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Auf den Schwingen des Blutes

von Dania Dicken (Autor:in)
280 Seiten
Reihe: Libby Whitman, Band 9

Zusammenfassung

Für FBI-Profilerin Libby Whitman geht ein langgehegter Traum in Erfüllung, als aus ihrer Freundin Julie Thornton eine Kollegin wird. Gleich ihr erster gemeinsamer Fall schockiert selbst die erfahreneren Teamkollegen: In Seattle wird die Leiche einer Frau gefunden – teilweise gehäutet und zu Tode gefoltert. Schnell befürchten die Profiler, dass der Täter erst am Anfang einer Mordserie steht. Doch nicht nur die Ermittlungen verlangen Libby einiges ab, sie kämpft auch privat immer noch darum, wieder eine normale Beziehung mit ihrem Mann Owen zu führen. Als sie unverhofft eine Nachricht von ihrem Ex-Freund Kieran erhält, der seit ihrer Trennung in Seattle lebt, stellt ihr Wunsch nach einem Wiedersehen ihre Ehe vor eine Belastungsprobe – und reißt bei Libby alte Wunden auf ...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dania Dicken

 

Auf den Schwingen des Blutes

 

Libby Whitman 9

 

 

Thriller

 

Prolog

 

Die Sterne standen günstig. Das sah er, als er nach oben gen Himmel blickte. Es war eine sternenklare Nacht – eine Nacht, in der er mit göttlichem Beistand rechnen konnte. Den brauchte er für sein Vorhaben.

Auch wenn sie weit genug draußen waren, um zu dieser späten Stunde unbemerkt zu bleiben, wollte er kein Risiko eingehen und hockte sich vor sie, um sie zu knebeln. Sie würde schreien – heftig schreien. Das wusste er und es war zu riskant. Er würde ihr den Knebel wieder abnehmen, wenn sie nicht mehr die Kraft hatte, um wirklich laut zu sein. Diese Erfahrung hatte er ja inzwischen gesammelt und wusste, dass es so kommen würde.

Sie wehrte sich und zappelte, bevor sie ihn unter Tränen ansah. Das konnte er im dämmrigen Licht der Fackeln immer noch erkennen.

„Nicht doch“, sagte er. Sie zitterte, aber er wusste nicht, ob das aufgrund von Kälte oder Angst war. Möglich war beides.

Schließlich erhob er sich wieder und versuchte, ihr leises Wimmern zu ignorieren. Es tat ihm leid, aber es gab keine andere Möglichkeit. Er hatte schon so viel versucht.

Er hatte alles bereitgelegt, was er brauchte. Für einen Moment schloss er die Augen, bevor er zu seinem Jagdmesser griff. Es hatte sich für diesen Zweck bereits bewährt.

Die Frau schluchzte erstickt, als er hinter sie trat. Sie kniete am Boden, die ausgestreckten Arme links und rechts an einen der Pfähle gefesselt. So war es gut. Das war richtig. Es würde klappen.

Sie sah es nicht kommen, als er das Messer auf Höhe ihres Nackens ansetzte und fest zustach. Der folgende Schmerzensschrei fuhr ihm durch Mark und Bein, aber er musste weitermachen. Es ging nicht anders. Er schloss kurz die Augen und verließ sich ganz auf sein Gefühl, als er den tiefen Schnitt bis unterhalb der Rippen führte. Im fahlen Schein der Fackeln fing er das Blut mit einer Schale auf. Sie wollte noch immer schreien und zappelte heftig, konnte sich aber nicht wehren.

Die Götter waren ihm gewogen, das spürte er. Diesmal würde er nicht scheitern.

Er fing das Blut auf, bis er der Ansicht war, eine ausreichende Menge gesammelt zu haben. Anschließend setzte er die Schale an die Lippen, um davon zu kosten.

Er hätte gar nicht beschreiben können, wie es sich anfühlte, ihre Energie in sich aufzunehmen. Eine immense Wärme breitete sich von seiner Körpermitte ausgehend bis in seine Fingerspitzen aus. Jetzt fühlte er sich nicht mehr unvollständig, sondern makellos – und er war dankbar.

Aber er war noch nicht fertig. Auf das gepeinigte Schluchzen achtete er nicht, während er Schale und Messer weglegte und stattdessen zur Axt griff.

 

 

Samstag, 12. November

 

„Endlich nimmt das alles Gestalt an.“ Nachdem er sich aufs Sofa gesetzt hatte, ließ Owen seine Blicke durchs Wohnzimmer schweifen. Mit einem Glas Wasser in der Hand gesellte Libby sich zu ihm und nickte zustimmend.

„Wir haben uns ja auch ordentlich rangehalten. Fehlt bloß noch der Hobbyraum“, sagte sie.

„Ach, der …“ Grinsend machte Owen eine wegwerfende Handbewegung, womit er Libby zum Lachen brachte.

„Nicht so wichtig, oder?“, murmelte sie.

„Nicht wirklich. Für heute habe ich jedenfalls genug.“

„Ich auch. Ich glaube, ich gehe gleich duschen, bevor wir zu Julie und Kyle fahren.“

„Gute Idee“, fand Owen. „Ich freue mich schon auf den Abend.“

„Und ich mich erst.“

An Owen gelehnt, saß Libby auf dem Sofa und genoss den wohnlichen Zustand, in den sie ihr Haus endlich versetzt hatten. Seit ihrem Umzug vor zwei Wochen hatten sie jede freie Minute darauf verwendet, Möbel aufzubauen, Kartons auszupacken und sich einzurichten. Im Erdgeschoss hatten sie nun eine fertige Küche, ein gemütliches Wohnzimmer und auch das Arbeitszimmer befand sich bereits in einem nutzbaren Zustand. Es war nur ein kleiner Raum, aber bis jetzt kam es auch nicht oft vor, dass Libby oder Owen zu Hause arbeiteten. Das änderte sich jedoch möglicherweise bald.

Nachdem Libby ihr Glas geleert hatte, ging sie nach oben. Dort waren Bad und Schlafzimmer fertig, auch das Gästezimmer war bereits nutzbar. Einzig dem Hobbyraum hatten sie noch keinerlei Beachtung geschenkt, darin stand neben einigen Kartons bloß ein Heimtrainer. Um sich davon nicht frustrieren zu lassen, hatte Libby in weiser Voraussicht die Tür geschlossen und ignorierte den Raum, während sie ins Schlafzimmer ging und sich aus dem Kleiderschrank etwas zum Anziehen für den Abend heraussuchte, das sie auf dem Bett ausbreitete. Anschließend warf sie einen Blick in den Garten, der in einem tristen novemberlichen Grau dalag. Darum würden sie sich im Frühjahr kümmern, Owen hatte bislang ein einziges Mal den Rasen gemäht und die Hecke geschnitten, mehr war draußen noch nicht passiert.

Während Libby sich unter die Dusche stellte, dachte sie wieder daran, wie froh sie jetzt war, endlich ein richtiges, neues Zuhause gefunden zu haben. Sie mochte das Haus und konnte sich vorstellen, dort viele Jahre zu verbringen.

Schließlich stieg sie wieder aus der Dusche, ein Handtuch um den Kopf geschlungen und eins um den Körper. Als sie vor dem Spiegel stand, versuchte sie zwar, gedanklich den Anblick vorwegzunehmen, der sich ihr bieten würde, aber als ihr Blick ihre Narben streifte, hielt sie trotzdem inne und konnte den Blick nicht davon abwenden.

Die vielen kleinen Schnittwunden an ihren Armen waren in den drei Monaten, seit Vincent sie ihr beigebracht hatte, gut verheilt und fielen kaum noch auf. Für das Brandzeichen galt zu ihrer Erleichterung Ähnliches – sie hatte sich bei ihrem Arzt danach erkundigt, ob es möglich war, die Narbe entfernen zu lassen, doch davon hatte er ihr vorerst abgeraten und empfohlen, einfach abzuwarten. Er war der Meinung, dass sie mit der Zeit so weit verblassen würde, dass sie kaum noch auffiel, und bislang schien er Recht zu behalten. Brandings zu entfernen war teurer und komplizierter als bei Tätowierungen, die Erfolgsaussichten nicht allzu groß. Nachdem sich das für Libby zuerst niederschmetternd angehört hatte, arbeitete Michael in seinen regelmäßigen Sitzungen mit ihr daran, einfach anzunehmen, dass sie diese Narbe wohl behalten würde – ähnlich wie alle anderen, die Vincent verursacht hatte. Damit musste sie jetzt leben.

Inzwischen war sie längst zu dem Schluss gekommen, dass sie andere Narben hatte, die noch deutlich auffälliger waren als die liegende Acht, die sie an der Schulter trug – die Operationsnarbe am Hals etwa, aber die machte ihr nicht so viel aus. Die großen Narben auf ihrem Rücken jedoch, die von den Peitschenhieben stammten, reichten fast bis in ihren Nacken und Libby hatte sich geschworen, fortan keine ärmellosen Oberteile mehr anzuziehen oder welche mit tiefem Rückenausschnitt. Ihr schlichtes schwarzes Abendkleid hing nun im Schrank und sie konnte sich nicht vorstellen, es je wieder zu tragen. Das traf sie inzwischen weitaus härter.

Sie drehte sich vor dem Spiegel um und betrachtete die schwieligen Narben. Zwar hatte man ihr damals im Krankenhaus Mut gemacht, dass die Wunden trotz der mangelnden vorangegangenen Versorgung gut abheilen würden und das war auch passiert – aber dass sie niemand rechtzeitig versorgt hatte, bedeutete nun, dass die Narben für immer sichtbar bleiben würden.

Libby versuchte, sich zu sagen, dass Vincent es nicht besser getroffen hatte, denn er war jetzt tot. Dennoch versetzte es ihr einen heftigen Stich ins Herz, weil sie trotz allem immer ein gutes Verhältnis zu ihrem Körper gehabt hatte und es ihr gerade schwerfiel, ihn so anzunehmen, wie er jetzt war. Es war schwierig für sie, ihren Frieden mit allem zu schließen – aber es war erst drei Monate her und die Alpträume waren auch noch da, zumal sie einen großen Bogen um alle Beruhigungsmittel machte, die vielleicht dagegen geholfen hätten.

Nachdem sie ihre Haare geföhnt hatte, ging sie ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen. Sie hatte Jeans und einen schlichten Pullover herausgelegt – und hübsche Unterwäsche. Auch dazu hatte Michael ihr geraten, denn er war überzeugt davon, dass sie nur dann ein positives Körpergefühl zurückgewann, wenn sie aktiv etwas dafür tat – und ihrer Beziehung zu Owen tat es auch gut, wenn sie sich jetzt nicht versteckte.

Sie hatte gerade erst die Unterwäsche angezogen, als sie Schritte auf der Treppe hörte und Owen im Schlafzimmer erschien. Mit einem Lächeln ging er zu ihr und umarmte sie.

„Hey, schöne Frau.“ Er schloss die Augen und küsste sie liebevoll. „Du siehst toll aus.“

„Danke“, erwiderte Libby.

„Hab gehört, dass du fertig bist. Dann gehe ich auch mal duschen.“

„Nur zu.“ Sie lächelte und gab ihm einen Kuss, bevor er sich auszog. Während sie selbst sich anzog, beobachtete sie ihn verstohlen.

Als Owen schließlich in der Dusche war und Libby fertig vor dem Spiegel stand, atmete sie tief durch. Sie war froh, dass es zwischen ihr und Owen wieder besser lief – in mancherlei Hinsicht sogar besser als je zuvor, denn sie wusste jetzt, dass er immer für sie da war und sie ihm vorbehaltlos vertrauen konnte. Das erleichterte es ihr, wieder Intimität zuzulassen und ein bisschen damit zu experimentieren, was möglich war und was nicht.

Es würde schon wieder gut werden, da war sie inzwischen recht zuversichtlich. Gemeinsam würden sie das schaffen.

Nachdem Owen fertig war, brachen sie bald in Richtung Annandale auf. Libby freute sich immer noch wie verrückt darüber, dass ihre beste Freundin endlich ganz in der Nähe wohnte.

Nach etwa einer Viertelstunde waren sie am Ziel und parkten vor der Einfahrt des Hauses. Auch dort hingen noch keine Gardinen an den Fenstern und die Wände waren kahl, das konnte Libby sehen, als sie beim Näherkommen ins erleuchtete Wohnzimmer schaute. Owen klopfte an die Tür und es dauerte nur einen kurzen Augenblick, bis Kyle ihnen öffnete.

„Hey, ihr beiden. Kommt rein.“ Nacheinander begrüßte er sie mit einer Umarmung, ehe Julie hinter ihm erschien, um Libby und Owen ebenfalls willkommen zu heißen.

„Schön, dass ihr da seid. Bitte seht großzügig über das Chaos hinweg und macht es euch gemütlich“, sagte sie.

„Chaos? Welches Chaos?“, erwiderte Owen grinsend. Libby grinste ebenfalls und folgte ihm ins Haus.

Julie und Kyle hatten ihren anfänglichen Rückstand in Sachen Umzug inzwischen gut aufgeholt. Zwar fehlten im Wohnzimmer richtige Lampen, Wandbilder und die Gardinen, aber alles andere war fertig. Inzwischen hatten sie auch eine Küche, die sie feierlich einweihen wollten. Sie hatten beschlossen, Pizza selbst zu machen und weil Kyle kundtat, hungrig zu sein, fingen sie auch gleich damit an.

„Ihr seid hier aber gut vorangekommen“, eröffnete Owen das Gespräch, während Kyle begann, den Pizzateig auszurollen.

„Wir machen auch kaum etwas anderes im Moment. Vor ein paar Tagen kam endlich die Küche, wir müssen jetzt also nicht mehr verhungern. Deshalb hatte ich auch die Idee, sie gleich mit euch einzuweihen“, sagte Julie.

„Und wie gefällt es euch hier überhaupt?“, fragte Owen.

„Überraschend gut. Ich konnte mir ja zum Glück immer vorstellen, in Washington zu arbeiten, und ich hatte es gut – Nick Dormer hat ja dafür gesorgt, dass man mir hier einen roten Teppich ausrollt und ich bloß noch anfangen muss. Er wollte dich wirklich dringend in seinem Team haben, Süße.“ Grinsend schenkte Kyle seiner Frau einen Kuss, woraufhin Julie lächelte und sagte: „Ich würde ihm jetzt bloß gerne noch beweisen, dass ich auch wirklich das kann, was er mir zutraut.“

„Keine Angst, wir haben bestimmt bald wieder einen großen Fall“, sagte Libby. „Wenn ich mal überlege, dass ich erst seit anderthalb Jahren im Team bin und in dieser Zeit mehr spektakuläre Fälle bearbeitet habe als so manch anderer Ermittler in seiner ganzen Laufbahn …“

„Jetzt hör dir unsere Frauen an – die Welt ist nicht genug“, spottete Kyle.

„Das stimmt aber. Libbys Sensationsquote im Job ist deutlich höher als meine“, sagte Owen.

„Mir schwant Böses“, feixte Kyle.

„Mit Recht“, sagte Julie. „Trotzdem bin ich froh, jetzt endlich in der BAU zu sein. Es ist einfach toll.“

„Dann hat es sich ja gelohnt.“ Als Kyle sie liebevoll umarmte, stahl sich ein Lächeln auf Libbys Gesicht. Die beiden wirkten immer noch verliebt wie am ersten Tag.

