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Blue - tödliche Magie

von Sabineee Berger (Autor:in)
300 Seiten

Zusammenfassung

Blue wurde von den Göttern gezeichnet und für ein Vergehen bestraft, das er nicht ungeschehen machen kann. Sein Körper ist übersät mit blauen Linien, die Zeugnis seiner Schande sind und den Tod bringen. Jeder, der ihm zu nahe kommt oder seine Haut berührt, stirbt. Als Ausgestoßener lebt er in absoluter Isolation, bis er von einem skrupellosen Menschenhändler für seine Zwecke entdeckt und gefangen genommen wird. Auf brutale Weise soll er gezwungen werden für ihn zu arbeiten, doch Blue schafft es vehement sich zu verweigern. Erst als drei junge Mädchen entführt und zur Prostitution gezwungen werden sollen, riskiert Blue alles für ihre Rettung. Und das ist nicht weiter verwunderlich, denn eine der Frauen scheint eine unerklärliche Verbindung zu seiner Magie zu haben.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhalt

Prolog 3

01. Kapitel 6

02. Kapitel 15

03. Kapitel 21

04. Kapitel 24

05. Kapitel 32

06. Kapitel 38

07. Kapitel 42

08. Kapitel 44

09. Kapitel 51

10. Kapitel 59

11. Kapitel 62

12. Kapitel 65

13. Kapitel 68

14. Kapitel 71

15. Kapitel 75

16. Kapitel 79

17. Kapitel 83

18. Kapitel 85

19. Kapitel 91

20. Kapitel 93

21. Kapitel 96

22. Kapitel 99

24. Kapitel 102

25. Kapitel 104

26. Kapitel 106

27. Kapitel 109

28. Kapitel 112

29. Kapitel 116

30. Kapitel 123

31. Kapitel 126

32. Kapitel 129

33. Kapitel 134

34. Kapitel 138

35. Kapitel 141

36. Kapitel 145

37. Kapitel 149

38. Kapitel 154

39. Kapitel 156

40. Kapitel 160

Epilog 165

EBOOKS von Sabineee Berger 170

Impressum 172


Prolog

„Steward-Alarm von links“, kicherte Vanessa und beugte sich zu ihren beiden Freundinnen. Die eine hielt sich vor lauter Lachen die Nase zu, die andere versteckte sich demonstrativ hinter ihrem leeren Cocktailglas. Der Steward musste schon der Obertrottel sein, wenn er nicht mitbekam, dass sie alle drei mit ihm flirteten. Er sah aber auch zum Anbeißen aus mit seiner weißen Uniform, den breiten Schultern und dem kantigen Gesicht. Zu dumm, dass er gar so hellblond war, sonst wäre er von den Dreien zum absoluten Traummann gekürt worden. Sie standen mehr auf dunkel, dunkel und nochmals dunkel. Das kurbelte so schön ihre verruchten Fantasien an. Blond wirkte eben meist zu brav.

Wieder lautes Gekicher. Endlich warf der Steward einen Blick in ihre Richtung. Leonie zwinkerte ihm keck zu, Annika winkte euphorisch und Vanessa saugte wie blöd an ihrem Cocktail. Ein geschmeicheltes Lächeln überzog das Gesicht des Mannes. Dann gab er sich einen Ruck und kam auf die drei jungen Damen zu.

„Bei den Ladies alles in Ordnung? Darf ich Ihnen vielleicht noch etwas bringen?“ Seine Stimme war rau, sein Auftreten sehr freundlich. Blonde Wimpern, blonde Augenbrauen, fast weißblondes Haar und Augen so blau wie das Meer. Vanessa strahlte ihn stumm an und saugte weiter am langen Strohhalm, Leonie kicherte und Annika, die Selbstbewussteste in der Runde, sah dem Mann tief in die Augen und gab im Namen aller Antwort.

„Was können Sie denn so empfehlen, Herr Steward?“ Den beiden anderen war es ein Rätsel, wie Annika eine so harmlose Frage derart erotisch aufladen konnte. In Flirtangelegenheiten hatte ihre Freundin eindeutig die Nase vorne, Vanessa und Leonie noch eine Menge zu lernen. Aber genau dafür waren sie ja schließlich hier! Statt der dämlichen Schulabschlussreise mit allen Spinnern und Spinnerinnen (das Wort alleine war schon grässlich) hatten sie sich für den zweiwöchigen Urlaub auf diesem Luxusdampfer entschieden. Zum Glück waren ihre Eltern gut situiert und klammerten nicht so wie andere. Die Oldies hatten einem Urlaub zu dritt nicht nur zugestimmt, sondern den Mädchen sogar eine Menge Kondome mit eingepackt. Ja, ihre Eltern waren toll, vielleicht ein wenig unbekümmert, aber immerhin keine Spießer. Der Reichtum und die Lockerheit im Umgang mit ihren Kindern waren vermutlich der Grund, warum die Drei nie wirklich Anschluss in ihrer Klasse gefunden hatten. Sie wirkten für die meisten wie aus einer anderen Welt, obwohl sie keine verzogenen Gören waren. Ihre Eltern waren miteinander befreundet und hatten sich die Entwicklung ihrer Töchter gut überlegt. Sie sollten nicht elitär und abgehoben aufwachsen, sondern bereits in der Schule das normale Leben kennenlernen, sich unters Volk mischen und Basics lernen. Natürlich stets mit der Möglichkeit, auch das schöne Leben der Reichen zu genießen und eine gute Ausbildung mit Studium abzuschließen. Und die Mädchen hatten ihre Eltern nie enttäuscht! Sie mochten in der Schule nicht die Lieblinge der Nation gewesen sein, aber alle drei hatten ihr Abitur mit Auszeichnung bestanden. Gutes Aussehen und Intelligenz waren also durchaus vereinbar.

Leonie war so ein bisschen das Modepüppchen und wollte nach dem Sommer mit einem Mode- und Designstudium beginnen. Annika, die Taffe, hatte sich – gegen jede Erwartung – für ein trockenes Jurastudium entschieden und Vanessa, die Schüchternste von allen, gar für ein Medizinstudium. Ausgerechnet das Nesthäkchen wollte sich mit Knochen, Muskeln und all dem unappetitlichen Zeug auseinandersetzen. Leonie und Annika hatten darüber nur verständnislos den Kopf geschüttelt, aber auch erkannt, dass sie sich nicht zu sehr einmischen durften. Außerdem waren sie nicht hier, um über seltsame Entscheidungen zu richten, sondern um zu feiern. Die Schulzeit war vorüber und ihre Mädchenjahre ebenso. Dazu gab es jetzt gerade nur blauen Himmel, Sonne, Pool und Meer. Das Kreuzschiff war besonders luxuriös und bot eine Menge Männer in schicken Uniformen, sowie vermutlich muskelbepackte und verschwitzte Varianten davon im Maschinenraum. Die Mädchen hatten diesen Bereich zwar noch nicht betreten, doch dafür redeten sie umso öfter davon. Vorfreude war eben auch eine Freude und der Besuch im Maschinenraum nur eine Frage der Zeit. Generell stand Gaffen mit einem großen Ausrufezeichen auf all ihren To-do-Listen. Und warum auch nicht? Sie waren ausgelassen, hatten endlich die Chance, den Rest der Welt zu entdecken und wollten dabei Party, Party und nochmals Party machen.

„Ich heiße Alexander und kann euch gerne noch eine Runde Cocktails bringen“, meinte der fesche Steward. „Mojitos sind derzeit die Renner. Crushed Ice, Zucker, viel Minze, Limetten und natürlich Havanna Club Rum.“ Er lächelte und zeigte eine Reihe strahlend weißer Zähne. Er fand es ganz angenehm, dass die jungen Damen mit ihm flirteten. Die Blonde gefiel ihm besonders gut, weil sie so etwas Frisches und Verletzliches ausstrahlte. Aber auch die Braunhaarige mit den großen Brüsten und die Rothaarige mit den vielen Sommersprossen waren, seiner Meinung nach, nicht zu verachten. So wie die Mädchen in ihren ultraknappen Bikinis ständig lachten, hätten sie gut und gerne einem Modemagazin entspringen können. Schöne Frauen, schlank und rank und doch an den richtigen Stellen gut bestückt. Sein Lächeln wurde breiter. Alleinstehende Mädchen galten hier seit jeher als Freiwild und so wie die sich aufführten, warteten sie nur auf die Gelegenheit, einen richtigen Mann zwischen den Schenkeln zu spüren. Der Schiffsmannschaft war es zwar untersagt mit Gästen ins Bett zu gehen, aber der Teufel sollte ihn holen, wenn er nicht wenigstens eine dieser Rosen im Laufe der Reise pflücken würde.

„Drei Mal Mojitoooo“, quietschte Leonie und Annika sah sie an, als wäre sie meschugge geworden.

„DU nimmst gleich drei?“, spöttelte sie und brachte damit alle anderen zum Lachen, auch den süßen Steward.

„Natürlich für uns alle“, erklärte Leonie empört. Sie hatte es nicht so gerne, wenn sich jemand über sie lustig machte, selbst wenn es ihre beste Freundin war.

„Dann müssten es aber vier sein“, warf Vanessa prompt ein und strich sich schüchtern eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht. Alle Blicke wanderten zu ihr. „Na was?“, fragte sie und lachte. „Alexander mag vielleicht auch einen Drink?“, neckte sie und erntete einen überraschten Blick von ihren Freundinnen. So frech war sie ja noch nie gewesen! Die Mädels fanden es jedenfalls gut und prusteten los. Lediglich der Steward winkte mit gespielt trauriger Miene ab.

„Sorry, Ladies. Ich darf im Dienst nicht trinken, aber ich bringe gerne drei besonders leckere Jumbo-Mojitos für euch drei Schönheiten.“ Damit wollte er sich schon abwenden, als ihm Annika noch schnell eine Frage stellte.

„Wie lange haben Sie denn eigentlich Dienst?“, fragte sie und der Steward grinste ihr zu. Allzu leicht wollte er es den drei Zuckerschnecken nämlich nicht machen. Der Kapitän war ein strenger Vorgesetzter, vor allem was das Benehmen der Mannschaft anging, und ein wenig Hinhalten heizte die Sache für gewöhnlich sowieso nur an.

„Das werdet ihr schon noch rauskriegen, Ladies“, lachte er, verschwand in Richtung Bar und alle drei gafften ihm unverschämt auf den Hintern.

„Der ist ja süß“, zwitscherte Leonie.

„Knackarsch“, meinte Annika und Vanessa schlürfte wie wild an ihrem Cocktail. Nie im Leben hätte sie gedacht, hier so unangebracht ausgelassen zu sein. Sie war mit Sicherheit die verklemmteste Frau auf Gottes Erden, aber dieses Manko wollten ihr die Freundinnen ja in diesem Urlaub austreiben. Ein letzter Schluck, dann war der Cocktail futsch.

„Geschafft“, lachte sie und schielte zur Bar, ob der Nachschub mit diesem Moji-Zeugs endlich auf dem Weg war. Bis vor kurzem hatte sie noch nicht einmal Alkohol getrunken und nun konnte sie gar nicht genug davon bekommen. Das Zeug enthemmte ja voll und das konnte sie durchaus gebrauchen. Immerhin war sie mit ihren neunzehn Jahren noch Jungfrau. Vermutlich die einzige auf diesem Schiff und überhaupt auf der ganzen Welt.

„Du wirst doch nicht etwa zur Säuferin, Mäuschen? Eine neue Studie hat ergeben, dass immer mehr junge Menschen Schlaganfälle bekommen. Vor allem, wenn sie in jungen Jahren zu viel Alkohol trinken“, neckte Leonie und Vanessa zog ein beleidigtes Gesicht. Ständig machten sie irgendwelche Andeutungen auf medizinische Grässlichkeiten. Wer brauchte schon die Vorstellung von halbseitigen Lähmungen, Sprachstörungen und hängenden Mundwinkel?

„Alohol is subba“, lachte sie daher gespielt betrunken. „Und du brauchst gar nicht frech werden! Du hast deinen Cocktail in nur fünf Minuten atomisiert.“ Wobei ihr das Wort atomisiert dann doch etwas schwer über die Lippen kam. Annika lachte und schüttelte den Kopf. Auch Leonie konnte ein Glucksen nicht unterdrücken. So lustig hatten sie es mit Vanessa schon lange nicht mehr gehabt.

„Wer geht mit mir schwimmen?“, johlte Annika dann übertrieben laut, stellte ihr Glas zur Seite und sprang aus ihrer Liege. Sie war mit Sicherheit beschwipst, doch das bisschen Wasser im Pool würde sie schon nicht gleich umbringen! Zumindest war sie dieser Ansicht.

„Kommt, ihr lahmen Luschen! Wer den Fettsack dort drüben mit einer Arschbombe platt macht, kriegt noch einen dritten Cocktail.“ Sie quietschte vor Vergnügen, sprintete los und warf sich mit brutal anzusehender Akrobatik ins Wasser. Ihre vollen Brüste wackelten wie verrückt, ihr Lachen war übers ganze Deck zu hören. Dafür ging die Fontäne ziemlich daneben. Zum Glück für den dicken Auserwählten. Die anderen beiden folgten ihr mehr oder weniger unauffällig. Gut, eher weniger unauffällig, denn alle Gäste an Deck gafften bereits mit so großen Augen, als kämen die drei Grazien von einem anderen Stern. Gar so unbekümmert und frivol verhielt man sich auf einem Luxusliner dann offenbar doch nicht.

Unter eben diesen Gästen befand sich allerdings auch ein Mann, der zwar unauffällig beobachtete, aber ganz besonderes Interesse an den drei Mädchen hatte. Und das war nicht weiter verwunderlich, denn er suchte ganz konkret etwas, das sich vom üblichen Frischfleisch abhob.

01.Kapitel

Er hasste es. Gott, wie er es hasste.

Und Gott war der eigentliche Grund, warum er hier kniete, obwohl der unmittelbare Aggressor ein anderer war. Verzweiflung übermannte ihn, wollte einen Schrei aus seiner Kehle reißen. Doch er biss die Zähne zusammen. Diese Genugtuung wollte er ihnen nicht geben. NICHTS wollte er ihnen geben und doch holten sie es sich jeden Tag von ihm: Seine Gott verfluchte Niederlage.

Maslov, der Mensch, hatte ihn gefangen, aber Gott hatte ihn für alle Zeiten gezeichnet. Nein, eigentlich hatte er ihn tatsächlich verflucht, denn seit jenem dunklen Tag, an dem er einen Fehler begangen hatte – einen einzigen, beschissenen Fehler – war er zu einem Aussätzigen geworden, zu einer menschlichen Abart, zu etwas Unmöglichem. Seitdem hatte er alles verloren, sprach kaum mehr ein Wort und schon gar nicht über den Vorfall oder die Zeichen auf seinem Körper. Die Macht, die für seinen Zustand verantwortlich war, konnte jeden Ursprung haben, doch göttliche Strafe erschien ihm plausibel, passte irgendwie zu seinem Vergehen ... seinem unwiderruflichen, unverzeihlichen Verbrechen. Seitdem gab es den jungen Andreas Sternitzer nicht mehr. Nun nannten sie ihn Blue, reduzierten ihn auf die Farbe und auf das Wesentlichste. Aber das dafür in klingender, runder Sprache!

Als hätte er das Bedürfnis, international zu werden!

Oder überhaupt noch IRGENDEIN Bedürfnis! In Wahrheit stand der Name für etwas Unmenschliches und für eine Farbe, die im Prinzip nur Kälte ausstrahlte. BLUE.

„Dein Auftritt ist in fünf Minuten“, höhnte eine Stimme von außerhalb und eine Faust hämmerte dumpf gegen das Holz der Tür.

Als müsste er wachgerüttelt werden!

Dabei hatte er seit Tagen nicht mehr wirklich geschlafen. Die meiste Zeit seiner Gefangenschaft kniete er auf hartem Boden, mit nichts am Leib, als seinen Jeans aus festen Spezialfasern. Die Schuhe hatten sie ihm auch gelassen, nur um ja nichts zu riskieren. Sein Gefängnis war ein abgesicherter Raum, der sonst nur für SM-Spielchen diente, aber auch hier gab es Substanzen, die abgefackelt werden konnten. Es war sehr kühl in dem schmuddeligen Zimmer, aber auf seiner Haut perlte Schweiß. Kalter Schweiß. Ein heller Schimmer überzog die blauen Zeichen, die sich über seine Muskeln schlängelten und in bizarren Formen über die gesamte Landschaft seines Körpers verliefen. Er vermutete eine Botschaft dahinter, womöglich eine Art göttlicher Sprache. Doch die konnte niemand lesen oder verstehen, am wenigsten er selbst. Und er hatte aufgegeben nach dem Sinn zu fragen, konnte nur die Strafe darin sehen, den Fluch. Stellenweise war noch seine ursprüngliche Haut zu sehen, in heller, nussbrauner Farbe und seine Jeans saß tief genug auf den Hüften um erkennen zu lassen, dass auch seine Beine mit eben diesem Muster überzogen waren. Selbst seine Zehen wiesen diese ungewöhnlichen Zeichen und geradlinigen Verläufe auf. Noch nie zuvor hatte er so ein einfaches und doch kompliziertes Muster gesehen. Es war wie ein Oxymoron, nur ohne Worte, von dem nur sein Gesicht verschont geblieben war. Die letzten, dünnen Ausläufe seiner Schande rankten sich von seinem Rücken aufwärts über den Hals bis knapp hinter seine Ohren.

