnte den schweren Leiterwagen auf dem unebenen Untergrund nur mit großer Anstrengung ziehen, jedoch gab es keine Alternative. Kalliopi ging ihr tatkräftig zur Hand, in dem Wissen, dass die Mutter auf sie angewiesen war.

Ihre Füße waren wund, mit Blasen und eitrigen Wunden übersät, und die Schuhe hatten an vielen Stellen Löcher. Anna konnte sich nicht erinnern, wie lange sie bereits unterwegs waren, irgendwann hatte sie aufgehört die Tage zu zählen. Die Kinder waren am Ende ihrer Kraft. Sie wollten in einem Haus übernachten, an einem Ort bleiben und Sicherheit spüren. Ein Leben auf der Straße erschien ihnen fürchterlich. Anna versprach, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie endlich ein Dach über dem Kopf hätten. Und so fassten sie Mut, glaubten der Mutter, und schöpften Energie aus ihrem festen Willen, den weiten Weg durchzustehen. Und je mehr Zeit verging, desto besser fanden sie sich mit der Situation ab. Gelegentlich ertönte jetzt wieder ein Lachen, in das alle mit einstimmten. Sie würden es schaffen.

Nachts kletterte Anna die Felsen entlang, auf die Vegetation achtend, und fand manchmal neben einem Busch eine leise gurgelnde Quelle. Dadurch waren die Wasserflaschen stets gefüllt, was ihnen das Überleben sicherte. Anna wusste, dass sie bis nach Kalamata gelangen mussten. Sie hoffte, von ihrer dort verheirateten Schwester aufgenommen zu werden. Die Strecke bis in die messenische Hauptstadt war der gefährlichste und beschwerlichste Teil der weiten Reise und die Stadt selbst von den Deutschen besetzt. Bis an die Nordspitze der Peloponnes waren sie mit ihren Eroberungen gekommen. Trotz dieser Gefahr gab es keine bessere Möglichkeit für eine Atempause. Sie durften nicht auffallen. Nur dann konnten sie sich von den unbeschreiblichen Strapazen erholen.

Endlich waren sie in Kalamata angekommen. Vor Erstaunen blieb Anna und ihren Töchtern der Mund offen. Sie waren noch nie zuvor in einer großen Stadt gewesen. Wo sie hinsahen waren junge und alte Menschen, wenige Männer und unzählige Frauen mit Kindern, vor den Häusern, auf den Straßen und auf den Plätzen. Deutsche Uniformen sah sie nicht. Trotzdem kostete es sie Überwindung, auf Menschen zuzugehen und sie um Hilfe zu bitten, damit sie ihre Schwester Aliki ausfindig machen konnte. Die Bewohner der Stadt waren hilfsbereit und nach kurzer Zeit brachte sie eine alte, schwarzgekleidete Frau zu einem Haus im inneren Stadtring, unterhalb der Burg.

Anna klopfte wild an die Tür. Langsam öffnete eine in die Jahre gekommene Frau, der man ansah, dass sie früher einmal hübsch gewesen war.

»Anna«, flüsterte sie, als sie die von schweren Strapazen gezeichnete Gestalt sah. »Bist du es wirklich?«

Anna fiel der älteren Schwester um den Hals.

»Republikaner haben unser Dorf niedergebrannt. Wir sind den ganzen Weg zu Fuß gegangen.«

Aliki fragte nach dem Vater. Anna winkte ab.

»Er ist in Sicherheit. Manolis hat ihn vor dem Angriff wegbringen lassen.«

Aliki zog sie in ihr ärmliches Haus.

»Ich habe keine Besatzer gesehen«, waren Annas erste Worte im Inneren des Hauses.

»Am zehnten September haben wir die Deutschen besiegt. Sie sind abgehauen … so schnell sie konnten. Und wir haben sie nicht verfolgt«, sagte Aliki ohne jegliche Regung. »Diese Bastarde haben ihre griechischen Helfer alleine und schutzlos zurückgelassen. Unsere Leute haben sie zusammengetrieben und bis nach Meligalas geschafft. Dort haben sie kurzen Prozess mit den Verrätern gemacht.«

Anna hatte sich während der letzten Etappe nach Kalamata gewundert, warum sie, wenn sie nachts weiterwanderten, zahlreiche Leichen am Straßenrand gesehen hatten. Anna hatte ein Spiel erfunden, das darin bestand, am Sternenhimmel Tierformationen zu suchen. Damit wollte sie den Blick der Kinder von den verstümmelten Leichen lenken. Sie wischte die schlechten Gedanken weg. Alle Angst war mit einem Mal weit entfernt.

»Danke«, flüsterte Sophia immer wieder. »Hier ist es schön.« Kalliopi erfasste die neue Situation differenzierter.

»Wir sind in Sicherheit«, sagte sie erleichtert. Sie setzten sich an den großen Küchentisch. Anna und die Kinder stärkten sich mit frisch gebackenem Brot, einem Stück getrocknetem Fleisch und Eiern. Während der letzten Tage waren die Vorräte zur Neige gegangen und außer einem Kanten Zwieback pro Tag hatte es nichts anderes zu Essen gegeben. Die Kinder hatten leuchtende Augen und konnten nicht genug bekommen. Während des Mahls ließ Aliki einen Trog voll Wasser laufen und nach der Mahlzeit sprang einer nach dem anderen in das kühle Nass. Mit einer Wurzelbürste schrubbte Anna die Kinder ab, um die Spuren des Marsches zu beseitigen, und verarztete anschließend notdürftig die Wunden. Dann fielen sie in einen langen Schlaf.

Nach wenigen Tagen fühlten sie sich gestärkt und Anna wollte weiterziehen. Sie hatte Manolis versprochen, direkt nach Athen zu gehen, damit er sie dort finden könne. Aliki versuchte sie zu überreden, zumindest eine weitere Woche bei ihr zu bleiben. Alikis Mann und die Söhne waren in den Bergen. Sie lebte mit drei unverheirateten Töchtern zusammen. Die Gesellschaft von Anna und den Kindern war angenehm und vertrieb die Langeweile. Der Haushalt konnte die Gäste gut verkraften. Es gab im Alltag nicht viel zu essen, aber mit Erfindungsgeist hatte Aliki es geschafft, jeden Tag eine Mahlzeit auf den Tisch zu bekommen. Schon ihr Vater hatte behauptet, in Griechenland müsse niemand verhungern, dazu war der Boden zu fruchtbar. Man müsse nur ein Loch bohren, einen Stock in die Erde stecken und wenige Tage später würde er treiben. Und er hatte recht. Annas um zehn Jahre ältere Schwester hatte im kleinen Hof Gemüsebeete angelegt, die sie in den schweren Zeiten vor dem Verhungern schützten. Grüne Bohnen, Knoblauch und unzählige Zucchini und Auberginen wuchsen auf engstem Raum nebeneinander. Dahinter standen zwei Olivenbäume, die schwer trugen, und ein Johannisbrotbaum, alles gut geschützt, so dass niemand aus dem Umkreis in Zeiten größter Not zum Diebstahl verleitet wurde.

Auch nach der Woche zögerte Aliki Annas Abreise hinaus. Einmal gab sie den Namenstag einer Tochter als Grund an und dann heftigen Regen, der vorhergesagt wurde. Ein anderes Mal war eine politische Kundgebung auf dem großen Platz angekündigt. Anna musste wissen, was sie in der Hauptstadt erwartete. Es wurde berichtet, dass sich die Deutschen bald aus Griechenland zurückziehen würden. Anna wollte nicht mehr länger warten, sie hatte es ihrem Mann versprochen.

Bevor Anna aufbrach, ging sie mit Aliki in den Laden in der Nachbarschaft und erstand mit einer ihrer wenigen Münzen das Nötigste für die nächste Etappe. Getrocknetes Fleisch, gepökelten Fisch, ein paar Dörrfrüchte und eine große Schachtel Streichhölzer. Gemeinsam hatten sie Zwieback gebacken und in einen Sack gefüllt. Aliki wollte Anna zum Abschied ein Messer zustecken, aber diese schüttelte den Kopf. Sie zog einen kleinen Dolch aus dem Ausschnitt.

»Der wird mir gute Dienste leisten, wenn ich ihn brauchen sollte.« Sie schaute grimmig. »Man weiß nie, welche Banditen einem über den Weg laufen.«

Aliki und ihre Töchter herzten die Kinder, umarmten Anna mit guten Wünschen, Beschwörungsformeln und bekreuzigten sich. Dann drückte Aliki ihre Schwester ein letztes Mal. Sie alle wussten nicht, ob sie sich jemals wiedersehen würden.

Anna zog mit den Kindern weiter nach Tripolis. Aliki hatte ihr versichert, dass die Menschen in Messenien echte Griechen mit dem Herz auf dem rechten Fleck wären, vor denen sie keine Angst haben bräuchte. Sie müsse sich nicht weiter ängstlich verstecken, sie solle auf die Messenier zugehen, ihnen von ihrem Schicksal erzählen, und sie würde Hilfe und Anteilnahme erfahren, hatte die Schwester ihr gesagt.

Messenien war weniger unterentwickelt wie die Innere Mani, wo es im letzten Jahrhundert kaum eine Schule gegeben hatte und jetzt noch viele Menschen Analphabeten waren. Mani mit seinen von zerklüfteten Bergen, Tälern und kleinen Ansiedlungen bot den Rebellengruppen gute Rückzugsmöglichkeiten. Sie konnten die Waffen in Schluchten und Höhlen verstecken, und unbemerkt ihre Angriffe planen. Jenseits von Kalamata sah die Welt anders aus. Es gab gelegentlich Übergriffe, aber das Kämpfen dominierte nicht das tägliche Leben. Die Messenier, die in den Widerstand gegangen waren, hatten sich meist in die Berge geschlagen und schwärmten von dort zu den jeweiligen Gefechtsorten aus. Die Zurückgebliebenen waren ausnahmslos brave Bürger, die Tag für Tag ihrer Arbeit nachgingen.

Hinter Kalamata hatte sich die Landschaft verändert, war hell und weit geworden, die Farben freundlich. Olivenhaine zogen sich die Hügel hinauf und die Straßen waren an vielen Stellen mit bunten Bougainvilleas gesäumt. Während der ersten Tage verfiel Anna in den alten Rhythmus. Sie zog mit Kalliopi den Leiterwagen. Anfangs musste sie die Kinder trösten, die sich während der letzten Wochen an die spärlichen Annehmlichkeiten in Alikis Haus gewöhnt hatten, und die jetzt wieder weinerlich maulten. Die erste Wegstrecke hielten sie sich abseits der größeren Wege, stets darauf bedacht, niemandem aufzufallen. Als sie dann nach Tagen in der Ferne Ziegengeläute hörte, blieb Anna auf dem Weg. Ein Schäfer schien seine Herde zu bewachen, und sie hoffte, dass er den Kindern von der Ziegenmilch geben würde. Sie konnte nicht ihr Leben lang vor Menschen flüchten. Die Einsamkeit entsprach überhaupt nicht ihrem Naturell. Forsch setzte sie einen Fuß vor den anderen. Überrascht fragte Kalliopi: »Vielleicht ist er gegen die Kommunisten? Ein Republikaner? Ich will nicht sterben!«

»Er ist ein Hirte. Ein Mensch wie du und ich. Er wird uns nichts tun, Dummerchen«, sagte sie bestimmt. Ihre Tochter schwieg nachdenklich. Sie wusste, in den Bergen brachten sich Verwandte um, nur weil sie eine unterschiedliche politische Einstellung hatten.

»Denk nicht mehr an das Massaker. Du musst das alles vergessen. Bald ist Frieden«, versuchte sie Kalliopi zu beruhigen. Nach einer Wegbiegung sahen sie einen alten Mann in einer von der Sommerhitze ausgedörrten Wiese liegen. Er hob freundlich die Hand zum Gruß.

»Grüß dich Gott, Gevatter«, sagte Anna freundlich. »Wir sind seit Wochen unterwegs. Wir kommen aus der Mani.« Der Hirte musterte sie anerkennend.

»Das ist ein weiter Weg.« Anna nickte.

»Ja … und wir wollen bis in die Hauptstadt gehen. Ein neues Leben anfangen.« Der Hirte lachte und lud sie ein, sich mit ihm für den weiten Weg zu stärken. Es war Zeit fürs Mittagessen und er hatte ausnahmsweise genug, so dass sie alle satt werden konnten. Anna nahm zögernd die großzügige Einladung an und schob den Leiterwagen von der Straße.

Die Kinder waren glücklich über die Mahlzeit. Es gab trockenes Brot, Käse und Gurken. Sie dankten dem Hirten herzlich. Der winkte ab.

»Wir müssen das Wenige, das wir besitzen, teilen. Die griechische Gastfreundschaft gilt in einer vornehmen Burg ebenso wie in einer einfachen Hütte oder am Wegesrand.«

Eine derart freigiebige Geste hatte Anna seit Langem nicht erlebt. Sie wollte etwas beisteuern und überraschte den Hirten mit getrockneten Früchten aus dem Proviantsack. Dann legte sie Takis und Ioannis in den Leiterwagen und breitete das Sonnensegel über ihnen aus. Zufrieden räkelten sie sich und schlossen sofort die Augen. Die Mädchen hatten wenige Meter entfernt ein schattenspendendes Gebüsch gefunden und sich dorthin zurückgezogen. Kein Laut der Klage über den unbequemen Schlafplatz kam über ihre Lippen. Anna schaute den Töchtern nach. Kalliopi war mager geworden. Die Strapazen der letzten Wochen waren an ihre Substanz gegangen. Vor der Besatzung und dem Bürgerkrieg war sie deutlich molliger als andere Kinder ihres Alters gewesen. Manolis hatte sie stolz »mein kleines Moppelchen« genannt. Gott hatte sie schön gemacht, gesund und fröhlich, voller Leben. Allerdings musste Kalliopi wegen ihres Gewichtes viel Spott ertragen, wenn sie sich unter die Kinder im Dorf begab. Die Gleichaltrigen forderten sie am Kirchplatz zu Wettläufen auf und lachten Tränen, wenn sie jedes Mal von neuem verlor. Nun war ihr Übergewicht Vergangenheit.

Anna tauschte sich mit dem Hirten über die politische Lage aus. Hier hatte es keine Übergriffe mehr gegeben. Der Frieden schien zurückzukehren nach den grausamen Vorfällen von Meligalas.

»Die griechische Volksbefreiungsarmee hat die Kollaborateure drei Tage lang gejagt. Es gab viele Kämpfe. Dann haben sie ungefähr eintausend Griechen getötet«, erzählte der Hirte.

Nachdenklich warf Anna Kieselsteine über die Wiese. Diese Verräter. Menschen wie sie verkauften ihre eigene Großmutter und das Land kam in diesen schrecklichen Zustand. Der Hirte holte sie aus ihren Gedanken.

»Jetzt wird alles gut. Die Deutschen verlassen unser Land. Dreihunderttausend Soldaten, heißt es … Sie haben ihre Verbündeten verloren, die Bulgaren und die Rumänen. Und jetzt droht ihnen der Russe. Sie können die Stellung nicht mehr halten.«

Anna hatte mit niemanden gesprochen, seit sie Kalamata verlassen hatte. Zuvor hatte sie von der Not in Athen gehört, von den Übergriffen, den Plünderungen und dem Hunger. Sie hatte jedoch nicht damit gerechnet, dass sich die Ereignisse derart überschlagen würden.