„Wir können übrigens nächste Woche gern mal zusammen Mittagessen gehen“, richtete Kyle sich an Owen. „Ich habe mich am Anfang nicht so recht getraut, ich wollte erst mal die Kollegen besser kennenlernen – aber vielleicht könntest du auch mal dazustoßen und wir vertiefen die behördenübergreifende Zusammenarbeit.“

„Klingt großartig“, fand Owen.

Während sie die Pizza belegten, berichteten Julie und Kyle davon, wie es ihnen in den ersten beiden Wochen in ihren neuen Jobs ergangen war. Für Libby war zumindest Julies Schilderung nichts Neues, aber sie hörte trotzdem gern zu.

„Kommst du denn jetzt überhaupt mit deiner Doktorarbeit voran?“, richtete Owen sich schließlich an Julie, woraufhin sie genervt die Augen verdrehte.

„Hör bloß auf. Ich habe seit vier Wochen nicht eine Zeile geschrieben. Wenn das so weitergeht, habe ich bald alles vergessen!“ Sie lachte belustigt, doch Libby schüttelte den Kopf.

„Du vergisst gar nichts. Das kann ich mir nicht vorstellen.“

„Nein, schon klar, aber ich würde wirklich gern mal daran weiterarbeiten“, sagte Julie, während Kyle die Pizzableche in den Ofen schob. Mit Getränken gingen sie ins Wohnzimmer und setzten sich aufs Sofa.

„Dann habe ich eine superschlaue Frau. Das ist schon sehr sexy – Dr. Julie Thornton“, verkündete Kyle stolz.

„Ich bin Special Agent Julie Thornton“, erwiderte sie kopfschüttelnd.

„Bald bist du beides.“

„Das FBI ist doch sicher an der Arbeit interessiert, oder?“, fragte Owen.

Julie nickte. „Sie sind vor allem an den Transkripten meiner Täterinterviews interessiert – und an meiner Analyse. Ich habe den Fokus ja zwischenzeitlich etwas verschoben, denn meine Ausgangsthese war ja, dass es möglich sein müsste, Sadisten vom Morden abzuhalten. Davon bin ich ja ziemlich bald abgekommen, ich setze jetzt früher an – ich arbeite nun in meiner Thesis an der Frage, wie man bei Vergewaltigern sexualsadistische Vorlieben erkennen und verhindern kann, dass sie eskalieren und zum Mörder werden.“

Libby war überrascht, wie interessiert Owen mit einem Mal wirkte. „Aber Vergewaltiger werden doch jetzt schon im Gefängnis mit Aversionstherapie behandelt.“

„Sicher, aber die bisherigen Angebote konzentrieren sich nicht auf Täter mit sadistischen Vorlieben. Aversionstherapie und kognitive Umstrukturierung haben es bei Sadisten ja verdammt schwer.“

„Und wie willst du bei solchen Typen etwas erreichen?“, fragte Owen.

„Ich will mich einfach nicht damit abfinden, dass man manche Täter nicht erreichen kann. Ich weiß ja schon, dass Sadisten keine Gefühle zulassen. Ich hoffe immer darauf, dass ich bei ihnen den wunden Punkt finden kann, der es mir möglich macht, sie anzusprechen und empfänglich zu machen für das Leid ihrer Opfer. Dabei wäre es natürlich hilfreich, wenn ich die Opfer auch in diese Arbeit einbeziehen könnte. Das wird ja in manchen Programmen schon gemacht, da sollen die Täter sich hinterher in einem Brief oder einem persönlichen Gespräch bei ihren Opfern entschuldigen.“

Libby zog die Schultern hoch und wollte schon etwas sagen, aber dann entschied sie sich doch dagegen und tat so, als sei nichts gewesen.

„Was ist los?“, fragte Julie, die diese Reaktion bemerkt hatte.

„Ich glaube, dass es Täter gibt, die man nicht erreichen kann. Die hören nicht auf.“

„Das kann ich einfach nicht akzeptieren!“, regte Julie sich auf.

„Bei Brian Leigh hättest du Glück gehabt, als er damals gerade erst festgenommen war und ins Gefängnis kam. Er war noch jung, er stand ganz am Anfang. Ich erinnere mich an den Unterschied zwischen meinen beiden Konfrontationen mit ihm. Anfangs war er unsicher und hat gezögert – aber die Zeit im Gefängnis und die Konfrontation mit Gleichgesinnten hat ihn versaut. Das war im Übrigen auch bei Vincent Bailey der Fall. Der hätte einfach nicht nach seiner ersten Vergewaltigung ungeschoren davonkommen dürfen. Die Zusammenarbeit mit seinem Cousin Randall hat dann aber alle Dämme brechen lassen.“

Libby war irritiert, als die Blicke der anderen auf ihr ruhten und für einen Moment keiner etwas sagte. Ausgerechnet Owen fand als Erster seine Sprache wieder.

„Glaubst du wirklich, man hätte ihn stoppen können?“

Libby nickte. „Ich habe ihn kennengelernt, als schon alles zu spät war – aber gelernt hat er von Randall. Dass er auch anders konnte, weiß ich von Mary Jane. Er hatte ja auch Zeit, vorher ganz allein mit vier Entführungsopfern zu üben und seine sadistischen Vorlieben voll auszukosten. Dabei hat er, wie die meisten Sadisten, fremde Opfer genommen, so dass es ihm leichter fiel, sie zu foltern. Als er dann bei uns in Arlington aufgetaucht ist …“ Sie holte tief Luft und zog die Schultern hoch. „Da war es ihm dann egal, dass er längst eine persönliche Beziehung zu mir aufgebaut hatte. Ich hatte einen Namen und ein Gesicht für ihn, aber ich hatte immer den Eindruck, das hat ihm noch zusätzlich Spaß bereitet. Dass er verdammt genau wusste, was er tut, hat er mich spüren lassen. Und da war er auch nicht mehr zu bremsen.“

Erneut schwiegen die anderen kurz, bis Julie sagte: „Dass du da tatsächlich differenzieren kannst.“

„Ja, ich weiß genug über ihn, um sagen zu können, dass er vermutlich nicht immer so war. Aber irgendwann war einfach alles zu spät. Zu dem Zeitpunkt, als er mich in seiner Gewalt hatte, war er nicht mehr therapierbar.“

Für einen kurzen Moment sah Julie Libby einfach nur an, bevor sie aufstand und Libby impulsiv umarmte.

„Ich möchte es mir nicht vorstellen … kann ich gar nicht. Aber noch viel verrückter ist, dass du das so sagen kannst. Jetzt schon.“

„Der Therapie mit Michael sei Dank. Auf die Art bespreche ich das mit ihm auch. Ich überlege schon, dir davon zu erzählen, weil ich weiß, dass dich das voranbringen würde. Ich überlege ja sogar, selbst über ihn zu schreiben.“

Während Julie sich setzte, bedachte Kyle sie mit einem ungläubigen Blick. „Du willst was?“

„Noch nicht sofort, so weit bin ich noch nicht. Aber ich glaube, niemand kennt diesen Fall so gut und so genau wie ich. Nicht in seiner Gesamtheit. Ich war fünf Tage lang bei ihm und wir haben uns ja unterhalten – teilweise auf Augenhöhe. Er wollte von mir wissen, wo der Unterschied zwischen einem Psychopathen und einem Sadisten liegt, das weiß ich noch. Es wäre Verrat an meinem Berufsstand, für mich zu behalten, was ich da erlebt habe.“

„Schaffst du das denn? Ich meine …“ Kyle wusste gar nicht, was er sagen sollte.

„Das frage ich mich auch die ganze Zeit“, gab Owen zu. „Sie hat mir vor ein paar Tagen gesagt, dass sie darüber nachdenkt und im Arbeitszimmer stapelt sich schon neue Fachliteratur zum Thema.“

„Ich überlege aber, das Paper mit dir zusammen zu erarbeiten“, sagte Libby in Julies Richtung. „Wenn du Zeit hast, natürlich. Wenn deine Thesis fertig ist oder so. Ich weiß ja nicht, wie lang du noch brauchst.“

„Ja, das weiß der Himmel. Aber … ernsthaft, du hast ja gar nichts gesagt! Warum nicht?“, fragte Julie irritiert.

„Ich wusste noch nicht, wie. Ich hatte Angst vor meiner eigenen Courage. Vorhin im Bad habe ich mich noch im Spiegel angesehen und hätte heulen mögen – aber ich kann es nicht ändern und das, was ich weiß, ist für unsere Disziplin ein Geschenk. Das spielt in einer Liga mit dem, was meine Mum über ihren Vater zu sagen hatte. Ich bin zwar keine Wissenschaftlerin, deshalb könnte ich deine Hilfe gut brauchen, aber ich glaube, ich will das machen“, sagte Libby.

„Wow. Du bist unglaublich, weißt du das? Wenn ich denke, dass meine Frau unfassbar ist, muss ich ja bloß kurz an deine denken, Owen.“ Kyle stand auf und ging zur Küchentür, um in den Backofen zu spähen.

„Ich wundere mich hier nicht mehr“, erwiderte Owen gleichmütig und legte mit einem Lächeln einen Arm um seine Frau.

„Sollte ich vielleicht auch nicht. Und ab sofort arbeiten die beiden auch noch zusammen. Jetzt liegen doch alle Serienmörder Amerikas weinend in ihren Betten!“

Julie lachte laut, als Kyle das sagte und auch Libby grinste verstohlen.

„Die Pizza ist gleich fertig“, warf Kyle ein, so dass sie aufstanden und den Tisch deckten. Beim Essen wechselten sie zu Libbys Erleichterung das Thema und Owen erkundigte sich bei Julie danach, ob sie eigentlich kein Heimweh nach England hatte.

„Manchmal schon“, gab Julie zu. „Es ist durch die Zeitverschiebung so lästig, zu Hause anzurufen. Wir sind aber über Weihnachten dort, darauf freue ich mich schon.“

„Ich mich auch“, sagte Kyle. „Das ist ja erst mein zweiter Besuch drüben.“

„Wir sind an Thanksgiving wieder in Kalifornien. Das hat sich jetzt so eingebürgert“, erzählte Owen.

„Und dein Bruder? Wie geht es Byron?“, fragte Julie.

„Er war letztes Wochenende bei uns und hat uns ein bisschen beim Aufbauen der Möbel geholfen. Ihm geht es so weit gut. Allmählich entwickeln wir ein normales Verhältnis, das ist eine ganz interessante Erfahrung. Übrigens ist das etwas, was ich dir zu verdanken habe“, sagte Owen zu Libby.

„Mir? Wieso?“

„Weil du zwischen uns vermitteln kannst. Du bremst uns, wenn wir wieder aufeinander losgehen wollen. Das ist ziemlich angenehm. Ich glaube, Byron hat großen Respekt vor dir.“

„Das sollte er auch, ich habe ihn schließlich schon in Handschellen durch Baltimore geschleift“, erwiderte Libby unbeeindruckt und lachte.

„Das hatte er auch mal nötig.“

Julie grinste. „Byron ist schon speziell. Ich kann da nicht mitreden, ich habe keine Geschwister – aber mein Dad und sein Bruder sind sich auch nicht sehr ähnlich. Da hat es zwischendurch auch schon ganz ordentlich gekracht.“

Inzwischen bewegten sich die Themen wieder in normalem Fahrwasser, wie Libby erleichtert feststellte. Nach dem Essen ging Kyle in den Umzugskartons auf die Suche nach Gesellschaftsspielen und so vertrieben sie sich mühelos die Zeit. Libby spürte, wie gut es auch Owen tat, nun endlich Freunde in der Nähe zu haben, mit denen man sich in der Freizeit treffen konnte.

Als sie schließlich wieder nach Hause aufbrachen, verabredete er sich schon mit Kyle zum Mittagessen, was Libby zufrieden beobachtete. Sie war wirklich froh, dass auch Owen und Kyle sich gut verstanden, aber sie hatten auch einen ähnlichen Hintergrund.

Auf den Straßen war es sehr ruhig, als Libby und Owen nach Hause fuhren. Eine Zeitlang sagte keiner von beiden etwas, doch schließlich brach Owen das Schweigen.

„Ich finde es immer wieder beeindruckend, wie du schon über Bailey sprichst“, sagte er, als sie an einer Ampel standen.

„Das ist doch das Ziel meiner Therapie bei Michael. Also, ein Ziel.“

„Ja, sicher … Aber ich hoffe wirklich, du nimmst dir nicht zu viel vor, wenn du über Bailey schreiben willst.“

„Das muss ich ausprobieren. Ich versuche jetzt auch, die Flucht nach vorn anzutreten. Es ist das, was ich vorhin sagte – nach dem Duschen stand ich vor dem Spiegel und habe meine Narben gesehen. Ich werde nie vergessen, was er mir angetan hat, deshalb werde ich lernen müssen, damit zu leben. Ich weiß von euch, dass mein Foto im Fernsehen war, als er mich in seiner Gewalt hatte. Ich bin jetzt die FBI-Agentin, die von Vincent Bailey entführt wurde. Ich kann mich nur von diesem Opferstatus befreien, indem ich dazu stehe und die Flucht nach vorn antrete. Das habe ich übrigens gemeinsam mit meiner Mum.“

„Ich weiß … ich mache mir doch nur Sorgen, verstehst du?“, fragte Owen mit einem sanften Unterton.

„Ja, natürlich. Das ist lieb von dir. Aber ich glaube, du musst dir keine Sorgen um mich machen. So leicht gebe ich nicht auf.“

 

 

Sonntag, 13. November

 

Während die Waschmaschine lief, räumte Libby noch einige Bücher ins Regal und summte die Musik mit, die aus dem Wohnzimmer zu ihr schallte. Owen war in der Garage damit beschäftigt, ein Regal aufzubauen, in dem er sein Werkzeug und die Gartengeräte unterbringen konnte.

Sie wusste wirklich nicht, ob sie schon so weit war, über Vincent zu schreiben, doch bei Michael in den Therapiesitzungen schaffte sie es immer besser, auch über das zu sprechen, was Vincent ihr angetan hatte. In einer wissenschaftlichen Arbeit wollte sie dennoch nicht ihre persönlichen Erfahrungen ausbreiten, sondern den Menschen Vincent Howard Bailey analysieren. Michael war noch zwiegespalten, was dieses Vorhaben betraf, und so ähnlich ging es auch Libby. Aber am Vorabend war ihr erst so richtig klar geworden, was das vielleicht auch für Julies Doktorarbeit bedeutete und das war eine Chance, die sie sich eigentlich nicht entgehen lassen durften.

Als sie gerade ihr Psychologielexikon ins Regal schob, klingelte ihr Handy auf dem Schreibtisch. Neugierig stand Libby auf und warf einen Blick aufs Display, doch Nicks Namen zu lesen, ließ sie Übles ahnen.

„Hey, Nick“, begrüßte sie ihn freundlich.