In nur einer Nacht war er von den Göttern gezeichnet worden. In einem Sturm aus Wahnsinn und Schmerz. In einem wahren Höllenritt überirdischer Magie. Irgendwann hatte er das Bewusstsein verloren, doch das Grauen des Irrsinns, die Qualen auf seiner Haut und den Schmerz in seiner Seele würde er nie wieder ausblenden können. Sein Körper erinnerte ihn jeden Tag und jede verdammte Minute an seinen tödlichen Fluch. Er war nicht einfach nur mit göttlichem Blau gebrandmarkt worden, um als Sünder erkannt zu werden oder um sich die Schande jeden Tag aufs Neue in Erinnerung zu rufen. Nein, das Ganze ging viel weiter. Viel tiefer. Seinen Zeichen haftete tödliche Magie an, die ihn jede Sekunde seines Daseins zu absoluter Isolation verdammte.

Wieder ein Klopfen an der Tür. Sein Körper begann zu zittern, wusste was auf ihn kommen würde. Maslov war ein Monster in Menschengestalt. Er war reich und skrupellos. Als Zuhälter, Drogendealer und Menschenhändler musste er das vermutlich sein, aber dieser Mann war der größte Abschaum und der schlimmste Albtraum für jeden, der nicht auf seiner Seite stand oder sein Geschäftspartner war. Brutalität war sein eigentlicher Vorname und Rücksichtslosigkeit sein verhasster Zuname. Wer nicht spurte, wurde erpresst, ermordet oder in Mafia-Manier bestraft. Auch Blue sollte auf seine Seite wechseln, ein Handlanger Maslovs werden und sein Verbündeter in allen Lebenslagen sein. Mit seiner Magie am Leib war das jedoch nur mit einem Vertrag dämonischen Ursprungs möglich. Nur der konnte ihn und seine blauen Zeichen kontrollieren und eben an einen Menschen binden. Doch noch hatte Blue die Unterschrift verweigert und selbst beim größten Druck und den ständigen Misshandlungen noch die Kraft aufgebracht, sich gegen diese Übernahme zu wehren.

Irgendwie.

Denn seine Magie schützte ihn zwar vor Kugeln und Messerattacken, aber nicht vor dem Einfallsreichtum dieses abscheulichen Mannes. Im Grunde war er nur wegen eben dieser Magie gefangen genommen worden und musste hier knien. Die Ketten an seinen Armen waren schmerzhaft, aber die Stange, die seinen Hals fixierte, war die reinste Qual. Und dennoch konnte er sich nicht dazu durchringen, Gott oder die Götter – was wusste er schon, wer dafür zuständig war! – um Hilfe zu bitten.

Noch nicht.

Nicht so.

„Los geht’s, Kleiner!“ Tom Butin, einer von Maslovs Schlägern, öffnete die schwere Tür und kam mit wuchtigen Schritten auf Blue zu. Mit 1,87 Metern Größe und 103 Kilogramm war er immer noch kleiner und schmächtiger als Blue, aber solange der Gefangene kniete, witzelte er gerne über die Größe des anderen.

Vor dem SM-Raum begann das erste Gejohle.

„Er kommt! Gleich kommt er“, kreischte eine Frau so schrill, dass Blue bei jedem Wort zusammenzuckte. Menschen sind schon eine seltsame Spezies, dachte er bei sich. Alle diese Frauen stehen unter Zwang, werden sexuell missbraucht, geschlagen und oft genug unter Drogen gesetzt, aber wenn ich auftauche meinen sie plötzlich, am anderen Ende der Machtkette zu stehen und daran ziehen zu können. Blue konnte es nur als primitives Machtspiel und Perversität erkennen, doch in Wahrheit war er einfach umwerfend schön und die meisten Frauen durch seinen Anblick wie entfesselt. Selbst die Männer fühlten sich von ihm angezogen und spürten den Reiz der Gefahr.

Knurrend kam Blue in die Höhe, während Tom seine Fesseln per Fernbedienung fixierte. Aus sicherer Entfernung packte er dann die Stange, die an einem Metallring um Blues Hals befestigt war und löste sie von der Wand. Mit dieser Stange konnte er ihn gut in Schach halten, auch wenn ihm das mit reiner Körperkraft vermutlich nicht gelungen wäre. Mit Strom jedoch war das kein Problem, denn den konnte er Blue mit dieser Stange bei Bedarf sogar mehrmals durch den Körper jagen. Und Bedarf gab es scheinbar öfter als die Notwendigkeit dafür, denn speziell bei Blue konnte Tom schon ein bisschen eigen werden. Lässig strich er sich eine seiner blonden Haarsträhnen hinters Ohr und lächelte dem Gefangenen spöttisch zu. Machtspielchen machten ihn ziemlich an und den magischen Mann zu kontrollieren, gehörte eindeutig dazu.

Blues Haut schimmerte vor Anstrengung ein paar Nuancen heller. Stellenweise wurden die Linien zu einem fluoreszierenden Türkis, was die Zeichen lebendig erscheinen ließ, wie bewegt. Sein perfekt muskulöser Körper, die magische Farbe und Blues markantes Gesicht brachten Eisberge zum Schmelzen, doch der zusätzliche Reiz für die Menschen war das Wissen um die Gefahr hinter dieser Schönheit, denn jede noch so kurze Berührung seiner Haut war tödlich. Bedingungslos und unwiderruflich. Alles Lebendige ging durch den bloßen Kontakt mit seiner Haut in magischen Flammen auf. Bis zum Tod. Bis zur Asche.

DAS war sein Fluch und sein Gott verdammtes Leben.

Der Transport und die Bewegung seines Körpers war eine gefährliche Sache und nur mit Fesseln, der Stange und einer Menge Strom möglich. Doch die Gefahr schreckte die Wenigsten ab. Niemand in Maslovs Haus ließ sich den Anblick von Blue entgehen, wenn er in den Vorführraum gebracht wurde. Im Gegenteil, sie waren immer außer Rand und Band, drängten sich auf den Gängen, den Stiegen und den anderen Zimmern. Allen voran standen immer die Frauen, die versuchten einen Blick auf ihn zu erhaschen und sich dabei gegenseitig anstachelten, immer lauter und intensiver zu jubeln. Genau das war es, was Blue von diesen Menschen mitbekam: abgrundtiefe, hässliche Sensationsgier. Und er hasste sie alle dafür. Selbst die schönsten Frauen, die möglichen Opfer, die eventuell zu Bedauernden. Liebend gerne hätte er sie von seiner Magie kosten lassen. Allen voran Maslov, dem er die Schmerzen, die Erniedrigungen und diesen verfluchten Zirkus zu verdanken hatte. Ja, er würde sie ohne mit der Wimper zu zucken töten, nur indem er sie der Reihe nach in die Arme schloss. Seine Berührung war immer tödlich, ob er wollte oder nicht. Aber in dem Fall würde er wollen und wie auch noch! Zum ersten Mal hätte sein blauer Fluch endlich einen Sinn. Auch wenn es nichts an seiner Lage oder seiner Einsamkeit geändert hätte ... für einen kurzen Moment hätte er dafür so etwas wie Genugtuung verspürt.

Verdammt. Immer wenn er an seinen Fluch dachte, schrie seine Seele kläglich um Hilfe. Alles Lebendige aus Fleisch und Blut wurde durch den Kontakt seiner bloßen Haut verbrannt. Aber auch ein paar leblos wirkende Materialien waren manchmal mit Vorsicht zu genießen. Das genaue Muster oder die Gesetzmäßigkeit dahinter war ihm unklar. An manchen Tagen versengte er etwas mit seiner Magie, an anderen wiederum nicht. Das Dumme an magischen Flammen war, dass sie kaum zu löschen waren. Herkömmliches Wasser half überhaupt nicht. Antibrennpasten ebenso wenig. Nur Stahl und Stein konnte er immer bedenkenlos ohne Handschuhe berühren. Holz war grenzwertig. Aus dem Grund hatten sie ihm auch die Hosen gelassen und die Schuhe. Sonst hätte er vielleicht noch wertvolles Mobiliar oder Vorhänge abgefackelt. Feste Materialien, spezielle Fasern, Sicherheitsschuhe und Handschuhe waren für Blue zu einem Teil seines Alltags geworden, zumindest bevor er diesem Spinner Maslov ins Netz gegangen war. Doch selbst mit Spezialgewand aus hohem Anteil feinster Glas- und Kupferfasern, sowie Handschuhen aus Polyvinylchlorid hatte er immer darauf achten müssen, niemanden unabsichtlich in Brand zu setzen. PVC-Handschuhe waren nur in Ausnahmefällen durch seine Magie entflammbar. Vor allem dann, wenn der Kunststoff durch Benzol, Ether oder Salzsäure beschädigt worden war. Der Kunststoff war nicht ideal für seine Haut, doch im Prinzip fühlte er sich wie Kunstleder an und sah auch so aus.

So war sein Leben vor Maslov zwar nicht schön gewesen, aber zumindest halbwegs kontrollierbar. Vorsicht und spezieller Umgang mit seiner magischen Krankheit hatten ein recht normales Leben in Aussicht gestellt, wenn auch eines in völliger Isolation. Kontakt mit anderen war nicht möglich. Als Andreas Sternitzer hatte er sich darüber nie Gedanken gemacht. Damals hatte er für eine Elitetruppe gearbeitet, sein Leben gelebt und auch genügend Frauen konsumiert. Beziehungen hatten ihn nie interessiert, Körperkontakt schon. Doch von einem Tag auf den anderen war eben diese lächerliche Selbstverständlichkeit zur Unmöglichkeit geworden. Berührung war tödlich. Immer und ausnahmslos. Und er vermisste das Gefühl von Haut auf Haut, die Wärme einer Frau und ihre verführerische Weichheit. Selbst das Fühlen ohne Berührung vermisste er. Gott, und wie sehr auch noch! Dabei war er erst seit fast einem Jahr mit dieser Magie verunstaltet und somit abstinent. Davor hatte er kaum ein Augenmerk auf diese Nebensächlichkeiten verwendet. Die Frauen waren stets willig gewesen und der harte Drill in seinem Job hatte seinen Körper auf andere Weise gefordert und spürbar gemacht. Körpergefühl war selbstverständlich gewesen und nicht weiter der Rede wert. Doch der Fluch hatte ihm recht bald klar gemacht, in welche Einsamkeit er ihn letztendlich trieb. Natürlich war er auch früher manchmal einsam gewesen, doch er hatte stets die Möglichkeit gesehen, etwas daran zu ändern, eine Wahl zu haben. So wie man sich entscheiden konnte nett zu sein oder nicht. Für ihn war es reine Kopfsache und persönliche Entscheidungskraft gewesen, die sein Leben bestimmt hatten. Doch genau das war ihm genommen worden. Durch den Fluch befand er sich in einer Sackgasse, in der er nicht mehr selbst entscheiden konnte und in der es keine Hoffnung mehr gab. Göttliche Strafe konnte grausam sein und mit ihr hatte er alles verloren: Seinen Job bei der Eliteeinheit, die Frauen zum Vergnügen, das Leben an sich. Und von so etwas wie Liebe brauchte er nicht einmal zu träumen.

Wenn er die Zeit zurückdrehen könnte, würde er in seinem Leben vermutlich manches ändern, womöglich die Menschen mehr respektieren und sich auf die Schönheit des Lebens konzentrieren. Doch diesen einen, schwerwiegenden Fehler würde er vermutlich wieder begehen. Wieder und immer wieder... und letztendlich genauso enden wie jetzt.

Denn es war ein Ende.

Definitiv.

Blue schluckte hart und die Erinnerung an frühere Zeiten überrollte ihn, ohne dass er es wirklich wollte. Damals hatte noch alles so gut angefangen...

Als junger, militärgedrillter Kämpfer hatte er sich bei Evok, der Spezialeinheit für die Bekämpfung von menschenfeindlichen Dämonen beworben. Evok war die Abkürzung für Evokation und stand nicht ausschließlich für Beschwörung, sondern auch für das Recht von übergeordneten politischen Instanzen, Entscheidungen von nachgeordneten Entscheidungsebenen an sich zu ziehen. Natürlich passte das Wort auch zu all dem magischen Kram, der mit abartigen Spezies wie Dämonen zu tun hatte, aber es ging auch darum, im Notfall das absolute Sagen zu haben. Denn die Menschheit wusste nicht viel über Dämonen und Magie. Das Meiste passierte im Verborgenen und wurde auch bewusst vertuscht, um die Menschen nicht in Angst und Panik zu versetzen. Die Evok-Einheit war eine Ansammlung unterschiedlichster Kämpfer und war stets die höhere Instanz bei ungewöhnlichen und menschenfeindlichen Vorkommnissen. Sie hatten auch den besseren Wirkungsgrad gegenüber herkömmlichen Sonderkommandos, denn sie waren extrem militärisch gedrillt und dämonisch geschult. Sprich, sie wussten die abartigen Viecher richtig an den Eiern zu packen, sofern die überhaupt welche hatten.

Damals fühlte sich Andreas noch berufen, Menschen zu beschützen und extreme Jobs zu erledigen. Schon in sehr jungen Jahren war er der Mann fürs Grobe gewesen, hatte sich mit Extremkampfsport in die Höhe gearbeitet und sich bei den Evoks mit Arroganz und eisernem Willen bis an die Spitze der zehn besten Kämpfer vorgearbeitet. Dabei war er nur ein einfacher Mensch und nicht etwa ein Halbdämon, wie so manch anderer in der Einheit. Aber er war gut, verteufelt gut sogar. Er legte keinen Wert darauf gemocht zu werden, war ausschließlich zielgerichteter Krieger und ein Gewinner durch und durch. Nettigkeiten waren nur etwas für Warmduscher. Für ihn zählten Effizienz, Fokus und Rücksichtslosigkeit im Kampf. Andreas hatte keinen Gedanken an Ehre oder Gerechtigkeit verschwendet, sondern wie ein Irrer gegen unfassbare Abscheulichkeiten gekämpft, sie brutal und unerbittlich zur Strecke gebracht. Bis zu jenem Tag, an dem er einmal an den Falschen geriet und ihn aus purer Angst eliminierte. Ihn, den unverzeihlichen Fehler. Ihn, dessen Name er nicht auszusprechen wagte und ihn, dessen Wesensart er nicht einmal in Gedanken zulassen konnte. Auch heute nicht. Selbst nach einem Jahr der Strafe.

Blue verzog angewidert den Mund. Er hasste die Erinnerung an sein altes Leben. Was vorbei war, war vorbei und so wie es aussah, krähte sowieso kein Hahn nach ihm. Außer vielleicht Maslov, der es regelrecht auf ihn abgesehen hatte. Zum Teil wunderte er sich über seine Vehemenz, doch auf der anderen Seite war er eine Waffe, die keine Munition brauchte und ohne Spuren töten konnte. Blue war auch nicht wirklich verwundbar und brauchte kaum Nahrung. Er war also recht pflegeleicht und sicher ein guter Bodyguard, wenn er vertraglich unter Kontrolle stand. Von der Seite her war also verständlich, wenn ein Subjekt wie Maslov Interesse zeigte. Wobei Blue in den Augen seines Gegners ein viel tieferes Interesse erkannt hatte. Maslov war ein machtgieriger Mensch und auch wenn er einen guten Bodyguard gebrauchen konnte, so faszinierte ihn doch vor allem Blues Magie. Vermutlich war der Zuhälter der irrigen Meinung, diese göttliche Macht irgendwann selbst beherrschen zu können. Was schlicht lächerlich war. Niemand wusste woher die Zeichen kamen oder was sie bedeuteten. Selbst ihre Wirkung variierte und war unvorhersehbar.

Tom schob ihn mit der Stange in den verhassten Showraum und drückte ihn auf der Bühne erneut in die Knie. Dann fixierte er die Ketten und zog Blues Arme straff nach rechts und links. Übertrieben weit, bis Blues Schultergelenke kurz vor der Luxation standen, denn nur so kamen seine Muskeln extrem zur Geltung. Blue atmete tief durch, versuchte den Schmerz zu verdrängen und sich erneut an die demütigende Haltung zu gewöhnen. Lediglich sein zusammengepresster Mund und die angespannten Sehnen seines Halses zeigten, wie sehr er mit dieser Haltung kämpfte. Die Stange um seinen Hals wurde in einer speziellen Vorrichtung an der Wand befestigt, um ihn absolut bewegungsunfähig zu machen. Ein Mann mit derart tödlichen Kräften durfte sich bei einem Geschäftstreffen niemals alleine bewegen. Nicht auszudenken, wenn ein bedeutender Geschäftspartner irrtümlich abgefackelt wurde, nur weil der Kerl sich vielleicht einen Millimeter zu weit in die falsche Richtung bewegte. Maslov war schlau genug, Blue selbst nach Tagen der Gefangenschaft nicht zu unterschätzen. Einerseits wollte er ihn auf diese Weise mürbe machen und auf seine Seite ziehen, andererseits liebte er das Schauspiel, die Provokation und das Leid anderer.