»Vor zwei Tagen sind die britischen Kampftruppen einmarschiert«, berichtete der Hirte weiter. »Die »Nationale Einheitsregierung« unter Georgios Papandreou war ernannt worden. Die Briten kommen in ein Land, das zu neunzig Prozent von der kommunistischen Volksfront kontrolliert wird. Und die Kommunisten werden sich ihren Sieg nicht von diesen Politikern nehmen lassen.«

Angst stieg in Anna auf. Die Situation spitze sich zu. Sie hoffte, dass Manolis nicht in politische Positionskämpfe, die gar nicht ausbleiben konnten, verwickelt wurde. Jetzt lächelte der Hirte ein zahnloses Lachen.

»Man erzählt, dass die Briten weißes Brot und Dosenfleisch bringen. Dann hat das Hungern endlich ein Ende.«

Das bitterliche Weinen ihres Jüngsten schreckte Anna hoch. Sie schaukelte den nassgeschwitzten Takis, der sich nicht beruhigen wollte. Der Hirte reichte ihr ein kleines Gefäß, randvoll mit Ziegenmilch. Langsam flößte sie Takis die Milch ein, darauf bedacht, keinen Tropfen des kostbaren Gutes zu verschütten. Gierig trank der Kleine die Flüssigkeit. In der Ferne sah Anna einen Eselskarren auf sie zukommen. Fragend schaute sie den Hirten an, der eine beruhigende Handbewegung machte.

»Ein Verwandter. Er ist ein anständiger Mann«, murmelte er. Der alte Mann mit der wettergegerbten Haut saß auf einem ausgemergelten Tier. Auf der klapprigen Karre hatte er Wassermelonen geladen.

Ein wahrer Schatz in diesen schweren Zeiten, dachte Anna. Nachdem der Mann ein paar Worte mit dem Hirten gewechselt hatte, wandte er sich an Anna. Bereitwillig gab sie auf seine Fragen Auskunft, und als der Bauer von ihrem Plan hörte, mit den Kindern bis nach Athen zu gehen, schüttelte er ungläubig den Kopf. Er beobachtete, wie Anna die Sachen zusammenpackte und den Kindern mitteilte, dass die Reise weiterging. Nachdem sie sich vom Hirten verabschiedet hatte, nahm sie den Leiterwagen und zog ihn auf die Straße. Ein kurzer Pfiff ließ sie innehalten. »Frau, ich kann euch ein Stück mitnehmen. Auf meinem Wagen. Eine halbe Tagesreise in Richtung Tripoli. Ich muss auf den Markt. Meine Früchte verkaufen.«

Es wurde schon dunkel, als die kleine Truppe an der Kreuzung nach Tripoli ankam. Der alte Mann hob eine Melone aus dem Karren und drückte sie Anna in die Hand. Dankbar nahm sie das Geschenk entgegen. Die Kinder starrten mit großen Augen auf die pralle grüne Wassermelone. Auf ihrem Weg waren sie an unbewachten Melonenfeldern vorbeigekommen und hatten die Mutter bestürmt, dass sie eine kleine Melone vom Feld nehmen sollte. Anna war hart geblieben. Diebstahl war Unrecht. Anna hatte nie gestohlen und würde es ihr Leben lang nicht tun. Dasselbe galt für ihre Kinder. Diese Lektion konnten sie nicht früh genug lernen, egal wie laut ihr Magen knurrte. Ehrlich bleiben, um sich seinen Stolz zu bewahren, war Annas Devise, denn Gott war mit den Ehrlichen, und sie hatten seinen Segen bitter nötig. Der Bauer hob die Hand zum Abschied und fuhr an der Weggabelung in Richtung Sparta, während Anna mit der Familie noch ein paar Kilometer nach Norden marschierte. Kalliopi trug strahlend die Melone.

»Tante Aliki hat recht. Die Menschen sind großzügig, und man muss nicht fortwährend um sein Leben bangen«, stellte sie fest. Anna freute sich, dass die Kinder Zutrauen zu den Menschen fassten und Furcht und Schrecken dadurch hoffentlich von ihnen abfielen. Sie suchten sich in der Nähe einen geschützten Liegeplatz. Beim Einschlafen betete Anna zu Gott, dass er ihr weiterhin gnädig sein möge wie bisher, und sie alle lebend bis nach Athen kommen und Manolis wiedersehen würden. Sie fuhr vorsichtig mit der linken Hand über ihren Bauch. Erwartete sie ein weiteres Kind? Seit ein paar Tagen hatte eine Morgenübelkeit eingesetzt, die Anna an ihre anderen Schwangerschaften erinnerte. Sie konnte sich morgens kaum vom Lager erheben, so schwindelig war ihr. Wenn sie dann die Kinder sah, wie sie auf dem kleinen Stück Paximadi kauten, hob sich ihr Magen, und sie konnte dem Drang, sich zu übergeben, kaum widerstehen. Kalliopi und Sophia beobachteten jedes Mal erstaunt den Zustand der Mutter. Hinter vorgehaltener Hand flüsterten sie, ob sie ernsthaft krank wäre, oder sie bald ein Geschwisterchen bekommen würden. Kichernd hofften sie, dass es ein süßes kleines Mädchen werden würde, auch wenn sie wussten, dass für das Ansehen einer Familie die Anzahl der gesunden Söhne eine große Rolle spielte.

Bei Sonnenaufgang gingen sie weiter. Bald erreichten sie Tripolis. Dort sollte Anna sich an Manolis’ angeheirateten Vetter Charalambos wenden. Sie fanden ihn auf dem zentralen Aeros Platz. Seit Anna ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er alt und grau geworden. Ein leidender Zug lag um seinen Mund, und die Körperhaltung war gebückt. Er begrüßte sie mit leisen Worten, damit die Umstehenden nicht mitbekamen, dass Anna sich mit den Kindern auf der Flucht befand. Er wollte kein Aufsehen erregen. Charalambos führte sie zu seinem Haus. Dort hieß seine Frau Lina sie willkommen. Unter Linas Augen hingen dicke Tränensäcke. Als sie Annas fragenden Blick sah, bekreuzigte sie sich und flüsterte: »Der Bürgerkrieg hat großes Unheil über uns gebracht. Unser Sohn Dimitrios ist mit neunzehn Jahren gestorben.« Tränen liefen über ihre Wangen. »Für eine gute Sache. Damit wir Griechen nicht von Barbaren regiert werden.« Sie verstummte und bekreuzigte sich weitere Male. Dann fuhr sie traurig fort: »Aber das macht es nicht besser. In unserem Haus gibt es keine Freude mehr. Nur Trauer …« Ihr Blick verklärte sich. »Die Verantwortlichen haben mir seine Uniform geschickt. Oder das, was davon übriggeblieben ist.« Lina fing zu Schluchzen an. Anna zog sie in ihre Arme und tröstete sie.

Kein Lachen drang durch die Räume des kühlen Hauses. In jedem Zimmer standen Fotografien des einzigen Sohnes, und jedes Gespräch drehte sich um ihn. Kalliopi und Sophia trauten sich nicht, ihre Stimmen zu erheben, geschweige denn zu kichern. Schon nach drei Tagen baten sie die Mutter, aufzubrechen, und Tripolis, das ihnen zuvor einladend erschienen war, schnell hinter sich zu lassen. Auch Anna wollte in dieser von Trauer vergifteten Atmosphäre nicht länger bleiben. Das brachte sie ständig auf furchtbare Gedanken. Schließlich war Dimitrios nicht der einzige ELAS-Andarte, der bei den Kämpfen ums Leben gekommen war. Sie hatte seit Manolis’ Besuch am fünfzehnten August nichts mehr von ihm gehört. Sie wusste, dass sich die Partisanen seitdem fortwährend tiefer in die Berge zurückzogen, und dass es weitere Abspaltungen der Ursprungsgruppe gegeben hatte. Viele Männer und Frauen waren bei diesen Auseinandersetzungen gestorben, alle der Meinung, für eine gerechte Sache gekämpft zu haben. Charalambos und Lina versuchten, die Verwandten zu einem längeren Aufenthalt zu überreden. Als sie merkten, dass ihre Mühen umsonst waren, holten sie Brot und Oliven aus der Speisekammer. Sie legten eine selbstgehäkelte Wolldecke in den Wagen, damit die Kinder sich in den kühler werdenden Nächten zudecken konnten, und begleiteten sie bis an den Ortsrand. Lange stand das Paar am Weg und winkte ihnen nach.

Kalliopi und Anna zogen gemeinsam den Leiterwagen. Sophia, froh das von Leid geprüfte Haus verlassen zu haben, lief vorneweg. Takis und Ioannis lagen behaglich unter dem Sonnensegel, die neue Decke diente als Polster für Kopf und Rücken. Das Schaukeln des Leiterwagens ließ sie schnell schläfrig werden. Mitte Oktober war die Sonne tagsüber weniger intensiv, und Anna marschierte den ganzen Tag dem Isthmus von Korinth entgegen, der einzigen Landverbindung zwischen dem Peloponnes und dem Festland. Sie trieb die Kinder an, schneller zu gehen.

»Es ist nicht mehr weit. Wenn wir auf dem Festland sind, kaufen wir vom restlichen Geld eine Zugfahrkarte. Euer Vater hat das so geplant.«

Diese ungeahnte Möglichkeit zeigte große Wirkung. Jeden Abend wollten die Mädchen weitergehen und so kamen sie zügig voran, täglich größere Distanzen zurücklegend. Sie wollten so schnell wie möglich in einem Zug sitzen, der von einer Dampflock gezogen wurde, wie sie es auf Bildern gesehen hatten; der Zug würde sie bequem bis an ihr Ziel bringen.

Die Freude war groß, als sie schließlich den Isthmus erreicht hatten, den schmalen Kanal, der den Saronischen Golf mit dem Golf von Korinth verband. Sie standen hoch oben am Geländer, das den Weg begrenzte, und beobachteten staunend die Schiffe, die die Meeresenge passierten. Jetzt waren es nur noch fünf Tagesmärsche bis Megara, ihrer letzten Station. Kalliopi wollte Anna überzeugen, schon hier in einen Zug zu steigen, aber Anna blieb hart. Sie hatte nur ein paar Münzen, und die würden nie reichen, um ein Ticket für die ganze Strecke zu kaufen. Außerdem hatte sie bisher weder einen Bahnhof noch einen Zug gesehen.

Als sie die Hauptstraße nach Megara hineinliefen, hielt Anna erstaunt inne. Auf fast allen Fassaden waren politische Parolen zu lesen, die aufgrund ihres Schriftbilds den Royalisten zuzuordnen waren: »Lang lebe der König«, »Tod den Verrätern« oder »Lang lebe das ewige Griechenland«. Anna konnte die einzelnen Sprüche nicht entziffern, sie wusste aber genau, was sie bedeuteten. Manolis hatte ihr diese Schriftzüge vorgelesen, die sie vereinzelt in Aeropolis auf Hauswänden entdeckt hatten. Als die Mädchen die Bedeutung dieser Appelle wissen wollten, winkte Anna ab.

»Ihr wisst doch, dass ich nie zur Schule gehen konnte. Ich kann nicht lesen. Ihr werdet es bald besser haben. In Athen gibt es an jeder Straßenecke eine Schule.«

Die Mädchen mussten sich mit dieser Auskunft zufriedengeben. Dass die Mutter ihnen offenbart hatte, dass sie in Athen die Schule besuchen sollten, lenkte sie von der Umgebung ab. Das würde ein neuer Einschnitt in ihrem Leben werden. Sie waren nicht davon überzeugt, dass es für sie von Vorteil wäre, jeden Tag Bücher zu wälzen. Sie kicherten und flüsterten, dass die Eltern sich das bestimmt anders überlegen würden. Schließlich gab es zu Hause viel zu tun, und die Mutter konnte sie nicht jeden Tag für mehrere Stunden entbehren.

Bang fragte Anna an einem Kiosk nach Leonidas, einem weit entfernten Cousin. Ein in Schwarz gekleidetes Mütterchen brachte sie bis zum Haus am Stadtrand, wo der studierte Arzt wohnte und seine Praxis unterhielt. Anna fuhr den Kleinen mit einem Lappen übers Gesicht, reichte Kalliopi und Sophia den Kamm, den Lina ihnen geschenkt hatte, und klopfte zaghaft an die Tür. Nachdem sich nichts rührte, hämmerte sie etwas forscher gegen das massive Holz. Schließlich öffnete Leonidas. Er schaute sie erstaunt an und erklärte, dass er an einem Sonntag nicht arbeiten würde, außer es handle sich um einen Notfall. Anna nannte ihren Namen und den der Eltern. Leonidas fragte ungläubig, ob sie es wirklich wäre. Sie waren sich das letzte Mal begegnet, als Anna ein Kind war. Sie nickte unter Tränen und berichtete von den Strapazen der vergangenen Wochen.

Leonidas führte sie und die Kinder in die Küche. Entsetzt schaute Anna auf die Wände. Überall waren Bilder der Königsfamilie zu sehen. Über dem Tisch hing ein verblichener Druck von König Konstantin und Königin Sophia mit König Georg und der Königinmutter, Olga Feodorowna, lächelnd unter Lorbeerkränzen. Sie sah sich weiter um. Hinter der Anrichte fand sie ein großes Bild, das König Konstantins Einzug in das wiedereroberte Thessaloniki am Ende des ersten Balkankriegs zeigte. An der Stirnseite war ein Plakat von Petro Mavromichalis, dem Ex-Kriegsminister, platziert. Leonidas sah Annas Blick und lächelte.

»Anna«, sagte er sanft, »Megara ist eine Hochburg der Königstreuen. Ohne diese Bilder könnte ich nicht arbeiten. Kein Mensch würde sich von mir behandeln lassen.«

Anna war skeptisch. Sie fragte ihn unverblümt: »Bist du etwa ein Anhänger des Königs? Alle in unserer Familie stehen auf der anderen Seite.«

Leonidas zuckte mit den Schultern. »Ich bin kein typischer Grieche. Ich kann nichts an Politik finden. Die Politiker erzählen Lügen, welchem Lager sie auch angehören. Deshalb ist mir das alles egal geworden.« Er lächelte.

»Für mich zählt meine Arbeit. Ich will den Menschen helfen.« Anna konnte an seinem Gesicht ablesen, dass er seine Aussage ernst meinte. Er glaubte an den hippokratischen Eid, war ein Arzt durch und durch. Für etwas anderes war in seinem Leben kein Platz. Auch seine Frau ging in dem Beruf auf. Er hatte ihr über die Jahre reichlich an medizinischem Wissen beigebracht, damit sie ihn bei der Arbeit unterstützen konnte. Bald kam Annas Plan, mit der Dampflok bis nach Athen zu fahren, zur Sprache. Die Jungs machten die Geräusche eines Zuges nach, oder zumindest, wie sie sich das Gezische und Gebrumme vorstellten, schließlich hatten sie noch nie einen gesehen. Leonidas entmutigte sie schnell. Seit Monaten fuhr kein Zug mehr. Gleise waren zerstört worden, Brücken gesprengt, und es wurde erzählt, dass Dampfloks in Flussbetten lagen. Als er die Enttäuschung in den Kinderaugen sah, versprach er, sich um einen bequemen Transport zu kümmern.