„Entschuldige die Störung am Sonntag, ich hoffe, ich komme nicht ungelegen.“

„Ich räume bloß Kartons aus.“

„Okay, hör zu – Alex hat vorhin eine Mail von den FBI-Kollegen aus Seattle bekommen. Das Seattle PD hat sie am Donnerstag um Unterstützung in einem äußerst blutigen Mordfall gebeten, aber sie sind da ziemlich schnell an ihre Grenzen gestoßen und haben uns nun kontaktiert. Angesichts der Fotos, die ich mir vorhin angesehen habe, kann ich das verstehen.“

„Was ist denn los? Ist das bloß ein einzelner Mordfall?“

„Bis jetzt ja. Allerdings schätzen die Kollegen in Seattle, dass es dabei nicht bleiben wird, und dieser Einschätzung schließe ich mich an.“

„Was ist denn passiert?“

Nick zögerte kurz mit seiner Antwort. „In den Wäldern außerhalb Seattles wurde eine weibliche Leiche gefunden, die auf eine Art und Weise ermordet wurde, die ich noch nie gesehen habe. Laut Aussage des zuständigen Gerichtsmediziners wurde ihr bei lebendigem Leib der Rücken geöffnet und die Rippen mit einer Axt von der Wirbelsäule getrennt.“

Libby schluckte hart. „Was zum …“

„Ich weiß es nicht. Keine Ahnung. Alex hat mir vorhin die Fotos weitergeleitet und wir waren uns einig, dass wir morgen fliegen. Pack ein paar Sachen ein, es geht nach Seattle.“

„Okay … ich hätte besser nicht gefragt.“

Nick lachte. „Ja, vielleicht. Ich wollte nur, dass du Bescheid weißt. Wir treffen uns um acht am Hangar.“

„In Ordnung. Bis morgen, Nick.“

„Grüß Owen von mir.“

Libby versprach es und legte kopfschüttelnd auf. Das hatte sie tatsächlich auch noch nie gehört. Gerade wusste sie nicht, wie sie sich das vorstellen sollte, aber sie beschloss, nicht zu genau darüber nachzudenken. Der bloße Gedanke verursachte ihr Übelkeit.

Sie steckte ihr Handy weg und überlegte. Ausgerechnet Seattle. Sie musste sofort an Kieran denken, ob sie wollte oder nicht. Es war fast zwei Jahre her, dass sie ihn zuletzt gesehen hatte. Sollte sie es ihm sagen? Sie hätte sich gern mit ihm getroffen, um zu sehen, wie es ihm ging. Allerdings glaubte sie auch, zu wissen, wie Owen das fand und war außerdem nicht sicher, wie Kieran eigentlich dazu stand.

Unsicher stemmte sie die Hände in die Hüften und überlegte. Auf diese Fragen hatte sie noch keine Antwort, deshalb ging sie erst einmal in die Garage, wo Owen dabei war, Nägel ins Holz zu hämmern. Er blickte auf, als er ihre Schritte hörte.

„Hey, was ist los?“, fragte er.

„Viele Grüße von Nick, er hat gerade angerufen. Ich fliege morgen mit meinem Team nach Seattle.“

„Nach Seattle? Was ist los?“

„Ein sehr blutiger Mordfall, an dem sich das Seattle PD und die Kollegen vom FBI die Zähne ausbeißen. Die Details erspare ich dir. Morgen früh um acht fliege ich mit meinem Team.“

Seufzend legte Owen den Hammer weg und stand auf, doch dann sagte er schlicht: „Okay.“

Fragend zog Libby eine Augenbraue hoch. „Dein Unterton verrät, dass es das nicht ist.“

„Du machst deinen Job.“

„Klar mache ich meinen Job. Was sonst?“

„Ich wusste ja, dass dieser Moment irgendwann kommt, aber der Gedanke behagt mir nicht, dass du knapp dreitausend Meilen weit weg sein wirst. Wenn da etwas passiert …“

„Ich bitte dich, mein ganzes Team wird bei mir sein“, sagte sie stirnrunzelnd.

„Ich weiß. Das ist jetzt mein persönliches Problem, das ist mir klar. Es gefällt mir nur einfach nicht.“

„Das wird noch öfter passieren.“

„Ja, und auch das gefällt mir nicht.“

„Owen …“ Libby seufzte tief und ging zu ihm, um ihn zu umarmen. Zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass er stocksteif dastand und die Umarmung nur zögerlich erwiderte.

„Komm schon, du kannst ehrlich zu mir sein“, versuchte sie, ihn zu ermutigen.

„Ich weiß, aber … ich werde das mit mir selbst ausmachen müssen. Ich ahne nur jetzt schon, dass ich keine Nacht ruhig schlafen werde.“

„Das ist völlig irrational.“

„Ich kann diese Gedanken aber nicht abstellen. Ich weiß nicht, wie.“

Libby seufzte mitfühlend. Es tat ihr leid, dass er so empfand.

„Was soll ich jetzt tun? Nicht fliegen? Kündigen?“, fragte sie.

Owen schüttelte den Kopf. „Nein, bitte nicht. Das muss ich selbst in den Griff kriegen.“

„Oder mit Michaels Hilfe?“

„Vielleicht auch das. Keine Ahnung. Bis jetzt hatten wir das Problem ja noch nicht.“

„Es tut mir leid. Ich möchte nicht, dass es dir meinetwegen schlecht geht.“

„Du bist nicht der Grund. Aber …“ Owen schüttelte den Kopf und senkte den Blick. „Das waren fünf Tage Hölle, Libby. Fünf Tage, in denen ich nicht wusste, ob du das überhaupt überlebst und wenn, ob du je wieder die Alte wirst.“

„Ich versuche es“, sagte sie.

„Ich weiß. Trotzdem bist du es nicht und du wirst es nie sein. Ich habe das kommen sehen. Ich habe befürchtet, dass das etwas zerstört. Keine Ahnung, ob ich das nochmal packen würde …“

Diese Aussage traf Libby mitten ins Herz. Sie atmete tief durch und überlegte, was sie antworten sollte.

„Du tust ja gerade so, als hätte man es pausenlos auf mich abgesehen“, sagte sie vorsichtig.

„Wie lang bist du jetzt beim FBI? Du warst schon öfter in Gefahr.“

„Du in deinem Job auch – und wir beide gemeinsam in San José bei der Polizei. Ich hatte, nebenbei bemerkt, auch schon mal Angst, dass du stirbst.“

„Ich weiß. Hör nicht auf mich. Flieg nach Seattle, ich muss das selbst in den Griff kriegen. Vielleicht rufe ich Michael wirklich mal an.“

„Ja, mach das“, bestärkte Libby ihn. „Solange du jetzt kein Problem damit hast, dass es Seattle ist …“

„Wegen Kieran, meinst du?“, fragte Owen treffsicher. Libby nickte und sah ihn gespannt an, aber er wusste nicht, was er erwidern sollte.

„Ich habe auch schon an ihn gedacht, das gebe ich ehrlich zu. Aber du glaubst doch nicht im Ernst, dass …“ Libby setzte noch einmal neu an. „Du bist mein Mann. Daran wird sich niemals etwas ändern.“

„Also willst du ihn sehen.“

„Ich weiß es nicht … Ich habe ihn seit zwei Jahren nicht gesehen. Ich weiß nicht mal, ob er das überhaupt möchte. Noch hat er ja gar keine Ahnung, dass ich da sein werde.“

Owen sah sie immer noch nicht an, als er tief Luft holte und fragte: „Legst du Wert darauf, ihn zu sehen?“

„Keine Ahnung, darüber habe ich noch nicht nachgedacht – aber ich sehe, du hast ein Problem damit.“

„Irgendwie habe ich gerade mit allem Probleme … tut mir leid.“

„Ich muss es ihm nicht sagen. Nicht, wenn dich das verletzen würde.“

„Ach, das alles erwischt mich bloß auf dem falschen Fuß. Du musst dreitausend Meilen weit weg und dann auch noch von allen Städten, die die Westküste zu bieten hat, ausgerechnet nach Seattle.“

Liebevoll legte Libby eine Hand auf seine Schulter. „Ich will dich nicht verletzen, Owen. Dafür bist du mir viel zu wichtig. Ich sage ihm einfach nicht, dass ich komme.“

Nun hob Owen unsicher den Blick. „Das würdest du tun?“

Libby nickte. „Auch wenn ich überrascht bin, wie eifersüchtig du sein kannst.“

„Ich kenne ihn überhaupt nicht. Wahrscheinlich reagiere ich total über, aber …“

„Ich weiß. Schon gut. Mir musst du nicht sagen, was vor drei Monaten passiert ist.“

„Wir sind doch gerade erst dabei, irgendwie damit zurechtzukommen. Aber wenn ich jetzt wüsste, du siehst Kieran in Seattle wieder …“

„Dann würde ich ihn eben wiedersehen. Nichts weiter, ehrlich. Aber ich lasse es einfach, okay?“

Owen nickte langsam. „Okay. Danke.“ Nun umarmte er sie sogar und atmete tief durch. „Tut mir leid. Ich reagiere vielleicht über, aber ich kann nicht anders.“

„Nein, schon gut. Ich weiß, dass du auch durch die Hölle gegangen bist. Belassen wir es dabei, dass ich in Seattle ermitteln werde.“

„Wahrscheinlich wäre es mir egal, wenn ich ihn kennen würde. Wenn ich das einschätzen könnte.“

„Ja, aber du kannst es nicht und auch, wenn ich mich freuen würde, ihn wiederzusehen, komme ich ohne zurecht.“

„Danke.“ Owen küsste sie und hob den Hammer wieder auf. „Ich bin bald fertig.“

„Das ist schön. Sieht gut aus. Ich werde mal nach der Wäsche sehen.“

„Okay. Wie wäre es heute mit einem gemütlichen Sofaabend?“

„Gern“, sagte Libby und lächelte. „Wobei ich mich freuen würde, wenn wir bei Gelegenheit auch mal wieder über den Urlaub nachdenken könnten.“

„Klar. Ich würde mich auch freuen, wenn wir ihn nachholen könnten. Das war ja nun nichts diesen Herbst …“

Die beiden warfen sich einen vielsagenden Blick zu, bevor Libby wieder ins Haus ging und die Wäsche von der Waschmaschine in den Trockner umfüllte. Anschließend holte sie ihre Notfall-Reisetasche aus dem Auto und überprüfte, ob alles drin war, was sie brauchen würde. Sie beschloss, T-Shirts gegen Pullover zu tauschen, denn in Washington State nahe der kanadischen Grenze war es zu dieser Jahreszeit garantiert nicht mehr warm.

Während sie die Tasche neu packte, überlegte sie, ob sie richtig reagiert hatte. Owens Äußerungen hatten sie überrascht. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er ein Problem damit hatte, wenn sie irgendwo in den Staaten ermittelte. Daran würde er sich tatsächlich gewöhnen müssen, denn das war Teil ihres Jobs. Natürlich konnte sie verstehen, woher das kam, aber da musste unbedingt eine Lösung her.

Und was Kieran betraf, wusste sie selbst nicht, was sie darüber denken sollte. Zwar hätte sie ihn gern wiedergesehen, aber sie hatte auch Respekt davor. Er hatte sich sicher verändert – so wie sie sich auch verändert hatte. Allerdings fand sie es schwierig, Kieran zu kontaktieren, obwohl sie wusste, dass es Owen Bauchschmerzen bereitete.

Seit wann war er denn so eifersüchtig? Aber diese Frage konnte sie sich gleich selbst beantworten, denn als Vincent sie entführt hatte, hatte er sich zwischen sie und Owen gedrängt. Er hatte Owen einiges genommen, was eigentlich nur ihm zustand und sie wusste, dass ihr Anblick ihn jedes Mal schmerzhaft daran erinnerte.

Sie war ihm dankbar, dass er das mit ihr aushielt und sie sich seit Wochen einander annäherten wie zwei Teenager, die noch keine Ahnung vom anderen Geschlecht hatten. Das war Liebe, so viel stand fest, und Libby fand es unnötig, ihm noch mehr zuzumuten.

Trotzdem fragte sie sich, wann Vincent Bailey endlich aufhören würde, einen Schatten über ihr Leben zu werfen. Sie bekam das einfach nicht aus ihrem Kopf. Vor kurzem hatte sie Sadie danach gefragt, die zwar versucht hatte, sich ermutigend zu äußern, doch letztlich hatte sie zugeben müssen, dass es auch bei ihr damals eine ganze Weile gedauert hatte.

Libby seufzte frustriert. Nein, sie würde Kieran nicht kontaktieren. Das war es nicht wert. Was hätte sie ihm auch sagen sollen? Wenn er sie so sah, würde er sich nur in all seinen Befürchtungen von früher bestätigt sehen.

Aber hatte er Recht? Hatte es so kommen müssen? Libby hatte keine Antwort auf diese Frage. Auch wenn sie durch die Hölle gegangen war und das niemals vergessen würde, war ihr Job beim FBI trotzdem immer noch genau das, was sie mehr wollte als alles andere.

Sie hatte die Tasche gerade geschlossen, als Owen im Schlafzimmer erschien. „Hier bist du.“

„Ja, ich habe meine Tasche für die Reise noch mal durchgesehen.“

Owen nickte bloß und ging zu ihr, um sie zu küssen. „Du wirst mir verdammt fehlen, weißt du das?“

Lächelnd legte sie ihre Arme um ihn. „Du mir auch. Sehr sogar.“

 

 

Montag, 14. November

 

„Ich bin ja mal gespannt, was da auf uns zukommt“, sagte Julie, während sie in Triangle die Interstate verließ. Am Vortag hatte sie Libby vorgeschlagen, zusammen zu fahren, was sich vielleicht auch für die Zukunft anbot.

„Wenn Nick nach einem einzigen Mord das ganze Team mit dem Jet nach Seattle schickt, nimmt er es auf jeden Fall ernst“, sagte Libby.

„Das ist ungewöhnlich, oder?“

Libby nickte. „Sehr. Aber der Mord scheint ja auch besonders grausam gewesen zu sein.“

„Ausgehend von dem, was Nick gestern sagte …“ Julie schüttelte sich und nickte dem Soldaten am Checkpoint freundlich zu. Ungehindert fuhren sie weiter zum Flugfeld der Marines. Einige der anderen Kollegen waren schon dort und das Flugzeug stand auch schon draußen.

„Guten Morgen“, begrüßte Nick sie. „Bereit für die Westküste? In Seattle regnet es mal wieder, habe ich gehört.“

Ian grinste. „Das tut es doch eigentlich immer, oder?“

„Im Sommer überhaupt nicht“, sagte Libby. „Ich kenne dort jemanden.“

„Dummerweise ist jetzt nicht Sommer“, spottete Ian.

Als das Team so weit vollständig war, stiegen sie ins Flugzeug. Belinda würde als Einzige nicht mitfliegen, das ließ ihr aktueller Gesundheitszustand nicht zu. Kurz darauf erhielt der Pilot die Starterlaubnis und sie hoben ab. Libby beobachtete, wie Julie staunend aus dem Fenster blickte und sie dann plötzlich mit einem breiten Grinsen bedachte.

„Jetzt ist es endlich so weit!“

„Was, dass du in einem Flugzeug sitzt?“, fragte Nick.

„Nein – mein erster großer Fall. Wir fliegen sogar. Das ist so toll!“

„Freu dich nicht zu früh, dieser Fall wird nicht ganz ohne sein, glaube ich. Seid ihr bereit fürs Briefing?“

Die anderen nickten und so legte Nick los. „Das Opfer wurde inzwischen als die 28jährige Deborah Hutchinson identifiziert, sie hat als Sekretärin in einer Anwaltskanzlei gearbeitet und leider wissen die Ermittler bis jetzt nicht, wann und wie sie verschwunden ist. Mit Sicherheit sagen können sie nur, dass sie am 27. Oktober zuletzt gesehen wurde. Am 28. ist sie morgens nicht zur Arbeit erschienen und wurde von den Kollegen als vermisst gemeldet. Deborah lebte seit einem halben Jahr allein, deshalb gibt es da niemanden, der sie vorher als vermisst hätte melden können. Gefunden wurde ihre Leiche am 1. November von einem Ranger auf Bainbridge Island im Wald. Das Bainbridge PD hat gleich beim Seattle PD um Hilfe gebeten und letzte Woche hat die Polizei dann eine Anfrage ans FBI gerichtet – jetzt liegt der Fall bei uns.“

„Was hast du da gestern gesagt – ihr wurden die Rippen vom Rückgrat getrennt?“, fragte Dennis.