„So ist’s gut, Blue. Meine Ladies flippen immer aus, wenn du kniest und deine Muskeln spielen lässt.“ Maslov trat in sicherem Abstand vor ihn hin und kicherte belustigt. Er war ein drahtiger Kerl von vierzig Jahren, fast so groß wie Tom und hatte kalte, eisblaue Augen. Seit Jahren rasierte er sich eine Glatze, weil sein Haar viel zu schütter geworden war und die Mädels darauf standen. Glaubte er zumindest.

Blues Dermaglyphen schimmerten auf seiner Haut, jeder Muskel war angespannt und in perfektem Schwung. Maslov stand nicht auf Kerle, aber diese Laune der Natur war auch für ihn ein besonders erhebender Anblick. Und das im wahrsten Sinne des Wortes, denn der Kerl war verflucht geil und zugleich saugefährlich. Eine Kombination, die ihn antörnte. Als hätten die Götter diesen Mann nicht nur mit tödlichen Zeichen, sondern auch mit einem speziellen Aphrodisiakum versehen. Zum Glück hatte er sich gut überlegt, wie er mit dem Gefangenen umgehen musste und darauf verzichtet, ihn voreilig zu töten. Dabei hatte er im letzten Jahr seinem Geschäft ganz schön geschadet und einer Menge anderer Leute Schwierigkeiten bereitet. Die einen hatte er ausgeliefert, doch die meisten gleich gekillt. Dieser Blue war nach seinem Ausscheiden aus Evok eindeutig zu einem Problem für das organisierte Verbrechen geworden. Als hätte er es sich in den Kopf gesetzt, die Welt zu retten oder einfach nur zu sterben. Denn wer startete schon freiwillig eine One-Man-Show gegen das wirklich große, illegale Geschäft? Sich zum Feind der Russen zu machen war eine Sache und meist tödlich. Sich aber zu seinem Feind zu machen bedeutete viel mehr als den Tod. Maslov machte kaum Gefangene und wenn, dann nur für kurze Zeit. Doch dieser blaue Mann hatte ihn von Anfang an fasziniert. Er wollte ihn nicht einfach nur auf seine Seite ziehen und für seine Zwecke nutzen, sondern vor allem das Geheimnis seiner Macht ergründen, ihn studieren, erforschen und ihn immer wieder... erniedrigen. Solch große Macht mit noch größerer Macht zu unterjochen kam schon verdammt nahe an den ultimativen Kick heran, den er viel zu lange schon suchte.

Die wochenlange Observation hatte sich wahrlich gelohnt, denn schon bald war er auf das wohl größte Geheimnis dieses Mannes gekommen: Er war schlicht und ergreifend nicht mehr wirklich menschlich. Dieses Wesen brauchte so gut wie keine Nahrung und hatte solch einen niedrigen Stoffwechsel, wie er es sonst nur von Dämonen kannte. Dennoch war er nicht dämonischer Herkunft. Dafür war er einfach zu wenig hässlich. Die Magie versorgte ihn offenbar mit allem, was er benötigte. Und sie beschützte ihn auch! Herkömmliche Waffen konnten ihm kaum etwas anhaben, prallten von einer Art Energiefeld ab. Keine noch so präzise abgefeuerte Waffe hatte ihn bisher getroffen oder wirklich verletzt. Alle Kugeln, Messer und Spritzen waren bisher stets rechtzeitig von seinem Körper abgelenkt worden. Es grenzte schier an ein Wunder, dass er Blue überhaupt in die Finger bekommen hatte. Aber so war Maslov eben. Er machte stets das Unmögliche möglich. Für seine Kunden, seine Opfer und für sich selber. Wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte er eben wirklich hartnäckig sein und eine geradezu teuflische Schlauheit an den Tag legen.

Maslov lachte böse in sich hinein. Eine Absonderlichkeit wie Blue beherrschen zu können zeigte, wie wichtig es war, von sich selbst überzeugt zu sein und die Basics von Magie und Dämonologie zu beherrschen. Dennoch hatte ihm vor allem geholfen, den Alltag von Blue zu studieren. Die Intervalle seiner Nahrungsaufnahme hatte er sich notieren lassen und danach die beste Gelegenheit abgewartet, um ihm unauffällig etwas ins Getränk zu mischen. Ja, ja! Die gute alte Welt der Drogen! Da konnte der Mann zaubern was er wollte, wenn der richtige Mix selbst ein achtes Weltwunder wie Blue in die Knie zwang.

Zwei dunkelhaarige Schönheiten gesellten sich zu Maslov, blickten entzückt auf den Gefangenen und seine angespannte Haltung. Mit schnellen, fließenden Bewegungen begannen sie ihren Chef zu verwöhnen. Wenn eine Hinrichtung auf der Tagesordnung stand, wurden sie alle immer so scharf, dass sie meist im Vorfeld einen kleinen Spannungsabbau brauchten. Vor allem, wenn der Henker und die Waffe ein und dieselbe Person war und so schön und hilflos in Ketten hing. Der blaue Schimmer seiner Haut war nur ein zusätzliches Highlight, sein markantes Gesicht und die harten Muskeln die eigentliche Attraktion.

„Von den Göttern gezeichnet“, lachte Maslov mit abfälliger Miene. „Und was nützt dir der ganze Scheiß jetzt? Liegst in Ketten vor mir auf den Knien, mit nichts an deinem Körper als deiner alten Hose. Was für ein erbärmliches Ende für einen Krieger, der einst gegen Dämonen kämpfte und danach gegen mich in den Krieg zog. Ja! Du warst vielleicht mal einer von den Guten, aber sei doch ehrlich, Blue... was hat es dir gebracht? Keiner hat sich je bei dir bedankt, oder? Ebenso wenig hat es auch nur einen deiner Freunde gekümmert, was in jener Nacht aus dir geworden ist. Ausgestoßen haben sie dich, verhöhnt und verspottet. Als Gezeichneter warst du nicht mehr tragbar für Evok. Richtige Freunde gab es sowieso nie in deinem Leben. Ebenso wenig wie Wertschätzung. Aber du wolltest ja unbedingt weiter den Helden spielen und dich mit der ganzen Welt anlegen. Vor allem mit dem Teil, der aus Verbrechern besteht.“ Er lachte rau. „Und mit mir. Was dein größter Fehler war!“ Mit bösem Grinsen kam Maslov einen Schritt näher auf seinen Gefangenen zu. Die beiden Damen folgten ihm wie zuckersüße Klebestreifen und versuchten, ihre Erotikarbeit nicht zu vernachlässigen.

„Soll ich dir sagen, was dein eigentliches Problem ist? Du warst bei Evok ein derart arrogantes Arschloch, dass dich einfach keiner gemocht hat. Wir beide wissen auch warum! Du hast alles, was dir in die Quere gekommen ist, flach gelegt... sowohl im Kampf als auch in weiterem Sinne.“ Maslov lachte und die Damen mit ihm, aber Blue zeigte keine Reaktion, schenkte Maslov nicht einmal einen Blick. Er stierte die ganze Zeit wie gebannt ins Leere und ließ die Worte des Manns offensichtlich an sich vorbeigehen. Maslov hatte gelernt, sich nicht darüber zu ärgern, denn er wusste, dass er jedes Wort verstand und das Zuhören nicht verhindern konnte. Und Worte waren ein ewig unterschätztes Machtinstrument.

„Ein kleiner Drink hat dir das Genick gebrochen, mein Freund. Klar braucht jeder mal auch ein bisschen Whiskey. Hey, mir brauchst du das nicht zu sagen! Zu dumm nur, dass ich von diesem Laster wusste, obwohl du lächerlich selten zur Flasche greifst. Aber selbstgerecht, wie du nun mal bist, hast du nicht damit gerechnet, verwundbar zu sein. Ein kleiner Drink in einer dunklen, verruchten Bar. Ach, Blue! Und dann noch nicht einmal in einer von meinen!“ Er lachte laut und schüttelte den Kopf über so viel Dummheit. Dazu bewegte er seine Fingerspitzen, als würde er eine Prise Salz in einen Drink geben. „Und schon bist du mit einem Schlag mein Sklave und bald bester Mitarbeiter.“ In Wahrheit hatte er diesem Drink so viel Amylnitrit und Benzodiazepine beigemengt, dass selbst ein Rhinozeros daran zugrunde gegangen wäre. Bei solch einer Naturgewalt wie dem magischen Mann war er lieber auf Nummer sicher gegangen. Blue war an dem Zeug aber nicht krepiert, hatte nur das Bewusstsein verloren und nun ein paar Gedächtnislücken zu verbuchen. Er war noch bei bester, verfluchter Gesundheit. Und der Fluch war in dem Fall gut. Amylnitrit wurde in Maslovs Kreisen als Popper-Droge gehandelt, hatte eine aphrodisierende und zugleich entspannende Wirkung. Wenn Maslov es also recht bedachte, hatte vielleicht sogar er mit seinem Drogencocktail einen ordentlichen Anteil dazu beigetragen, dass Blue plötzlich diese göttliche Geilheit ausstrahlte. Der Typ sah zwar gut aus, aber seine Wirkung ging deutlich über das Maß seines Aussehens hinaus.

Egal.

Ihm sollte es nur recht sein! Für seine Partys und Gangbangs war Blue der ideale Anheizfaktor und sollte er sich irgendwann doch noch auf seine Seite stellen, würde er ihn mit einem Vertrag der magischen Sonderklasse binden. Nur so war seine Macht kontrollierbar und keine Gefahr für ihn selbst.

„Dabei wäre es so leicht, du Idiot! Du brauchst kein Sklave sein, kannst jederzeit die Fronten wechseln und in meine Dienste treten. Das ist gar nicht so ein schlechtes Leben wie du vielleicht glaubst.“ Er schnalzte selbstgefällig mit der Zunge. „Aber solange du das nicht willst, bist du mein Gefangener und nur zum Vergnügen anderer da.“ Damit wandte er sich der kleinen Gruppe am Ende des Showraumes zu, denn die Party war natürlich längst im Gange. Drei der fünf Geschäftspartner lagen bereits mit Maslovs weiblichen und männlichen Sexdienern auf lauschigen Plätzen, ließen sich verwöhnen und genossen den guten Ausblick auf die Showbühne.

„Nicht wahr, meine lieben Gäste?“ Die Männer hoben nur kurz den Blick und nickten ihrem Gastgeber zu, die Nutten taten nicht mal das. Maslov war dennoch zufrieden und wandte sich wieder an Blue.

„Okay, diejenigen die sterben, haben mit dir wohl eher kein Vergnügen“, ergänzte er sarkastisch und verzog plötzlich das Gesicht. Mit einem wütenden Laut stieß er eine der beiden Nutten von seinem Körper. „Keine Zähne, du Hure. Das nächste Mal kannst du gleich bei Blue weitermachen, verstanden?“ Lilly rutschte auf Knien von ihm fort und zitterte am ganzen Leib. Sie wusste, wie tödlich der blaue Mann war und dass Maslov durchaus auch Frauen opferte.

„Verzeihung“, stieß sie hervor und beugte demütig den Kopf. Ein paar der Gäste fanden das ganz amüsant und lachten über die ängstliche Reaktion der Frau. Maslov hingegen knirschte mit den Zähnen und überlegte erste Maßnahmen. Er war ein Tyrann durch und durch und er hatte in seinem Reich alle Macht der Welt. Seine Stimmungsschwankungen und sein Zorn waren legendär und Folgen seines Drogenmissbrauchs. Aber das kümmerte ihn nicht sehr. Damit mussten seine Angestellten klarkommen, gehen ... oder sterben. So waren manchmal Zähne ein Muss, dann wieder vollkommen verkehrt. Nie wusste eine Gespielin, wie er es wirklich wollte und worauf sie sich gerade einließ. An guten Tagen bedeutete das ein paar Ohrfeigen, in krassen Fällen den Tod. In genau diesem Fall aber kam der verängstigten Lilly die andere Gespielin zu Hilfe.

„Blue soll seine Hose ausziehen“, flötete sie Maslov ins Ohr, während sie seine Hinterbacken massierte. Sie hatte richtig Feuer gefangen beim Anblick des Mannes und wollte von dem Fehler ihrer Freundin ablenken. „Bitte nur heute! Ein einziges Mal!“ Der Gefangene sah so hinreißend schön aus, dass sie einmal mehr sehen wollte, als nur seinen beeindruckenden Oberkörper.

„Du kannst sie ihm ja ausziehen, Süße“, ätzte Maslov. „Schutzanzug gibt es allerdings keinen.“ In seinen Augen glühte ein höllisches Feuer. Diese Nelly war einfach nur eine dumme Nuss und noch nicht lange bei ihm. Dafür waren ihre Brüste sensationell und ihre Lippen super aufgespritzt. Mit Eigenfett.

„Ich könnte es ja mal probieren“, zwitscherte sie allen Ernstes und einer der Gäste applaudierte spontan, um seine Zustimmung zu dem Himmelfahrtskommando zu geben. Ein Todesfall mehr oder weniger war auf solchen Partys schließlich kein Weltuntergang.

„Spinnst du?“, schrie Lilly aufgebracht, weil sie nicht wollte, dass ihre Freundin so mit ihrem Leben spielte. „Noch niemand hat das überlebt. Kein Mensch ist immun gegen die Magie. Jeder, der seine Haut berührt, geht in Flammen auf. In magischen Flammen. Du hast es doch schon einmal gesehen, Nelly! Du kannst doch nicht allen Ernstes...“

„Still!“ Maslov hatte es nicht so gerne, wenn andere etwas erklärten. „Lass sie doch, wenn sie möchte.“ Er grinste böse und stieß die dumme Nutte vorwärts. Die Gäste johlten fröhlich und Maslov zwinkerte ein paar Mal in die Runde. Doch das Mädchen hatte begriffen, dass das Ablenkungsmanöver plötzlich in eine sehr reale, tödliche Richtung schwenkte. Blue mordete zwar nicht, weil er wollte, konnte es aber auch nicht verhindern, wenn er nicht wollte. Unbeholfen stakste sie auf ihren extremen High Heels vorwärts, um den Stoß Maslovs abzufangen, dann aber blieb sie abrupt stehen und blickte wie erstarrt zu dem schönen Gefangenen. All seine Muskeln befanden sich selbst in dieser unwürdigen Stellung in einem solch harmonischen Schwung, dass ein Teil von ihr ihn tatsächlich am liebsten angefasst hätte. Blue hob den Kopf. Seine Augen waren silbern und klar und starrten sie direkt an. Beinahe unmerklich schüttelte er den Kopf und deutete dem Mädchen, nicht näher zu kommen. Ihr Herz begann zu flattern, ihre Hände zu schwitzen. Endgültig begriff sie, wie tödlich ernst Maslov es meinte. Er hatte ein Herz aus Stein und für nichts und niemanden wirklich etwas über. Nelly aber wollte nicht sterben. Mit ängstlichem Blick wandte sie sich wieder um und stöckelte langsam zurück zu ihrem Boss. Maslov packte sie unsanft am Arm.

„Nein? Magst du ihn doch nicht anfassen, du Dummchen?“ Sein Griff wurde härter. „Gut, dann aber ab mit dir auf die Knie und ja keine Zähne!“ Nelly tat sofort wie ihr geheißen wurde, öffnete Maslovs Hose und legte sich augenblicklich ins Zeug. Maslov knurrte zufrieden und schenkte Lilly noch einen kurzen, abschätzigen Blick. „Und du kannst dich verdrücken. Ich brauch dich heute nicht mehr.“ Das musste er ihr nicht zweimal sagen. Aus irgendeinem Grund war Maslov milde gestimmt. Auch Nelly schien glimpflich davonzukommen, denn schließlich gab es weit schlimmere Jobs als die von Mr. Blow vor versammelter Mannschaft.

Als Lilly zur Tür hinaus stolperte, wurde zeitgleich ein junger Mann in den Raum gestoßen. Seine Hände waren auf den Rücken gebunden und ein riesiger Knebel steckte in seinem Mund... ein Ball, der mit einer Schnur um seinen Kopf befestigt worden war. Offensichtlich ein Requisit aus Maslovs SM-Raum. Kreidebleich ließ sich der Mann auf die Knie fallen und flehte Maslov in stiller Verzweiflung um Vergebung an. Seine Schultern bebten und jeder konnte sehen, dass er weinte und um sein Schicksal wusste. Doch Maslov hatte für heute schon genug Milde gezeigt. Lilly war zu schön, um sie hart zu bestrafen und die Neue hatte noch eine Chance verdient, weil sie gerade wirklich gut an ihm saugte. Für Verräter aber hatte er nichts über, schon gar keine Vergebung.