Wenige Tage später saß Anna mit den Kindern aufgeregt auf der Ladefläche eines laut knatternden und dunkle Abgaswolken absondernden Automobils. Sie fuhren am Meer entlang, die sich endlos in langen Kurven schlängelnde Küstenstraße, gesäumt von üppig rot und weiß blühenden Sträuchern. Kaum ein anderes Auto kreuzte ihren Weg, und sie erregten mit dem lauten Vehikel Aufmerksamkeit bei den wenigen Passanten. Die Kinder winkten aufgeregt den Menschen zu, die sie auf den nahen Olivenhainen bei der Ernte sahen. Auch entdeckten sie ein paar alte Frauen, welche unter großen Pinienbäumen saßen. Irgendwann wurde ihnen dieses Spiel langweilig und sie hielten ihre Nasen in den Fahrtwind. Nach fünf Stunden hatten sie die große weiße Stadt vor sich. In der Mitte prunkte gut sichtbar auf einem Hügel die majestätisch anmutende Akropolis. Überschwänglich dankte Anna Gott. Immer wieder umarmte sie die Kinder. Nach drei Monaten hatten sie es endlich geschafft nach Athen zu kommen.

Sie stiegen vom Auto und winkten dem Fahrer fröhlich nach, als er die Rückreise antrat. Es war ein schöner Tag, die Sonne schien, und kleine Schleierwolken gaben dem Himmel ein fröhliches Aussehen. Vor einem kleinen Gehöft entdeckten sie eine Ziege mit Kitz. Anna nahm die letzten Münzen aus der Börse. Der Bauer zögerte nicht lange, trennte Mutter vom Kind, und händigte ihnen das blökende Geschöpf aus.

Kalliopi griff nach dem kurzen Strick, den die Ziege um den Hals hatte. Sie streichelte das magere, braungescheckte Tier. Die Ziege sollte zutraulich werden, und, wie sie es der Mutter sofort nach dem Kauf angekündigt hatte, sie würden sie nie essen, ganz egal, wie laut ihre Mägen auch knurren sollten. Anna hatte leise gelacht. Ziegenfleisch war eine Delikatesse, die ihr beim Gedanken daran das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Doch sie würde Kalliopis Wunsch erfüllen, denn sie hatte das Tier der Milch wegen gekauft. Anna wollte bei ihren Verwandten nicht mit leeren Händen erscheinen, eine Schar hungriger Mäuler im Schlepptau.

Die letzten Kilometer bis zur Akropolis erschienen ihr lang. Dort, am Hügel des Athener Wahrzeichens, so hatten sie während der Flucht geträumt, würden sie ihre Verwandten erwarten, Manolis hatte bestimmt einen Weg gefunden, ihr Kommen anzukündigen, und ihnen ein leichtes Leben mit vielen Annehmlichkeiten bieten. Anna glaubte an diesen schönen Gedanken. Er hatte ihr während all der Anstrengungen der letzten Wochen Kraft gegeben. Der Hirte hatte ihr erzählt, dass die Hungersnot, die in der Hauptstadt weitaus schlimmer als auf dem Land sein sollte, wie ihre Schwester Aliki meinte, fast vorüber war. Es erschien ihr einleuchtend. Am vierzehnten Oktober waren die Briten in Athen und in Piräus einmarschiert. Anna war sich sicher, bald würde es keine Seeblockaden mehr geben, und der ersehnte Weizen, der das Überleben eines ganzen Volkes sicherte, wieder in den heimischen Kornkammern landen. Alle Völker würden ihnen helfen, sie konnten dem Hungern nicht tatenlos zusehen. Sogar die Türken hatten vor der Seeblockade die »SS Kurtulus« geschickt, um das Leid ihrer Nachbarn zu lindern. Bis nach dem Abzug der Deutschen Wehrmacht wieder Normalität herrschte, konnte es nicht mehr lange dauern.

Endlich waren sie im Stadtkern angekommen. Sie gingen der Akropolis entgegen, hinauf zum Omoniaplatz, der mit Gebäuden aus Marmor prunkte, und dann immer weiter, die Allee entlang, bis zum Syntagmaplatz. Staunend sahen sie den hellen Palast, das Parlament und die weitläufigen Gärten. Es war unbeschreiblich, das Himmelreich auf Erden, dass sie es kaum glauben konnten. Eine derartige Schönheit, von Menschenhand erschaffen, für alle Bürger zugänglich und nicht nur den Königen, dem Hofstaat und den Politikern vorbehalten. So großartig hatte sich Anna die Hauptstadt nicht vorgestellt. Es erfüllte sie mit Stolz, dass sie von nun an hier leben würden. Seit dem heutigen Tag waren sie Bürger der wichtigsten Stadt des Kontinents, vielleicht sogar der ganzen Welt, der Wiege der Demokratie. Ihre Kinder sollten von Anfang an verinnerlichen, was es bedeutete, hier zu Hause zu sein. Sie zählte ihnen die vielen herausragenden Persönlichkeiten auf, die in der Stadt gewirkt hatten, angefangen von Aristoteles über Sokrates bis hin zu Origenes.

Es war auffällig, wie wenige Bewohner auf den Straßen der Stadt zu sehen waren. Diejenigen, die sie entdeckten, waren fahl im Gesicht, ihre Augen lagen in tiefen Höhlen und hatten eingefallene Wangen. Jeder Einzelne wirkte kraftlos und war klapperdürr. Militär und Polizei war zahlreich vorhanden. Die Palastwachen, gekleidet in traditioneller Fustanella und Fermeli, dem kurzen Rock und enganliegenden Wams, standen wie Statuen vor dem Parlamentsgebäude. Diese Menschen in den unterschiedlichsten Uniformen bildeten einen merkwürdigen Kontrast zur weißen Stadt. Es mutete Anna unheimlich an, aber sie merkte schnell, dass niemand ihrer kleinen Gruppe Aufmerksamkeit schenkte.

Sie setzten sich an den Rand des Syntagmaplatzes und Anna gab den Kindern frische, warme Ziegenmilch. Weit sperrten sie die Münder auf, denn kein Tropfen sollte verloren gehen. Ein alter Mann, der hinter einem kahlen Busch auf der Erde lag und dessen Kleidung ähnlich zerrissen war wie die ihrige, wankte auf sie zu. Bettelnd streckte er die knochige Hand aus. Anna zuckte hilflos mit den Schultern. Sie hatte selbst fast nichts mehr und ihr Magen fühlte sich flau und leer an. Aber der Greis tat ihr leid, und so holte sie das letzte Stück Zwieback aus dem Beutel, und reichte es ihm unter den verlangenden Blicken ihrer Kinder.

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Oddy verstummte abrupt. Stella fühlte sich, als ob sie aus einem tiefen Schlaf hochgeschreckt, aus einer anderen Welt in die Realität katapultiert worden wäre. Sie dachte an Anna, Manolis, und deren Kinder. Reglos saß sie auf dem Stuhl. Oddy gab ihr die Zeit, das Gehörte zu verarbeiten.

Nachdenklich schaute sie zum Fenster hinaus. Die Dunkelheit hatte mittlerweile den gesamten Innenhof geschluckt, der von keiner einzigen Lampe erhellt wurde. Mond und Sterne hatten sich hinter einer Wolkendecke versteckt.

»Anna hatte oft ausführlich von diesen Wochen gesprochen. Sie war bis an ihre Grenzen gegangen, hatte versucht, Zuversicht auszustrahlen und die Kinder ihre Verzweiflung nicht spüren zu lassen«, sagte Oddy leise. Stella nickte. Ihre Mutter regte sich, stellte ihr linkes Bein auf, streckte es wieder aus. Sie war unruhig. Stella befürchtete, die Mutter hätte das Gespräch mitbekommen und erinnerte sich nun an die Zeit, als sie ein kleines Kind gewesen war.

»Anna war um ihr Leben gelaufen. Sie wusste, dass sie in diesem Bürgerkrieg als Frau, alleine mit einer Handvoll Kinder, nicht überleben würde.«

Stella konnte sich kaum vorstellen, was das bedeutete. Diese Ereignisse waren so weit weg von einer Zeit, in der sich Entfernungen mühelos überwinden ließen, und in der Gefahr für Leib und Leben durch Kriegshandlungen in den europäischen Breitengraden gegen null liefen.

»Wahrscheinlich würden wir beide nicht hier sitzen, wenn Manolis seine Frau nicht zur Flucht angetrieben hätte.« Stellas Blick fiel auf ihre Mutter. Bleich lag sie unter der Decke. Sie wirkte noch durchsichtiger. Der Rückholdienst hatte sich nicht gemeldet. Das bedeutete, dass bisher kein Ambulanzteam zusammengestellt werden konnte. Sie stand auf und beugte sich über sie.

»Sie scheint wärmer zu werden«, seufzte sie. »Ich bete zu Gott, dass sie morgen nach Deutschland gebracht werden kann«.

Die anderen Besucher waren alle eingedöst, in den Schlaf gewiegt durch die für sie bestimmt monotonen Klänge der fremden Sprache. Die Mutter hingegen war die Einzige in dem Raum, die Unruhe verbreitete. Sie zog das Knie an, beugte und streckte es. Mit dem linken Arm ruderte sie, als wolle sie Aufmerksamkeit erregen. Plötzlich öffnete sie die Augen und das Zucken eines Mundwinkels erinnerte an ein Lächeln. Diese Regung war für Stella wie ein Geschenk, die Mutter verstand die Worte, sie war nicht in andere Sphären abgetaucht. Oddy schien denselben Gedanken zu haben. Er griff nach der linken Hand seiner Schwester und drückte sie. »Sie will, dass ich weitererzähle …« Er tippte sich an die Stirn. »Es war ein gesegneter Moment, die Ankunft in Athen, aber es war alles nicht einfach. Aristoteles wusste das schon vor vielen Hundert Jahren. Denn eine Schwalbe macht noch keinen Frühling und auch keinen Tag; ebenso macht auch kein einziger Tag oder eine kurze Zeit niemanden gesegnet oder glücklich, hatte er seinen Anhängern gesagt.« Während Oddy die ersten Worte sprach, verfestigte sich das Lächeln der Schwester.

Der Neuanfang

ATHEN, DEZEMBER 1944

Während sie am Rande des Syntagmaplatzes saßen, fiel Anna ein, welches Datum war. Heute war der erste Dezember, Sophias sechster Geburtstag. Was war während ihrer Lebensjahre im Land alles passiert! Furcht und Schrecken hatten sich ausgebreitet. Hass hatte Familien und Freunde entzweit. Heute war nicht der Tag, um an diese schrecklichen Dinge zu denken, es fing ein neuer Lebensabschnitt an und deshalb wollten sie diesen Neuanfang festlich begehen.

Anna hatte von Ländern gehört, in denen nicht die Namenstage, wie bei ihnen üblich, sondern die Geburtstage gefeiert wurden. Das war ein schöner Brauch. Sie zog den Kamm aus der Tasche, fuhr durch Sophias welliges Haar. Sie flocht es zu dicken Zöpfen und steckte sie eng am Kopf fest. Anschließend schmückte sie die Frisur mit dem roten Band, das den Brotsack zusammengehalten hatte.

»Warum machst du Sophia so eine schöne Frisur?«, fragte Kalliopi eifersüchtig.

»Sophia hat Geburtstag.«

»Geburtstage feiern die Heiden. Wir sind Christen. Deswegen zählen nur die Namenstage. Nach unseren Heiligen«, sagte sie neunmalklug. Sophia ließ den Einwurf nicht gelten. Sie genoss es im Mittelpunkt zu stehen.

»Du bist nur neidisch«, warf sie Kalliopi an den Kopf.

Anna nahm die Töchter in die Arme. Sie wollte nicht, dass sie sich zankten.

»Kalliopi, an deinem Geburtstag bist du die Hauptperson. Heute ist es Sophia«, sagte sie und zwinkerte ihr freundlich zu.

Nachdem sie sich ausgeruht hatten, machten sie sich auf den Weg, genauso, wie Manolis es beschrieben hatte. Die letzten paar Kilometer bis zum endgültigen Ziel wollten kein Ende nehmen. Sie liefen über Schotterwege, passierten Plätze mit dürren Bäumen, die nicht das Geringste mit dem eindrucksvollen Platz der Verfassung gemeinsam hatten. Sie kamen an einigen heruntergekommenen Ansiedlungen von windschiefen Hütten vorbei, und sahen Menschen, die abgemagert am Wegesrand vor sich hinvegetierten. Anna konnte ihnen nichts geben, so gerne sie das getan hätte. Der Brotsack war bis auf den letzten Krummen leer. Als sie Monastiraki hinter sich gelassen hatten, stieg der Weg, der zur Akropolis führte, steiler werdend an. Ein baufälliges Haus stand neben dem nächsten. Wie sollten sie ihre Verwandten ausfindig machen? Suchend schauten sie sich um. Da winkte sie ein altes Mütterchen heran. Sie kannte alle Bewohner der Gegend, wie sie bereitwillig erklärte, und mit wenigen Worten wies sie ihnen unter vielen gemurmelten Segenswünschen den Weg. Mit letzter Kraft zog Anna den Leiterwagen die Steigung hinauf. Bange Gefühle stiegen in ihr auf. Was würde sie in der neuen Heimat erwarten? Fast hätte sie sich setzen müssen, so schwach fühlte sie sich plötzlich, so, als ob die Last der vergangenen Monate sich mit einem Mal über sie gestülpt hätte. Vorsichtig fuhr sie sich über den Bauch. Sie wollte nicht über ihren Zustand nachdenken.

Als sie das Haus erreichten, war die Sonne schon untergegangen. Anna klopfte. Eine gebückte alte Frau in einer schwarzen Kittelschürze öffnete die quietschende, schiefe Holztür. Anna nannte ihren Namen, den ihrer Eltern, und den von Manolis’ Familie.

»Noch mehr Familie! Schütze uns Gott! Ich bin Katharina, Manolis’ Tante«, rief sie. Dann bekreuzigte sich die Verwandte mehrmals so heftig, dass Anna unwillkürlich zurückwich. Nachdem die alte Frau die Prozedur beendet hatte, ließ sie Anna und die Kinder eintreten. Katharinas Blick fiel auf Sophia.

»Ein wunderschönes Mädchen. Wie heißt du?«

Ein Strahlen legte sich über Sophias Gesicht, das ihre Züge weicher erschienen ließ. Katharina streichelte ihre Wange.

»Wie eine Prinzessin, so blond und hell.« Sie musterte Sophia von oben bis unten. »Sie wird es weit bringen«, sagte sie und legte die Hand auf Sophias Flechtkrone. Dann spuckte sie über die Schulter des Mädchens, um sie vor dem bösen Blick zu schützen. Katharina bot ihnen Wasser an, und wies ihnen einen Platz in der hintersten Kammer des Hauses zu, damit sie sich erst einmal ausruhen konnten. Die Ziege versteckte sie in einem dunklen Verschlag im Hinterhof.