Dormer nickte und griff nach seinem Tablet. „Ich habe Fotos für euch und hoffe, ihr habt einen starken Magen.“

Libby fragte sich, was jetzt kommen würde, doch dann sah sie es. In einem verregneten Waldgebiet lag eine nackte weibliche Leiche mit dem Gesicht nach unten im Gestrüpp. Ihr Rücken war nicht mehr als solcher zu erkennen, denn der Täter hatte sie von hinten regelrecht aufgerissen.

Für einen Moment sagte niemand etwas, während Nick langsam nacheinander weitere Fotos zeigte. Libby beugte sich vor und versuchte, etwas zu erkennen.

„Der Gerichtsmediziner hat rekonstruiert, dass der Täter ihr erst mit einem Messer die Wirbelsäule entlang geschnitten hat, um die Rippen freizulegen. Die hat er dann vermutlich mit einer Axt von der Wirbelsäule getrennt und sie schließlich zur Seite weggeklappt. Ähnlich ist er mit den Schulterblättern verfahren.“

Jesse blickte starr auf die Fotos. „Wow, ist das krank.“

Libby bemerkte, wie Julie neben ihr sich auf einmal aufrichtete und so aussah, als würde sie etwas sagen wollen, entschied sich dann aber dagegen.

„Außerdem fehlten ihr an den Seiten noch größere Hautstücke, die wohl herausgeschnitten wurden. Darauf konnte sich bislang noch niemand einen Reim machen“, sagte Nick und präsentierte auch davon Fotos. Die nächsten Aufnahmen stammten aus der Gerichtsmedizin und zeigten die fehlenden Hautstücke deutlich.

„Bitte sag mir jetzt, dass die Frau schon tot war, als das passiert ist“, murmelte Dennis.

Nick seufzte tief. „Nein, war sie nicht. Zumindest sagt der Gerichtsmediziner, dass sie wohl starb, als durch die Prozedur ihre Lungen kollabiert sind – so wie wohl ihr ganzer Kreislauf. Hier an ihren Handgelenken sind Fesselmale sichtbar.“

Libby spürte, wie Übelkeit in ihr aufstieg. „Ist das grauenhaft.“

„Haben die Kollegen vor Ort schon irgendeine Vermutung, was das soll?“, fragte Julie.

„Nicht so richtig, warum fragst du?“

„Weil mich das an etwas erinnert.“

„Woran?“

Julie zögerte kurz mit ihrer Antwort. „An eine Hinrichtungsmethode der Wikinger. Das wird Blutadler genannt – dem Opfer wird der Rücken aufgeschnitten, die Rippen von der Wirbelsäule getrennt und wie Adlerschwingen zur Seite geklappt.“

„Wieso weißt du so etwas?“, fragte Jesse.

Julie grinste verlegen. „Hat denn von euch nie jemand die Serie Vikings gesehen?“

„Doch, aber daran erinnere ich mich gar nicht“, sagte Dennis.

„In einer Episode wird das gezeigt, das werde ich nie vergessen. Das hier ist viel zu ähnlich. In der Serie wurde es so erklärt, dass dem Opfer noch die Lungenflügel herausgezogen und auf die Schultern gelegt wurden, aber ich habe das später mal nachgelesen – die Lunge würde allein beim Öffnen des Rückens kollabieren, deshalb glauben Historiker, dass eher die Schulterblätter weggeklappt wurden. Wenn das Opfer es geschafft hat, während der ganzen Prozedur keinen Laut von sich zu geben, standen ihm die Tore Walhallas offen.“

Libby warf ihr einen schiefen Blick zu. „Langsam wird mir unheimlich, was du alles weißt.“

„Fernsehen ist nicht das Schlechteste“, sagte Julie. „Jedenfalls hat man die Menschen so sterben lassen. Das muss unendlich grausam sein.“

„Offensichtlich“, brummte Ian.

„Die Theorie finde ich auf jeden Fall interessant, denn zu dem vorliegenden Verletzungsmuster würde es passen“, sagte Nick. „Die Kollegen hatten noch keine Vermutung in diese Richtung geäußert, aber ich werde es ihnen später vorstellen. Meine – und ihre – Befürchtung war, dass dieser Täter hier nicht zum ersten und auch nicht zum letzten Mal getötet hat.“

„Nein, bestimmt nicht. Das Maß an Gewaltbereitschaft spricht für sich“, sagte Libby.

„Die Frage ist jetzt, ob der Täter psychisch gestört ist“, sagte Alexandra.

„Das haben die Kollegen in Seattle sich auch gefragt und es ist nun unsere Aufgabe, das herauszufinden und ihnen ein Profil zu liefern. Julies Hinweis könnte da durchaus hilfreich sein.“ Wohlwollend schenkte Nick ihr ein Lächeln, das Julie erwiderte.

„Wo wurde die Frau denn getötet? Auch im Wald?“, fragte Libby.

„Nein, dort wurde sie nur abgelegt“, antwortete Nick.

„Dann erklärt der Transport vielleicht auch, warum die Wunde am Rücken nicht so offen ist, wie sie es sein könnte“, sagte Julie. „Wäre wirklich der Blutadler gemeint, hätte ich eigentlich erwartet, dass der ganze Rücken freiliegt, aber das scheint ja nicht der Fall zu sein.“

„Klingt plausibel“, fand Nick. „Wenn wir in Seattle sind, beginnen wir wie üblich mit der Viktimologie. Wir müssen wissen, in welcher Beziehung Täter und Opfer zueinander standen und warum es ausgerechnet Deborah getroffen hat. Dadurch, dass wir nichts über ihr Verschwinden wissen, könnte das schwierig werden.“

„Seit wann schreckt es uns denn, dass etwas schwierig ist?“, fragte Ian.

„Ich hoffe nur, wir kommen so rechtzeitig, dass wir den Täter finden, bevor das noch einmal passiert“, sagte Libby halblaut.

„Das hoffe ich auch“, stimmte Alexandra ihr zu.

Allmählich verteilten sie sich auf die anderen Sitze im Flugzeug. Jesse hörte Musik über seine Kopfhörer, Alexandra las etwas und die anderen unterhielten sich leise. Julie und Libby hatten sich zusammen auf die letzten beiden Plätze ans Fenster gesetzt.

„Wikinger“, murmelte Libby. „Das hätte ich nicht gewusst.“

„Das muss ja auch überhaupt nicht richtig sein, aber die Ähnlichkeit ist erschreckend.“

„Warum würde jemand das tun?“

„Vielleicht als eine Art Menschenopfer?“

„Du siehst wirklich zu viele Filme“, sagte Libby und lachte.

„Ich weiß, dass es Menschenopfer so gut wie überhaupt nicht gibt – aber vielleicht hat unser Täter hier ja damit angefangen. Dass der nicht ganz sauber tickt, liegt doch auf der Hand, oder?“

„Ja, da hast du wohl Recht.“ Seufzend blickte Libby aus dem Fenster und sagte nichts mehr. Für einen Augenblick schwieg auch Julie, doch dann nahm sie das Gespräch wieder auf.

„Wirst du Kieran wiedersehen?“

Libby zog die Schultern hoch und atmete tief durch. „Vermutlich nicht.“

„Nicht? Warum das?“

„Owen zuliebe.“

„Ach was. Ist er etwa eifersüchtig?“

„Er kennt Kieran nicht und kann die Situation nicht einschätzen. Ich weiß, dass ich garantiert nicht von vergessen geglaubten Gefühlen übermannt werde, aber Owen weiß das nicht. Ich meine …“ Libby machte eine Pause und suchte nach den richtigen Worten. „Da hat sich letztens schon ein Mann in unsere Beziehung gedrängt. Wir arbeiten ja noch daran, das wieder zu vergessen.“

„Komm schon, das kann man doch nicht vergleichen.“

„Nein, aber für Owen fühlt es sich vermutlich so an.“

Julie war nicht überzeugt. „Du hast Kieran seit zwei Jahren nicht gesehen und bist inzwischen verheiratet. Da wird es doch wohl erlaubt sein, mal Hallo zu sagen.“

„Ich habe entschieden, Kieran nicht zu sagen, dass ich komme. Das ist ja nicht nötig.“

„Ja, da hast du wohl Recht – aber was, wenn er rausfindet, dass du da bist? So unwahrscheinlich ist das nicht.“

„Das überlege ich mir, wenn es so weit ist.“

„Owen hat so seine Momente, oder?“

Libby wusste, was Julie damit sagen wollte, aber sie fühlte sich sofort in der Pflicht, ihren Mann in Schutz zu nehmen. „Er ist manchmal sehr eigen. Das habe ich schon im Zusammenhang mit Byron erlebt und jetzt eben hier. Eigentlich wäre es ihm lieber gewesen, ich würde gar nicht fliegen, aber da gab es keine Diskussion für mich.“

Überrascht zog Julie die Brauen hoch. „Das klingt aber gar nicht gut. Hat er Verlustängste?“

Stirnrunzelnd erwiderte Libby ihren Blick. „Wundert dich das? Nach allem, was passiert ist?“

„Nein, aber deshalb muss ich das doch nicht gut finden.“

„Er will mit Michael sprechen.“

„Ja, das ist vielleicht keine schlechte Idee. Sonst wird er mit mir sprechen müssen und ich weiß nicht, ob ihm das lieber ist!“ Julie grinste breit und lachte, doch Libby ließ sich davon nicht anstecken.

„Jules … ich weiß, du bist auf meiner Seite und du meinst es gut, aber du kannst da zum Glück nicht mitreden. Du hast nicht das erlebt, was mir zugestoßen ist. Das hätte problemlos das Potenzial, unsere Ehe zu zerstören. Owen gibt sich wahnsinnig viel Mühe und er hat eine unendliche Geduld. Das rechne ich ihm hoch an.“

„Ich auch, aber … ach, vergiss es.“

Libby sagte nichts mehr. Julies Frage danach, was Libby tun würde, wenn Kieran sie kontaktierte, war nicht unberechtigt. Es war durchaus denkbar, dass er von ihrer Anwesenheit erfuhr, und sie wusste nicht, wie sie reagieren würde, wenn er sie sehen wollte.

Jetzt war sie vollkommen hin- und hergerissen. Sie verstand Owen gut, aber tatsächlich fühlte sie sich durch seine Sorge auch eingeengt.

Konnte es da keinen Kompromiss geben?

 

 

Libby flog nicht besonders gern. Der Flug nach Seattle dauerte fünf Stunden, denn Seattle war noch weiter von der Ostküste entfernt als San Francisco. Sie war schon gespannt, wie lange sie in Seattle bleiben würde, denn in der Folgewoche ging es schon in die Heimat nach Kalifornien. Mit Pech würde sie dauernd hin und her fliegen.

Als der Pilot endlich in den Sinkflug ging, streckte Libby sich und war froh, nach der Landung endlich aussteigen zu können. Sie hatten den kleineren King County International Airport angesteuert, der näher am Stadtzentrum lag.

Die Maschine war zu einem abgelegenen Hangar gerollt, wo bereits zwei Dienstfahrzeuge des FBI geparkt waren. Daneben warteten zwei Männer und eine Frau auf sie, die gleich auf sie zugingen.

„SSA Dormer?“, fragte einer von ihnen.

„Das bin ich“, sagte Nick.

„SSA Robert Morton, das sind meine Kollegen, Special Agent Audrey Dunham und Special Agent Adam Colbert. Ich danke Ihnen vielmals dafür, dass Sie hergekommen sind, um uns bei den Ermittlungen zu unterstützen.“

„Selbstverständlich, das ist unser Job. Als meine Kollegin gestern Ihre Mail bekommen hat, wussten wir gleich, dass wir hier gefragt sind“, erwiderte Nick und fuhr damit fort, das ganze Team vorzustellen.

„Sehr angenehm“, sagte Morton und bat sie, ihm zu den Autos zu folgen. Sie verstauten ihr Gepäck im Kofferraum und teilten sich auf die beiden Dienstwagen auf, mit denen sie sich am Hangar vorbei auf den Weg zu einer Ausfahrt machten. Noch wirkte es nicht so, als befänden sie sich mitten in einer Metropolregion, aber Libby zuckte kurz zusammen, als Morton auf die Interstate 5 nach Norden auffuhr. Diese Straße würde sie für immer mit Brian Leigh in Verbindung bringen, der damals ein heilloses Chaos angerichtet hatte, indem er mit ihr stundenlang ziellos auf dem Freeway herumgefahren war.

Während sie in Richtung Stadtzentrum fuhren, begegneten ihnen auch immer wieder Hinweisschilder auf den Boeing-Konzern. Kieran arbeitete hier irgendwo ganz in der Nähe, das wusste sie. Für ihn war Seattle das, was für sie Quantico war. Ganz unvoreingenommen freute sie sich für ihn.

Sie fuhren an einem ausgedehnten Industriegebiet vorbei in Richtung Downtown Seattle. Die ersten Hochhäuser und der charakteristische Turm der Space Needle waren schon von weitem sichtbar und während sie ihnen immer näher kamen, kam Libby nicht umhin, zuzugeben, dass das Flair der Stadt ihr gefiel. Ähnlich wie San Francisco lag Seattle auf einer Halbinsel direkt am Wasser und sie mochte auch die Nähe der grünen Berge ringsum. Dort hätte sie sich wohlfühlen können – aber es hatte nie wirklich für sie zur Debatte gestanden. Sie musste zugeben, dass sie sich an der Ostküste wohl nie endgültig heimisch fühlen würde, aber trotzdem war es in Ordnung für sie.

Als sie Downtown Seattle erreicht hatten, wurde der Verkehr immer zähfließender, doch schließlich verließen sie den Freeway und hatten kurz darauf das FBI-Gebäude erreicht. Es war eines von vielen Hochhäusern mitten im Stadtzentrum, das auf Libby sauber und einladend wirkte.

Morton und Colbert parkten in der Tiefgarage und gingen voraus. Sie führten die Kollegen zu den Aufzügen, mit denen sie ins zwölfte Stockwerk fuhren. Dort angekommen, stellte Libby fest, dass sie einen tollen Blick auf die Elliott Bay hatten. Sie hatte Seattle wirklich Unrecht getan – es war schön.

Die Profiler fingen viele neugierige Blicke auf, während sie den Kollegen in ein größeres Büro folgten, das in aller Eile zur Taskforce-Einsatzzentrale umfunktioniert worden war. Eine Korkwand war so aufgestellt, dass man erst darauf blicken konnte, wenn man schon im Raum stand und sich umdrehte – nicht grundlos, denn die Kollegen hatten die entsetzlichen Fotos von Deborah Hutchinson daran geheftet und das sollte nun wirklich niemand im Vorbeigehen sehen müssen.

„Fühlen Sie sich hier wie zu Hause. Da drüben ist die Teeküche, die Toiletten sind auf dem Flur in der Nähe der Aufzüge. In diesem Büro arbeiten wir seit ein paar Tagen an dem Fall – sollten Sie noch irgendetwas brauchen, lassen Sie es mich bitte wissen“, sagte Morton.