„André, du mieses, kleines Arschloch! Du hast mich diese Woche ein kleines Vermögen gekostet.“ Maslov zischte den Rest des Satzes wie eine böse gewordene Schlange. Er ärgerte sich, dass André versucht hatte, einen Teil der letzten Drogenladung für sich abzuzweigen. Zusätzlich hatte sich Nelly gerade mächtig ins Zeug gelegt. Seine Hand auf ihrem Kopf bestätigte, dass der Zischlaut wohl eher wegen ihr erfolgt war. Mit lüstern verdrehten Augen packte er sie noch fester an den Haaren, dann deutete er seinen beiden Wachhunden mit der Aktion zu beginnen. Er liebte es zu kommen, wenn ein anderer ging und er schaffte es jedes Mal, sich über das primitive Wortspiel zu amüsieren. Uh, diese Nelly gab wirklich Gas. Mit einer schnellen Bewegung deutet er seinen beiden Muskelprotzen, dass sie sich zu beeilen hatten. Auch seine Gäste waren längst soweit, dass sie zusätzlich zum Verwöhnprogramm noch einen gehörigen Kick gebrauchen konnten. Andrés Knebel wurde entfernt, seine Fesseln natürlich nicht. Etwas Geschrei war durchaus anregend, aber die Sicherheit der Gäste durfte nicht aufs Spiel gesetzt werden. Menschen, die dem Tode ins Gesicht sahen, konnten ganz leicht durchdrehen und zu einem Risiko werden. Maslov aber wollte hier nichts riskieren. Er war zwar einer der wirklich bösen Jungs auf diesem Planeten, doch er hatte eine Menge über für ... Sicherheit. André hatte für seinen Verrat zu sterben und was lag da näher, als damit seine Gäste zu unterhalten? Die meisten Geschäftspartner liebten diese Shows über alles. Die ersten klatschten bereits heftig Beifall, schnupften nebenbei Kokain und ließen sich weiterhin auf alle erdenklichen Arten von den Damen und Herren des Hauses verwöhnen. Gangbang auf Maslov-Art eben.

André kreischte panisch und versuchte, der vorgegebenen Richtung mit seinem ganzen Körpergewicht gegenzusteuern. Doch die beiden Schlägertypen waren unerbittlich, schoben ihn weiter zur Bühne. Näher und immer näher kam er dem blauen Mann, der mit versteinerter Miene auf das Unausweichliche wartete.

„Ich wurde reingelegt“, brüllte André. „Ich wusste es nicht. Ich habe doch nur ...“ Ich, ich, ich. Seine Verzweiflung war offensichtlich, das Festhalten am ICH eine logische Konsequenz, kurz vor dem großen Verlust.

„Fester!“, knurrte Maslov Nelly an und „Schneller!“, forderte er fast zeitgleich von seinen beiden Lakaien. Genau das war in seinen Augen die Kunst einer perfekten Inszenierung. Er musste dirigieren, vorgeben und den kollektiven Orgasmus schüren. Und er hatte ein ganz gutes Händchen dafür, dass beinahe immer alles gleichzeitig oder eben zur rechten Zeit passierte. Nur so war es perfekt und nur so konnte er es richtig genießen. Die kopulierenden Gäste im Hintergrund, ihr Stöhnen, das Jammern des Todgeweihten, Maslovs eigener, nahender Höhepunkt... es war ein geniales Szenario. Dazu Blues angespannter Körper und letztendlich der Tod eines Verräters. Niemand konnte bei solchen Spielchen Maslov das Wasser reichen, niemand auch nur im Entferntesten seine Qualität erreichen.

André erhielt einen kräftigen Stoß und kam ins Straucheln. Blues Oberkörper spannte sich an, erwartete das Unausweichliche. Jeden Moment konnte der Aufprall des jungen Mannes geschehen und damit der quälende Schmerz des Feuers. Das Zischen der Haut, der Gestank von verbranntem Fleisch... all das konnte Blue kaum noch ertragen. Doch er biss die Zähne zusammen, hatte keine Chance sich zu wehren. Die tödliche Magie der Zeichen funktionierte, ob er wollte oder nicht.

Zehn, neun, ... in Gedanken zählte er die Sekunden. Der Mann hatte gleich Kontakt mit seiner Haut – mit seiner Gott verfluchten Haut – und war in spätestens fünf Minuten nichts weiter als Asche. Und das Schlimmste daran war die furchtbare Leere danach.

02.Kapitel

„Der Landausflug wird der Hammer.“ Annika zupfte an ihrem süßen, durchsichtigen Kleid und schob ihre Brüste ein wenig höher. Alle drei Mädchen sahen zum Anbeißen aus mit ihren Flipflops, den kurzen Kleidern und den Bikinis darunter.

„Wie heißt die Insel noch mal?“, fragte Vanessa und leckte sich den Lippenstift von den Zähnen. Ohne Make-up ging bei den Mädchen gar nichts, selbst wenn es nur ein Badeausflug werden sollte.

„Satsche-irgendwas. Ist doch egal. Eine tolle Insel irgendwo zwischen arabischem Meer und indischem Ozean. Sie ist herrlich einsam und hat nur Palmen, weißen Strand und keine Haie.“ Leonie lachte böse und zwinkerte Vanessa zu, weil sie wusste, wie sehr die sich vor den spitzzahnigen Viechern fürchtete. Vanessas Miene gefror auch augenblicklich, aber ihre Hand blieb beweglich und so boxte sie ihre Freundin fest in den Oberarm. Leoni japste überrascht und fuhr sich mit dem Lippenstift bis fast zu den Ohren.

„Scheiße, muss das sein? Sieh mal wie ich jetzt aussehe“, empörte sie sich, prustete aber gleich darauf los und machte eine Grimasse. Annika und Vanessa kicherten ebenfalls.

„Kein Wunder, wenn das mit Alex nichts wird“, meinte Annika frech. „So wie du immer rumrennst.“ Selbst hatte sie längst ein Auge auf den Kapitän geworfen und flirtete mit dem süßen Steward nur noch selten. Der stand sowieso ganz offensichtlich nur auf Vanessa, obwohl die ja wieder einmal überhaupt nichts bemerkte. Sie scherzte zwar immer fleißig mit und flirtete, aber echtes Interesse ging an ihrem Sensor vorbei. Da hatte Vanessa schon die selten gute Begabung, durch Ignoranz alles zu verbocken. Vielleicht war sie gerade deshalb so interessant für Männer wie Alex, denn der war nicht etwa der anständige Steward, als der er sich gerne präsentierte. Soweit hatte Annika den Typen schon abgecheckt. Mit Sicherheit war er der reinste Filou und konnte jede Frau an Bord haben, wenn er nur mit den Fingern schnippte. Lediglich Leonie schien das nicht zu sehen, oder auch nicht zu stören. Sie hatte sich vollkommen auf diesen Typen eingeschossen und war wild entschlossen, ihn zu Fall zu bringen. Nur eben bisher ohne Erfolg.

„Pfff! Das wird schon noch. Das Bürschchen ziert sich halt noch ein bisschen.“ Leonie ließ sich nicht auf die Schippe nehmen. Sie wusste was sie hatte und was sie wollte. Bis zum Ende der Luxusreise würde sie den süßen Steward schon noch vernaschen. Es war wie eine Wette mit sich selber und ein großartiges Versprechen an ihre Libido. Außerdem hatte sie mitbekommen, dass Annika kein Interesse mehr an ihm hatte und Vanessa sowieso nie wirklich auf ihn abgefahren war. Sicherheitshalber fragte sie bei Vanessa noch einmal nach, denn von ihr wusste sie immer am wenigsten, was sie wollte. „Warum magst du ihn eigentlich nicht rumkriegen?“

„Wen?“, fragte Vanessa gedankenverloren und die beiden anderen Frauen verdrehten die Augen.

„Danke! Das war eigentlich schon Antwort genug“, lachte Annika.

„Alex, der Steward!!! Klingeling!“ Leonie wackelte mit ihrer Hand vor Vanessas Gesicht, als würde sie mit einem kleinen Glöckchen klingeln. „Warum du nicht wollen gute Erfahrung mit heiße Kellner machen?“

„Hä?“ Vanessa blinzelt kurz, dann kapierte sie. „Warum du reden wie Bescheuerte?“, konterte sie trocken, war aber nicht bereit, wirklich Antwort zu geben. Überhaupt wirkte sie plötzlich viel zu ernst.

„Was ist denn los, Süße? Ich mach doch nur Spaß.“ Leonie wirkte besorgt und auch Annika bemerkte Vanessas seltsamen Stimmungswechsel.

„Stimmt was nicht, Nessi?“, fragte sie, denn mit dem Namen konnte sie ihre Freundin immer aufheitern... oder ärgern. Je nachdem. Nessi wurde vom Ungeheuer von Loch Ness abgeleitet und Vanessa hatte nun mal einen schönen, langen Hals. Vanessas Mundwinkel hoben sich ein klein wenig.

„Ach, ihr beiden seid süß. Aber ich...“ Sie druckste ein wenig herum. „Ich habe so verdammtes Heimweh.“

„WAAAS?“ Annikas Augen wurden groß.

„Ist jetzt nicht dein Ernst!“

„Nach nur drei Tagen?“ Leonie und Annika waren sich einig, dass Vanessa ihren Verstand verloren hatte. Heimweh nach solch kurzer Zeit war abartig, überhaupt wo sie gleich eine ultrageile Insel mit weißem Sand und Palmen einweihen sollten. Doch das war Vanessa egal. Sie schniefte und zeigte keine Spur mehr von Fröhlichkeit. Als hätte sie das schon die längste Zeit nur überspielt. Ihre Augen glitzerten verdächtig nach Tränen.

„Ach komm, Süße!“ Leonie umarmte ihre Freundin spontan. Sie konnte zwar nicht nachvollziehen, warum sie so traurig war, doch Tränen kochten sie immer weich. Annika hingegen machten sie ärgerlich.

„Wehe, wenn du uns jetzt alles verdirbst. Meine Güte! DU wolltest doch unbedingt mit. Jetzt sind wir gerade mal drei Tage auf diesem geilen Überluxusdampfer und haben all das leckere Zeugs an Bord. Und ich rede nicht nur von den Cocktails, Baby! Trotzdem hältst du es nicht aus?“ Sie atmete tief ein. „Nur weil der Überknaller für dich halt noch nicht vorbeigeflogen ist...“ Sie machte eine kurze Pause und beugte sich näher zu Vanessa. „Zugegeben, nicht alles was hier glänzt ist Gold. Da ist schon der eine oder andere Kahlkopf dabei. Eine Menge der Gäste sind schon... naja... im Seniorenalter. Das bringt der Luxus eben mit sich. Aber wir haben hier alle Freiheiten und ein paar von den älteren Herrschaften sind auch nicht ganz ohne. Der Kapitän zum Beispiel...“

„...der hat vielleicht auch eine Platte unter seinem Käppi“, ätzte Leonie und streckte ihrer Freundin zum Spaß die Zunge raus.

„Ach, still! Ich wollte ihr doch nur erklären, dass sie einfach noch ein bisschen suchen soll und abwarten muss.“ Annika deutete Leonie, dass sie mit ihrem Zungenspiel aufhören sollte. Dann wandte sie sich wieder Vanessa zu. „Irgendwo hockt er schon, der Mann, der auch zu dir passt... und zu deinem ersten Mal.“ Ups. Eigentlich hatte sie versprochen, nicht darüber zu reden.

„Erstes Mal?“ Leonie bekam gleich ganz große Ohren. „Aber du hattest doch mit siebzehn schon einen Freund und du hast gesagt...“

„Ich habe gelogen“, unterbrach Vanessa ihre Freundin barsch. Dann wandte sie sich an Annika und zog eine Grimasse. „DANKE, Annika. Seeehr einfühlsam.“

„Ja, sorry. Du hast mich einfach auf dem falschen Fuß erwischt.“

„Womit denn? Mit meinem Seelenschmerz?“ Vanessas Frage triefte vor Selbstmitleid, aber sie meinte es genauso, wie sie es sagte. Bei starkem Heimweh wurde man nun mal theatralisch.

„Ja, mein Gott!“ Annika pustete sich frustriert eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Wir haben uns geschworen, jeden Tag Party zu machen und es uns gut gehen zu lassen. Schon vergessen? Was soll dann der Scheiß jetzt mit den Tränen und dem ich will wieder zu Mami?“ Annika kam überhaupt nicht mehr runter, aber auch Vanessa ließ nicht locker.

„Wenn hier jemand was verdirbt, dann gerade du mit deiner unsensiblen Art. Man muss nicht immer nur hart und stark sein und alles gleich niederbulldozern, nur weil’s mal um Gefühle geht!“ Vanessa und Annika sahen sich an, als würden sie gleich aufeinander losgehen. Leonie wusste sich nicht anders zu helfen, als laut loszuschreien.

„Jetzt reicht‘s aber! Wenn ihr zwei euch nicht augenblicklich wieder einkriegt, bin ich auch noch sauer und glaubt mir, DAS wollt ihr euch nicht antun. Wie ihr wisst, neige ich zu Verdauungsstörungen, wenn mich was wirklich aufregt.“ Annika und Vanessa wollten noch etwas sagen, doch als ihnen klar wurde, womit Leonie gerade drohte, konnten sie ein erstes Grinsen nicht länger verhindern.

„Untersteh dich! Redest du gerade vom Furzen? Gott, du bist so primitiv.“ Annika hielt sich demonstrativ die Nase zu. „Wir teilen uns immerhin eine Kabine.“

„Eben“, feixte Leonie und blitzte mit ihren funkelnden Augen einmal herausfordernd zu Vanessa und dann wieder zu Annika. Demonstrativ hob sie ihren Allerwertesten vom Sessel und wartete ab. Und das Grinsen der beiden blieb, wenn auch mit einem leichten Ausdruck des Entsetzens. Die allgemeine Stimmung schwappte jedenfalls wieder in die fröhliche Ecke, wo sie im Urlaub ja auch hingehörte.

„Okay, Stinkaz! Dann entschuldige ich mich eben. Äh... sorry, Nessi.“ Annika wirkte tatsächlich einsichtig und schickte Vanessa ein kleines Flugküsschen. Und die fing es auch gleich auf.

„Ach, okay“, antwortete Vanessa, drückte sich die Handfläche mit dem gefangenen Küsschen auf die Wange und versuchte ein Lächeln.

„Es ist nur so, dass ich dein Verhalten kaum verstehen kann“, brummte Annika noch hinterher, meinte es aber nicht böse. Vielmehr hatte sie das Bedürfnis, ihre Beweggründe zu erklären. „Mich zieht nichts wirklich nach Hause. Nicht mal meine Eltern. Die sind zwar insgesamt in Ordnung, aber meist sowieso nicht zu Hause. Mit euch aber fühle ich mich endlich mal so richtig wohl. Sofern halt nicht geheult wird, meine ich.“ Verlegen zuckte sie mit den Schultern und das versöhnte Vanessa endgültig. Mit offenen Armen kam sie auf ihre Freundin zu und umarmte sie. Leonie klatschte laut in die Hände und deutete auf die Uhr. Zu viel Bussi-Bussi-Gehabe war dann auch wieder nicht so ihr Ding.

„So und jetzt los! Das Boot wartet schließlich nicht ewig!“

Die Fahrt mit dem Miniboot dauerte nur fünfzehn Minuten. Gemeinsam mit zwanzig anderen Gästen wurden sie über kristallklares Wasser zum absoluten Traumstrand gebracht. Die Farbe des Meeres wurde mit jeder Minute ein paar Nuancen heller und wandelte sich schließlich vom Blau ins absolut perfekte Türkis. Die Mädchen quietschten vergnügt bei dem herrlichen Anblick und zogen ein paar indignierte Blicke der anderen Gäste auf sich. Doch das konnte ihre gute Laune nicht verderben.

Der Strand war weitläufig und hatte ganz feinen, weißen Sand. Wie auf Postkarten. Das Wetter war ein Traum und der Wind bot genau die richtige Abkühlung, um es hier einen ganzen Tag lang auszuhalten. Auf der Insel gab es nichts außer Dschungel und Sand. Keine Bar, kein Unterhaltungsprogramm und auch kein noch so klitzekleines Service. Die Gäste wurden mit einer großen Kühlbox für Getränke und Sandwiches abgeladen und am Nachmittag wieder eingesammelt. Vermutlich war das der Grund, warum nur zwanzig Gäste diesen Ausflug mitmachten. Der „Robinson-Crusoe-Touch“ war offenbar auf einem Luxusdampfer nicht jedermanns Sache. Aber genau das fanden die Mädchen abenteuerlich und aufregend.