Das Zimmer war winzig, knapp drei Meter lang und gerade einmal zweieinhalb Meter breit. Auf dem Boden lagen Strohmatten und in der Ecke stand ein wackeliger Tisch. Nichts Behagliches verschönerte den Raum, kein Stuhl oder Schrank, keine Decke oder Kissen, und auch kein Bild zierte die Wände. Diese einfache Kammer, die nichts gemein hatte mit ihrem Zuhause in der Mani, den hohen, erhabenen Räumen und dem weiten Blick über das Tal, erschien ihnen jetzt wie das Paradies. Anna dankte der Verwandten über alle Maße und bettete die Kinder zur Ruhe.

Am nächsten Morgen erkannte Anna, dass in dem kleinen Haus weit mehr als zwei Dutzend Menschen wohnten. Katharina, deren Mann Antonius im letzten Jahr an Hunger und Altersschwäche gestorben war, hatte all ihre Verwandten, fast ausnahmslos Bauern, die wegen des Bürgerkriegs vom Land in die Hauptstadt geströmt waren, bereitwillig aufgenommen. Sie war mit der Situation mittlerweile heillos überfordert. Inzwischen schliefen sogar in ihrer eigenen Stube Vettern und Cousinen. Die Kasse war geleert und es fehlte am Nötigsten. Doch auch wenn sie Geld gehabt hätten, die Stadt war komplett geplündert. Katharina flüsterte, damit die Kinder es nicht hören konnten: »Am Anfang, als die Besatzer kamen, konnten wir aufs Land fahren und unsere Wertsachen gegen Essen tauschen. Aber dann …« Die Tante konnte ein Schluchzen nicht zurückhalten. »Alles haben sie uns genommen. In die Geschäfte sind die Truppen eingedrungen und dann in unsere Häuser. Sie haben unser Eigentum eingepackt … und zu sich nach Hause geschickt. Die geplünderten Häuser haben sie mit Zeichen für die Nachkommenden gekennzeichnet. Damit diese auf ihrem Raubzug keine Zeit verschwenden würden …« Katharina schluchzte wieder auf. Tränen liefen über ihr runzeliges Gesicht. »Alle Maschinen in der Stadt haben sie abgebaut. Niemand sollte mehr etwas herstellen können. Wir sind am Ende …« Anna nahm Katharina tröstend in den Arm. Spitz stachen deren Rippen hervor, sie war nur noch Haut und Knochen.

»Anfangs sind wir auf die Jagd gegangen, haben Wurzeln gegessen und manchmal sogar kleine Tiere. Niemand hat mehr Kraft, noch nicht einmal, um etwas zu Essen zu suchen.«

Ein dürrer Mann humpelte auf Holzkrücken zu ihnen in den Raum. Er stellte sich als entfernter Vetter vor. Auch er war in den Bergen gewesen, aber er war nach kurzer Zeit schwer verletzt worden.

»Geh weg von hier, solange du kannst. Noch habt ihr ein bisschen Energie. In Athen werdet ihr dahinsiechen.« Katharina nickte traurig.

»Niemand weiß, wie viele Menschen am großen Hunger gestorben sind. Manche sagen einhunderttausend, andere meinen, es wären mehr als doppelt so viele gewesen. Auch hier im Haus sind sie gestorben wie die Fliegen. Vor allem Alte und kleine Kinder.«

Annas Entschluss stand fest. Sie würde erneut aufbrechen und sich mit den Kindern auf den Weg machen, so schwer es ihr auch fiel. Bei diesen erbärmlichen Zuständen würde sie womöglich Manolis’ Rückkehr aus den Bergen nicht mehr erleben. Von Katharina hatte sie erfahren, dass auf der anderen Seite der Stadt, am Rande von Pangrati, zwei ihrer jüngeren Schwestern ein Haus bewohnten, klein und bescheiden, aber nicht in der Stadt. Dort wäre die Situation vielleicht etwas besser.

»Ich hoffe, sie sind noch am Leben. Du musst nur der Sonne nachgehen«, sagte Katharina. Anna fragte Manolis’ Tante, wer in ihrem Hause schreiben könnte. Die alte Frau schüttelte den Kopf. Schreiben konnte niemand von den Bauern und gescheiterten Partisanen. Anna ließ sich nicht entmutigen. Um nichts in der Welt wollte sie diesen Ort verlassen, ohne Manolis eine Nachricht zu hinterlassen. Jetzt staunte die Gastgeberin. Sie konnte jede Botschaft überbringen, keinen Tag würde sie aus dem Haus gehen. Anna wollte sich damit nicht zufriedengeben. Kein Mensch wusste, was die Zukunft bringen würde. Zwei Häuser weiter fand Anna am nächsten Tag einen unfreundlich dreinblickenden Mann, der im Ruf stand, auf der Universität studiert zu haben. Als sich die Situation im Land zuspitzte, hatte er die Arbeit als Jurist aufgegeben und für sein Volk gekämpft. Er war in einen Hinterhalt der griechischen Sicherheitsbataillone geraten, die die Deutschen gegen die Andarten aufgestellt hatten. Düster sagte er: »Sie wollten uns ausrotten … sie haben unsere Häuser niedergebrannt und die Ölgefäße mit Steinen zerschlagen.« Ein jeder schien in diesen schrecklichen Jahren Leid erfahren zu haben. Anna berichtete von ihrer Flucht, von dem Plan, mit Manolis hier ein neues Leben zu beginnen. Er sah sie lange an.

»Ein neues Leben? Wie stellst du dir das vor? Hier wartet keiner auf dich.« Er lachte bitter. Anna dachte an Manolis. »Was soll ich machen? Ich kann mit den Kindern nicht zurückgehen. Unser Haus existiert nicht mehr.« Dann bat sie ihn, eine Nachricht zu schreiben. Sie zog ein kleines Blatt Papier aus der Rocktasche und einen Stift.

»Mein Mann muss wissen, wo er mich finden kann, wenn er aus den Bergen kommt.«

Der Advokat nickte und sagte mit leiser Stimme: »Du musst ein paar Tage warten, bevor du gehst. Heute ist kein Durchkommen. Am Syntagmaplatz waren in der Nacht heftige Demonstrationen.«

Anna hatte von Katharina erfahren, dass die Briten unter Generalleutnant Ronald Scobie und die griechische Zentralregierung unter Georgios Papandreou, die Tage nach dem Einmarsch der Briten wieder etabliert worden war, die Entwaffnung der Verbände gefordert hatten. Die polizeilichen Aufgaben sollten jetzt von einer neuen Polizeitruppe, dem Nationalschutz, übernommen werden. Das war die Erklärung, warum Anna bei der Ankunft so viel Polizei im Zentrum der Stadt gesehen hatte. Aber was in der Nacht passiert war, wie ihr der Jurist bestätigte, hatte alle Vorstellungen übertroffen. Es war an zahlreichen Stellen zu Schusswechseln gekommen. Niemand wusste, wie viele Menschen ihr Leben hatten lassen müssen.

»Athen ist im Ausnahmezustand! Es heißt überall, die ELAS will alle Polizeistationen in der ganzen Stadt zurückerobern. Und sie stehen ihr zu. Die Kämpfe werden sich ausweiten.« Er schwieg und schrieb dann den Text, den Anna ihm diktierte, mit akkuraten Lettern auf.

Nachdenklich ging Anna die wenigen Meter zurück zum Haus. Sie konnte nicht länger bleiben. In Kürze würden sie aussehen, wie die anderen Menschen um sie herum, gezeichnet von Skorbut, Lungenentzündung oder anderen schrecklichen Krankheiten, dazu Hunger und Kälte. Katharina hatte ihr erzählt, dass in den Wintermonaten jeden Tag Leichenkarren durch die Straßen von Athen gezogen wurden, um die Menschen von der Straße aufzulesen. Anna durfte keine Zeit mehr verlieren. Die Entscheidung war gefallen.

Trotz der eindringlichen Warnung des Advokaten brach Anna nach Einsetzen der Dunkelheit auf. Das Zicklein setzte sie zu Takis und Ioannis, neben ihrem restlichen Hab und Gut, in den Leiterwagen. Anna hatte auf der Flucht gelernt, sich unsichtbar zu machen. Sie mieden große Straßen und wichen auf finstere Gassen aus. Wann immer sie Menschenstimmen vernahmen, versteckten sie sich, und die Kinder gaben brav keinen Laut von sich. In der Ferne hörten sie Schreie, Schüsse und skandierende, furchteinflößende Rufe. Sie fühlten die Gewalt näher an sich heranrücken, einer Feuerwelle gleich, und gingen weiter. Es war eine Flucht vor einem neuen Kampf.

Nach einem Tag kamen sie in Pangrati an. Die Stadt war hier zu Ende. Die Häuser standen auf wild eingewachsenen Grünflächen und waren nicht dicht an dicht gebaut. In diesem Dorfviertel dominierten die freien Felder. Bäume und Sträucher wuchsen auf den einzelnen Grundstücken, dazwischen lagen brachliegende Äcker.

Schnell fand Anna das Familienanwesen. Das Erstaunen der Tanten war nicht zu übersehen, als sie Anna die Tür öffneten. Niemand aus der Familie war bisher zu ihnen gekommen. Wer den weiten Weg nach Athen geschafft hatte, dem fehlte anscheinend die Kraft, weiterzuziehen. Froh über die neue Gesellschaft schenkten die Tanten Anna und den Kindern bald ihre Liebe und Zuneigung. Die Schwestern Lina, siebzig Jahre alt, und Rena, drei Jahre jünger, schlugen sich mehr schlecht als recht durch die schweren Zeiten. Sie lebten überwiegend von dem Gemüse, das sie im Garten hinter dem Haus anbauten. Im Sommer hatten sie zudem wildwachsenden Löwenzahn und Sauerampfer gesammelt, den sie getrocknet hatten und in salzigen Sud gekocht aßen. An Festtagen brachte manchmal ein Nachbar ein Stückchen Wild, meist Hase oder Wachtel, welches er selbst geschossen hatte. Das war eine christliche Tat in Zeiten des Hungers und der Not. So war ihr Überleben gesichert.

Die Tanten quartierten ihre Gäste im besten Zimmer ein, einem nach Norden gewandten großen Raum, der mit einem gemauerten Bett und einer Kommode möbliert war. Sie überließen Anna dazu noch die angrenzende Kammer. Hier stand ein kleiner Schrank und an den Wänden hingen Heiligenbilder.

»Die Bastarde haben unser Viertel geplündert. Aber wir waren schlauer. Wir haben fast alle Möbel in der Kloake versenkt und die Wertsachen vergraben«, sagte Rena mit einem schelmischen Grinsen.

»Griechische Listen. In schwierigen Zeiten sind sie hilfreich. Schon Odysseus war ein Schlitzohr.« Anna lachte vergnügt. Die Tanten hatten jede Menge Leben in sich, anders als Katharina, die am Leid zerbrochen war. Hier konnte Anna sich zu Hause fühlen. Sie packte den Beutel mit den wenigen Habseligkeiten aus, faltete die Laken und legte die Kleidungsstücke in die Kommode. Die beiden Holztafeln, die ihre Mutter gemalt hatte, hängte sie übers Bett.

Schon bald regte sich Annas Tatendrang. Sie schaute sich die neue Umgebung an, lief durch die Schotterstraßen, sprach mit den Menschen. Binnen kurzer Zeit wusste sie über die Gegebenheiten der friedlichen kleinen Gemeinde Bescheid. Sie erkannte, dass die Böden fruchtbar waren, und sich hervorragend für den Anbau von Gemüse eigneten. Ein Stück vom Haus entfernt besaßen die Tanten brachliegende Grundstücke. Jetzt, im Dezember, war die ideale Zeit, um ein derartiges Projekt in Angriff zu nehmen. Der Regen würde bald kommen, und die Saat im Boden gut aufgehen. Anna fasste einen Plan. Sie würde Gemüse anbauen und damit Arbeit schaffen, die nicht nur sie und die Kinder, sondern auch die Tanten ernähren konnte. Falls es gar einen Überschuss gab, würde sie die Naturalien verkaufen. Sie hoffte darauf, ein wenig ansparen zu können. Am Abend sprach sie mit Lina und Rena. Die Schwestern boten ihr an, den Boden zu bestellen und würden ihr, so gut es ihnen möglich war, beistehen. Je mehr Gedanken die Tanten sich machten, desto größer wurde ihr Enthusiasmus. Mit ständig neuen Ideen trumpften sie auf. Die beiden wussten, wo Saatgut erworben werden konnte, und was in der Region besonders ertragreich wuchs. Vor dem Zubettgehen versprachen sie, zu allen helfenden Heiligen zu beten.

In der kommenden Woche besorgte Anna Saatgut für Tomaten, Kartoffeln, Zucchini und Artischocken. Es war nicht so einfach, wie die Tanten es ihr beschrieben hatten, aber ein jeder wollte der Frau helfen, die den weiten Weg von der Peloponnes bis nach Athen alleine mit ihren Kindern geschafft hatte. Der Alltag war bunt und fröhlich, hüllte Anna ein in die zuversichtliche Stimmung des Neuanfangs. Sie wollte Manolis einen schönen Empfang bereiten, wenn er aus den Bergen in die Hauptstadt kommen würde. Nur das Ziehen im Unterleib machte Anna ein wenig Angst. Es bestand kein Zweifel mehr, dass sie ein Kind erwartete. Der gewölbte Bauch ließ sich unter dem Kleid kaum verbergen, obwohl sie im Vergleich zu den anderen fünf Schwangerschaften deutlich weniger an Umfang zugelegt hatte. Das Kind würde widerstandsfähig werden, dachte Anna, bei den vielen Strapazen, die es bereits im Mutterleib erleiden musste. Die morgendliche Übelkeit war mittlerweile einem beständigen Glücksgefühl gewichen. Manchmal, wenn sie an Sonntagen untätig vor dem Haus auf der hölzernen Bank saß, stieg für einen Moment Angst in ihr hoch. Wie sollte sie ihr Leben mit einem Neugeborenen bewältigen? Die Tanten versprachen ihr zur Seite zu stehen und alles nur Mögliche für das Baby zu tun. Wenn es ein Junge werden würde, sollte er Odysseus heißen. Das war Linas ausdrücklicher Wunsch.

Allein, allein

ATHEN, JUNI 1952

Gemüseanbau zu betreiben war eine hervorragende Entscheidung gewesen. Die Menschen hatten Hunger. Die Infrastruktur des gesamten Landes war vollkommen zusammengebrochen und erreichte erst einige Jahre nach Ende des Bürgerkriegs das Niveau der Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg. Anna konnte kaum genug Gemüse anbauen, um die Nachfrage im Stadtviertel zu befriedigen. Sie hatte einen grünen Daumen. Überall sprießten und wuchsen die Setzlinge auf den Feldern. Mittlerweile hatte nicht nur die Größe der Ackerflächen enorm zugenommen, sondern auch die Produktpalette. Von Jahr zu Jahr hatte Anna neue Familien gefunden, die ihr gegen Naturalien und ein Entgelt ihre Böden überließen. Viele Männer waren noch immer nicht aus dem Bürgerkrieg zurückgekehrt und die Frauen konnten ihre Felder oft nicht alleine bebauen. Zudem hatte sich herumgesprochen, dass Anna einen fairen Preis bezahlte. So waren weitläufige Tomatenfelder entstanden, ebenso Flächen mit Endiviensalat und Kohl. Anna konnte die Arbeit mittlerweile nicht mehr alleine mit den Kindern und den beiden Tanten leisten und beschäftigte drei junge Männer.