Nick und die anderen bedankten sich, dann fuhr Morton fort: „Ich weiß nicht, wie es bei Ihnen aussieht – haben Sie Hunger? Der Flug war ja ganz schön lang. Wir könnten ein erstes Briefing beim Mittagessen abhalten, die Kantine hat vorhin geöffnet.“

„Das ist eine sehr gute Idee“, fand Nick und die anderen stimmten ihm zu. Gemeinsam begaben sie sich in die FBI-Kantine, wofür Libby nicht undankbar war, denn sie hatte tatsächlich Hunger. Seit dem Frühstück gegen sieben hatte sie nichts mehr gegessen. In Seattle war es zwar erst gegen elf Uhr vormittags, aber ihre innere Uhr sagte ihr, dass es inzwischen zwei Uhr nachmittags war.

In der Kantine war noch nicht viel los, aber sie bekamen problemlos schon etwas zu essen und setzten sich schließlich zusammen an einen langen Tisch. Nachdem sie mit dem Essen begonnen hatten, ergriff Morton wieder das Wort.

„Unappetitliche Details möchte ich jetzt natürlich nicht besprechen, gerade würde ich lieber allgemein bleiben. Einen solchen Fall hatten wir jedenfalls seit dem Green River Killer nicht mehr. Das Bainbridge Island PD hat die Kollegen in Seattle eigentlich direkt um Hilfe gebeten und als die gesehen haben, dass sie da ohne Weiteres nicht vorankommen, haben sie uns mit der Bitte darum hinzugezogen, den Fall unseren Profilern vorzustellen. Nachdem wir den Fall geprüft haben, sind wir zu dem Schluss gekommen, dass das wohl nicht die schlechteste Idee ist. Unser großes Problem ist, dass wir keine Ahnung haben, wie Deborah Hutchinson verschwunden ist – und wir finden keine Verbindung zu ihrem Mörder.“

„Sie könnte ein Zufallsopfer sein“, sagte Nick.

„Ja, dessen sind wir uns bewusst. Trotzdem befürchten wir angesichts dieses extremen Gewaltlevels, dass er gerade erst angefangen hat und weitere Verbrechen dieser Art folgen könnten.“

„Da stimme ich Ihnen teilweise zu – er wird definitiv weitermachen, aber ich glaube nicht, dass das seine erste Tat ist. Er hat schon zuvor getötet oder Menschen schwer verletzt, oder er ist psychisch so krank, dass ihm diese Gewalt keinerlei Schwierigkeiten bereitet.“

„Da haben Sie Recht. In jedem Fall haben wir keinen Ansatz, wir wissen nicht, wie wir ihn finden sollen und hoffen, dass Sie uns ein Profil liefern können.“

„Meine Kollegen sind die besten Profiler der USA. Wenn sie Ihnen kein Profil liefern können, kann es niemand“, sagte Nick und lächelte in die Runde.

„Hatten Sie schon einmal einen ähnlichen Fall?“, fragte Special Agent Dunham.

„Nichts in der Art, nein. Wenn wir gleich oben sind, möchte ich Ihnen eine Frage zur Vorgehensweise des Täters stellen – vorhin im Flieger hat Agent Thornton eine interessante Theorie aufgestellt und jetzt frage ich mich, ob Sie auch schon in diese Richtung gedacht haben“, sagte Nick.

Morton nickte und sie unterhielten sich während des Essens allgemein über verschiedene Dinge. Das Briefing vertieften sie in der Kantine nicht weiter, weil sie das beim Essen schlichtweg unpassend fanden.

Als sie oben aus dem Aufzug stiegen, vibrierte Libbys Handy. Sie hatte eine Nachricht von Owen erhalten, die sie las, bevor sie mit den anderen das Büro wieder betrat.

Alles gut bei dir? Ihr seid bestimmt schon gelandet, oder? Du fehlst mir.

Ein Lächeln huschte über ihre Lippen und sie nutzte die Gelegenheit für eine schnelle Antwort.

Du fehlst mir auch. Haben gerade zu Mittag gegessen und werden uns jetzt unschöne Fotos anschauen. Ich denk an dich.

Sie setzte noch einen küssenden Smiley dahinter und steckte ihr Handy wieder weg. Dunham und Colbert kamen mit Getränken aus der Teeküche, dann setzten sich alle und Morton schloss die Tür.

„Also, SSA Dormer, was wollten Sie vorhin wissen?“, fragte er, nachdem er sich gesetzt hatte.

„Ist Ihnen der rituelle Charakter dieser Tötungsmethode aufgefallen?“

„Ritueller Charakter?“

„Vorhin im Flugzeug sagte Agent Thornton, dass der Modus Operandi des Täters sie an eine historische Hinrichtungsmethode der Wikinger erinnert, den sogenannten Blutadler“, sagte Nick.

„Ja, in diese Richtung haben die Kollegen vom Seattle PD auch schon gedacht, deshalb haben sie uns den Fall auch vorgestellt mit der Bitte, Sie ins Boot zu holen“, sagte Morton. „Ich habe nur noch nichts davon gesagt, um Sie nicht zu beeinflussen.“

„Dann sind wir uns also einig, dass hier höchstwahrscheinlich nach Vorbild der Wikinger getötet wurde“, sagte Nick.

„Ja, davon würde ich ausgehen. Wir haben uns über dieses Ritual informiert, von dem ja nicht feststeht, ob es so tatsächlich von den Wikingern praktiziert wurde – aber das Beispiel unseres Opfers zeigt, dass es zumindest möglich ist.“

„Der Täter hat sich auf jeden Fall darüber informiert, denn überliefert wird das Ritual ja damit, dass dem Opfer die Lungenflügel herausgezogen und über die Schultern gelegt werden. Das hat dieser Täter ja nicht gemacht, er hat – was weitaus plausibler ist – die Schulterblätter zur Seite geklappt“, sagte Julie.

Morton nickte zustimmend. „Wir wissen, dass der Blutadler entweder als Exekutionsmethode zur Abschreckung und Strafe eingesetzt wurde, um ein Exempel zu statuieren – oder aber, um Odin Menschenopfer darzubringen. Die Frage ist ja nun, ob es sich hierbei wirklich um dieses Ritual handelt und warum der Täter das gemacht hat. Genau da kommen wir nicht weiter.“

„Wenn wir davon ausgehen, dass es sich tatsächlich um ein Zufallsopfer handelt, wird es keine Strafe sein. Dann müsste vorher eine persönliche Täter-Opfer-Beziehung bestanden haben“, sagte Libby.

„Genau das ist das Problem – dass wir keine Verbindung gefunden haben, heißt ja nicht, dass keine da ist“, sagte Colbert.

„Wenn wir überhaupt nichts über den Täter haben, müssen wir mit dem Opfer beginnen – mit der Viktimologie“, sagte Nick. „Wir müssen Deborah Hutchinsons Leben auf links drehen. Helfen Sie mir doch noch mal auf die Sprünge – wie lang wurde sie vor ihrem Tod festgehalten?“, fragte Nick.

„Der Gerichtsmediziner schätzte, dass sie beim Fund ihrer Leiche etwa vier Tage tot war, woraus wir schließen, dass der Täter sie erst nach einem Tag getötet hat“, sagte Dunham.

„Was hat er so lange mit ihr gemacht?“, überlegte Nick.

„Auf jeden Fall hatte er die Möglichkeit, sie entsprechend lang festzuhalten. Auch ihr Tod ist ja unbemerkt über die Bühne gegangen – und ich kann mir nicht vorstellen, dass das leise und sauber abgelaufen ist“, sagte Julie.

„Der Täter ist auf jeden Fall mobil, er hat sie unbemerkt nach Bainbridge Island gebracht und Agent Thorntons Gedanken zu seinem Versteck würde ich so unterschreiben“, sagte Nick.

„Ich frage mich gerade, ob seine Motive sadistischer Natur sind oder ob er das Leid seines Opfers zum Zweck eines übergeordneten Ziels einfach in Kauf genommen hat. Hat er sie noch anderweitig gefoltert?“, fragte Libby.

„Nein, außer Fesselspuren wurden keine Verletzungen gefunden – abgesehen davon, dass er auch Haut von ihrem Körper entfernt hat“, sagte Morton.

„Ist das vor oder nach ihrem Tod passiert?“

„Danach.“

„Dann würde ich nicht davon ausgehen, dass er aus sadistischen Motiven heraus handelt. Wäre das der Fall, hätte er es vor ihrem Tod getan“, sagte Libby. Sie fühlte sich ein wenig unbehaglich, als nun plötzlich die Blicke aller auf ihr ruhten.

Nick stimmte ihr jedoch zu, bevor er aufstand und sich die Bilder ansah. „Der Täter wollte, dass sie auf diese Weise stirbt. Aber warum hat er die Haut entfernt? Was macht er damit?“

„Wir waren nicht sicher, ob dem Ganzen eine bestimmte Motivation zugrunde liegt. Die Wunden beginnen gleich mit der Rückenverletzung. Hat das nicht etwas damit zu tun?“, überlegte Morton und zeigte auf ein Foto, um zu verdeutlichen, was er meinte.

„Es könnte sich dabei schlicht und ergreifend um eine Trophäe handeln“, sagte Ian. Währenddessen betrachtete Libby die Fotos und spürte, wie ihr bei dem Anblick plötzlich übel wurde. Wenn sie sich vorstellte, wie der Täter Deborah erst den Rücken aufgeschnitten und dann die Rippen abgeschlagen hatte …

Sie würde nie den ersten Peitschenhieb vergessen, den Vincent ihr am Rücken beigebracht hatte. Sie hatte ihn ja nicht kommen sehen – genau genommen hatte sie überhaupt nichts gesehen. Sie hatte auch nichts gehört. Sie hatte rein gar nichts dagegen tun können – nur zu erstickten Schreien war sie noch in der Lage gewesen.

Sie schloss die Augen und versuchte, die Übelkeit zurückzukämpfen, was ihr schwerfiel. In diesem Moment hatte sie das Gefühl, die Wunden auf ihrem Rücken wieder zu spüren. Die Narben jedenfalls würde sie für immer behalten.

Während Nick aufstand und mit Morton die Fotos genauer betrachtete, verließ Agent Dunham das Büro. Unruhig rutschte Libby auf ihrem Stuhl herum und überlegte, ob sie es sich erlauben konnte, mal für einen Moment auf den Flur zu verschwinden oder vielleicht ins Treppenhaus, um frische Luft zu schnappen. Dann erinnerte sie sich wieder daran, was Nick dazu gesagt hatte, und tat es einfach.

„Bin gleich wieder da“, raunte sie Julie zu und verließ das Büro. Besorgt blickte Julie ihr hinterher, sagte aber nichts.

Libby durchquerte das vorgelagerte Großraumbüro und trat hinaus auf den Flur. Hier war die Luft zwar eine andere, aber ihre Übelkeit war immer noch da.

Kurzerhand verschwand sie auf den Toiletten, blieb vor den Waschbecken stehen und zog ihre Ärmel hoch, um mit beiden Händen kaltes Wasser zu schöpfen, das sie sich ins Gesicht spritzte. Sie stützte sich mit den Armen auf die Steinplatte und betrachtete ihr Spiegelbild.

Ihre Reaktion überraschte sie nicht. Solche Momente würde es immer wieder geben, damit würde sie nun umgehen müssen.

Während sie spürte, wie zumindest ihre Lebensgeister zurückkehrten, kam Audrey Dunham aus einer der Toilettenkabinen und ging mit einem Lächeln zu Libby, um sich ihre Hände zu waschen. Als sie Libby im Spiegel ansah, hielt sie inne, sagte aber nichts und senkte eilig den Blick. Libby überlegte schon, ihre Ärmel wieder runterzuziehen, aber dann tat sie es nicht.

„Dieser Fall ist der schlimmste in meiner Laufbahn“, sagte die Agentin aus Seattle. Sie war ähnlich groß wie Libby und hatte auch eine ähnliche Statur, ihr langes dunkelbraunes Haar hatte sie zu einem strengen Zopf gefasst.

„So etwas haben wir auch nicht ständig“, erwiderte Libby.

Während Audrey Dunham Libby im Spiegel ansah, suchte sie nach Worten. Als sie nichts sagte, beendete Libby das unangenehme Schweigen.

„Fragen Sie ruhig.“

Nach kurzem Zögern sagte Audrey: „Ihr Gesicht kam mir vorhin bekannt vor, als Sie aus dem Flieger gestiegen sind. Als SSA Dormer Sie vorgestellt hat, habe ich mich erinnert.“

„Ich weiß, dass mein Gesicht im Fernsehen war. Damit muss ich jetzt leben“, erwiderte Libby.

„Ich wusste nicht …“ Audrey suchte nach Worten. „War das Bailey?“

Libby nickte und hob kurz ihre Arme. „Das hier … und auch die Narbe am Hals. Na ja, zumindest indirekt. Die stammt von der Operation, die mir das Leben gerettet hat. Er hat mir in den Hals geschossen.“

Audrey schluckte und sah Libby nun ganz direkt an. „Tut mir sehr leid. Ich kann mir nicht vorstellen, was Sie erlebt haben müssen.“

„Denken Sie besser nicht drüber nach, falls Sie heute Nacht ruhig schlafen wollen.“

Mit betretener Miene sagte Audrey: „Das ist doch erst drei Monate her.“

Libby nickte, ohne etwas zu erwidern.

„Und dann sind Sie schon wieder im Dienst? Ich meine … dass Sie überhaupt noch dabei sind.“

„Wo soll ich sonst sein? Das ist der Job, den ich immer machen wollte. Ich habe mich fünf Tage lang in der Gewalt eines Serienmörders befunden – ich würde sagen, andere Serienmörder sollten sich vor mir in Acht nehmen, denn ich weiß jetzt mehr über sie, als ihnen lieb ist.“ Libby zog ihre Ärmel wieder herunter und grinste kurz in der Hoffnung, dass es nicht zu aufgesetzt wirkte.

„Bewundernswert“, sagte Audrey.

„Ich versuche nur, irgendwie weiterzumachen. Muss ich ja.“

„Ja, das stimmt. Jetzt habe ich verdammt großen Respekt vor Ihnen, Agent Whitman.“

„Danke – Libby genügt.“ Sie lächelte Audrey zu, die gleich nickte und sagte: „Ich bin Audrey.“

„Was meinst du, wollen wir uns wieder anhören, was die anderen über unschöne Wikingerrituale zu sagen haben?“

Audrey lachte. „Okay. Irgendwann müssen wir ja.“

Libby nickte und ließ ihr den Vortritt. Etwas langsamer folgte sie ihr und setzte sich schließlich wieder neben Julie, die sie fragend von der Seite musterte, aber Libby ging nicht darauf ein.

Audrey saß ihr schräg gegenüber und warf ihr immer wieder halb verstohlene Blicke zu, aber sie lächelte dabei. Es war Libby auch nicht unangenehm. Musste sie sich dafür schämen, was passiert war? Natürlich nicht. Hinsichtlich ihrer Narben tat sie es trotzdem, aber sie stand dazu, dass Vincent sie entführt hatte. Nichts davon war ihre Schuld.

 

 

Die Kollegen aus Seattle konnten den Profilern schon einiges über Deborah Hutchinson verraten. Die Frau hatte allein in einem Apartment in Greenwood nördlich von Downtown gelebt. Ihre letzte Beziehung war ein halbes Jahr zuvor in die Brüche gegangen, aber Familie und Freunde beschrieben sie als geselligen und fröhlichen Menschen.