Mit den Flipflops in der Hand und ihren Badeutensilien in den Taschen wanderten die drei über den heißen Sand und suchten das perfekte Plätzchen. Ihre Strandkleider hatten sie schon weggepackt, ihre Haut längst mit hohem Sonnenschutzfaktor eingerieben. Besonders Leonie, mit ihren roten Haaren und dem hellen Teint, musste aufpassen und wollte unbedingt einen Schattenplatz, wenn auch nicht irgendwo im Gebüsch, sondern durchaus in Meeresnähe. Aus dem Grund suchten die drei viel länger als alle anderen Gäste und wanderten gut eine halbe Stunde vom allgemeinen Treffpunkt in südliche Richtung weiter. Die Insel bot immer wieder wunderschöne Buchten und offene Stellen, aber sie suchten eben den perfekten Platz mit feinem Sand, Schatten und Sonne. In Wahrheit tat ihnen die Ruhe ungeheuer gut. Sie waren zwar alle – auch Vanessa wieder – in Party-Party-Stimmung, doch die Insel hatte eine extrem entspannende Wirkung auf sie. Alleine der Spaziergang machte sie auf eine völlig andere Art glücklich, als es partymäßige Highlights je geschafft hätten. Feiern war natürlich super, hatte aber auch so etwas Getriebenes und Hochtouriges. Außerdem hinkte man stets dem nächsten Kick hinterher. Vermutlich suchten sie alle nur nach dem wirklich richtigen Gefühl und erkannten intuitiv, dass so etwas auch durch eine schöne Umgebung erzeugt werden konnte. Für die drei fühlte es sich sogar gerade nachhaltiger an als alles andere.

„Wow, das hier ist perfekt!“, lachte Leonie und deutete auf die märchenhafte Bucht vor ihnen. Palmen hingen schräg über den schmalen Streifen Sand und spendeten ein wenig Schatten auf der hellen Fläche. Das Meer wirkte hier besonders türkis, der Strand war flach abfallend und ideal, um – ohne Haifischalarm – richtig lange zu dümpeln. Selbst für Annika bot der Platz die idealen Sonnenplätzchen, denn sie hatte sich geschworen, erst wieder mit einer mörderisch guten Farbe nach Hause zu fahren.

„Wie aus einer alten Bacardi-Werbung“, schwärmte Vanessa, die diese Werbung von ihrer Mutter aus der Werbebranche kannte.

„Fehlen nur noch die schnuckeligen Jungs, die uns jetzt ein Floß bauen“, meinte Leonie, die die Spots wegen Vanessas Mutter ebenfalls kannte.

„Quatsch, die uns verwöhnen“, fiel Annika ein und grinste. Dann breitete sie ihr Strandtuch als Erste aus und fläzte sich gemütlich darauf. Die anderen beiden taten es ihr gleich und starrten danach selig in den ultrablauen Himmel.

„Bei uns ist der Himmel nie so blau“, meinte Leonie und streichelte mit ihren Fingern sanft über den weißen Sand. Der fühlte sich so unglaublich fein und weich an, dass sie an Seide dachte.

„Das hat wohl mit dem Meer zu tun“, spekulierte Annika, obwohl es ihr eigentlich egal war. Der Himmel war schön. Punkt und aus.

„Ich muss nochmal die Farbe vom Meer angucken“, träumte nun Vanessa und setzte sich auf. „Mensch, das ist so geil türkis! Wenn ich das meinen Eltern zeige...“ Klick, schon hatte sie mit dem Handy ein cooles Foto geschossen und tippte herum, um das Bild als MMS zu versenden. Doch Telefonnetz war hier natürlich illusorisch.

„Mist, kein Netz“, motzte sie.

„Na, was für ein Wunder“, spottete Annika.

„Aber wenigstens habe ich ja das Foto.“

„Meinst du, zwischen all den Palmen steht ein Handymast? Hm?“, ätzte Annika weiter und schüttelte den Kopf, weil Vanessa manchmal so gar keinen Sinn für die Realität hatte. Doch die zuckte nur mit den Schultern.

„Mir doch egal. Probieren kann man es ja.“ Dann packte sie das Handy weg und guckte wieder aufs Meer. „Meint ihr, wenn ich meine Zehen da reinhänge, werde ich blau? Die Farbe ist einfach so irre.“ Leonie und Annika blickten zu ihrer Freundin, als ob sie nicht ganz dicht wäre. Vanessa bemerkte es nicht einmal und seufzte nur schwer. Sie träumte wieder einmal und das war natürlich okay. Trotzdem war es für die beiden anderen eine seltsame Anwandlung.

„Was kommt jetzt wieder, Nessi? Geheule, eine philosophische Abhandlung oder nur ein dezenter Sonnenstich?“ Annika lachte, wirkte aber doch recht skeptisch.

„Nichts von alledem“, erklärte Leonie. „Sie träumt vermutlich von den leckeren Cocktails an Bord, dann wäre sie natürlich irgendwann blau. Vielleicht sogar wie das Meer.“ Leonie kicherte und stupste Vanessa an. „Manchmal bist du so verträumt, dass ich mich frage, was in deinem Kopf wirklich vorgeht.“

„Verträumt? Aber nein, das bin ich doch gar nicht. Ich habe nur gerade überlegt... ich meine, stellt euch doch mal vor, das Wasser wäre ein riesiges Gebilde aus lebendigen Informationen und wir hätten die Möglichkeit, damit in Kontakt zu treten. Wenn ich mir vorstelle, dass das Meer auf mich abfärbt... jetzt in echt und nicht nur im Sinne von ‚ich krieg blaue Zehen‘ ... dann wäre ich vermutlich auch mit der ganzen Kraft des Ozeans verbunden. Vielleicht könnte ich dann die Tiere verstehen, ihre Kraft spüren, die unendliche Weite erahnen und göttliche Zusammenhänge begreifen.“ Versonnen blickte Vanessa zum Horizont und schlang ihre Arme um ihre angewinkelten Beine. Ihr Kinn stützte sie auf ihre Knie, ihr Blick war glasig, wirkte aber dennoch konzentriert. Als könnte sie durch die gerade Linie des Horizonts blicken und etwas sehen, was die anderen nicht sehen konnten. Annika und Leonie sahen sie mit offenem Mund an und wirkten betroffen. Leonie fasste ihr sicherheitshalber auf die Stirn.

„Nö, Fieber hat sie keines“, meinte sie trocken, aber mit einem Gesichtsausdruck, der Bände sprach. So derart geschwollen hatte sie noch nie geredet.

„Tiere verstehen“, wiederholte Vanessa verträumt und lächelte.

„Durst?“, fragte Annika nüchtern und zwinkerte Leonie zu. „Vermutlich ist sie dehydriert und halluziniert.“ Mit skeptischer Miene reichte sie ihrer Freundin eine Wasserflasche. Doch die achtete gar nicht darauf, sah weiter hinaus auf das Meer und schien eine unbegreifliche Nähe dazu aufbauen zu können. Annika stellte die Flasche wieder in den Sand.

„Ich meine ja nur. Stellt euch doch mal vor, wir wären mit all dem hier verbunden, könnten das große Ganze erkennen und spüren! Wäre das nicht ein unbeschreiblich schöner Traum?“ Die beiden anderen konnten immer noch nicht fassen, dass Vanessa weiter davon sprach und es offenbar ernst meinte.

„Sie hat ganz klar einen Sonnenstich“, meinte Annika und schien damit das Thema endlich abschließen zu wollen. Leonie hingegen versuchte wenigstens sich Vanessas Vision vom Verstehen der Tiere vorzustellen. Zumindest für einen kurzen Moment.

„Super, dann kann ich endlich Walisch oder heißt das dann Fischisch?“ Dazu pfiff und röhrte sie so gut sie konnte und erinnerte damit unfreiwillig an ihre Drohung mit Verdauungsstörungen.

„Iiih. Hör auf damit“, meinte Annika und warf eine kleine Portion Sand in ihre Richtung.

„Wale sind keine Fische“, meinte Vanessa trocken und schien gar nicht zu bemerken, dass die beiden nur Spaß machten. Leonie streckte ihre Zunge heraus.

„Dat wa doch nu Spath.“

„Vielleicht solltest du die Zunge beim Reden wieder reinziehen?“, kicherte Annika und auch Vanessa begann endlich zu schmunzeln. Der verträumte Ausdruck blieb dennoch in ihrem Gesicht. Das Meer hatte so etwas verdammt Magisches an sich. Kein Wunder, dass Seefahrer solch eine Sehnsucht nach der blauen Weite entwickeln konnten. Es war ja wirklich unglaublich anziehend... bis auf die Haie, versteht sich.

„Sicherheitshalber trinkst du bitte noch was und dann wird gefälligst relaxed!“ Annika drückte Vanessa die Wasserflasche in die Hand.

„Danke, Mami“, grinste die und trank in kräftigen Zügen die halbe Flasche leer.

Ein wenig alberten sie noch rum, dann stöpselte sich jede ihre iPod-Kopfhörer in die Ohren und ließ sich treiben. DAS war dann der eigentliche Urlaub: Einsamkeit, Sonne, Strand, Meer und die Musik, die man liebte. Schwups, irgendwann fiel Annikas Oberteil und kurz darauf auch das der beiden anderen. So abseits konnte sie sowieso keiner sehen und wenn doch, war es auch egal. Oben ohne war heutzutage sowieso kein richtiger Hingucker mehr. Außer vielleicht bei Annika, denn die hatte Cup D und das noch dazu in perfekter Form. Würde sie nicht jeden Tag über die schweren Dinger jammern, hätten die anderen sie glatt beneidet. Auf dem Schiff war oben ohne jedenfalls verboten, doch auf der Miniinsel gab es weder Verbotsschilder noch irgendeine Menschenseele, die sich darum scherte.

Doch genau das war natürlich ein Irrtum.

Viktor Trentz war einer von Maslovs Purchasing Managern und gerade dabei, sich einen Namen in seiner Truppe zu machen. Maslov war kein einfacher Chef, aber er zahlte schöne Sümmchen, wenn man gute Ware lieferte. Natürlich knallte er einen ab, wenn man es nicht tat, aber die Regeln waren einfach und für Viktor verständlich. Keine langen Verträge, kein juristisches Kauderwelsch und keine Zahlungsschwierigkeiten: Liefern hieß leben, nicht liefern sterben. Für ihn war das kein Problem, denn er lieferte in regelmäßigen Abständen halbwegs gute Ware und wurde mittelprächtig dafür bezahlt. Manchmal gelang ihm ein sensationeller Ausreißer und er bekam mehr bezahlt, sodass er alles in allem zufrieden sein konnte. Sein einziges Problem war das fehlende Feingespür für die Launen seines Chefs und dessen ständig wechselnder Mädchengeschmack. Die jungen, naiven Dinger aus dem Osten Europas waren immer Schönheiten, aber Maslov brauchte Abwechslung, strebte nach einem bunten Mix und extremer Vielfalt. Seine Kundschaft verstreute sich über die ganze Welt und jede Gruppe hatte so ihre Vorlieben und durchaus manchmal ganz spezielle Anforderungen. Wenn es ein gefordertes Profil gab und ein ganz bestimmter Typ von Frau, Mann oder Kind gesucht wurde, dann hatte Viktor das wenigste Problem damit. Bei Steckbriefanforderung hatte er in der Regel mehr Zeit für die Beschaffung und zumindest eine genaue Beschreibung. So als würde er mit einem Spickzettel einkaufen gehen. Was er eben nicht mochte, war, selbst eine Wahl treffen zu müssen. Dabei liebte Maslov Eigeninitiative und einen gewissen Überraschungseffekt, vermutlich gerade weil er so extrem unberechenbar war. Deswegen wollte Viktor nun auch dieser Anforderung gerecht werden und seinen Boss überraschen... mit drei jungen, unverdorben Frauen, die einmal nicht von der Straße aufgelesen worden waren, sondern eindeutig aus reichen Verhältnissen stammten. Es mochte ein wenig verwegen sein, wenn der Hintergrund aus einer intakten, reichen Familie bestand, doch im Prinzip war es immer eine Leichtigkeit, Menschen verschwinden zu lassen.

Er lachte leise in sich hinein. Wenn diese Mädchen nicht Maslovs Geschmack entsprachen, könnte der zumindest noch Lösegeld für sie fordern. Er hatte zwar so viel Kohle wie Sand auf seiner Privatinsel, doch wer war schon abgeneigt, noch mehr Geld zu scheffeln? Viktor hielt das für eine geniale Überlegung und die Mädchen waren schließlich gut gebaut, jung und hübsch. Vor allem die eine.

Endlich hatten die Mädchen auf Schlafmodus gestellt und ließen sich von ihrer Scheiß Partymusik berieseln. Er grinste hämisch und blaffte die letzte Anordnung in sein Satellitentelefon. Dann veränderte er seine Position und rückte näher an sein Ziel heran. Schon in den nächsten zwanzig Minuten würde er die Ware klar Schiff machen. Die Mädchen waren jung, naiv und wunderschön. Beinahe musste er lächeln über ihre Unbekümmertheit und ihre Freizügigkeit. Mit Stöpseln in den Ohren hatten sie überhaupt keine Chance, die drohende Gefahr zu hören. Ach, heile Welt! Für ihn gab es diese Illusion schon lange nicht mehr und für die drei würde die Blase in den nächsten Tagen für immer zerplatzen.

Sein Lächeln verschwand zur Gänze und er sortierte die Betäubungspfeile der Reihe nach. Eins, zwei und drei. Die Reihenfolge war essentiell, denn nur eines der drei Mädchen bekam eine höhere Dosis. Im Schätzen von Gewicht war er ein Meister und das musste er auch sein, denn eine zu hohe Dosis konnte beim Opfer auch eine zentrale Atemlähmung auslösen. Es war also immer Vorsicht und die Hand eines Profis geboten. Doch Barbiturate in richtiger Dosierung waren nun einmal die besten Mittelchen, um Ladies auszuknocken. Den Hangover am nächsten Tag hatten alle, aber ein paar von ihnen waren danach auch voll auf Touren und so erregt, dass sie Maslov vermutlich selbst und recht natürlich von ihren Qualitäten überzeugen würden.

03.Kapitel

„Was soll das heißen, sie sind verschwunden?“ Vanessas Mutter stand der Mund offen vor Empörung. Erst danach realisierte sie den möglichen Verlust und sackte in sich zusammen. Die Polizistin griff beherzt zu, um sie zu stützen. Erikas Mann kam rasch hinzu. Das Fußballspiel auf Kanal 3 konnte offenbar doch warten.

„Worum geht es denn?“ Sicherheitshalber legte er einen Arm um seine Frau, weil sie vollkommen durcheinander aussah.

„Ich habe es Ihrer Frau schon gesagt, Herr Leiner. Wir wurden informiert, dass Ihre Tochter Vanessa verschwunden ist. Ebenso wie ihre Freundinnen Leonie Bader und Annika Stein. Am dritten Tag ihres gemeinsamen Urlaubes haben die jungen Frauen einen Inselausflug gemacht und sind seitdem nicht mehr auffindbar. Die Schiffscrew und ein paar der Gäste haben sich sehr bemüht und die Insel bis zum Abend abgesucht, doch die drei Mädchen sind bis heute wie vom Erdboden verschwunden. Die Crew hat die örtliche Polizei verständigt und die wiederum uns. Einer der Offiziere hat jedoch die Kabine der Mädchen durchsucht und festgestellt, dass ihre Pässe verschwunden sind. Entweder wollten die drei ausreißen oder aber sie wurden gezielt ausgesucht und entführt. Da die Transportmöglichkeiten von der Insel sehr eingeschränkt sind, ist die Version des Ausreißens eher unwahrscheinlich. Die Personal- und Passagierliste wird derzeit genau geprüft, um mögliche Verdächtige herauszufiltern. Blinde Passagiere sind leider ausgenommen, falls die vorhanden waren. Aber an Bord wird natürlich auch weiter nach den vermissten Mädchen gesucht, obwohl ein offizieller Transport von der Insel zurück zum Schiff definitiv nicht stattgefunden hat.“ Der Beamte machte eine kurze Pause. „Das Schiff musste inzwischen natürlich wieder seinen Kurs fortsetzen, aber die Ermittlungen laufen selbstverständlich ungehindert weiter. Da eine harmlose Erklärung oder gar ein Spaß unwahrscheinlich erscheinen, bleibt vermutlich nur noch die Version der Entführung. So wie die Schiffscrew dann noch die Mädchen beschrieben hat, vermuten wir leider tatsächlich professionelle Mädchenhändler hinter dieser Angelegenheit.“

„Angelegenheit. Mädchenhändler. Vanessa.“ Harald stammelte und umfasste seine Frau so fest, dass sie stöhnte.

„Kommen Sie doch erst einmal herein und dann erklären Sie uns alles noch einmal ganz genau.“

Nach den bekannten Fakten waren Vanessas Eltern am Boden zerstört. Alle drei Mädchen waren entführt oder ermordet worden, dessen waren sie sicher. Ein paar wenige Badeutensilien waren in einer einsamen Bucht auf der Insel gefunden worden, ebenso wie Vanessas Handy. Doch ansonsten fehlte von den Mädchen jede Spur.