Der Bürgerkrieg war offiziell seit Oktober 1949 zu Ende, doch Manolis war nicht aus den Bergen zurückgekehrt. Anna hatte die Hoffnung auf ein Wiedersehen fast schon aufgegeben. Während der ersten Zeit war sie alle paar Wochen in das Haus unterhalb der Akropolis gegangen, um zu hören, ob jemand etwas über seinen Verbleib wusste. Viele Familienmitglieder, aus fast allen Ecken des Landes, waren in die Hauptstadt gekommen. Irgendjemand musste doch irgendwann Neuigkeiten für sie haben. Manolis schien wie vom Erdboden verschluckt. Cousine Eleni hatte Anna die Nachricht zukommen lassen, dass auch Stavros verschwunden blieb. Eleni selbst war mit den Kindern in Aeropolis geblieben und hoffte auf dessen Rückkehr.

In den Zeitungen standen Nachrichten, die Annas letzten Hoffnungsschimmer verblassen ließen. Die Rückkehr von König Georg II im Jahre 1946 und sein früher Tod, sowie 1947 sein brüderlicher Nachfolger König Paul I, brachten dem Land keinen dauerhaften Frieden. Krieg, Hungersnot, Besatzung und vor allem der Bürgerkrieg hatten bis zum Jahr 1949 fünfhundertdreiundzwanzigtausend Griechen das Leben gekostet. Das war eine unglaubliche Anzahl, und sie stand für genauso viele Familien, deren Glück durch diese schrecklichen Ereignisse zerstört worden war.

Nacht für Nacht zermarterte sich Anna das Gehirn. Furchtbare Gedanken, entsetzliche Bilder, die sie nicht aus ihrem Bewusstsein verbannen konnte, kreisten in ihrem Kopf. Wie sollte Manolis nach so vielen Jahren zurückkommen, aus einem Bürgerkrieg, der einem Gemetzel glich? Von Umerziehungslagern wurde geredet, in denen Linke nach dem Krieg kaserniert worden waren. Schrecklich sollte es dort zugehen. Der Gedanke daran ließ sie zittern. Unzählige Frauen hatten mittlerweile die Nachricht vom Tod ihrer Männer bekommen und trugen Schwarz. Vielleicht würde es ihr auch bald so ergehen. Vielleicht war Manolis längst bei einem Aufstand ums Leben gekommen? Wenn es morgens hell wurde, sprach sich Anna Mut zu. Um sie herum kehrten noch heute Väter zurück zu ihren Frauen und Kindern, Söhne zu den Eltern. Vielleicht würde Manolis wirklich bald vor ihr stehen. Sie hatte gehört, dass manche Heimkehrer schlimme Verletzungen hatten. Aber das war ihr egal, Hauptsache ihr Mann kam zurück.

Stetig fuhr Anna fort, das Auskommen der Familie weiterhin zu sichern. Von Anfang an brachte sie die geernteten Waren zum nahen Wochenmarkt. Erst waren sie mit ihrem Leiterwagen losgezogen, später mit einem voll beladenen Eselskarren. Sie hatte für die Kinder eine Schule gefunden, die sie an drei Vormittagen der Woche besuchten. Eines Tages sollten sie bessere Chancen auf ein gutes Auskommen haben. Vor allem die Söhne mussten irgendwann eine Familie ernähren können. Statt harter Feldarbeit könnten sie vielleicht einen der begehrten Beamtenposten ergattern, um die sich alle bemühten, die Lesen und Schreiben gelernt hatten. Schließlich konnten sich die Jungen dann, bei relativ leichter Arbeit, zurücklehnen, und in eine gesicherte Zukunft blicken. Auch für die Mädchen war ein gewisser Bildungsgrad von Vorteil. Sie würden heiraten, das lag auf der Hand, aber niemand konnte wissen, was das Leben für sie bereithielt. Anna selbst war das beste Beispiel dafür.

Mittlerweile setzte sich Anna, wenn sie vom Tagwerk nicht zu müde war, vor die Schulbücher der Kinder und prägte sich einzelne Buchstaben ein. Wenn ihr Bauernbetrieb weiterhin expandierte, dann müsste sie vielleicht bald Lieferscheine oder gar Rechnungen unterzeichnen. Derzeit schien nichts ihren Erfolg zu bremsen. Die Menschen strömten vom Land und von manchen kargen Inseln nach Athen und suchten ein neues Glück. Die griechische Hauptstadt platzte aus allen Nähten. Längst war die Millionengrenze überschritten, und es wurde prophezeit, dass die Stadt weiterhin wachsen würde. In wenigen Jahren würde sich die Bewohnerzahl mehr als verdoppelt haben. Damit wäre Athen nach Istanbul, dem ehemaligen Konstantinopel, die zweitgrößte Stadt in Südosteuropa. Die Politiker hatten beschlossen, dass Athen eine moderne Metropole werden sollte. Um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, sollte ein unglaublich großes Projekt realisiert werden. Die gesamte Stadt mit allen Vororten einschließlich der Hafenstadt Piräus sollte mit Strom versorgt werden. Region für Region wollten die Verantwortlichen in Angriff nehmen. Anna konnte es kaum erwarten, bis Pangrati an der Reihe war. Dann sollte ihr Unternehmen weiterwachsen und sie wollte mit ihren Ersparnissen eine Halle bauen, um größeren Handel betreiben zu können.

Anna schöpfte Kraft aus dem Erfolg und der Hochachtung, die ihr die Nachbarn entgegenbrachten. Sie wäre eine starke Frau, wie fast alle in der Gegend betonten. An ihr wäre ein guter Mann verloren gegangen. Sie lächelte bei dieser Äußerung und zählte an einsamen Abenden die Münzen in ihrem Beutel, die sie zurückgelegt hatte. Wenn Manolis zurückkommen würde, dann könnten sie von der stolzen Summe neben der Halle ein stattliches Haus bauen. Nicht allen Athener Bewohnern ging es so gut wie ihr. Die Arbeitsplätze in der Industrie und beim Staat waren rar und die Arbeitslosigkeit nahm zu. Bald bildete sich eine Grauzone mit Gefälligkeiten und kleinen Geschäftchen, die den Bürgern das Leben etwas erleichterte. Trotzdem war das Bestehen in diesem System alles andere als einfach. Vor allem Männern ohne Bildung, einfachen Bauern, die vom Land in die Stadt gezogen waren, und die die größte Bevölkerungsschicht bildeten, fehlte die Perspektive. Im Laufe der Jahre wanderten immer mehr Menschen ins Ausland aus. Australien, Amerika und Nordeuropa verhießen ein leichteres Auskommen. Dort konnte mit harter Arbeit etwas bewirkt und relativ schnell eine gute Position erreicht werden, hieß es. Obwohl sich die Geschichten verlockend anhörten, kam es für Anna nicht in Frage, ins Ausland zu gehen. Nicht nur, dass sie auf Manolis wartete, nein, sie liebte ihr Land und wollte am Aufbau mitwirken.

Odysseus, den Anna auf der Flucht unter ihrem Herzen getragen hatte, zählte bereits sieben Jahre. Er war ein aufgeweckter Junge mit großen blauen Augen, die er eindeutig von seinem Vater hatte, und dichten dunklen Locken. Seine Nase wurde von lustigen Sommersprossen geziert, die ihm überall Sympathien einbrachten. Der Schalk, der ihm im Nacken saß, war ihm nicht sofort anzumerken. Er wirkte verständig und gelehrig, so, als ob er in seinem kurzen Leben schon viel erlebt hätte. Odysseus’ hell aufklingendes Lachen ließ Annas Herz oft vor Freude hüpfen, es fühlte sich an wie ein Bote aus fernen Zeiten, eine Erinnerung an ihren Mann. Sie betete jeden Tag darum, dass Manolis seinen jüngsten Sohn, von dessen Existenz er nicht einmal wusste, endlich in seine Arme schließen konnte.

Die Kinder waren mit Anna auf dem Feld. Von Anfang an hatten sie Verantwortung übernommen und waren glücklich darüber, ihren Beitrag leisten zu können. Annas Blick fiel auf Odysseus, der dieselben Arbeiten wie seine Geschwister verrichten wollte. Wie so oft konnte er sich nach einer Weile nicht mehr auf die für ihn schwere Aufgabe konzentrieren, und seine überschüssige Energie im Zaum halten. Er wollte spielen, übermütig sein. Neckend zupfte er Takis am Hemd, rief »Fang mich doch«, und als dieser nicht sofort reagierte, machte er weiter und tönte: »Ich fang dich, ich fang dich, du fängst mich«, und sprang wie wild über das Bohnenfeld. Da ließ sein Bruder die Harke fallen und hüpfte ihm lachend nach. Auch Ioannis und Sophia waren bald in das ausgelassene Spiel verwickelt. Ihr lautes Jauchzen klang weit über das Feld, und zauberte den drei Arbeitern ein Lächeln aufs Gesicht. Freude und Leichtigkeit taten gut im harten Alltag. Nur Kalliopi ließ sich von ihrer Arbeit nicht abbringen. Ernst und Unwillen waren ihr ins Gesicht geschrieben. Wie konnte die Mutter zulassen, dass es wie auf der Kirmes zuging? Sie konnte diesen Mangel an Disziplin nicht begreifen. Manchmal hätte sich Anna gewünscht, dass das Leben der ältesten Tochter nicht nur von Pflichterfüllung dominiert wurde.

Anna bemerkte, dass Andreas, der jüngste der drei Arbeiter, sie mit einem Leuchten in den Augen beobachtete. Ihr war mehrmals aufgefallen, dass er den Blick nicht von ihr lassen konnte. Sie wusste nicht, wie sie mit seinem Werben umgehen sollte. Einerseits wollte sie ihn auf keinen Fall als Arbeiter verlieren, andererseits konnte sie sich nicht in eine verfängliche Situation begeben. Er war nicht der erste Mann, der ihr gegenüber Interesse zeigte, seitdem sie in Pangrati lebte. Anna war eine gutaussehende Frau. Die Arbeit auf dem Feld hatte ihre Figur fest und drahtig werden lassen, und ihre Haut war gebräunt, was ihr eine gesunde und natürliche Ausstrahlung verlieh. Die Haare, die sie stets unter einem Hut versteckte, waren lang und dunkel. Nur die Hände hatten durch die schwere Arbeit gelitten. Sie waren übersät von Schwielen und Blasen, wirkten knorrig wie die Äste einer Eiche, und die Nägel waren mittlerweile dunkel verfärbt, dass sie auch durch kräftiges Schrubben mit einer Wurzelbürste nicht mehr sauber wurden. Anna schämte sich nicht für ihre Hände, sie war stolz auf die Spuren der harten Arbeit, die den Kindern und ihr eine Existenz verschafft hatte. Anna lächelte Andreas kurz an, wandte sich dann den Kindern zu. Mit einem milden Unterton rügte sie jedes Einzelne, Ernst zu bewahren und zur Arbeit zurückzukehren. Annas Erfolg war mäßig. Sophia bückte sich halbherzig, um ein paar Bohnen in den großen Korb zu werfen. Annas Blick fiel erneut auf Andreas. Er hatte sich der Arbeit zugewandt und hievte die Ernte in den Karren. Seine Figur war gut proportioniert, muskulös, und seine Haut von dunkler Färbung. Er war Ende Zwanzig, bestimmt fünf Jahre jünger als sie selbst. Als er aufblickte, drehte sie ihm schnell den Rücken zu. Anna hoffte sich sein Interesse nur einzubilden. Sie war seine Arbeitgeberin und sonst nichts. Und das war gut so, denn sie wartete auf Manolis, die Liebe ihres Lebens. Fast acht Jahre waren vergangen, seitdem sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Und wenn sie ehrlich zu sich selbst war, schrumpfte mit jedem weiteren Tag der letzte Rest Hoffnung auf ein Wiedersehen.

Während der folgenden zwei Wochen spürte Anna bei der Feldarbeit Andreas’ Blick auf sich ruhen. Sie wusste langsam nicht mehr, wie sie sich verhalten sollte, und vermied es, mit ihm alleine zu sein. Er schien ihre Zurückhaltung nicht zu bemerken, und brachte ihr einmal gar einen von seiner Mutter gebacken Kuchen. Anna, die eine Schwäche für süßes Naschzeug hatte, nahm ihn dankend an, schließlich wollte sie ihn nicht brüskieren.

Eines Tages war es so weit. Andreas hatte seinen ganzen Mut zusammengenommen und stand vor ihrem Haus. Er hatte seinen besten Anzug angezogen und trug dazu ein weißes Hemd mit Manschettenknöpfen. In seiner Hand hielt er selbstgepflückte Feldblumen. Die Tanten öffneten die Tür und baten ihn in die Küche. Sie nahmen rechts und links von ihm Platz, schließlich mussten sie über die Ehre ihrer Nichte wachen. Anna machte ihnen resolut ein Zeichen, dass sie gehen sollten. Widerwillig kamen sie der Aufforderung nach, denn das war gegen ihre tiefste Überzeugung. Eine anständige Frau durfte einfach nicht alleine mit einem Mann in einem geschlossenen Raum sein. Anna wusste genau, dass Rena und Lina vor der Tür Position beziehen würden, damit sie notfalls in die Küche stürmen und Anna beschützen könnten.

Anna war erstaunlich gefasst und bereitete über dem Gaskocher einen Mokka zu. Sie wartete darauf, dass Andreas das Wort ergreifen würde. Der junge Mann, der sich nicht sicher war, ob sein Ansinnen erhört werden würde, saß schweigend am Tisch und schaute nachdenklich auf die bunten Blumen, die er nervös in der Hand drehte. Anna goss den Kaffee schwungvoll in die kleine Tasse und stellte sie vor ihn auf den Tisch. Sie schaute ihn fragend an. Andreas, sonst lustig und wortgewandt, brachte kein Wort heraus. Als er ihren Blick sah, streckte er ihr die Blumen entgegen. »Die sind für dich.«

Anna bedankte sich und stellte den Strauß in eine Vase. »Und?«, fragte sie, als sie sich zu ihm an den Tisch setzte, »was gibt’s?«

Langsam wurde sie nervös. Sie saßen sich stumm gegenüber und starrten sich an. Anna hörte, wie sich die Tanten vor der Tür regten.

»Jetzt sag doch … was ist los?«, bat Anna.

Röte breitete sich auf Andreas’ Gesicht aus. Langsam erklärte er sich, dass sie eine hübsche Frau wäre und er sich in sie verliebt hätte. Und dass er sie heiraten wolle. Wenn sie ja sage, natürlich. Erleichtert lächelte er sie an.

Anna war sich fast sicher gewesen, dass er ihr einen Antrag machen wollte. Sie hatte sich, während sie mit Kaffeekochen beschäftigt war, ein paar Sätze zurechtgelegt, aber nun, da sie seine unsicheren Worte hörte, wusste sie nicht, was sie ihm entgegnen sollte. Anna wollte ihn nicht verletzen. Sie wusste, wie stolz griechische Männer waren. Zu allem Übel ergriff er zärtlich ihre Hände. Jeglicher Körperkontakt mit einem Mann war ihr während der letzten Jahre fremd geworden. Sie erstarrte.