„Wir haben bereits überprüft, ob sie ein Online-Dating-Profil hatte – Fehlanzeige. Sie war Mitglied in einem Chor, aber am Abend ihres Verschwindens gab es kein Treffen. Sie hatte auch keinen anderen Termin für den Abend. Leider wissen wir nicht mal, ob sie überhaupt je zu Hause angekommen ist, denn ein Auto hatte sie nicht, anhand dessen wir jetzt auf ihren Verbleib Rückschlüsse ziehen könnten“, sagte Agent Morton.

„Knifflig“, fand Nick. „Ich würde sagen, wir sollten trotzdem noch einmal selbst mit den Angehörigen und Freunden sprechen, aber bis dahin müssen wir wissen, wonach wir fragen sollen. Deborah hat sich nicht für Wikiniger oder ähnliche Themen interessiert?“

„Nicht, so weit wir wissen.“

„Wie ist sie ihrem Mörder begegnet?“, überlegte Nick.

„Wie sah ihre Mobilität denn üblicherweise aus? Wie ist sie zur Arbeit gekommen?“, fragte Libby.

„Mit dem Bus. Unsere Annahme ist, dass sie entweder auf dem Heimweg verschwunden ist – sie musste noch etwa eine Viertelmeile von der Bushaltestelle nach Hause laufen. Denkbar wäre auch, dass sie an dem Abend noch einkaufen war und dabei verschwunden ist“, sagte Colbert.

„Haben Sie ihre Kreditkartenbewegungen geprüft?“, fragte Nick.

Morton nickte. „Nichts ersichtlich an dem Abend, aber vielleicht hat sie bar gezahlt.“

„Und wenn wir andersrum denken?“, schlug Libby vor. „Wenn wir uns zuerst den Täter vorstellen. Es ist ihm gelungen, Deborah unbemerkt in seine Gewalt zu bringen – irgendwo in einem bestimmten Bereich um ihre Wohnung herum. Wenn wir keinerlei Hinweise darauf haben, dass sie mit jemandem in Kontakt gestanden hat, ist sie aller Voraussicht nach ein Zufallsopfer. Der Täter hat ihr also irgendwo aufgelauert und sie entweder unbemerkt überwältigt oder er hat sie mit einem Trick weggelockt – das würde bedeuten, dass er über ein Mindestmaß an Sozialkompetenz verfügt und nicht per se misstrauenserweckend wirkt. Für wie wahrscheinlich ich das halten soll, weiß ich nicht, denn andererseits ist er besessen genug von der Idee, dass es irgendwie vorteilhaft für ihn ist, einen Menschen nach einem alten Ritual zu Tode zu foltern.“

Während die Kollegen noch überlegten, nickte Julie und sagte: „Es stimmt, eine Strafe würde eine persönliche Beziehung voraussetzen. Denke ich jedenfalls. Für wahrscheinlicher halte ich, dass es dem Täter hier um den Aspekt des Menschenopfers ging. Das spräche dafür, dass der Täter ein Defizit hat, von dem er sich erhofft, dass er es verbessern kann, indem er einen Menschen auf diese Weise tötet. Damit wird auch die Tatsache, dass er Haut von ihr behalten hat, zu tun haben. Das bedeutet ihm was. Sadismus schließe ich hier auch aus, darum ging es ihm vermutlich nicht – er nimmt aber das Leiden seines Opfers billigend in Kauf. Es gehört was, diese Prozedur durchzuziehen. Oder war das Opfer betäubt?“

Morton schüttelte den Kopf. „Darauf gab es im toxikologischen Bericht keinen Hinweis.“

„Der Täter hat das schon vorher versucht. Er hat entweder schon mal einen Menschen getötet, und sei es aus Versehen – vielleicht als Jugendlicher durch Fahrlässigkeit. Oder er hat sich durch Tierquälerei hervorgetan. Das halte ich sogar für wahrscheinlicher. Ich gehe davon aus, dass er das vorher an Tieren geübt hat. Wir sollten überprüfen, ob entsprechende Anzeigen vorliegen.“

„Das ist ein guter Punkt“, fand Colbert. „An Tiere hatten wir bislang nicht gedacht.“

„Ich würde meiner Kollegin da zustimmen“, sagte Nick. „Wichtig wäre, Eckdaten über den Täter zu kennen – ist es ein Mann oder eine Frau? Wie alt ist der Täter? Welchen sozioökonomischen Hintergrund hat er? Wie lebt er, hat er Arbeit, ist er psychisch krank?“

„Ich bin ziemlich sicher, dass es ein Mann ist. Es gehört nicht nur ein gewisser Kraftaufwand dazu, ein Opfer auf diese Weise zu töten – für eine Frau ist das schon ausnehmend brutal“, sagte Jesse.

„Das ist für jeden ausnehmend brutal. Wenn ich mal daran denke, dass wir erst vor einigen Monaten den Fall einer Mutter hatten, die ihre eigenen Kinder erschlagen und eingemauert oder verbrannt hat …“ Libby schüttelte den Kopf. „Ich würde nicht pauschal in Abrede stellen, dass Frauen zu so etwas in der Lage sind. Wir kennen Gegenbeispiele.“

„Da hast du recht, aber die Statistik spricht hier für einen Mann“, widersprach Nick und Ian stimmte ihm zu.

„Ein Mann, der über irgendeinen Ort verfügt, an dem er Deborah für einen Tag festgehalten hat, bevor er sie brutal zu Tode gefoltert hat. Auch das spricht für einen rituellen Charakter, denn sonst hätte er sie gleich töten können. Das hier war der Versuch eines Menschenopfers. Ich nehme auch nicht an, dass es auf Anhieb das Ergebnis geliefert hat, das der Täter sich erhofft hat. Wenn er sich als schwach und defizitär erlebt, wird er das jetzt vermutlich immer noch tun, da es ja eher unwahrscheinlich ist, dass er tatsächlich die Lebenskraft seines Opfers in sich aufgenommen hat“, sagte Julie.

Nick runzelte nachdenklich die Stirn. „Wir können im Nachhinein nicht mehr feststellen, ob der Frau ausnehmend viel Blut gefehlt hat, oder?“

„Wie meinen Sie das?“, fragte Morton.

„Er könnte ihr Blut getrunken haben. Das weisen wir jetzt aber nicht mehr nach, fürchte ich.“

Libby verzog das Gesicht, aber im Stillen gab sie Nick Recht. Das war durchaus möglich – aber bei der ganzen blutigen Prozedur war vielleicht genügend Blut angefallen, das der Täter gesammelt haben könnte.

„Das ist ein guter Gedanke“, fand Audrey.

„Auf jeden Fall stimme ich Agent Thornton in ihrer Annahme zu, dass das Ganze vermutlich nicht zufriedenstellend für den Täter verlaufen ist. Wir müssen annehmen, dass er es wieder versuchen wird“, sagte Nick.

„Dann bin ich froh, dass Sie hier sind“, sagte Morton.

„Ich würde vorschlagen, wir kümmern uns morgen noch einmal um die Angehörigen und Freunde des Opfers und widmen uns heute der Suche nach dem Täter. Gibt es passende Hinweise auf Tierquälerei? Finden wir Anzeigen wegen Körperverletzung oder Todesfälle, die uns passend erscheinen? Ich möchte auch gleich den Obduktionsbericht noch einmal durchgehen“, sagte Nick.

„Das hört sich gut an. Sie haben erheblich mehr Erfahrung mit solchen Fällen, das merkt man schon jetzt deutlich. Wir hätten nicht gewusst, anhand welcher Merkmale wir bestimmen sollen, mit welcher Art Täter wir es hier zu tun haben“, gab Colbert zu.

„Also dann, teilen wir uns auf“, sagte Nick und unterbreitete den anderen einen Vorschlag, wer sich um welche Angelegenheit kümmern sollte. Einzig Libby wies er keinem Team zu, sondern fragte schließlich: „Wo möchtest du unterstützen?“

Morton warf ihm einen fragenden Blick zu, sagte aber nichts. Libby überlegte kurz, aber dann sagte sie zu Nicks Überraschung: „Lass mich mit in den Obduktionsbericht gucken.“

„In Ordnung“, sagte Nick und die Kollegen teilten sich in kleinere Gruppen auf. Libby und Julie fanden sich mit Colbert zusammen, der bereits einen Hefter mit dem Obduktionsbericht geholt hatte und ihn schon einmal aufschlug.

„Jetzt doch an die Front?“, fragte Julie überrascht.

„Ja, geht wieder. Gehört eben zum Job“, erwiderte Libby pragmatisch. Colbert sagte nichts dazu. Während er die erste Seite überflog, drehte Julie sich fragend zu Nick und Morton um, die in einer Ecke des Raumes standen und sich leise unterhielten. Nun blickte auch Libby interessiert auf.

„Gibt es da irgendwas, was ich wissen muss?“, fragte Morton mit einem überraschend scharfen Unterton. Nick wollte schon antworten, doch als er Libbys Blick auf sich spürte, gab er Morton mit einer Kopfbewegung zu verstehen, dass er ihm folgen sollte, und sie setzten sich zu Julie, Libby und Adam Colbert.

„Agent Whitman ist erst seit einigen Wochen wieder im Dienst. Sie war stark involviert in die Ermittlung gegen den Serienmörder Vincent Bailey, der versucht hat, sie zu töten. Ich lasse es ihr gerade offen, wo sie sich mit ihren Stärken einbringen kann“, sagte Nick, während er sich Libby gegenüber setzte.

„Wie Sie meinen. Ist Ihr Team“, sagte Morton.

Libby überlegte, ob sie etwas dazu sagen sollte, aber sie hatte nicht vor, sich zu verteidigen. Sie hatte sich bewusst dafür entschieden, nicht zu kneifen und sich mit den widerlichen Details des Autopsieberichtes zu befassen.

Deborah Hutchinson war an Schock und Kreislaufversagen gestorben. Sie hatte bei vollem Bewusstsein und ohne jede Betäubung miterlebt, wie der Täter ihr erst mit einem scharfen Messer den Rücken aufgeschnitten und schließlich die Rippen abgeschlagen hatte. Er hatte auch die Schulterblätter gelöst und zur Seite geklappt. Während Libby den Bericht überflog, fragte sie sich, wie lang Deborah wohl noch gelebt hatte, aber darauf ging der Bericht nicht ein.

Ihr Magen war leer gewesen, der Täter hatte ihr also nichts zu essen gegeben. Zu trinken hatte sie jedoch etwas bekommen, denn dehydriert war sie nicht gewesen. Sie hatte nur sehr viel Blut verloren, was Nicks Idee stützte, dass der Täter es möglicherweise getrunken hatte.

„Der Gerichtsmediziner hat nach den vier Tagen, die die Tote im Wald gelegen hat, natürlich Spuren von Tierfraß festgestellt – aber trotzdem ist gut erkennbar, dass der Täter ihr die Haut herausgeschnitten hat“, sagte Morton. Libby versuchte, den Ekel nicht an sich heranzulassen, als sie den Bericht genau studierte. Nach Deborahs Tod hatte der Täter Haut an ihren Körperseiten eingeritzt und abgezogen, fast bis hinunter aufs subkutane Fettgewebe.

„Das hat er gezielt getan“, murmelte sie nachdenklich. „Denke nur ich an Ed Gein?“

Nick schüttelte den Kopf. „Nein, ich auch. Ich versuche gerade, aus diesem Fall etwas abzuleiten.“

„Ed Gein? Der Plainfield Ghoul aus Wisconsin?“, fragte Morton.

„Genau der – eins der Vorbilder für Buffalo Bill aus dem Schweigen der Lämmer“, sagte Nick. „Nach dem Tod seiner Mutter hat Gein aus der Haut seiner weiblichen Opfer etwas genäht, das er den Frauenanzug nannte – bildlich gesprochen wollte er in die Haut seiner Mutter kriechen. Das wäre auch hier denkbar.“

„War er psychisch krank?“

„Bei ihm wurde Schizophrenie diagnostiziert. Tatsächlich war er deshalb sogar schuldunfähig und wurde in die Psychiatrie überstellt.“

„Und hier gab es auch die Konstellation, die es so oft gibt – ein trinkender und gewalttätiger Vater neben einer Mutter, die ihrerseits keine besonders stabile Persönlichkeit hatte. Sehr religiös, streng zu allen außer sich selbst“, sagte Julie. Libby wunderte sich nicht darüber, dass auch Julie inzwischen ein wandelndes Lexikon war.

„Niemand ohne eine schwere psychische Störung tut so etwas“, sagte Libby. „Es ist brutal und unmenschlich. Ich sehe da nur die Möglichkeit, dass der Täter entweder ein sadistischer Psychopath ist oder anderweitig schwer gestört – Schizophrenie würde passen.“

„Widerspricht aber dem Grad der Organisiertheit, den diese Tat zeigt“, sagte Nick.

„Vielleicht hat er die Krankheit ja halbwegs im Griff – wirklich nur halbwegs. Er könnte medikamentös nicht richtig eingestellt sein“, sagte Julie.

„Hat er eventuell einen Helfer?“, überlegte Libby.

„Wäre auch möglich. Ich denke, dass er glaubt, er könne sich die Lebenskraft seines Opfers zu Eigen machen. Der Kannibale von Rotenburg, Armin Meiwes, hat jedenfalls nach seiner Verhaftung noch angegeben, er würde sich besser fühlen, seit er Körperteile seines Opfers Bernd Brandes gegessen hat“, sagte Nick.

„Denkst du hier an Kannibalismus?“, fragte Libby.

„Können wir es ausschließen? Es geht doch in die Richtung, wenn er wirklich das Blut seines Opfers getrunken haben sollte.“

„Das sollten wir im Hinterkopf behalten“, sagte Julie. „Vielleicht finden die Kollegen ja eine Tat, die damit irgendwie zu tun hat.“

Während die anderen überlegten, schaute Libby sich widerstrebend die Fotos von Deborah Hutchinson an, die in der Gerichtsmedizin gemacht worden waren. Unter Neonlicht und in sauberer Umgebung wirkten ihre Verletzungen gleich noch brutaler als auf den Bildern im Wald, die Libby sich auch noch einmal ansah.

Spuren von Tierfraß waren eindeutig zu erkennen. Sie betrachtete die Auffindesituation und kam zu dem Schluss, dass der Täter einfach nur versucht hatte, sie loszuwerden.

„Der ist noch nicht zufrieden“, sagte sie. „Der Täter wird das nochmal versuchen, da bin ich ziemlich sicher.“

„Woran machst du das fest?“, fragte Nick.

„Daran, dass er sie ziemlich achtlos entsorgt hat. Das alles war sehr bedeutungsvoll für ihn – bis sie tot war.“

„Das stimmt.“

Doch so richtig brachte sie das alles nicht weiter. Schließlich berieten sie sich mit den anderen Gruppen, die nach ähnlichen Taten suchten oder versuchten, passende Fälle von Tierquälerei ausfindig zu machen, aber bislang hatten sie nichts gefunden.

„Vielleicht ist es nicht aktenkundig geworden“, sagte Audrey.

„Das ist zu befürchten. Hat eigentlich jemand die Überwachungskamera des Busses überprüft, mit dem Deborah Hutchinson nach Hause gefahren ist?“, fragte Nick.