„Gut, wir sind reich. Glauben Sie, dass die Entführer sich bei uns melden?“ Es war das Greifen nach dem einzigen, dünnen Strohhalm. Der Versuch purer Hoffnung.

„Äh, wir glauben...“, begann der männliche Beamte, wurde aber sofort von seiner Kollegin unterbrochen.

„Natürlich“, unterbrach ihn die Polizistin und knuffte ihren Kollegen unauffällig in den Oberschenkel. Diese Leute brauchten ein wenig Hoffnung und warum sollte sie ihnen die nicht geben? „Wenn die Leute auf Geld aus sind, dann werden sie sich sicher in der nächsten Zeit bei Ihnen melden. Allerdings gehen wir derzeit eher von gewöhnlichem Menschenhandel aus. In dieser Gegend ist leider alles möglich. Die Idylle dort trügt. Seepiraten und Drogendealer haben in dem Bereich alles fest in der Hand. Es wundert mich, dass die Reiseleitung überhaupt noch eine dieser Inseln ansteuert.“ Okay, das war nicht ganz die Version, die erschütterte Eltern beruhigte, auch wenn die Beamtin gerade einen möglichen Schuldigen auf dem Silbertablett präsentierte: Die Reiseleitung! Die hatte sicher einiges zu verantworten und würde vermutlich bis zu einem gewissen Grad den Kopf hinhalten müssen, doch das brachte natürlich die Mädchen nicht zurück. Erika Leiner schluchzte laut und ihr Mann versuchte sie zu beruhigen, flüsterte ihr etwas ins Ohr und streichelte über ihren Oberarm. Danach wandte er sich wieder an die beiden Polizisten.

„Was können wir denn jetzt tun? Ist der Fall bei Interpol oder wer ist dafür jetzt eigentlich zuständig?“

„Wir arbeiten mit Interpol zusammen, aber in erster Linie sind die Behörden vor Ort zuständig und dann natürlich noch wir hier. Vorerst werden wir einmal Ihr Telefon verdrahten und einen Beamten auf Abruf bereitstellen.“

„Heißt das, wir werden ab jetzt überwacht?“, krächzte Erika und griff nach der Hand ihres Mannes.

„Nein. Wir bitten Sie nur, alle Telefonate mit dem Gerät, das in den nächsten zwanzig Minuten installiert wird, aufzunehmen. An dieses Gerät können Sie auch Ihre Handys anschließen. Falls ein Anruf wegen Lösegeld erfolgen sollte, haben wir die Stimme des Verbrechers und Sie können den bereitgestellten Beamten sofort unter dieser Nummer erreichen.“ Damit übergab sie den beiden verstörten Eltern eine Visitenkarte.

„Der Kollege kommt dann zu jeder Tages- oder Nachtzeit.“ Die beiden starrten auf die lieblos gedruckte Karte mit der winzigen Schrift. Rainhard Adelmöller stand da, Kriminalbeamter und eine Handynummer. Mehr nicht. Erika blinzelte die Tränen weg und sah ihren Mann verzweifelt an. Beide konnten nicht fassen, was passiert war. Ihre Tochter und deren Freundinnen waren während des Urlaubs in einem vermeintlich harmlosen Naturparadies verschwunden. Drei junge Frauen, die ihr ganzes Leben noch vor sich hatten! Erika stöhnte verzweifelt auf. Sie hatten keine Kosten gescheut und ihrem Mädchen zum ersten Mal eine Reise ohne Aufsicht gegönnt. Mit allem Drum und Dran und natürlich mit dem Glauben an Sicherheit. Wie um alles in der Welt hätten sie DAMIT rechnen können? Mit solch einem Schicksalsschlag? Und warum hatten sie nicht geahnt, dass mit dieser einen Entscheidung ihr Leben plötzlich völlig anders aussehen würde?

Zerstört.

Leer.

Doch sie durften nicht aufgeben, schon gar nicht die Hoffnung verlieren! Vanessa war nicht tot und sie würden sie finden, komme was da wolle! Das Einzige, was sie jetzt tun konnten, war vertrauen. Auf das Schicksal, die Polizei, das Glück!

Herr Leiner fasste sich als Erster. Die Nachricht war ein Schock, der mögliche Verlust unvorstellbar. Aber noch war alles in der Schwebe. Noch stand überhaupt nichts fest. Und die Polizei war allem Anschein nach bereits höchst aktiv, arbeitete sogar mit Interpol zusammen. Sie, als Eltern, wurden verdrahtet und konnten jederzeit einen Beamten aktivieren. So weit, so gut. Doch das mit den Handys war eindeutig ein Schwachpunkt.

„Was ist, wenn wir unterwegs sind und der oder die Täter rufen uns auf dem Handy an? Wie sollen wir das Gespräch dann aufnehmen, wenn Sie uns hier nur ein Standgerät für die Aufnahmen liefern?“ Harald hatte den Schmerz irgendwie ausgeblendet und sich auf die Fakten konzentriert. Er versäumte dennoch nicht, seine schluchzende Frau zu trösten.

„Auch da können wir etwas unternehmen. Allerdings erst in ein paar Stunden. Unsere Kollegen für Mobilüberwachung können Ihre Handys dann lokalisieren und zu gegebener Zeit die Gespräche aufzeichnen. Das Technikteam dafür muss erst bereitgestellt werden. Die übliche Maschinerie greift leider ein wenig langsamer, weil wir nicht von einer herkömmlichen Entführung ausgehen...“

„Damit meint mein Kollege...“, unterbrach ihn die Polizistin gleich wieder und stieg ihm kräftig auf die Zehen. Der Polizist knirschte mit den Zähnen und schien einen Fluch nur mühsam zu unterdrücken. Sein Blick zeigte ganz klar, dass er nur auf die Gelegenheit wartete, es ihr heimzuzahlen. „..., dass wir derzeit noch nicht genug Information haben, um wirklich etwas Fixes zu sagen. Wir versichern Ihnen aber, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun, um Ihre Tochter und ihre Freundinnen wieder zu finden. Interpol hat da durchaus viele Kontakte und vor allem genügend Erfahrung.“

04.Kapitel

„Also meine Herren, kann ich jetzt davon ausgehen, dass die Werbeaktion greift? Ich möchte meinen Umsatz in Europa deutlich erhöhen. Wenn die Kids erst einmal den Stoff probiert haben, wollen sie sowieso immer mehr. In Tschechien hat das auch geklappt.“

„Tschechien ist ja auch eine Ausnahme und das neue Drogenparadies schlechthin. Die Drogenbosse dort überschwemmen Europa mit genügend minderwertiger Ware. Da kannst du natürlich mit deinen hochwertigen Drogen sofort punkten. Selbst ein Blinder erkennt dort bereits den Unterschied, doch der Rest Europas ist noch nicht so weit. Noch lange nicht. Da muss man die Sache ein bisschen langsamer angehen.“ Michail riss die Klappe ein wenig zu groß auf. Er war neu im Geschäft, meinte aber, mehr zu wissen als andere. Und das konnte Maslov gar nicht leiden. Wenn, dann spuckte ER große Töne, aber sicher kein kleiner Pole, der zum ersten Mal richtig mitmischte. Maslovs Teint wurde eine Spur dunkler, was immer ein schlechtes Zeichen war. Wütend funkelte er den Neuling an.

„Scheiß drauf! Wozu haben wir so viele Leute vor Ort? Ich werde sie mit Gratisproben an die Schulen schicken und lass mir da nicht gerne dazwischenreden, klar? Gratisaktionen an Schulen sind der Renner. Danach wissen selbst die bescheuertsten Kids, dass wir die bessere Ware haben. Der Vergleich macht sie sicher. Ich glaube, der Spruch ist sogar aus einer Werbung.“ Maslov kicherte. Zum Glück rettete ihn oft sein eigener Humor vor zu viel Zorn. Und der junge Pole war so unwichtig, dass er nicht mal leichten Ärger wert war. Zielsicher wandte Maslov sich dem älteren der beiden Geschäftspartner zu. „Was meinst du, mein Freund?“ Kleine Lakaien brachten manchmal schon guten und frischen Wind ins Alltagsgeschäft, doch dieser Michail ging ihm einfach auf den Sack.

„Ich gebe Dir schon recht, Mischa.“ Igor war der einzige Geschäftspartner, der Maslov mit Vornamen ansprach und das überlebte. Mit seinen über sechzig Jahren war Igor länger im Geschäft, als alle anderen und zudem ein guter Freund Maslovs. „Aber bei Schulen muss man aufpassen! Sollten wir uns zu weit vorlehnen, könnte die Polizei eine Offensive starten und uns die Suppe versalzen. Und das können wir uns in Zeiten wie diesen nicht wirklich leisten. Vielleicht sollten wir uns also weiterhin dem Sektor Unterhaltung widmen? Die Discos, die Bars und Puffs, die Spielhöllen.“

„Ach, das ist mir zu schlapp. Ich will auch die ganz jungen Kids als zukünftige Kunden gewinnen. Sieh dich doch um!“ Damit zeigte Maslov auf den riesigen Monitor seines Arbeitszimmers, wo gerade eine Dokumentation über deutsche Schulen abgespielt wurde. „In Europa gibt es nirgendwo Sicherheitsvorkehrungen wie in Amerika. Die Schulen sind total frei zugänglich. Hier kannst du genügend Personal einschleusen und die Kunden von morgen gewinnen. Endlich ist es ein Vorteil, dass Europa ein paar Jährchen hinter Amerika herhinkt. Hier können wir gut Fuß fassen, unauffällig werben und die bestehenden Netze erweitern. Die Vietnamesen, die ihr Zeug so ungehindert nach Tschechien liefern, kommen da nicht viel weiter, aber ich sehr wohl. Die Qualität unserer Ecstasy-Pillen ist viel besser und sie haben weniger Nebenwirkungen. Selbst die Farben sind cool und kommen gut an. Eine Kleinigkeit, aber eine große Sache im Verkauf. Außerdem sind die Gratisproben geringer dosiert. Für Ersteinsteiger ideal. Mit unseren Spezial-Ecstasy-Pillen holen wir uns also die Kids als User von morgen und mit Skopolamin holen wir uns nebenbei die Verbrecher, die gut dafür bezahlen.“

„Skopolamin?“ Michail schaute fragend in die Runde. Wie erwartet hatte er den Köder geschluckt, den Intelligenztest gleich einmal vermasselt. Maslov grinste gehässig.

„Für Anfänger heißt es Devil’s Breath. DAVON hast du doch wohl schon gehört, oder?“ Er provozierte ihn absichtlich und Michail bekam prompt rote Ohren. Er mochte ja der jüngste in der Runde sein, hatte sich aber vor allem durch seine Brutalität und Mordbereitschaft einen Namen gemacht. Als Depp wollte er hier bestimmt nicht rüberkommen.

„Sorry. Ich hab’s nicht so mit Chemie. Devil’s Breath kenne ich natürlich. Ist ganz neu auf dem Markt. Es ist geruchs- und geschmacksneutral, kann in Drinks verabreicht oder ins Gesicht gepustet werden. Daher ja auch der Name... Teufelsatem. Die Droge macht das Opfer absolut willenlos und löscht in höherer Dosis das Gedächtnis oder führt sogar zum Tod.“

„Okay, schon gut. Du brauchst nicht dein auswendig gelerntes Zeug runterlabern. Michail, Michail! Wenn du als Drogenboss Fuß fassen willst, musst du einfach alles über deine Dealobjekte wissen, klar? Dann müsstest du auch wissen, wo Skopolamin herkommt und woraus es hergestellt wird.“ Maslov wollte dem kleinen Scheißer zeigen, wie wichtig es war, sich mit seinem Geschäft genau auseinanderzusetzen. Es ging nicht immer nur um Kohle und Gewalt. Es ging vor allem um Wissen, Koordination und Taktieren.

„Ich weiß, dass es von einer Pflanze kommt“, antwortete Michail laut, weil er sich unwohl fühlte und allmählich sehr ärgerlich wurde.

„Ach, lassen wir diese Spielchen doch“, meinte Igor versöhnlich und lächelte, obwohl er sonst immer einer der Ersten war, der Unwissenheit nicht vertrug. Der alte Mann war also ganz klar auf Michails Seite und das war nicht weiter verwunderlich, denn man munkelte schon lange, dass Michail einer seiner vielen unehelichen Söhne war.

„Engelstrompete“, blaffte Michail trotzig und viel zu laut. Die Wut hatte ihn viel zu schnell im Griff, denn seine Erklärung klang wie eine Kampfansage. Doch das ging bei Maslov nie gut. Igor wurde schlagartig ernst.

„Still jetzt!“, zischte er Michail an und nahm eine Haltung ein, als würde er ihn beim nächsten falschen Wort ohrfeigen. „Wir wissen alle, dass die Droge aus Südamerika stammt und längst von der CIA als Wahrheitsserum verwendet wird. Jeder, der mit Drogen zu tun hat, kennt Skopolamin als Devil‘s Breath.“ Es war nur eine kurze Zurechtweisung und doch genau das, was Maslov erreichen wollte. Der Mentor musste seinem Schützling stets zur rechten Zeit zeigen, wo sein Platz war und wann er den Mund zu halten hatte. Igor mochte ja ein Freund des Hauses sein, doch wenn er schon einen derart jungen Scheißer fördern wollte, musste er ihm auch entsprechende Manieren beibringen.

Michail zog augenblicklich den Schwanz ein und Maslov nickte Igor zufrieden zu.

„Nun gut. Zurück zum Geschäft! Ich verlange, dass meinem Wunsch entsprochen wird. Es ist also nicht länger eine Bitte. Ab nächster Woche wird ein Teil eures Einkommens für Werbung verwendet. Ihr bekommt meine Ware und verhökert sie gratis an ausgewählten Schulen. Für den Anfang riskieren wir eine geringe Investition von 100.000 Euro. Dafür lege ich euch ein paar Extragramm von meinem Zeug drauf.“ Maslov lächelte, Igor längst nicht mehr und Michail holte tief Luft. Jetzt hatte er sie also im Schwitzkasten. Bei Geld hörte im Normalfall jede Freundschaft auf. Maslov wusste aber, dass Igor genug Geld zur Verfügung hatte.

„Ich weiß, meine lieben Freunde, das ist für Euch ein Pappenstiel und es ist eine gute Investition in die Zukunft. Vor allem ist es in erster Linie EURE Investition und daher nur ratsam, wenn ihr sie gut einsetzt. Ich will, dass ihr die richtigen Schulen für dieses Vorhaben auswählt, verstanden?“ Igor wirkte ungerührt, wenn auch nicht amüsiert. Michail hingegen schien im Kopf schon nachzurechnen, wie er so viel Geld abzweigen sollte.

Igors Augen wurden schmal. Er hatte nicht wirklich eine Wahl.

„Gut! Dann machen wir es so. Bis nächste Woche ist es für solch eine große Operation allerdings ein wenig knapp. Schließlich müssen wir Zwischenhändler verständigen und beliefern, aber spätestens in zwei Wochen passiert alles so, wie du es dir vorstellst, Mischa.“ Die vertrauliche Anrede ging Maslov allmählich auf die Nerven, ebenso wie Igors Unverfrorenheit die Zeitvorgabe zu boykottieren. Maslov wollte Druck machen, schnell und zügig vorgehen, doch im Grunde wusste er, dass er es sich mit dem Alten nicht zu sehr verscherzen sollte. Er wirkte bei Verhandlungen immer so betont väterlich und besonnen, aber in Wahrheit war er ein Teufel. Ein Teufel, der im Moment jedoch auf dem kürzeren Ast saß.

„Gut, dann ist das ein Deal.“

Ein paar Türen weiter erwachte Leonie aus ihrer Bewusstlosigkeit. Ihr brummte der Schädel und ihre Augen wollten einfach nicht scharf stellen. Sie versuchte sich aufzusetzen und fiel doch wieder zur Seite. Dann hörte sie Vanessa stöhnen und versuchte, in ihre Richtung zu robben. Ihr Körper reagierte seltsam und sie sah weiterhin verschwommen.

„Leonie?“, krächzte Vanessa, die bereits gut sehen, aber sich auch noch nicht wirklich bewegen konnte. Vanessa begann hemmungslos zu weinen. „Leonie, was ist nur mit Annika los?“, rief sie und versuchte Leonie weiter in ihre Richtung zu lotsen. Die kam tatsächlich auf allen Vieren näher, blinzelte noch etwas und konnte doch allmählich ihre Umgebung erkennen. Sie befanden sich in einem Raum, der wie eine Folterkammer aussah, nur nicht wie eine aus dem Mittelalter. Es war dunkel und es war kalt... aber das konnte daran liegen, dass sie nur ein T-Shirt und ihre Bikinihose trug. Wo war nur schnell der Rest geblieben? Verwirrt rieb sie sich die Stirn und hatte Bilder von Blau und Weiß in ihrem Kopf. Meer und Strand oder so ähnlich. Aber was gab es noch? Leonie schüttelte den Kopf, versuchte sich zu erinnern und blickte dann doch nur zu Vanessa und Annika. Beide hatten dasselbe an wie sie, aber Annika lag am Boden und Vanessa hockte neben ihr und rüttelte am leblosen Körper ihrer Freundin. Dann schlug sie ihr sogar ins Gesicht.