»Wir könnten ein neues Leben beginnen. Wir beide … mit deinen Kindern. Ich würde sie wie meine eigenen aufziehen«, hörte sie wie aus weiter Ferne zu sich dringen. Ihr wurde übel. Wie einfach das klang, ein neues Leben, eine starke Schulter, an der sie sich ausruhen konnte, die Kinder versorgt und sicher, ihr Weg in eine schöne, einfachere Zukunft. Aber Manolis … was war mit ihm? Verunsichert befreite sie sich aus Andreas’ Griff. Nein, das war nicht ihr Weg.

»Andreas, ich liebe nur einen Mann. Ich habe ihm vor Gott die Treue versprochen.« Sie atmete tief ein und sagte bestimmt: »Ich werde auf ihn warten.«

Andreas Blick verfinsterte sich. Unbeholfen versuchte er, Anna davon zu überzeugen, dass ihr Mann nie wiederkommen würde.

»Anna, versteh doch … sogar in Gefangenschaft geratene Männer sind mittlerweile alle wiederaufgetaucht. Der Bürgerkrieg ist seit Jahren zu Ende. Wo soll Manolis stecken?«

Anna seufzte.

»Ich weiß nicht, aber ich fühle, dass er am Leben ist. Er wird kommen.«

Andreas gab die Hoffnung nicht auf, fragte ob er ihr denn gar nicht gefallen würde. Anna war hilflos. Natürlich war Andreas ein attraktiver Mann. Er konnte gut arbeiten, war stark und stolz, ehrlich und geradlinig, und hatte das Herz auf dem rechten Fleck. Aber er war nicht Manolis. Mit eindringlichen Worten versuchte Andreas, Anna zur Einsicht zu bringen.

»Es hat keinen Sinn, wenn du weitere Jahre mit Warten verschwendest.« Er schaute sie siegessicher an. »Du kannst ihn für tot erklären lassen.«

Dieser Gedanke ließ Anna erschauern. Unnachgiebig schob sie Andreas aus der Küche hinaus. Sie wollte kein einziges Wort mehr hören.

»Ich werde auf ihn warten, und wenn es bis zum Ende meiner Tage dauert. Damit musst du dich abfinden!«

Nachdem Andreas um die Hausecke gebogen war, redeten die Tanten auf Anna ein.

»Warum hast du seinen Antrag nicht angenommen? Er ist ein Geschenk Gottes. So ein schöner junger Mann«, sagte Rena. »Und so kräftig. Er kann deine Geschäfte führen. Dann kannst du weitere Kinder in die Welt setzen. Das ist deine eigentliche Bestimmung«, pflichtete Lina bei.

Rena nickte. »Du bist nicht für die harte Arbeit auf dem Feld gemacht. Schau dir deine Hände an. Sie sind von Schwielen überzogen.«

Die Tanten waren dem traditionellen Denken verhaftet, wie die meisten Griechen. Für sie alle war es im Grunde eine Schande, wenn Frauen arbeiteten. Dass sie Anna geholfen hatten, diesen Weg einzuschlagen, war für sie in Ordnung gewesen, da Manolis nicht aus dem Bürgerkrieg zurückgekehrt war, und sich das Land in einer Ausnahmesituation befand. Jetzt, wo langsam Normalität einkehrte, wollten sie Anna lieber an der Seite eines gesunden Mannes sehen, der für sie dem schweren Broterwerb nachging. Manolis war seit Jahren verschwunden, da durfte Anna nicht zimperlich sein, und musste nach dem Glück greifen, wenn es sich bot. Schließlich waren wenige Männer bereit, eine nicht mehr junge Frau mit einem Rattenschwanz von Kindern zu freien. Anna war dieser Gedanke fremd. Unentwegt schüttelte sie den Kopf, so als ob sie es sich selbst glauben machen wollte.

»Für mich gibt es keinen anderen Mann. Ich denke nicht daran, Manolis so mir nichts dir nichts zu vergessen.«

Die Tanten schauten sich ungläubig an. Welche Frau wollte in ihren dreißiger Lebensjahren in schwarzer Kleidung herumlaufen und sich auf dem Feld zu Tode rackern, wenn sich ein kräftiger und attraktiver Freier bot? Sie hätten ihre Nichte für intelligenter gehalten.

Die Worte der Tanten waren nicht spurlos an Anna vorbeigegangen. Sie dachte über deren Argumente nach. Die beiden hatten Anna am Ende des Tages angefleht, Andreas zum Familienoberhaupt zu machen, der letztendlich sie alle beschützen könnte. Sie hatten harte Zeiten durchgemacht, und niemand wusste, was ihnen noch alles bevorstehen würde. Im November standen Neuwahlen an, die der griechischen Bevölkerung vielleicht die heißersehnte Stabilität verschaffen würden. Seit 1950 hatte es sieben Regierungen gegeben und der Premierminister Sophokles Venizelos hatte innerhalb eines Jahres sein fünftes Kabinett zusammengestellt. Jetzt hofften viele Griechen auf einen Kurswechsel und wünschten sich General Papagos, den Oberbefehlshaber der Armee, an die Macht. Dann würden sich die Zustände ändern und Griechenland in einem anderen Licht erstrahlen. Nicht Wechsel und Chaos sollten den Rahmen des täglichen Lebens bilden, sondern solide Strukturen mit feststehenden Regeln, die für alle in gleichem Maße galten. Dann, wenn Ordnung in die Gesellschaft eingekehrt war, sollte Anna einen Mann an ihrer Seite haben, der das wirtschaftliche Fortkommen der Familie für sie übernahm.

Anna war peinlich berührt, als Andreas am nächsten Morgen vor ihr stand. Er hatte seinen Hut vom Kopf genommen und hielt ihn einem Schutzschild gleich vor sich.

»Es tut mir leid«, sagte er, »ich habe mich zu weit vorgewagt.«

Anna sah das brennende Verlangen in seinen Augen, das mit dem gekränkten Stolz kämpfte.

»Ist schon gut, Andreas. Ich schätze dich sehr. Gerne hätte ich dich an meiner Seite. Aber ich liebe Manolis. Ich habe ihm versprochen, mein Leben mit ihm zu verbringen.«

»Aber er …«, setzte Andreas an und verstummte. Anna wusste genau, was er sagen wollte. Scheinbar war sie die Einzige, die an Manolis’ Rückkehr glaubte.

Als Anna aufstand, war es noch dunkel. Sie hatte einen Kuchen gebacken, ihn mit dunkler Schokolade überzogen, und ihn neben das Honiggebäck, das sie gestern mit Kalliopi vorbereitet hatte, in die Speisekammer gestellt. Heute war der achtundzwanzigste Juni, Ioannis’ Namenstag. Die ganze Verwandtschaft, Freunde und Bekannte, würden ihnen einen Besuch abstatten, um ihrem Sohn »Chronia polla« zu wünschen. Viele, viele gute Jahre weiterhin, ganz so, wie es der Brauch verlangte. Sie holte den besten Wein und Säfte aus dem Keller. Jeder Gast sollte zufrieden nach Hause gehen. Es würde gelacht und gescherzt werden, und die Sorgen des Alltags würden für ein paar Stunden in den Hintergrund treten. Auch ihre Arbeiter würden erscheinen, wie ein jeder, der der Familie nahestand. Dazu bedurfte es keiner offiziellen Einladung. Anna nahm an, dass Andreas die Gelegenheit wahrnehmen würde, in ihrem privaten Umfeld aufzutauchen und ihr seine Absicht nochmals zu unterbreiten. Anna lächelte. Diese Hartnäckigkeit faszinierte sie, und wenn sie ehrlich zu sich selbst war, trieben ihr seine Blicke eine leichte Röte ins Gesicht. Das hatte nichts zu bedeuten, rief sie sich ins Gedächtnis. Andreas war ein gutaussehender Mann, aber er war eben nicht ihr Mann. Wie ein Mantra sagte sie diesen Satz vor sich hin.

Es war ein strahlender Sommertag und die Sonne schien mit voller Kraft auf die Gemüsebeete. Odysseus hatte die Lust am Ernten verloren, und es sich mit einem Blechauto, das er aus der zerschlissenen Schürze gezogen hatte, im Schatten eines Pinienbaumes gemütlich gemacht. Anna machte Ioannis ein Zeichen, dass er sich zu seinem Bruder gesellen sollte. An Ioannis’ Ehrentag wollte sie nicht, dass er so schwer schuftete wie an den übrigen Tagen. Sie hätte sich ein leichteres Leben für die Kinder gewünscht. Der Schulbesuch sollte im Vordergrund stehen, nicht die Arbeit. Der volle Einsatz der gesamten Familie trug Früchte, die Geschäfte hatten sich prächtig entwickelt. Anna hoffte, dass sie ab der nächsten Saison nicht mehr auf die Hilfe der Kinder angewiesen sein würde.

Als die Kirchturmuhr drei Uhr läutete, rief Anna zum Aufbruch. Gemächlich gingen sie nach Hause, nicht ohne über die neuesten Nachrichten zu debattieren. Kirios Kotsos, der fast an der Platia wohnte, hatte sich ein neues Automobil gekauft, das rauchte und knatterte, wie ein alter Drache. Es kam von weit her, aus Amerika. Die Bewohner munkelten, dass er das viele Geld, das er zweifellos in dieses Ungetüm investiert hatte, mit einem Bordell in Kairo erwirtschaftet hätte. Die meisten Griechen liebten die ägyptische Hauptstadt, das fröhliche Treiben auf den Basaren und die vielfältigen Möglichkeiten der Abwechslung. Kalliopi und Sophia hatten in der Schule gelernt, dass bis zum Ende des 2. Weltkriegs zwanzigtausend Griechen auf die Rufe der Exilregierung hin auf eigene Faust und unter höchsten Anstrengungen über das Meer von Griechenland bis nach Ägypten geschippert waren, um von Kairo aus gegen den Faschismus, für Freiheit und Demokratie zu kämpfen. Anna und ihre Töchter hatten lange darüber geredet, vor allem, da das neugebildete Heer im Land der Pharaonen bald in Kämpfe mit den Anhängern der Monarchie verstrickt war, die im Sinn hatte, Griechenland vor dem Kommunismus zu bewahren.

Anna zuckte zusammen. Andreas hatte seine Hand auf ihren Arm gelegt und sie aus den Gedanken gerissen.

»Ich komme am Abend zum Fest von Ioannis«, kündigte er an. Anna nickte. »Ich habe damit gerechnet.«

Andreas strahlte.

»So ist es richtig. Wir werden zueinander finden.«

Anna senkte den Blick. Er schien sich nicht abweisen zu lassen und machte mit seinem Werben nicht einmal Halt, wenn die Kinder neben ihr waren.

Stunden später klopften die Gäste im Minutentakt an die Tür. Kalliopi und Sophia hatten Kuchen und Gebäckstücke im Esszimmer aufgetischt, Obst in Schalen gefüllt und bunte Liköre in Glasflaschen daneben gestellt. Sie hatten Tsatsiki angerührt, Schafskäse und Oliven auf Platten angerichtet. Ioannis saß auf dem weich gepolsterten Sofa und nahm die Glückwünsche der Gratulanten entgegen. Das Wohnzimmer wurde immer voller. Andreas hatte sich eingefunden und ließ sich von Tante Lina verwöhnen. Sie schenkte ihm einen Likör nach dem anderen ein, als ob sie ihn bei Laune halten wollte. Ein weiteres Mal klopfte es an der Tür. Anna bat Tante Rena zu öffnen und gesellte sich zu Lina und Andreas. Sie wollte hören, welche Spielchen die beiden spielten, da die Selbstsicherheit von Andreas trotz der Abfuhr von Tag zu Tag zunahm. Geradezu übermütig wurde er. Mit strahlenden Augen und einem leichten Lächeln drückte er seine Freude aus und empfahl ihr den lila Likör, der, wie er fand, aus besonders süßen dunklen Trauben gebrannt war. Anna schüttelte den Kopf und griff nach einem Glas Wasser. Ihr Blick fiel auf die Tür. Da stand der Neuankömmling, groß und blond. Er hielt sich mit den Händen am Türrahmen fest, als ob er Halt suchen müsste. Etwas Undefinierbares in seiner Haltung strahlte Schwäche aus. Anna glaubte zu träumen, sie bewegte sich keinen Millimeter. War das Manolis? Sein Blick war fest auf sie geheftet und über seine Wange lief eine Träne. Er war mager, seine Backenknochen dominierten sein schmales Gesicht und die Augen lagen in tiefen Höhlen. Seine Gesichtsfarbe war weder frisch noch leicht gebräunt. Manolis sah grau und alt aus. Anna formte mit den Lippen sehnsüchtig seinen Namen. Er lächelte, und ein stumpfer Glanz legte sich über seinen Blick. Ein Zittern ging durch Annas Körper. Manolis war zurück.

Anna konnte es kaum glauben, ihr Traum war in Erfüllung gegangen. Sie bahnte sich wie in Trance einen Weg durch die Namenstagsgäste und stürzte sich in Manolis’ Arme. Er hob sie in die Luft und drückte sie an sich. Dann suchte er ihren Mund und küsste sie stürmisch bis die Gäste Applaus und laute Hurraschreie anstimmten. Von diesem Krach in die Wirklichkeit zurückgerufen setzte Manolis Anna behutsam auf den Boden und schaute schüchtern in die Runde. Er wusste, was von ihm erwartet wurde: Er, der große Freiheitskämpfer, war nach vielen Jahren aus dem Bürgerkrieg nach Hause gekommen, und ein jeder der Anwesenden, Familienmitglieder, Freunde, Bekannte und Unbekannte, wollte Einzelheiten über sein langes Fortbleiben erfahren. Ihm auf die Schulter klopfen, als ob ein klein wenig der Stärke, die er bewiesen hatte, dadurch auf sie abfärben würde.

Anna hatte diese Erwartung in den Blicken der anwesenden Männer gesehen und selbst den Rückzug ins Esszimmer angetreten, wo sich die Frauen versammelten, nachdem sie Manolis begutachtet hatten. Sie zogen Anna an sich, drückten und beglückwünschten sie. Eine jede spuckte ihr, wie es der Brauch verlangte, über die Schulter, der böse Blick durfte schließlich das wiedergefundene Glück nicht gefährden. Anna machte sich energisch frei. Das Haus war voller Gäste. War alles in Ordnung? Musste eine der vielen Speisen nachgelegt werden?, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf. Ärger stieg in ihr auf. Sie wollte jetzt nicht an solch profane Dinge denken, aber sie wusste, dass sie als Hausfrau funktionieren musste. Ihr Mann lebte und war zurück aus dem fürchterlichen Bürgerkrieg, nach unzähligen Schlachten. Jahre später als erwartet und von vielen Bewohnern lange totgesagt. Sie wollte mit ihm reden! Sollten bitte die Gäste gehen! Hatte denn niemand Verständnis? Seine Kumpane standen um ihn herum, da war vorerst kein Durchkommen. Die Männer saßen zusammen, junge und alte, und es wurde über jede einzelne Heldentat geredet, die Manolis während der vergangenen Jahre begangen hatte. Anna konnte hören, wie die Männer Manolis mit ihren Zwischenrufen anfeuerten. In dieser Runde hatte eine Frau nichts zu suchen.