„Ja, das haben die Kollegen vom Seattle PD bereits getan. Man sieht sie auch, sie steigt ganz normal an ihrer Haltestelle aus – allein“, sagte Morton. „Wir wissen nicht, ob sie auf dem Heimweg nicht einkaufen war, denn zwischen Haltestelle und Wohnung liegt ein Supermarkt.“

„Haben Sie den überprüft?“

„Haben wir, aber der hat nur Kameraattrappen und es erinnert sich niemand an sie. Ich sage ja, es ist wie verhext.“

„Ich würde sagen, wir überprüfen morgen noch einmal alles in Deborahs Umfeld und schauen uns auch mal ihre Wohnung und die Gegend in der Nähe an. Vielleicht finden wir da irgendeinen Hinweis auf ihr Verschwinden“, sagte Nick.

Bis zum Feierabend setzten sie sich zusammen an die Überprüfung passender Fälle von Tierquälerei, Körperverletzung und ähnlichen Delikten. Libby wäre erleichtert gewesen, hätten sie irgendwo die Anzeige einer toten Katze gefunden, die hinterrücks ausgeweidet worden war, aber nichts dergleichen. Der Täter schien bislang unter dem Radar geblieben zu sein.

Morton machte den Vorschlag, zusammen noch etwas essen zu gehen, aber dem schlossen sich nicht alle an. Nick, Ian, Jesse und Alexandra entschieden sich dafür, den Abend mit den Kollegen zu verbringen, während die anderen es vorzogen, ins Hotel zu gehen, das beim FBI gleich um die Ecke lag.

Beim Einchecken baten Julie und Libby kurzerhand darum, ein gemeinsames Zimmer beziehen zu dürfen, was kein Problem war. Grinsend beobachtete Dennis sie dabei und sagte schließlich: „Ihr könnt auch nicht ohne einander, oder?“

„Warum sollen wir uns denn allein auf unseren Zimmern langweilen?“, fragte Julie stirnrunzelnd.

„Ich will euch doch nur ärgern“, erwiderte Dennis auf dem Weg zum Aufzug. Als die drei ihn betreten und die Türen sich geschlossen hatten, fügte er hinzu: „Das war übrigens ziemlich gut heute, das mit dem Blutadler und überhaupt. Das Profiling liegt dir wirklich in den Genen.“

Julie grinste breit. „Ja, irgendwie musste es so kommen.“

„Du warst aber auch gut. Was habe ich gesehen, Morton wollte ein bisschen stänkern?“, richtete Dennis sich an Libby.

„Ja, er hatte wohl das Gefühl, Nick brät mir eine Extrawurst.“

„Tut er ja auch. Finde ich aber völlig okay. Es ist toll, dass du überhaupt schon wieder dabei bist, deshalb solltest du dich nicht stressen lassen.“

„Tue ich nicht“, sagte Libby.

Als sie ihre Zimmer erreicht hatten, verabschiedeten sie sich voneinander und Julie und Libby betraten ihr gemeinsames Zimmer.

„Gute Idee, dass wir zusammen wohnen“, sagte Libby, nachdem sie ihre Tasche abgestellt hatte. „Allein wäre ziemlich doof.“

„Ja, oder? Gefällt mir so auch besser. Und jetzt?“

„Ich will erst mal telefonieren.“

„Ja, ich auch … gleich. Ich frage Kyle mal, was er gerade macht.“

Libby nickte, zog ihre Schuhe aus und setzte sich auf eins der beiden Betten, bevor sie nach ihrem Handy griff und Owen anrief. Er war gleich am Apparat.

„Hey, ich habe mich schon so darauf gefreut, deine Stimme zu hören“, sagte er und entlockte ihr ein Lächeln.

„Ja, ich habe mich auch gefreut. Wie geht es dir?“

„Ich bin ein bisschen einsam und gelangweilt, aber ansonsten ist es okay. Und du? Kommt ihr mit dem Fall gut voran?“

„Nicht wirklich … das ist so blutig, Nick meinte vorhin, so was hätte er in seiner ganzen Laufbahn noch nicht gehabt.“

„Oh, das will was heißen. Warum, worum geht es denn?“

Libby überlegte, ob sie es ihm sagen sollte, fragte dann aber: „Hast du jemals die Serie Vikings gesehen?“

„Ja, die ersten zwei oder drei Staffeln, warum?“

„Julie hat heute die Parallele gezogen. Da gibt es wohl eine Folge, in der jemand ziemlich grausam hingerichtet wird.“

„Ach du liebe Güte. Ja, da waren die Wikinger durchaus kreativ. Mir ist der Blutadler im Gedächtnis geblieben.“

„Ja … genau das. Auf diese Weise wurde hier eine Frau getötet.“

„Oh. Wow. Wieder einmal beneide ich dich nicht um deinen Job.“

„Ich mich gerade auch nicht, aber das gehört eben dazu.“

„Kein Wunder, dass sie euch gerufen haben.“

Libby grinste. „Leider haben wir noch keinen guten Ansatz. Mal sehen, wie sich das entwickelt. Und was machst du gerade?“

„Gute Frage, im Moment fernsehen. Benny hatte heute leider keine Zeit. Vorhin habe ich noch ein bisschen ausgepackt und aufgeräumt, aber jetzt habe ich keine Lust mehr. Eigentlich sitze ich gerade hier, bin einsam und vermisse dich.“

Das entlockte Libby ein Lächeln. „Ich vermisse dich auch. Wenigstens bin ich nicht einsam, ich teile mir jetzt ein Zimmer mit Julie.“

„Hi“, rief Julie gleich aus dem Hintergrund, während sie in ihrer Tasche herumwühlte.

„Oh, das ist doch toll. Ihr zwei seid ja wirklich ein Herz und eine Seele.“

„So wie wir auch“, erwiderte Libby.

„Ich hoffe, du bist bald wieder hier.“

„Ja, hoffe ich auch. Ich muss noch dran denken, meinen Termin bei Michael am Donnerstag abzusagen – oder soll ich ihm sagen, dass du kommst?“

„Keine Ahnung … ich überleg mal. Seit gestern geht es eigentlich wieder. Ich sage mir die ganze Zeit, dass es normal ist, dass du auch mal beruflich unterwegs bist. Damit muss ich klarkommen.“

„Das packst du schon.“

Sie redeten noch ein bisschen, während Julie versuchte, sich im Hotelzimmer häuslich einzurichten. Irgendwann verabschiedete Libby sich von Owen und legte schließlich wieder auf.

„Und, hat er sich eingekriegt?“, fragte Julie.

„Es hörte sich so an. Er klang ein bisschen müde, aber eigentlich nicht schlecht. Er hat übrigens auch Vikings gesehen.“

„Mich wundert ja eher, dass ihr anderen das alle nicht gesehen habt“, erwiderte Julie.

„War bisher nicht so mein Thema. Aber jetzt frage ich mich ja schon, was bei dieser Tat dahintersteckt. Das ist so brutal, so krank … und trotzdem hat er uns keine Spur übrig gelassen. Ich weiß noch nicht, was ich davon halten soll.“

„Ich auch nicht, aber wir finden das raus. Wie sagte Nick heute? Wir sind die besten Profiler Amerikas. Der Killer wird sich wundern“, verkündete Julie selbstbewusst.

 

***

 

Diesmal musste es ein anderer Park sein. Man durfte ihn nicht sehen, nicht bemerken. Deshalb hatte er auf den Einbruch der Nacht gewartet und beobachtete nun das Treiben im Park.

Menschen hasteten achtlos vorbei. Manche spazierten auch etwas ruhiger über die Wege. Er sah Teenager und Männer mit Hunden. Es dauerte eine Weile, bis sein Blick eine Frau streifte, die ebenfalls mit einem angeleinten Hund unterwegs war. Eine hübsche Frau, ganz allein.

Die Gelegenheit war günstig, zumal sie in seine Richtung kam. Mit dem Hund würde er schon fertig werden, der war klein und stellte keine Gefahr dar.

Im Park war es ruhiger geworden. Die Frau kam weiter in seine Richtung. Er beschloss, besonders vorsichtig zu sein und öffnete die hintere Tür schon einmal. Die Rückbank hatte er umgeklappt, er hockte auf der Ablagefläche und war gespannt wie eine Feder. Durch die dunkel getönten Scheiben fiel es ihm schwer, sie zu sehen.

Sie kam immer näher. Sie würde genau am Auto vorbeigehen. Er war so aufmerksam wie selten und beobachtete jeden ihrer Schritte. Es musste klappen – es war so wichtig für ihn, sie zu haben. Er hatte doch gerade erst angefangen.

Da kam sie. Jetzt ging sie am Auto vorbei. Ganz vorsichtig öffnete er die Tür, sprang mit einem Satz aus dem Wagen und huschte hinter sie. In unmittelbarer Nähe war niemand zu sehen. Es war niemand da, der sah, wie er hinter sie glitt, sie fest packte und seine Hand über ihren Mund legte. Das dämpfte ihren ängstlichen Schrei. Sofort begann sie, um sich zu schlagen. Die Hundeleine ließ sie los, der Hund schoss kläffend davon. Ein Problem weniger.

Hastig und dennoch nicht unaufmerksam schleifte er sie rücklings ins Auto und schnappte sich das vorbereitete Klebeband. Die Tür stand noch offen, als er sich über sie beugte, ihr ein Stück Klebeband auf den Mund drückte und sie erst dann umdrehte. Er zog ihr die Hände auf den Rücken und fesselte sie mit dem längeren Stück des Gewebebandes. Sie zappelte und wimmerte erstickt, doch das war ihm gleich. Zuletzt fesselte er auch noch ihre Füße, nachdem er die Autotür zugeschlagen hatte.

Sie weinte und blickte ihn aus angsterfüllten Augen an. Sicher, sie hielt ihn bestimmt für einen Triebtäter, der sich an ihr vergehen wollte. Aber so war er nicht. Er hatte ganz andere Absichten. Die würden ihr gewiss auch nicht gefallen, aber er würde ihre Ehre nicht verletzen. Im Gegenteil, er hielt ihre Ehre hoch – genau darum ging es ihm. Um ihre Reinheit, ihre Persönlichkeit, ihr weibliches Wesen. Das ehrte er so sehr, dass er es vollkommen vereinnahmen wollte, da blieb ihm keine Wahl.

„Hab keine Angst“, sagte er deshalb. „Ich habe keine schlimmen Absichten mit dir, ganz im Gegenteil. Du bist nur nicht in der Lage, es zu verstehen – zumindest jetzt noch nicht. Ich werde dich nicht schlecht behandeln. Bitte sei ganz ruhig.“

Aber sie war nicht ruhig. Sie war alles andere als ruhig. Sie zappelte und wimmerte nach Kräften, woraufhin er sie zur Seite in Richtung Kofferraum rollte und ihr sein Jagdmesser vors Gesicht hielt.

„Ich kann auch anders, wenn es erforderlich werden sollte. Du solltest jetzt besser ruhig sein. Wenn du es nicht bist, muss ich dir weh tun – und jedem, der uns hört. Es wird keine Zeugen geben.“

Das zeigte mehr Wirkung. Ihr Gesicht war tränennass, als er zu der Decke griff, die er bereitgelegt hatte. Mit einer raschen Bewegung breitete er die Decke über sie und klappte die Rückbank wieder hoch, bevor er auf den Fahrersitz kletterte und losfuhr.

Beim letzten Mal hatte es auch funktioniert. Das sagte er sich immer wieder, während er losfuhr und sich auf den Weg zum Fährhafen machte.

 

 

 

Dienstag, 15. November

 

Als der Handywecker klingelte, hatte Libby nicht die geringste Lust, aufzustehen. Sie hatte nicht gut geschlafen, weil sie immer wieder wirre Bilder von Deborah Hutchinson vor sich gesehen hatte. Die Knoten in ihren Haaren sprachen dafür, dass sie sich ziemlich herumgewälzt hatte, aber Julie schien nichts gemerkt zu haben, denn sie sagte nichts.

„Ich gehe mal duschen“, kündigte Libby schließlich an, weil sie hoffte, sich dadurch etwas wacher zu fühlen.

„Okay … dann kann ich ja noch etwas liegen bleiben“, tat Julie grinsend vom Nachbarbett aus kund. Unmotiviert verschwand Libby im Bad, aber sich unter die Dusche zu stellen, tat ihr tatsächlich gut.

Es gefiel ihr, sich mit Julie ein Zimmer zu teilen. Das war fast ein wenig wie in Quantico. Der vorige Abend war sehr gemütlich gewesen, sie hatten sich noch eine Kleinigkeit vom Zimmerservice kommen lassen und nachdem Julie mit Kyle gesprochen hatte, hatten die beiden Freundinnen sich lange unterhalten.

Als Libby aus der Dusche stieg, stellte sie fest, dass sie gar nicht daran gedacht hatte, sich ihre Kleidung mit ins Bad zu nehmen. Sie wickelte ein Handtuch um ihren Kopf und schlang ein zweites um ihren Körper, bevor sie ins Zimmer ging, um sich ihre Sachen zusammenzusuchen. Julie hatte den Fernseher eingeschaltet und schaute sich die Nachrichten an.

„Wir sind übrigens im Fernsehen“, sagte sie. „Also, nicht direkt – aber es wurde erwähnt, dass FBI-Profiler wegen eines brutalen Mordfalls hier sind.“

„Das blieb natürlich nicht lang geheim“, sagte Libby. Sie hatte ihre Kleidung auf dem Arm und wollte schon wieder im Bad verschwinden, als sie im Augenwinkel sah, wie Julie sich langsam aufrecht setzte und sie ungläubig anstarrte.

Überrascht blieb Libby stehen. „Was ist los?“

„Ich … sorry. Vergiss es. Als du dich gerade umgedreht hast …“

Libby verstand. Julie hatte die Narben zwischen ihren Schultern gesehen.

Während sie noch überlegte, was sie sagen sollte, sprang Julie aus dem Bett und lief mit Tränen in den Augen zu ihr, um sie zu umarmen.

„Ich hatte keine Ahnung …“

Irgendwie schaffte Libby es noch, ihre Sachen aufs Bett zu werfen und Julie zu umarmen. „Aber ich habe es doch erzählt.“

„Ja, sicher, aber es zu sehen ist anders. Was hat er dir bloß angetan?“, fragte Julie mit zitternder Stimme. Ihre Augen standen voller Tränen.

Als Julie sie wieder losließ, zog Libby das große Duschhandtuch so weit hoch, dass auch die Narben an ihren Beinen sichtbar wurden. Julies Hand zitterte, als sie sich die Tränen abwischte. „Das ist so furchtbar …“

„Damit muss ich jetzt leben.“

„Ich würde ihn am liebsten umbringen, wenn du das nicht schon längst erledigt hättest.“

Libby lachte unwillig. „Ja, zum Glück habe ich das. Und weißt du, dass das hilft?“

„Das kann ich mir vorstellen. Oh, verdammt … Es grenzt wirklich an ein Wunder, dass du deinen Job noch machen willst.“

„Vincent Bailey zerstört mein Leben nicht.“ Entschlossen pflückte Libby ihre Kleidung vom Bett und verschwand wieder im Bad.

Sie hätte vorsichtig sein müssen. Julie hätte das nicht sehen sollen. Sie hätte sich doch denken können, dass es ihrer Freundin etwas ausmachte.

Später beim Frühstück warfen sie einander verstohlene Blicke zu, doch sie sagten nichts mehr und versuchte, sich so unbefangen wie möglich auch mit den anderen zu unterhalten. Anschließend gingen sie hinüber zum FBI, wo die einheimischen Agents sie freundlich begrüßten. Besonders lang hielten sie sich jedoch nicht im Büro auf, sondern machten sich in drei Gruppen auf den Weg, um mehr über Deborah und ihr Verschwinden in Erfahrung zu bringen.