„Komm schon Annika! Du wirst mir doch jetzt nicht schlapp machen?“ Vanessa wirkte vollkommen verstört, sah immer wieder zu Leonie und dann wieder auf Annika, die wie tot zwischen ihnen lag. Annika schien nicht einmal mehr zu atmen... und das aktivierte dann doch allmählich Leonies Kampfgeist. Auch ihr Körper kam mehr und mehr in die Gänge. Vorsichtig kroch sie näher und tastete nach Annikas Puls am Hals. Dann versuchte sie Atem bei Nase und Mund zu hören oder zu spüren.

„Scheiße, sie atmet kaum noch. Warte, ich mache Mund zu Mund Beatmung und du machst eine Herzmassage.“ Doch Vanessa schüttelte nur den Kopf.

„Spinnst du? Ich kann das nicht! Ich lerne das erst nach dem Sommer.“ Sie robbte sogar ein Stück von Annikas Körper weg und schüttelte weiterhin wie verrückt den Kopf. „Kapierst du es nicht, Leonie?“, krächzte sie weiter. Ihr Blick war starr, schien ins absolute Nichts zu driften. Ihre Pupillen waren übermäßig groß und Leonie kombinierte, dass sie unter Schock stand oder irgendetwas genommen haben musste. „Ich bin noch nicht so weit. Ich lerne das erst“, erklärte sie erneut und zitterte dabei am ganzen Körper. Doch darauf konnte Leonie keine Rücksicht nehmen. Sie wusste instinktiv, dass es hier um Annikas Leben ging.

„Hör auf zu heulen und mach, was ich dir sage, klar?“ Woher Leonie ihre Kraft nahm, wusste sie nicht. Sie wusste nur, wenn sie nichts unternahmen, würde ihre Freundin vielleicht sterben. Ohne weiter zu zögern oder auf ihren pochenden Kopf zu achten, beugte sie sich über Annika, hielt ihr die Nase zu und pustete Luft in ihren Mund. Dann erinnerte sie sich, dass ja eigentlich die Herzmassage viel wichtiger war, weil das Blut durch den Körper gepumpt werden musste und so vor allem das Hirn versorgt wurde. Also blaffte sie Vanessa an, dass die gefälligst damit jetzt anfangen sollte. Und die brauchte offenbar genau das, um aus ihrer Starre zu erwachen und in Trab zu kommen. Klare Anweisung, laute Stimme. Sie bewegte sich am Anfang zwar wie ein Roboter, doch dann tat sie, was getan werden musste. Und gar nicht einmal so schlecht, denn Vanessa hatte sich mit Sicherheit mehr mit Erster Hilfe auseinandergesetzt als Leonie. Als sie dann zum zweiten Mal ihren Handballen fest in Annikas Brustkorb drückte, riss die plötzlich die Augen auf und keuchte nach Luft. Leonie begann sofort ihre Wangen zu tätscheln, doch Annika hustete nur und versuchte wie unter Krämpfen zu atmen. Da packte Leonie ihre Freundin instinktiv bei den Schultern und zog sie mehr in eine sitzende Haltung, klopfte ihr ein paar Mal fest auf den Rücken und lockerte offenbar so eine Verspannung.

Annika hustete erneut und atmete schwer, aber SIE ATMETE und war bei Bewusstsein. Ihre Augen waren riesengroß und ihr Gesicht so rot wie eine Tomate, aber ihre Atmung wurde regelmäßiger. Leonie und Vanessa heulten vor Freude und rubbelten ihrer Freundin immer wieder beruhigend über den Rücken. Sie waren selbst alles andere als fit, doch die Erste Hilfe hatte sie gehörig mit Adrenalin versorgt.

„Scheiße Mädels, das hat echt weh getan“, motzte Annika und hustete wieder. Leonie blinzelte verärgert ihre Tränen fort.

„Mensch, wir haben dir gerade das Leben gerettet“, meinte sie und wollte noch etwas lauter werden, als Annika abwinkte.

„Danke, ihr Süßen. Das war nur ein Spaß“, meinte sie mit krächzender Stimme und solch komischer Grimasse, dass die anderen vor Verblüffung aufhörten zu heulen. Kurz sahen sie sich noch an, dann umarmten sie sich alle gegenseitig. Lange. Ausgiebig. Bis sie beinahe wieder zu heulen anfingen. Erst dann lösten sie sich langsam voneinander.

„Wo sind wir nur und was ist passiert? Ich habe gerade noch Musik gehört und von der Südsee geträumt.“ Vanessa war immer noch verwirrt.

„Kein Wunder, wir waren auch auf Urlaub. Luxusdampfer. Steward. Insel.“ Leonie versuchte erst gar nicht in Sätzen zu sprechen. Sie war schon genug damit beschäftigt, das Wichtigste aus ihrer Erinnerung zusammenzukratzen.

„Etwas hat mich gepiekt!“ Annika setzte sich noch gerader auf. „Ganz schlimm sogar. Dann wurde mir schlecht und ich bin wohl ohnmächtig geworden.“ Schnell überprüfte sie ihren Oberschenkel und sah die Einstichstelle, wo der Betäubungspfeil sie erwischt hatte. „Seht her! Da hat es mich erwischt das Vieh. Es tut noch immer weh und ist leicht entzündet. Scheiße, was kann das nur gewesen sein?“ Dann wurde ihr Blick starr, ihre Gesichtsfarbe eine Nuance blasser. „Von wegen Vieh! Solche Monstermoskitos gibt es nicht. Wir wurden ganz klar überfallen, betäubt und entführt.“ Annika war manchmal verblüffend schnell im Erkennen von Zusammenhängen.

„Scheiße“, meinte Vanessa, weil ihr die Schlussfolgerung so verdammt logisch erschien.

„Das kannst du laut sagen“, antwortete Leonie und rubbelte sich mit beiden Händen übers Gesicht. Sie war noch immer nicht ganz munter.

„Wir müssen hier weg und das schnell!“ Annika hatte zwar die stärkste Dosis abbekommen und gerade noch mit der Atmung gekämpft, doch die Gefahr spornte ihren Überlebenstrieb an und im Stress funktionierte ihr Hirn immer am besten. Bei den beiden anderen dauerte es noch etwas. Sie konnten sich kaum konzentrieren und auch keinen richtig klaren Gedanken fassen. Das Adrenalin war offenbar auch schon wieder futsch und die Müdigkeit hatte sie wieder voll im Griff. Annika hingegen kam immer mehr in Fahrt. Mit einem kurzen Rundumblick wurde ihr auch klar, wo sie sich befanden.

„Der Typ, der uns entführt hat, ist offensichtlich ein perverses Schwein. Schaut euch doch um! Der steht auf Sado-Maso und sowas.“ Dann entdeckte sie Blue und deutete hektisch in seine Richtung. „Seht mal. Dort drüben hat er sogar einen Typen vergessen.“ Vanessa und Leonie bemühten sich am Ende des Raums etwas zu erkennen, doch ihre Augen spielten noch nicht so mit. „Ich habe mir mal sagen lassen, dass die manchmal tagelang einfach so in Fesseln von der Decke baumeln. Meist von Kopf bis Fuß in Leder oder Gummi eingepackt. Igitt. Den da drüben haben sie mit einer Stange fixiert und offenbar zu Tode tätowiert oder so.“ Leonie deutete mit ihrem Zeigefinger in die richtige Richtung und auch Vanessa konnte allmählich etwas erkennen.

„Iiiih, der scheint wirklich tot zu sein“, rief Leonie und blinzelte ganz schnell, um auch die letzte Unschärfe loszuwerden. Vanessa sah immer noch nicht so weit, konnte nur blaue Flecken erkennen und dachte unsinniger Weise ans Meer.

„Vielleicht gefällt es ihm ja“, ergänzte Annika. „Solchen Spinnern ist ja alles zuzutrauen. Manche finden es sogar geil, in eine Windel zu pinkeln oder in ihren Gummianzug.“ Sie quasselte eindeutig zu viel, war von der Droge aufgedreht und dennoch diejenige, die sich am besten konzentrieren konnte. Beim Anblick des Mannes bekam sie jedenfalls eine Gänsehaut, denn er war ein richtiger Koloss, kniete am Boden und hatte Muskeln, die im Normalfall genau in ihr Beuteschema gepasst hätten. Aber irgendetwas stimmte nicht mit dem Mann.

„Huch!“ Vanessa schaute entsetzt und hatte nun offenbar endlich ebenfalls ein Bild von dem vierten Menschen hier im Bunde.

„Der sieht aus wie von einem anderen Stern“, japste Leonie und starrte mit offenem Mund zu Blue, der in seiner Fesselvorrichtung hing und zum ersten Mal seit langer Zeit wieder einmal schlief. Dann hob sich sein Brustkorb und er atmete tief ein.

„Scheiße, der Typ lebt“, kreischte Annika und robbte auf allen Vieren weiter zur Wand. Sie wusste nicht warum, aber sie hatte höllische Angst vor diesem Spinner. Jemand, der solch eine Art von SM freiwillig mitmachte, konnte in ihren Augen einfach nur bekloppt sein. Und was, verdammt, haben die ihm auf die Muskeln ... äh ... den Körper geschmiert? Blaue Leuchtfarbe oder wie? Annika rubbelte sich über die Unterarme. Der Anblick des Mannes machte ihr immer mehr Angst. Er war alles andere als hässlich, aber alleine die Vorstellung, demnächst genauso zu enden wie er, ließ sie am ganzen Körper erzittern.

„Glaubst du, er macht das freiwillig?“, fragte Vanessa schüchtern und robbte ebenfalls zu ihrer Freundin. Auch Leonie kam zu ihnen, weil sie Körperkontakt brauchte.

„Das kann er unmöglich freiwillig machen. Wir sind ja auch nicht freiwillig hier“, meinte Leonie und kuschelte sich noch mehr an ihre Freundinnen. Dann wanderten ihre Gedanken zum möglichen Entführer. „Wie kann jemand nur so eine verrückte Sache durchziehen und Mädchen von einer Insel entführen? Oder Menschen mit Stangen fixieren? Das ist doch irre. Wie aus einem schlechten Film. Ich meine, das passiert doch nicht im wirklichen Leben. Und schon gar nicht uns!“ Sie schniefte und begann wieder zu weinen. Es war ja auch unfassbar, dass sie gerade noch die Zehen in den Sand gesteckt hatten und nun in einem perversen SM-Raum lagen.

„Meint ihr, dass Lösegeld verlangt wird?“, fragte Vanessa und schluckte hart, bevor sie ihre nächste Frage stellte. „Oder sind wir nur wegen perverser Spielchen hier? Saw 5 lässt grüßen, oder wie?“ Vanessa biss sich vor Angst auf die Unterlippe.

„Spinnst du? Glaubst du, ich brauch jetzt auch noch ein Bild von dem dämlichen Horrorschinken im Kopf?“, motzte Annika, zog ihre Freundin aber zugleich mehr in ihre Arme, um sie zu trösten. Vanessa kämpfte tapfer gegen die Tränen. Leonie konnte inzwischen ihren Blick nicht von dem Mann wenden. Sie war sich ziemlich sicher, dass er ebenso unfreiwillig hier war und vermutlich unglaubliche Qualen erlitten hatte. Etwas an ihm zog sie wie magisch an und das war nicht nur der Anblick seines schönen Körpers. Gleichzeitig aber strahlte er eine Gefährlichkeit aus, die sie um nichts in der Welt ignorieren wollte.

„Ich schwöre euch, der Typ ist ein Gefangener. Trotzdem würde ich euch nicht raten, zu ihm zu gehen. Ich habe da ein ganz komisches Gefühl. Entweder ist er abgrundtief böse oder nicht von dieser Welt.“

„Nicht von dieser Welt?“, lachte Vanessa, doch es war ein Lachen ohne jeden Humor. „Vermutlich ein Außerirdischer, nur halt nicht grün.“ Sie versuchte zu scherzen, doch das misslang gehörig. Ihr Schluchzen überrollte schlicht jeden Versuch zu lachen, dann begann sie wieder zu heulen.

„Ach, Mädels!“ Annika lehnte an der Wand und hatte jeweils einen Arm um die beiden anderen gelegt. „Wenn es euch nicht gäbe, wäre ich jetzt vermutlich tot. Wir wissen nicht, was auf uns zukommt, aber es kann ganz klar nicht besonders toll sein. Und trotzdem leben wir! Wir dürfen den Kopf nicht hängen lassen! Wenn wir zusammenhalten, kommen wir vielleicht irgendwie wieder aus dieser Geschichte heraus.“ Sie glaubte selbst nicht daran, aber ein bisschen guter Zuspruch konnte nie schaden. „Im Gegensatz zu dem blauen Mann sind wir nicht gefesselt. Warum eigentlich nicht?“

„Vielleicht haben sie geglaubt, dass wir länger bewusstlos bleiben?“, fragte Vanessa vorsichtig und drückte sich noch mehr an ihre Freundin, die immer so viel Zuversicht und Hoffnung versprühte. Sie war eindeutig die Stärkste von ihnen und doch hätte sie vorhin fast ihr Leben ausgehaucht. Ein Zittern ging durch Vanessas Körper und Annika streichelt behutsam über ihren Oberarm.

„Wenn ich wieder stehen kann, schaue ich zu allererst, ob ich die Tür aufbringe“, lallte Leonie und bemerkte, dass offenbar ein Rest der Droge gerade Wirkung zeigte. Sie fühlte sich nicht nur völlig durch den Wind, sondern plötzlich auch total heiß und erregt. Es war ihr peinlich, doch den halbtoten Mann dort drüben fand sie mit einem Mal ziemlich scharf. Selbst Annikas Riesenbrüste waren plötzlich von abartigem Interesse für sie. Dabei stand sie kein bisschen auf Frauen! Verzweifelt versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen, doch sengende Hitze durchzog ihren Körper, brachte abgöttisch lästerliche Gefühle mit sich und wanderte geradewegs zu ihrer Mitte, wo sie nur noch aus Wollust und Begierde zu bestehen schien. Sie war bereits total feucht und willig. Am liebsten hätte sie sich selbst angefasst und dabei einmal kurz über Annikas wunderschöne Brüste geleckt. Einmal oder zweimal.

Sie stöhnte und konnte sich nicht länger beherrschen. Mit aller Kraft löste sie sich aus Annikas Umarmung und versuchte, ihren Busen zu begrapschen. Annika schrie auf und kam mit einem plötzlichen Energieschub in die Höhe. Vanessa rutschte zur Seite und Leonie rappelte sich auf alle Viere in die Höhe.

„Bitte! Ich brauche... ich möchte...“ Sie stand vollkommen unter Strom und benahm sich wie eine Hure auf vier Beinen. Vermutlich hätte sie alles darum gegeben, wenn es ihr jetzt nur irgendwer besorgt hätte. Es war ein so abartiges Verhalten, dass Vanessa der Mund offenstand. Ihre Freundin hatte zwar die ganze Zeit völlig benommen gewirkt, aber doch irgendwie normal und sie hatte Annika reanimiert und damit wahrlich eine solide Leistung hingelegt! Es konnte also nur eine Nachwirkung einer Droge sein, dass sie plötzlich zu einem total wollüstigen Wesen ohne jede Kontrolle mutierte. Annika und Vanessa waren sprachlos. Nein, eigentlich waren sie hilflos, denn sie wussten überhaupt nicht, wie sie mit Leonie umgehen sollten. Die gebärdete sich wie im absoluten Vollrausch. Vermutlich war sie das auch. Ihre Hand hatte sie bereits ins Höschen gesteckt und bewegte sie wild auf und ab, während sie weiterhin versuchte, zu Annika zu krabbeln. Es war ein ausgesprochen seltsames Bild und Annika hatte ganz klar Angst vor ihr, ging immer weiter auf Abstand und bewegte sich automatisch immer mehr auf den blauen Mann zu.

„Geh weg“, schrie sie ihre Freundin an, die in unwürdiger und seltsam verrenkter Manier weiter hinterher kroch und ihre Mitte rieb. Wie eine Getriebene hoffte sie auf Erfüllung, Erlösung oder schlicht eine Ohnmacht.

„Einmal nur lecken...“, krächzte sie wie von Sinnen, als sich die ganze Atmosphäre in dem Raum plötzlich veränderte.

Blue erwachte und hob den Kopf.

Annika und Leonie waren zu sehr abgelenkt, doch Vanessa bemerkte es sofort und zuckte unter dem silbrigen Blick des Mannes wie unter einem Schlag zusammen. So schnell sie konnte, senkte sie ihren Kopf und presste ihre Hand aufs schnell schlagende Herz. Die Augen des Gefangenen hatten sie nur kurz erfasst, doch sein Blick hatte sich wie ein Stromschlag in ihr Herz gebohrt und Herzrhythmusstörungen verursacht. Aus dem Grund presste sie ja auch die Hand darauf. Es tat einfach höllisch weh. Jetzt wusste sie auch, was Leonie zuvor noch angedeutet hatte, weil sie es als Erste bemerkt und verstanden hatte: Der Mann war nicht von dieser Welt. Das wusste sie nun so sicher, wie sie wusste, dass Leonie kurz vor ihrem Höhepunkt stand.