Sie stieß mit dem Fuß an einen Ball. Manolis hatte nicht einmal seine Kinder begrüßen können. Wo waren die Kinder? Die Hurrarufe überdeckten alle anderen Geräusche im Haus. Anna kam es vor, als wäre die Uhr stehengeblieben, als zählten ab dieser Sekunde andere Werte, Dinge, die während der letzten Jahre in ihrem fleißigen Alltag nicht einmal peripher eine Rolle gespielt hatten. Während der Zeit, als sie die alleinige Verantwortung für die Familie trug, hatte sie vergessen, wie der Tag im Leben einer traditionellen griechischen Familie ablief. Da spielten die Männer die Hauptrolle. Eine düstere Ahnung, welch tiefgreifende Veränderungen ihr bevorstanden, stieg in diesem Moment in ihr auf. Anna schloss intuitiv die Augen und hoffte, dass sie sich schnell in diese neue Situation einfinden würde.

Anna ging in den Innenhof und fand die Kinder, die selbstvergessen mit den bunt glitzernden Murmeln spielten, die Ioannis von seinem Paten geschenkt bekommen hatte. Sophia sah die Mutter mit aufgewühltem Gesicht im runden Torbogen stehen. Sophia schaute sie schuldbewusst an. War die Mutter enttäuscht, dass sie nicht mit dem Essen halfen, oder gar, dass Ioannis nicht auf seinem Thron im Salon saß und die Glückwünsche entgegennahm? Die in allen Farben schillernden Glaskugeln hatten eine solche Faszination auf sie ausgeübt, dass die Kinder diese einfach ausprobieren mussten und sich gemeinsam in den Hof geschlichen hatten. »Wir dachten, du brauchst uns gerade nicht. Wir wollten dich nicht mit der ganzen Arbeit alleine lassen. W… wirklich …«, sagte Sophia entschuldigend. Anna schüttelte den Kopf und ein schiefes Lächeln legte sich über ihr Gesicht. Mit betont fröhlicher Stimme verkündete sie: »Euer Vater ist zurück.«

Freudig stürmten die Kinder ins Wohnzimmer, Anna ihnen hinterher. Als Manolis seine Kinderschar auf sich zukommen sah, sprang er auf. Mit großen Schritten ging er ihnen entgegen und schloss ein Kind nach dem anderen in die Arme. »Ich bin glücklich hier zu sein. Nun hat das Grauen ein Ende gefunden«, flüsterte er Ioannis ins Ohr und vergrub seinen Kopf in den Haaren des Sohnes. Ergriffen beobachtete Anna die Szene. Sie ließ Manolis Zeit, dann zog sie Odysseus zu ihm.

»Das ist dein jüngster Sohn«, erklärte sie ihm. Erst runzelte Manolis die Stirn, dann entspannten sich seine Züge. Der Junge war sein absolutes Ebenbild. Kein anderes seiner Kinder hatte eine solche Ähnlichkeit mit ihm. Ein stolzes Leuchten trat in seine Augen. Je mehr Söhne ein Haus zierten, desto größer war die Ehre. Odysseus, der seinen Vater noch nie gesehen hatte, und ihn nur aus den Erzählungen seiner Geschwister kannte, war ruhig geworden. Mit großen Augen musterte er den Vater.

»Wie heißt du?«, wollte Manolis mit vor Rührung brüchiger Stimme wissen. Der Junge antwortete ernst: »Odysseus.«

Der Vater nahm den Sohn in seine Arme.

Alles ist anders

ATHEN, NOVEMBER 1952

Wenn Anna an Manolis’ Rückkehr zurückdachte, war ihr bewusst, dass sie seine persönliche Veränderung von Anfang an gespürt hatte. Es war wie sie es zuvor von Nachbarn und Freunden gehört hatte. Oft waren die Kriegsveteranen nicht mehr dieselben Menschen. Erst einmal überdeckten die Glücksgefühle alle Anzeichen. Anna fühlte sich wie die glücklichste Frau der Welt. Im Bett schmiegte sie sich in die Arme ihres Mannes, genoss den vertrauten Geruch, den seine Haut ausströmte und beteuerte, dass sie ihn nie mehr fortgehen lassen würde. Manolis hingegen war ungewohnt zurückhaltend. Müde presste er seine Frau an sich, um ihr dann schnell den Rücken zuzukehren, und sich in einen tiefen Schlaf zu flüchten, der nicht enden wollte. Anna war seine Gemütsverfassung erst nicht richtig aufgefallen. Manolis redete wenig. Sogar im Kreis der Freunde und Verwandten, der Nachbarn und Mitarbeiter, erzählte er nur verhalten über die Vergangenheit. Auf konkrete Fragen gab er knappe Antworten, die in ihren Inhalten vage waren. Und wenn er von einem Besucher zu einer Aussage gedrängt wurde, machte er eine flüchtende Handbewegung. Niemanden schien das zu stören.

Doch nach einer Woche war Anna endgültig klargeworden, dass Manolis ein anderer Mensch geworden war, nachdenklich und melancholisch, als ob sein eigentliches Wesen in seinem Körper eingesperrt war. Anna wollte ihn schütteln, wollte, dass sein altes Gemüt unter den vielen Schichten zum Vorschein kam.

Er ist noch nicht richtig angekommen, beruhigte sie sich. Es wird alles gut werden. Bald musste sie sich jedoch eingestehen, dass die Last der vergangenen Jahre auf seine krumm gewordenen Schultern drückte und sein einst so helles Gesicht weiterhin fahl blieb. Anna ließ sich während der ersten Monate nicht entmutigen. Fest davon überzeugt, dass sie gemeinsam diese Krise bewältigen würden. Anna versuchte Manolis abzulenken, indem sie ihn daran erinnerte, wie er durch sein lebendiges, humorvolles Wesen ihre Ehe während der Anfangszeit geprägt hatte. Sie, die eine derartige Fröhlichkeit von zu Hause her nicht gewohnt war, hatte sich damals schnell von seiner Leichtigkeit, dem Bewusstsein, dass außer ihrer Gemeinschaft, Gesundheit und einem heiteren Gemüt nichts wirklich wichtig war im Leben, anstecken lassen. In diesen einfachen Dingen steckte das Glück. Trotz aller Mühen konnte Anna die dunklen Wolken, die über ihm zu schweben schienen, nicht vertreiben. Sie ließ ihm Zeit, stand morgens leise auf, um sein Bedürfnis nach Ruhe nicht zu stören, und kehrte abends nach einem arbeitsreichen Tag zurück. Als sie irgendwann seinen fragenden Blick auf ihren zerschundenen Händen sah, erzählte sie Manolis von ihrem Unternehmen, das sie während der letzten Jahre aufgebaut hatte. Bisher hatte Manolis im Mittelpunkt gestanden. Sie hatte ihn mit der für ihn neuen Lebenssituation nicht überfordern wollen. Jetzt hoffte Anna, dass er stolz auf sie wäre. Zögernd stellte er Fragen und hörte leicht abwesend zu, als ob er mit seinen Gedanken etwas anderes fokussieren würde, während sie ihm detailreich berichtete, welches Gemüse besonders gut gedieh und wo sie die höchsten Stückzahlen von Artischocken verkaufen konnte. Nach den Schilderungen forderte Anna ihn auf, sie am nächsten Tag zu begleiten, doch er zögerte den Gang über die Felder hinaus.

Über den Hochsommer hinweg änderte sich kaum etwas. Wenn Anna müde nach Sonnenuntergang nach Hause kam, war Manolis weiterhin wortkarg. Anna redete, denn sie konnte das Schweigen kaum ertragen. Wiederholt erzählte sie, wie Manolis sie und die Kinder mit seiner damaligen Warnung gerettet hatte, bevor ihr Dorf überfallen wurde, und sie nach Athen aufgebrochen waren. Manolis nickte nur. Sie berichtete, wie sie auf der Flucht wochenlang kaum einen Menschen gesehen hatte, und sie sich dann, als sie sich in Kalamata erholt und Mut gefasst hatte, dazu überwand, zum ersten Mal auf Fremde zuzugehen. Plötzlich zuckte Manolis. Er murmelte nervös: »Wenn ich nur wieder Vertrauen in die Menschheit fassen könnte … Stavros … Stavros … er …« Dann verstummte er abrupt. Er zitterte und ein Schluchzen fuhr durch seinen Körper. Anna nahm ihn tröstend in die Arme. Sie fragte, was mit Stavros sei, doch Manolis sprach kein Wort mehr. Während sie seinen Kopf streichelte, erzählte sie, dass Eleni in Aeropolis auf die Heimkehr ihres Mannes warten würde. Manolis schaute sie unergründlich an. Dann bat er sie, nie wieder den Namen seines damaligen Freundes auszusprechen. Anna wollte ihn zum Sprechen bewegen, aber er schwieg und in dem Blick, den er ihr schenkte, lag Leere. Lange versuchte Anna weiterhin die Stille zu füllen, die sich wie Treibsand zwischen ihnen ausgebreitet hatte, und bis in den letzten Winkel des Hauses vordrang. Irgendwann gab sie auf und ergab sich ihrem Schicksal.

Eines Morgens war es so weit. Manolis ging mit Anna über die Felder. Er war in erstaunlich guter Verfassung, als ob er alle Nöte zu Hause gelassen hätte. Ein leichtes Gefühl der Freude stieg in Anna auf. Vielleicht war das der Anfang und er würde bald wieder wie früher werden. Manolis machte sogar ein paar Scherze und fasste sie heiter an der Hand. Erstaunt ließ er sich erklären, welche Äcker der Familie gehörten, und welche Anna von den Nachbarn gepachtet hatte.

»Du hast Großartiges geleistet«, lobte er seine Frau. Ein Strahlen legte sich über ihr Gesicht. Nachdenklich betrachtete Manolis die Arbeiter. Als er Andreas’ Blick sah, der traurig Annas Gestalt verfolgte, stutze er.

»Wer ist das?«, fragte er.

»Mein bester Arbeiter. Ohne ihn wäre ich verloren gewesen«, antwortete Anna mit fester Stimme.

Andreas’ Verhalten hatte sich Anna gegenüber seit Manolis’ Rückkehr verändert. Vorbei waren seine Avancen. Anna bemerkte sehr wohl, dass er jetzt jeglichen direkten Blickkontakt mied. Er war verschlossen und abweisend, und wenn Anna das Wort an ihn richtete, gab er mürrisch kurze Antworten. Anna hoffte, dass ihr Mann nichts von Andreas’ Absichten erfahren und die Tanten Stillschweigen bewahren würden. Würde Manolis von dem Antrag wissen, wären heftige Auseinandersetzungen nicht zu vermeiden. Um nichts in der Welt könnte Manolis akzeptieren, dass ein anderer Mann seiner Frau den Hof gemacht hatte, auch, wenn das während seiner Abwesenheit geschehen war.

Fortan übernahm Manolis die Geschäfte. Er stand morgens früh auf und teilte die Arbeiter ein. Die Kinder ließ er nach wie vor ihre Aufgaben erfüllen und überwachte die Verkäufe auf den Märkten. Die ungewohnte Betätigung schien ihm gut zu tun und ihn aus seiner düsteren Gedankenschleife herauszuholen. Unter freiem Himmel war er gelöster als zu Hause. Der Geschäftsaufbau und der tägliche Ablauf waren für ihn von großem Interesse. In vielen Dingen zog er Anna zu Rate.

»Es ist so schön, gemeinsam mit dir auf den Feldern zu stehen«, sagte sie ihm. Ein Lächeln brachte ihr Gesicht zum Strahlen. Ernst sah Manolis Anna an.

»Das ist nur für eine kurze Zeit, bis ich mich in die Strukturen des landwirtschaftlichen Unternehmens eingearbeitet habe.« Das Lächeln verschwand aus Annas Gesicht. Sie zog fragend die Augenbrauen zusammen.

»Ich bin der Mann. Ich werde das Geschäft führen.« Anna entgegnete enttäuscht: »Ich habe den Betrieb gegründet. Ich habe das Alles hier aufgebaut.« Manolis runzelte verständnislos die Stirn.

Anna sah selbst, dass alles anders war. Wenn sie Manolis zum Markt begleitete und ihm die Händler vorstellte, richtete von dem Moment an niemand mehr das Wort an sie. Ebenso erging es ihr am Bau, die Handwerker nahmen sie gar nicht mehr wahr, wenn sie neben ihrem Ehemann stand. Vor Manolis’ Rückkehr hatte Anna begonnen, ihren Traum, die Errichtung einer Kühlhalle zu realisieren. Sie hatte dazu ein Nachbargrundstück erworben, in dessen unmittelbarer Nähe die von der Stadt verlegten Stromkabel platziert waren. Der Umsatz konnte mit der Halle verdoppelt werden. Manolis’ Priorität lag nicht auf Expansion, somit kam die Fertigstellung nicht voran. Traurig musste sich Anna mit den Entwicklungen abfinden. Sie hatte ihre Lektion gelernt. Sie war eine Frau und sie hatte nichts zu sagen.

Bald fühlte Manolis sich den neuen Aufgaben gewappnet und verbannte Anna von ihrem Arbeitsplatz. Sie sollte sich nur noch um die Kinder kümmern. Anna war unglücklich. Das bequeme Leben langweilte sie, die eigenen vier Wände boten zu wenig Abwechslung und erdrückten sie. Mit einem einzigen Paukenschlag war sie ausgemustert worden.

Anna fing an, morgens, wenn Manolis noch tief und fest schlief, leise aus dem warmen Bett zu schleichen. Sie zog sich einen Kittel über und ging über die Felder. Anna genoss die frische Luft, sog sie tief in die Lungen und fühlte sich frei und selbstbestimmt. Sie sah den Tau auf den Blättern, und erfreute sich an den in der griechischen Erde gedeihenden Pflanzen. Barfuß lief sie zwischen den zahlreichen Pflänzchen umher und bückte sich, um vereinzelt sprießendes Unkraut aus dem Boden zu ziehen. Sie lauschte dem Pfeifen der Vögel. Das müssten Amseln sein. Andreas hatte die Vogelstimmen gedeutet, wenn sie zusammengearbeitet hatten. Sein Vater war vor dem Krieg Ornithologe gewesen und hatte seinem Sohn schon als Kind Wissen über diese Tiere vermittelt. Sie hatten oft gelacht, da Annas ungeschultes Gehör die einzelnen Stimmen nicht auseinanderhalten konnte. Sie zuckte zusammen. Ein stetes Hämmern hallte über das Feld. »Trrrrrrrr … Trrrrrr … Trrrrrrr.« Das war ein Specht, der an die Rinde eines Baumes klopfte. Als dieser Ton das erste Mal durch Pangrati schallte, hatte sie das in schnellen Intervallen wiederkehrende Geräusch für die Laute eines Kuckucks gehalten. Plötzliche Röte stieg ihr ins Gesicht, als sie bemerkte, mit welcher Freude sie an die unkomplizierte Vertrautheit dachte, die zwischen Andreas und ihr vor seinem Antrag geherrscht hatte. Sie schloss die Augen. Hatte sie etwas für Andreas empfunden oder waren sie Freunde, vereint in der Tätigkeit? Sie war unsicher, doch sie wusste, dass sie manche Dinge bitterlich vermisste, seit Manolis zurückgekehrt war. Freiheit, Selbständigkeit und Erfolg. Sie hatte ihr Leben nach ihren Vorstellungen führen können soweit es mit den herrschenden Konventionen zu vereinbaren war.