Während Nick, Alexandra, Ian und Colbert zu Deborahs Eltern fuhren, nahmen sich Jesse, Dennis und Morton noch einmal ihren Ex-Freund vor. Libby, Julie und Audrey hingegen versuchten, Deborahs Heimweg nachzuvollziehen. Gemeinsam fuhren sie die Strecke von Deborahs Arbeitsplatz bis zu ihrem Zuhause mit dem Bus und liefen den Weg von der Haltestelle bis zu Deborahs Wohnung. Für ein kurzes Stück folgte der Weg einer Hauptstraße mit einigen Geschäften, bevor er in ein Wohngebiet abzweigte und es etwas ruhiger wurde. Mittendrin lag, wie Morton und seine Kollegen bereits beschrieben hatten, ein Supermarkt, von dem sie wussten, dass Deborah dort häufiger eingekauft hatte.

Aufmerksam nahmen sie alles unter die Lupe. Die Gegend wirkte ziemlich unauffällig und ruhig. Zwischendurch kamen sie an einer Schule vorbei, gleich gegenüber von Deborahs Apartmenthaus lag ein kleiner Park.

„Der Täter hatte hier jede Möglichkeit, ihr aufzulauern und sie unbemerkt zu kidnappen, wenn er das wollte“, sagte Libby mit Blick auf die öffentliche Grünfläche.

„Aber nicht tagsüber“, widersprach Julie. „Bis zum Einbruch der Dunkelheit sind bestimmt noch Kids auf dem Schulhof.“

„Ja, aber du hast gesehen, wie früh es hier im Moment dunkel wird.“

Nachdenklich verschränkte Audrey die Arme vor der Brust. „Und wenn sie abends noch mal los zum Supermarkt ist, weil ihr was gefehlt hat?“

Libby warf ihr einen nachdenklichen Blick zu und nickte schließlich.

„Klingt plausibel. Im Dunkeln hat sie vielleicht den Täter nicht bemerkt und es hat auch niemand mitbekommen, wie er sie überwältigt hat.“

„Wenn wir davon ausgehen, dass es so passiert ist. Vielleicht hat er ja auch dieselbe Nummer gebracht wie Buffalo Bill im Schweigen der Lämmer“, sagte Julie und ging nahtlos zu einer Imitation über. „Oh, Miss! Bitte, können Sie mir helfen?“

Audrey lachte. „Wirklich sehr talentiert, Julie.“

„Die Nummer mit dem Sofa in dem Van war ganz schön fies.“

„Ob das wirklich klappen würde? Fällt heutzutage noch eine Frau auf so etwas herein?“

„Die Frage ist natürlich, wie viel hier abends so los ist. Gerade sind wir ja eindeutig zur falschen Tageszeit hier“, sagte Libby.

„Ich favorisiere das trotzdem. Sie ist im Dunkeln noch mal zum Supermarkt und nie zurückgekehrt. Irgendwie sowas“, sagte Julie.

„Gut möglich. Wollen wir in ihre Wohnung?“, schlug Audrey vor und die anderen waren einverstanden.

Deborah hatte in einem gepflegten, von Bäumen umstandenen Apartmenthaus gelebt – etwa seit ihrer Trennung von ihrem letzten Freund, was im Inneren der Wohnung auch gut sichtbar war. Alles wirkte noch aufgeräumt und neu, es war sauber, beinahe ein bisschen steril.

„Die Kollegen vom Seattle PD haben schon alles auf den Kopf gestellt und wir auch nochmal. Keine Hinweise auf Wikinger, geheime Liebschaften oder sonst irgendwas, was uns helfen würde“, sagte Audrey.

„Zufallsopfer … ich bleib dabei“, verkündete Julie selbstbewusst.

„Bitte nicht, das erschwert unsere Ermittlungen immens“, brummte Libby unzufrieden.

„Weiß ich. Trotzdem sieht alles danach aus.“

„Vielleicht hat er sie auch beobachtet, ohne dass sie es wusste.“

„Das macht es ja nicht besser.“

Libby begann, alles genauestens in Augenschein zu nehmen. Sie durchstöberte das Bad, fand aber nichts Interessantes. Deborah hatte eine Vorliebe für teure Shampoos gehabt und sie besaß eine kleine Parfümsammlung.

In ihrem Schlafzimmer spähte Libby in jede Schublade. Deborah hatte sich gern elegant und weiblich gekleidet, besaß verführerische Unterwäsche und hatte in ihrer Nachttischschublade ganz klassisch einige Sexspielzeuge versteckt. Selbst ist die Singlefrau, dachte Libby, während sie zu den anderen ins Wohnzimmer zurückkehrte.

„Wir haben ihr Handy und ihr Tablet gründlich auf den Kopf gestellt“, berichtete Audrey. „Kein Online-Dating, keine schlüpfrigen Mails, keine SMS an neue Kontakte. Nichts.“

„Und ziemlich wenig, was mit Wikingern zu tun hat“, sagte Julie.

„Hat denn schon jemand die Überwachungsaufnahmen anderer Läden auf ihrem Heimweg überprüft?“, fragte Libby.

„Damit haben wir begonnen. Zu dem Zeitpunkt, als sie nach Hause gegangen ist, war nichts Interessantes dabei. Wir haben aber noch keine späteren Aufnahmen geprüft.“

„Oder welche vom nächsten Morgen“, sagte Julie.

„Ja, das sollten wir später unbedingt nachholen“, sagte Audrey.

Als sie in Deborahs Wohnung alles gesehen hatten, kehrten sie zum FBI zurück. Die übrigen Kollegen waren noch nicht wieder im Büro, weshalb Audrey sich allein darum kümmerte, die Überwachungsaufnahmen der Geschäfte zusammenzutragen. Zum Vergleich schauten sie sich noch einmal die Aufnahmen aus dem Bus an, bevor sie sich andere Videos vorknöpften. Libby hatte eins von einem kleinen Elektroladen, Julie prüfte das einer Apotheke und Audrey hatte sich die Aufnahmen eines Liquor Shops geschnappt.

War Deborah irgendwann noch mal von zu Hause aufgebrochen? Libby konnte es sich gut vorstellen, aber sie fand es verdammt schwer, auf den Aufnahmen irgendwas zu erkennen. Es war dunkel und auch, wenn es an dem Abend nicht geregnet hatte, war die Sicht nicht gut.

Sie spulte die Aufnahmen mit dreifacher Geschwindigkeit ab und glaubte schon gar nicht mehr daran, etwas zu finden, als ihr plötzlich die Gestalt einer Frau auffiel, die sie für Deborah hielt. Sie pausierte die Aufnahme und schaute sich alles noch einmal an.

Tatsächlich – etwa gegen Viertel nach neun war Deborah am Elektroladen vorbeigelaufen.

„Seht mal“, sagte Libby und zeigte den anderen, was sie gefunden hatte.

„Das ist sie. Wann war das?“, fragte Audrey.

„21.13 Uhr. Keine Ahnung, wann sie bei euch drauf sein müsste, aber vielleicht findet ihr sie ja.“

Die anderen vertieften ihre Suche ebenfalls und tatsächlich – Deborah war noch einmal zum Supermarkt gegangen. Gemeinsam versuchten sie, herauszufinden, ob und wann sie zurückgekehrt war und keine zehn Minuten später hatten sie Deborah auf den Aufnahmen, die sie mit einer Einkaufstüte in der Hand zeigten.

„Das war dann wohl nur ein kleiner Einkauf“, sagte Libby. In diesem Moment betraten Nick und die anderen das Büro.

„Ihr seid ja schon wieder da“, stellte Nick fest. „Habt ihr was gefunden?“

„Schon möglich“, sagte Libby, bevor Julie sie in ihre Erkenntnisse einweihte und sie ihnen zeigten, was sie entdeckt hatten.

„Sie war noch mal einkaufen?“, sagte Ian erstaunt.

„Ja, und irgendwie komme ich nicht von der Idee weg, dass der Täter sie möglicherweise auf dem Rückweg vor dem Park gleich neben ihrem Apartmenthaus geschnappt haben könnte“, sagte Libby.

„Gut möglich. Wenn es das ist, haben wir vielleicht endlich eine Spur“, sagte Nick.

„Wie war es denn bei euch?“, fragte Julie.

„Nicht ganz so interessant. Die Eltern sind verständlicherweise immer noch außer sich und verzweifelt, aber eine große Hilfe waren sie, ehrlich gesagt, nicht. Sie konnten uns keine Hinweise liefern, die uns irgendwie weiterhelfen würden“, sagte Nick.

„Dann hoffe ich, dass die anderen gleich etwas haben oder wir vielleicht anderweitig dem Täter auf die Spur kommen“, murmelte Julie.

Nick lächelte. „Immerhin habt ihr ja etwas entdeckt.“

„Hoffentlich hilft es.“

Gemeinsam nahmen sie die Überwachungsaufnahmen noch eingehender unter die Lupe, als plötzlich Libbys Handy vibrierte und ihr den Erhalt einer Nachricht anzeigte. Sie zog es aus der Tasche und warf unter dem Schreibtisch einen Blick darauf, doch der Hinweis auf dem Bildschirm barg eine Überraschung. Die Nachricht stammte nicht von Owen – sondern von Kieran.

Verdammt. Also hatte er es gemerkt. Sie hatte befürchtet, dass das irgendwann passierte. Sie atmete tief durch und las, was er geschrieben hatte.

Hey ... in den Nachrichten hieß es, dass dein Team vor Ort ist. Bist du auch hier?

Libby entsperrte ihr Handy und überlegte, was sie antworten sollte. Jetzt war genau das passiert, wovon sie gehofft hatte, dass es nicht passieren würde. Zunächst beschloss sie, so schlicht wie möglich zu antworten.

Ja, ich bin auch in Seattle. Warum fragst du?

Seine Antwort kam überraschend schnell. Hast du mir absichtlich nichts gesagt?

Das wurde ja immer schöner – er legte den Finger genau in die Wunde. Kieran war natürlich nicht auf den Kopf gefallen – aber er verdiente die Wahrheit. Oder zumindest verdiente er es nicht, dass sie ihn jetzt anlog.

Ich wusste nicht, was ich sagen soll, antwortete sie.

Diesmal brauchte die Antwort etwas länger. Kann ich verstehen. Trotzdem finde ich es toll, dass du hier bist, und ich möchte dich fragen, ob du dir vorstellen kannst, mich zu treffen. Ich würde mich sehr freuen.

Jetzt war es passiert. Er hatte gefragt. Was sollte sie antworten? Sie hatte Owen versprochen, Kieran nicht von sich aus zu kontaktieren und daran hatte sie sich gehalten. Aber natürlich hatte Kieran es gemerkt …

Sie musste an Julies Reaktion denken und antwortete kurzerhand: Das wäre schön. Was schwebt dir vor?

Wie Owen dazu stand, würde sie später klären. Es war ja nicht so, als hätte sie seine Erlaubnis gebraucht. Zu befürchten hatte er auch nichts. Sollte sie Kieran wirklich seinetwegen absagen? Dazu war sie eigentlich nicht bereit.

Kieran schickte ihr wieder eine Antwort. Ich kenne da eine gemütliche kleine Bar in der Nähe vom FBI, Western Avenue nähe Waterfront. Wollen wir uns da heute Abend treffen?

Libby überlegte nur kurz und antwortete: Sehr gern, ich freue mich schon. Passt dir neunzehn Uhr?

Kieran war einverstanden und Libby war froh, als er nichts weiter schrieb. Sie war verwirrt, das Ganze war sowieso schon peinlich genug.

Aber wie sollte sie das Problem mit Owen lösen? Sie wusste genau, wenn sie ihm das jetzt sagte, würde er in Virginia sitzen und explodieren. Vielleicht redete er es ihr noch aus.

Nein, sie beschloss, es darauf ankommen zu lassen. Sie würde es tun, das konnte er ihr nicht verbieten. Schließlich tat sie nichts, weshalb er eifersüchtig hätte sein müssen.

„Alles gut?“, fragte Julie leise von der Seite. Libby überlegte, was sie antworten sollte, und schob ihr wortlos das Handy hin, so dass Julie den Nachrichtenverlauf selbst lesen konnte. Nachdem Julie sie überflogen hatte, reichte sie Libby das Handy zurück und nickte mit einem zustimmenden Gesichtsausdruck. In diesem Augenblick vertieften die beiden es nicht weiter, zumal nun Morton und die anderen im Büro erschienen.

„Oh, hätte nicht gedacht, dass wir die letzten sind“, sagte Morton, als er das Büro betrat.

„Wir waren ziemlich produktiv“, sagte Nick. „Agent Dunham und meine Kolleginnen haben sogar etwas gefunden.“

„Sehen Sie“, sagte Audrey und zeigte Morton die Überwachungsaufnahmen.

„Von wann ist das?“, fragte er.

„Abends um neun. Sie war noch mal im Supermarkt. Sie geht auch zurück, aber wir vermuten jetzt, dass sie auf dem Rückweg unweit ihres Apartments vor dem Park verschwunden sein könnte.“

„Klingt plausibel“, fand Morton. „Gute Arbeit.“

„Was gab es bei Ihnen?“, fragte Nick.

„Der Ex-Freund ist weder eine Hilfe, noch halte ich ihn für verdächtig. Keinerlei Hinweise auf Vorlieben für Wikinger. Er sagte, er habe Deborah seit ihrem Auszug nicht mehr gesehen. Nach der Mittagspause würde ich noch mal mit ihren Freundinnen sprechen, auch wenn ich mir davon nicht viel erhoffe. Ihre Erkenntnisse“, Morton blickte zu Julie, Libby und Audrey, „weisen ja darauf hin, dass sie tatsächlich ein Zufallsopfer war.“

„Das verrät uns immerhin etwas über den Täter. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er ihr aufgelauert und sie überwältigt hat. Vielleicht war es einfach eine fatale Entscheidung ihrerseits, um diese Zeit noch mal zum Supermarkt zu gehen. Möglicherweise hat er dort auf ein passendes Opfer gewartet und das war sie“, sagte Nick.

„Aber wenn sie angegriffen wurde – warum hat das niemand mitbekommen?“, fragte Dennis.

„Da fallen mir viele Möglichkeiten ein.“

„Elektroschocker zum Beispiel“, sagte Libby.

„Wir müssen an die Öffentlichkeit gehen“, sagte Morton. „Wir nennen den Zeitpunkt ihres Verschwindens und den Umkreis, in dem es passiert ist. Vielleicht hat doch jemand etwas gesehen.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752143768
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (September)
Schlagworte
Wikinger Profiling Profiler Seattle Serienmörder Serienmord Spannung Blutadler FBI Psychothriller Krimi Ermittler

Autor

  • Dania Dicken (Autor:in)

Dania Dicken, Jahrgang 1985, schreibt seit der Kindheit. Die in Krefeld lebende Autorin hat Psychologie und Informatik studiert und als Online-Redakteurin gearbeitet. Mit den Grundlagen aus dem Psychologiestudium schreibt sie Psychothriller zum Thema Profiling. Bei Bastei Lübbe hat sie die Profiler-Reihe und "Profiling Murder" veröffentlicht, im Eigenverlag erscheinen "Die Seele des Bösen" und ihre Fantasyromane. Die Thriller-Reihe um die FBI-Profilerin Libby Whitman ist ihr neuestes Projekt.