Nachdem Manolis sich einen Überblick verschafft hatte, stellte er weitere Arbeitskräfte ein. Seine Kinder sollten nicht mehr auf den Feldern arbeiten. Er hatte es begrüßt, dass Anna sie damals direkt nach ihrer Ankunft in Pangrati in der staatlichen Schule angemeldet hatte. Nach anfänglichem Maulen seitens der Kinder, sie sahen die ungewohnte theoretische Ansammlung von Wissen als unnötig an, hatten sie Spaß am Lernen entwickelt. Vor allem Sophia, deren Gedanken so wendig waren wie ihr Körper, glänzte mit hervorragenden Leistungen. Sie hatte es geschafft, das Interesse ihrer Schwester am Lernen zu wecken. Kalliopi war weder süß noch hübsch. Sie war schlau. Es gab jetzt kein Thema mehr, das sie nicht interessierte, allem wollte sie mit ihren hartnäckigen Fragen auf den Grund gehen. Ioannis und Takis sahen die Schule als lästige Pflicht an, etwas, das schnell hinter sich gebracht werden musste. Odysseus wiederum blühte wie seine Schwestern in der Schule auf. Er war schlau wie Kalliopi und sein Geist ebenso beweglich wie Sophias.

»Er wird einmal ein zweiter Sokrates«, pflegte Herr Oikonomou, sein Lehrer zu sagen, »ein Philosoph und großer Staatsmann.«

Stolz hörte Manolis diese Prognosen. Er hoffte, dass alle drei Söhne die Kapodistrias-Universität von Athen besuchen würden, die älteste Hochschule der neuzeitlichen Welt und größte im östlichen Mittelmeerraum und des Balkans.

Tag um Tag verging, Woche um Woche. Anfangs sah es aus, als würde die neue Tätigkeit dem schnell gealterten und kraftlos wirkenden Körper von Manolis neuen Elan einflößen, dann aber wurde deutlich, dass das nur ein müdes Aufflackern gewesen war. Der alte Glanz und das Feuer in seinen Augen waren erloschen. Er ging gebückt wie Atlas mit der Weltkugel auf dem Rücken durch sein Leben, unmöglich seine Lasten irgendwo abzulegen. Oft sprach er zu Hause tagelang kaum ein Wort.

Schwermütig schaute er an den Abenden stundenlang zum Fenster hinaus. Nur Odysseus hatte die Gabe, den Vater aus dieser Freudlosigkeit zu reißen. Manolis gewöhnte sich an, jeden Abend mit dem Jungen einen Spaziergang durch die Nachbarschaft zu machen. Anfangs redeten sie wenig, dann schaffte es Odysseus, der für sein Alter über erstaunlich viel Einfühlungsvermögen verfügte, den Redefluss des Vaters in Gang zu bringen. Erst erzählte Manolis Geschichten aus der sagenhaften Götterwelt, dann von den Helden, die ihr Land hervorgebracht hatte. Zeus war darunter, der Göttervater, der von einer Nymphe in eine Ziege verwandelt, aufgezogen worden war, und die ihn nicht nur mit ihrer weißen Milch, sondern auch mit Nektar und Ambrosia fütterte, das aus ihren Hörnern floss. Dann berichtete er von Poseidon, dem Gott des Meeres, der in einem wunderschönen Triumphwagen durch die Welt reiste, und der durch sein bloßes Auftauchen Stürme zum Abflauen bringen konnte. Odysseus konnte nicht genug von diesen Geschichten bekommen, und der Eifer, mit dem er Fragen stellte, ermunterte Manolis, weiter zu erzählen. Vor allem Odysseus, sein Namensgeber, hatte es dem Jungen angetan. Ein ums andere Mal wollte er von dessen Irrfahrten hören und auch von der Eroberung Trojas.

»Wenn du gut genug lesen kannst, dann schenke ich dir die ›Ilias‹ und die ›Odyssee‹. Dann kannst du die Verse eines Tages selbst lesen«, versprach ihm der Vater.

Je mehr Zeit ins Land ging, desto mehr öffnete sich Manolis seinem Sohn. Auf die Sagen folgten Geschichten über seine Kindheit auf dem Lande. Manolis erzählte, wie sein Vater von der durch blutige Fehden geschrumpften Dorfgemeinschaft mit einem klugen Schachzug Felder gepachtet hatte. Manolis und seine drei Brüder hatten unzählige Steine auf den Feldern gelesen und damit Mauern rund um das Land aufgeschichtet. Stark waren die Jungen geworden, muskulös durch diese Sisyphusarbeit. Die Steine schienen über Monate hinweg kaum weniger zu werden. Es hatte heitere Momente gegeben, leicht und unbeschwert. Sie hatten wilde Hasen gefangen und gezähmt, und sie an Ostern, als sie ein Lamm grillten, allen Gästen vorgeführt. Manolis vertraute dem Jungen seine Ideale und Ziele an. Davon, dass er schon als junger Mann für eine freie Gesellschaft hatte kämpfen wollen, in der sich jeder nach seinen Neigungen und Fähigkeiten entfalten konnte. Er wollte Wohlstand für alle und insbesondere die Seinen erreichen, damit nie wieder ein Mitglied seiner Familie hungern musste.

»Während meiner Zeit auf der Universität habe ich mir viele Gedanken über unsere Gesellschaft gemacht«, sagte er. Sein jüngster Sohn drückte die Hand des Vaters und signalisierte ihm damit, dass er eines Tages denselben Weg gehen wollte. Auch er würde versuchen, diese Welt ein klein wenig besser zu machen.

Anna bemerkte, dass Manolis, obwohl er während der körperlichen Arbeit zu funktionieren schien, nicht richtig bei der Sache war. Oft kam er früh nach Hause, legte sich aufs Bett, zog nicht einmal Hose und Schuhe aus, und starrte regungslos zur Decke. Nach einer Weile setzte er sich auf den Stuhl in der Küche. Er machte den Eindruck, als ob ihn schwere Gedanken peinigten. Anna versuchte ihn abzulenken, stellte einen Kaffee auf den Beistelltisch, Baklavas, Kataifi, feines Honiggebäck oder Kuchen daneben. All die Süßigkeiten, die er vor seiner Zeit bei der ELAS geliebt hatte. Dankend nickte Manolis, tätschelte ihre Hand, und murmelte, wie froh er war, wieder bei seiner Familie zu sein. In seinen trüben Augen las Anna, dass er nicht die Wahrheit sprach. Aber je mehr sie fragte, desto weiter zog er sich in sein Schneckenhaus zurück. Manchmal war sie kurz vor dem Verzweifeln.

Dicke Regenwolken hingen seit mehr als einer Woche über der ein paar Kilometer entfernt liegenden Stadt. Auch in Pangrati goss es in langen Intervallen. Die Straßen waren zu Bächen geworden, und in den Vorgärten stand das Wasser. Die Felder verwandelten sich mehr und mehr zu Schlammwüsten. Diese trübe Atmosphäre, nicht nur in Annas Alltag, sondern jetzt auch vor ihren Augen, legte sich ihr aufs Gemüt. Sie hielt es nicht mehr aus. Pangrati, den Ort, den sie von Anfang an geliebt hatte, der in schweren Zeiten Heiterkeit und Unbeschwertheit ausstrahlte, fing an sie zu erdrücken.

Anna war seit Tagen nicht mehr aus dem Haus gegangen. Sie fühlte sich eingeschlossen in den eigenen vier Wänden, die sie mit unzähligen Krakenarmen umfangen hielten. Sie musste aus diesem Gefängnis ausbrechen, wenn sie sich selbst retten wollte.

Seit Stunden saß Manolis am Fenster und schaute auf den dichten Regenvorhang. Anna hatte längst aufgehört seinen Blick davon abzulenken. Sie griff nach dem Mantel, nahm einen alten Schirm und rief ihm zu: »Ich gehe die Felder kontrollieren. Der andauernde Regen wird wohl Schäden angerichtet haben.«

Als sie nach einer Stunde zurückkam, aufgeweicht und zerzaust, die Schuhe mit Matsch verschmiert, und den Mantel voll unzähliger Dreckspritzer, setzte sie sich mit geröteten Wangen neben ihren Mann. Sie hatte nachgedacht und dabei die Natur und den Kreislauf des Lebens gespürt, intensiv, und zum ersten Mal seit Wochen empfunden, dass sie Teil dieser Natur, Teil des Lebens war. Sie war nicht gemacht für ein Ausharren im Haus, sie wollte schaffen und am Ertrag teilhaben. Der Moment war gekommen, indem sie mit Manolis darüber sprechen musste. Anna wollte sich wieder um das Geschäft kümmern. Sie drehte sich zu Manolis und schaute ihm furchtlos in die Augen. Mit vorsichtigen Worten erklärte sie, wie es um sie stand, wie unglücklich sie war. Glücklich auf der einen Seite, weil er zurückgekommen war, und unglücklich auf der anderen, weil sie sich auf einmal nutzlos fühlte. Ob er das verstehen könnte?

Lange schwieg er. Dann nahm er Annas Hand.

»Du kannst das Geschäft führen, wenn du das möchtest.«

Sie fiel ihm um den Hals. Er drückte sie kurz an sich, dann schob er sie auf Armeslänge von sich.

»Ich habe lange nachgedacht. Ich bin auch nicht glücklich mit der Situation. Der Gemüseanbau und der Handel sind nichts für mich. Ich kann das nicht ewig machen. Ich bin kein Kapitalist …« Er sah Annas erstaunten Blick.

»Ich bin froh, dass wir ein gutes Auskommen haben«, fuhr er leise fort. »Aber ich werde mich anderen Dingen widmen. Wichtigen Dingen, dazu gehört die Politik. Die Zustände in unserem Land sind katastrophal. Auch nach der Besatzung der Deutschen und dem entsetzlichen Bürgerkrieg.« Er sprach über den Wechsel der Parteien, der Korruption, der Ämterpatronage, und dann über seine Pläne, seine Ziele, was er alles anstreben wollte, damit dieses Land gesunden konnte. So viel hatte er seit seiner Rückkehr nicht mehr mit Anna gesprochen. Wie aus weiter Ferne drangen seine Worte an ihr Ohr. Politik, das war immer seine Bestimmung gewesen, ging ihr durch den Kopf. Für Anna zählte nur eines: Sie durfte wieder die Geschäfte führen. Er hatte verstanden, dass die Arbeit ein wichtiger Teil ihres Lebens war. Sie strahlte. Dieser Entschluss machte sie zum glücklichsten Menschen auf der Welt. Manolis war zurück, den Kindern ging es gut, sie konnte wieder atmen und brauchte sich nicht mehr nutzlos zu fühlen. Manolis schaute sie an und sagte mit klarer Stimme: »Ich habe Vorsorge getroffen und Teile des Geschäfts an Andreas verkauft. Du wirst das Unternehmen mit ihm zusammenführen müssen.«

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Das Räuspern der Nachschwester Elpida ließ Oddy verstummen.

»Ist es schon so spät? Ich habe die Zeit vergessen«, sagte der Onkel und rieb sich die Augen.

Ein leises Lachen der Krankenschwester war der Auftakt zu einer Salve von Sätzen. Stella machte sich aus den ihr bekannten Worten den Reim daraus, dass Elpida schon eine Weile im Zimmer gestanden und sie beobachtet hatte, wie sie in die Geschichte vertieft waren. Die Schwester habe sie nicht stören wollen, da die Mutter friedlich auf dem Kissen lag, als ob sie ebenfalls lauschen würde. Gerne hätte Stella ihrem Onkel länger zugehört, als Gast in einer Welt, in der alles anders war. In der die Mutter als Mädchen gemeinsam mit den Geschwistern Kinderarbeit auf dem Feld geleistet hatte. Die Kinder waren Teil der Leistungsträger der Großfamilie und obendrein stolz auf die Verantwortung, die sie übernommen hatte. Niemand kam damals auf die Idee, in Frage zu stellen, ob Kinder mithelfen, oder ob sie, während die Eltern um das wirtschaftliche Überleben kämpften, lieber zu Hause bleiben und im Hof mit den Murmeln spielen sollten. So fremd dieser Gedanke Stellas Mutter war, nur zur Schule zu gehen, so gegensätzlich war ihre Einstellung den eigenen Kindern gegenüber gewesen. Nur selten hatte Stella ihr bei Aufträgen zur Hand gehen dürfen. Die Stoffe, aus denen sie Kleider für die meist wohlhabenden Kundinnen schneiderte, hatten besonderen Reiz auf Stella ausgeübt.

»Mach lieber deine Hausaufgaben«, hatte die Mutter dann in einem Ton gesagt, der keinen Widerspruch duldete. Damals hatte Stella die Vernarbungen an den Händen bemerkt. Auf Stellas wiederkehrenden Fragen nach der Vergangenheit hatte die Mutter sie vertröstet, dass sie ihr eines Tages die Geschichte der Familie offenbaren würde. Dieser Tag war nie gekommen.

Oddy machte keinerlei Anstalten, weiterzuerzählen. Er hatte sich der Schwester zugewandt, unterzeichnete eine Quittung für Elpidas Steuerunterlagen, und steckte ihr fünfundsiebzig Euro zu. Das war der Tarif, den sie als examinierte Krankenschwester für die Nachtschicht verlangen konnte. Es gab unter den Schwestern und Pflegern eine Art Rangliste. An oberster Stelle standen die Griechen mit den offiziellen Abschlusspapieren, dann kamen die ohne, und erst dann die anderen Nationalitäten. Unter ihnen Afghanen, Äthiopier, Syrer, männlich wie weiblich, erst die mit, dann die ohne Zulassungspapiere. Die meisten Helfer konnten sogar leidlich griechisch. Sie verlangten deutlich weniger, oft waren es zwanzig oder dreißig Euro pro Nacht. Sie waren auf das Geld angewiesen, um sich das Überleben fernab der Heimat in einem Land ohne gut ausgebildetem Sozialsystem zu sichern. Nachdem die Abrechnung beendet war, vergingen nur wenige Minuten, bis der Mann vom Sicherheitsdienst in der Tür stand, die Hand am Gürtel. Mit undurchdringlichem Gesichtsausdruck forderte er die Anwesenden zum Gehen auf. Stella strich über die Wange der Mutter und wünschte ihr eine gute Nacht. Oddy tat es ihr gleich.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783930931088
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
Peloponnes Griechenland Bürgerkrieg Athen Reiseliteratur Tradition Flucht Urlaub Emanzipation Liebesroman Liebe Roman Abenteuer

Autor

  • Hanna von Feilitzsch (Autor:in)

Hanna von Feilitzsch pendelt zwischen Oberfranken und dem Tegernsee. Sie hat bisher zahlreiche Drehbücher für das Fernsehen geschrieben und einige Bücher veröffentlicht. Hanna von Feilitzsch ist Halbgriechin. "Bittersüße Mandeln" ist ihr erster Roman, der sich mit Griechenland und seiner neueren Geschichte auseinandersetzt.
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Titel: Bittersüße Mandeln