„Keinen Schritt weiter“, donnerte seine Stimme mit einer Energie durch den Raum, die jede Faser der Mädchen zum Schwingen brachte. Wie eine Druckwelle ging sie von ihm aus, stoppte Annika in ihrer Bewegung, ließ Vanessa schluchzen und brachte Leonie endlich den ersehnten Höhepunkt. Sie japste wie ein kleiner Welpe, stöhne kurz auf und fiel dann schwer atmend in sich zusammen. Annika aber blieb wie erstarrt stehen, sah auf die bewusstlos wirkende Freundin zu ihren Füßen, getraute sich aber vorerst nicht, in seine Richtung zu sehen. Sie wusste nur, dass sie verdammt nahe bei ihm stand. Annika meinte sogar seinen Atem spüren zu können. Oder war es schlicht seine Präsenz? Denn sie war sicher noch mindestens zwei Meter entfernt. Vorsichtig drehte sie dann den Kopf und sah zu ihm hinüber.

„Geh nicht weiter“, zischte er und blickte sie direkt an. Unheilvoll und grimmig. Auch wenn er jetzt leiser sprach, war seine Stimme wie magisch aufgeladen. Annika bekam am ganzen Körper Gänsehaut. Die Augen des Mannes waren immer noch auf sie gerichtet, schienen sie mit funkelndem Silber zu hypnotisieren.

„Komm zu mir“, forderte Vanessa eindringlich, weil sie erkannte, dass ihre Freundin überfordert und von der Urgewalt dieses Mannes völlig vor den Kopf gestoßen war. Oder von seiner Unmenschlichkeit. Der Blick des Mannes wanderte daraufhin kurz zu ihr und Vanessa begann am ganzen Körper zu zittern. Der zweite Blick war nicht weniger gewaltig und sie presste ganz fest die Augen zusammen. Einen neuen Stromschlag mitten ins Herz brauchte sie nicht. Annika aber hatte sich inzwischen wieder im Griff, kam in Bewegung und lief zurück zu Vanessa. Blue senkte daraufhin wieder seinen Kopf, als wäre nie etwas passiert. Er atmete nur plötzlich schwer. Wie unter Schmerzen.

„Der Typ ist abartig“, flüsterte Annika und setzte sich zu ihrer Freundin. Vanessa aber hatte die Augen immer noch fest zusammengepresst und weigerte sich den Kopf zu heben.

„Ist er fort?“, fiepte sie, in der Hoffnung, seinem Blick nicht noch ein drittes Mal begegnen zu müssen. Was Annika – gegen jede Erwartung – total zum Lachen brachte. Offenbar hatte sie den Schock längst überwunden.

„Fort? Süße, hat dir die Droge das Hirn zerfressen? Wohin sollte er denn entschwinden, wenn er derart festgezurrt ist?“ Annika hatte sich nicht nur wieder völlig im Griff, sie hatte inzwischen sogar kapiert, warum der Mann sie so massiv gestoppt hatte. Als sie nicht mehr von Leonie abgelenkt war, hatte sie die Energie seiner Zeichen gespürt. Es war nicht logisch zu erklären, doch sie hatte intuitiv die Gefahr erkannt, die von ihm ausging. So wie man instinktiv wusste, dass man einer Hochspannungsleitung besser nicht zu nahekommen sollte.

„Sieh hin!“, meinte sie nun zu Vanessa, die sich gar so ängstlich krümmte. „Er ist nicht böse. Er hat mir gerade das Leben gerettet und Leonie so nebenbei einen höllischen Orgasmus verpasst.“ Blue hob erneut den Kopf und Vanessa konnte nicht länger die Augen vor seiner Präsenz verschließen. Tapfer blickte sie in seine Richtung. Silber so hart wie Stahl bohrte sich in ihre Seele, durchdrang ihr Wesen, raubte ihren Verstand. Wenigstens bekam sie keine Herzrhythmusstörungen mehr. Und dennoch: Diese Augen waren nicht von dieser Welt. Ebenso, wie es sein Körper nicht sein konnte... in seiner Perfektion, seiner Magie und seiner Anziehung. Vanessa spürte ein hitziges Kribbeln in ihrem Bauch und ihr Magen zog sich zusammen, als hätte sie seit Tagen nichts mehr gegessen. Das Silber war so eindringlich, so interessiert, so präsent. Vanessas Angst aber wurde weniger und je länger der Blickkontakt dauerte, desto mehr konnte sie auch von dem Mann hinter dem stahlharten Silber sehen. Dem Mann, seiner tiefen Traurigkeit und Einsamkeit. Aber da war auch noch etwas anderes. Hoffnung?

Ihr Herzschlag beruhigte sich. Blues Blick senkte sich wieder.

„Siehst du. Er tut nichts. Ich weiß nicht warum, aber ich habe das Gefühl, dass er mich gerettet hat und soweit ich das mit Leonie beurteilen kann, bin ich mir ziemlich sicher, dass seine Stimme ihr den Rest gegeben hat. Und jetzt schnarcht die Beste. Vermutlich kann sie sich später an ihren peinlichen Auftritt gar nicht mehr erinnern. Hast du es nicht auch gespürt? Diese unglaubliche Schwingung?“

„Ich... äh... spüre das immer noch“, flüsterte Vanessa leise und Blue hob noch einmal den Kopf, als hätte er gehört, was sie gesagt hatte. Sein Blick wanderte kurz zu Annika und Vanessa, dann starrte er wieder nur auf den Boden.

„Komischer Typ, hm?“, meinte Annika. „Und irgendwie saugefährlich.“

„Traurig“, stellte Vanessa fest und fühlte etwas in ihrem Herzen, was sie schon lange nicht mehr so intensiv gefühlt hatte. Zuneigung? Mitleid? Blues Blick traf sie aus dem Augenwinkel und Vanessa hatte das Gefühl, von brennender Hitze durchzogen zu werden. „So viel Einsamkeit“, flüsterte sie und hatte plötzlich wieder Tränen in den Augen.

„Was ist los mit dir?“, fragte Annika besorgt.

„Mir geht es gut. Lass uns hier einfach nur verschwinden“, meinte Vanessa knapp, weil sie zu viel Ungewohntes fühlte und das eigentlich nicht wollte.

„Dann lass uns Leonie wecken“, forderte Annika und ging auf ihre schnarchende Freundin zu. „Und danach sehen wir zu, dass wir hier irgendwie rauskommen.“

05.Kapitel

„Die Türen sind fest verschlossen, das einzige Fenster vergittert. Wir kommen hier nicht raus.“ Es war eine nüchterne Feststellung und sie passte zu Annika.

„Vielleicht kann er uns helfen?“, fragte Leonie vorsichtig und sehr leise, weil sie sich immer noch total genierte. Sie war erst seit ein paar Minuten aus ihrem Schlafzustand erwacht und hatte sich seitdem wohl bereits hunderte Male für ihr Verhalten entschuldigt.

„Der blaue Mann?“, fragte Annika und sah zu dem Außerirdischen, der sich seit seinem kurzen Erwachen nicht mehr gerührt hatte. Wie versteinert hockte er da in seinen Ketten, war wunderschön anzusehen und mit einer enormen Kraft zu spüren, doch er verweigerte jedes weitere Wort und schenkte ihnen auch keinen weiteren Blick mehr.

„DER ist seltsam, Leonie. Ich schätze, wir müssen ohne ihn auskommen. Außerdem ist er ziemlich zusammengeschnürt, findest du nicht?“ Alle drei blickten sich an und schienen mit einem Mal den gleichen Gedanken zu haben.

„Na, dann befreien wir ihn eben“, sprach Vanessa laut aus, was alle plötzlich dachten. Sie spürte die Erregung des Fremden, seinen Zorn und seine Verzweiflung, aber vor allem spürte sie das Bedürfnis, dass er niemandem schaden wollte. Er konnte also nicht wirklich ein schlechter Kerl sein. Egal, ob er nun seltsam war, außerirdisch oder nur ein Freak. „Zumindest können wir ja mal nachsehen, wie er gefesselt ist oder wie man ihn loskriegen könnte.“ Ihre Angst von vorhin war fast verschwunden, aber das konnte auch daran liegen, dass er sie nicht mehr ansah.

Vanessa rappelte sich in die Höhe. Sie alleine wollte das erledigen. Vielleicht würde er sie ja an sich heranlassen. Annika hatte er zwar eindeutig einen Stopp erteilt, doch der Blick den er ihr zugeworfen hatte, war irgendwie... intim gewesen. Sie wusste nicht warum, aber dieser Blick hatte etwas in ihr bewegt und sie kurz glauben lassen, dass da mehr war als nur Angst und Verachtung. Mehr als man sehen konnte.

Sie sah zu seinem schönen Körper hinüber und fühlte eine innere Erregung, die für sie neu war. Es war wie freudige Erwartung, obwohl er ganz klar nicht wollte, dass jemand zu ihm kam. Dennoch wollte sie ihn von den Fesseln befreien, seinen Körper von der Spannung entlasten, ihn verwöhnen, ihn streicheln. Ihre Gedanken drifteten ab und sie musste sich konzentrieren, um nicht zu stolpern. Ihr Atem ging schneller, ihr Unterbauch kribbelte und doch warnte sie eine innere Stimme, nicht zu nahe zu kommen.

Einen Meter vor Blue blieb sie stehen, spürte die ganze Wucht seiner Wärme, atmete seinen Duft. Nein, inhalierte ihn. Der Mann war wie ein Atomkraftwerk, schien mit purer Energie und Strahlung durchflutet zu sein. Vanessa war wie gefesselt von dem Gefühl, der Anziehung und dem leuchtenden Blau seines schönen Körpers. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so empfunden, noch nie das Bedürfnis verspürt, einen Mann zu berühren oder gar einen Teil von ihm in sich aufzunehmen. Wie in Trance wollte sie gerade die Hand ausstrecken, als Blue erneut den Kopf hob.

„Lass es“, knurrte er, doch die Worte schienen ihn eine Menge Anstrengung zu kosten. „Ich bin verflucht und töte alles, was mich berührt.“ Seine Augen bohrten sich nun aus nächster Nähe in ihre und sein Wesen schien sich mit aller Macht in ihres zu drängen. Ihr Körper wollte ihr nicht länger gehorchen, ihre Knie wurden weich und ihre Augen wurden so groß wie Tennisbälle. Wackelig stand sie da und konnte nur noch das Silber seiner Augen betrachten und das Gefühl spüren. Ein unheimliches Gefühl, mächtig, fordernd und zugleich so intensiv schön, dass ein Teil von ihr ihn immer noch berühren wollte. Vanessa streckte die Hand etwas mehr aus. Blues Augen wurden schmal, sein Körper spannte sich an.

„Nicht“, schrie Annika und schlug ihrer Freundin die Hand so fest herunter, dass es klatschte. „Hast du nicht gehört, was er gesagt hat? Der Mann ist verflucht und du wirst ihn – verflucht noch mal – nicht angreifen. Capisce?“ Das Wortspiel war nicht gewollt und ging sowieso in der allgemeinen Aufregung unter. Annika verstand ja selbst nicht, wer dieser Mann war oder WAS. Aber dass er anders war, musste klar sein. Und wenn er schon ständig warnte, dann sollte man ihn vielleicht ernst nehmen. Vanessa blinzelte ein paar Mal und erwachte wie aus einer Trance. Fragend sah sie zu Annika und dann zu Blue, der ganz langsam die angehaltene Luft wieder ausstieß.

„Aber er ist so traurig. Er braucht Hilfe“, flüsterte sie.

„Vergiss es, Schätzchen. Wir können ihm nicht helfen. Der ist nicht normal und wir drei versuchen es ohne ihn.“ Annika war irgendwie zur Anführerin geworden und das war auch gut so. Leonie und Vanessa brauchten eine Frau, die ihnen Hoffnung gab und Stärke zeigte.

Das Glitzern in Blues Augen konnten die Mädchen nicht mehr sehen, dafür hatte er zu schnell den Blick gesenkt. Der Aufruhr in seinem Inneren zerriss ihm schier die Eingeweide und doch schaffte er es, starr zu bleiben und sich kaum etwas anmerken zu lassen. Lediglich sein Atem ging schneller als zuvor und seine Seele brüllte mit allem, was sie hatte, zu Gott, dass er noch nie so grausam zu ihm gewesen wäre. Noch nie hatte jemand hinter das Offensichtliche gesehen oder gar tief Verborgenes aufgedeckt. Seit seiner Wandlung hielt er alle Gefühle streng unter Verschluss. Das war schließlich erträglicher, als jeden Tag zu fühlen. Aber natürlich war er verzweifelt und einsam. Schließlich war ein Teil von ihm durchaus noch menschlich. Als traurig hatte sie es benannt und offensichtlich gespürt, was anderen stets verborgen blieb. Nie interessierte sich jemand dafür, wie es ihm ging. Bis auf dieses Mädchen. Damit hatte sie ihn mehr berührt, als es eine Hand je geschafft hätte. Diese Frau... diese junge, wunderschöne Frau, hatte keine fünf Minuten gebraucht, hinter seinen Panzer zu sehen. Vanessa. Die anderen Mädchen hatten sie so genannt. Soweit er wusste, stammte ihr Name aus der griechischen Mythologie, von der griechischen Gottheit Phanessa oder Phanes. Diese Gottheit stand für Fortpflanzung und für die Erzeugung neuen Lebens. Und was sollte er sagen! Diese Frau hatte etwas an sich, das einen Mann wahrlich zum Leben erwecken konnte, selbst wenn er bereits zur Hälfte tot war.

Energisch verbot er sich jeden weiteren Gedanken an sie und jedes Wort. Diese Mädchen waren dem Tode geweiht. Selbst wenn sie davor noch für ein paar Jährchen zur Prostitution gezwungen wurden, gab es im Prinzip für sie keine Rettung mehr. Länger als zwei, drei Jahre hielt das kein normaler Mensch durch und irgendwann gaben sie schließlich alle auf.

Die Tür zum SM-Raum wurde aufgeschlossen und Tom lugte herein. Die Mädchen drückten sich instinktiv wieder an die Wand, verhielten sich ganz still. Tom hatte sowieso nur Augen für Blue.

„Es ist wieder mal so weit. Der Boss verlangt deine Dienste.“ Dann erst entdeckte er die drei Mädchen und bekam große Augen. „Was zur Hölle...?“ Sein Kopf verschwand wieder. „Juri! Verdammt, bist du blöde? Du kannst doch den Neuzugang nicht zu Blue sperren! Was, wenn sie ihn betatscht hätten?“ Von draußen ertönte eine stotternde, unverständliche Stimme. Die Untertänigkeit darin war ekelhaft und verdeutlichte, wie stark hier in Hierarchien gelebt wurde. Die stotternde Stimme kam näher.

„Oh, das tut mir... leid... äh... die waren eh halb tot und ich... äh...“

„Mit dir rede ich später weiter“, blaffte Tom, während er zurück in den Raum kam. Mit wuchtigen Schritten kam er auf die Mädchen zu. Ein riesiger Typ mit brutalen Augen, blonden Haaren, Pferdeschwanz und einem Gesicht wie auf einer Werkbank geschliffen. Hart, kantig und passend zu den brutalen Augen. „Und ihr Süßen kommt gleich mit.“ Er grinste zwar, aber die drei wussten, dass er keinen Spaß machte. Schnell packte er die beiden Mädchen, die er zu fassen bekam und zog sie in die Höhe. Annika und Leonie schrien auf.

„Ruhe!!!“, brüllte er und packte sie noch fester. Zu Vanessa zischte er: „Und du bleibst genau dort, wo du bist, sonst lernst du mich kennen, klar?“ Annika und Leonie wimmerten immer noch, doch er brüllte sie erneut so laut an, dass sie versuchten, möglichst keinen Mucks mehr von sich zu geben. Mit einem eisigen Blick auf Vanessa versicherte er sich, dass sie seine Anweisung verstanden hatte und die zog sofort den Kopf ein und nickte. Tom war mit sich zufrieden, hielt rechts und links eines der Mädchen und wandte sich noch kurz an Blue.

„Und du kommst auch gleich dran, Bester.“ Blue reagierte kein bisschen. Kein Zucken, kein Blick. Tom packte die Mädchen automatisch fester, obwohl er Blues Nicht-Reaktion ja schon kannte. Es ärgerte ihn trotzdem. Annika und Leonie stöhnten auf. Tränen kullerten über ihre Wangen, aber ein lautes Knurren des Schlägers genügte und sie versuchten, ihre natürlichen Reaktionen wieder einzustellen. Dann zerrte er sie hinaus und knallte die Tür hinter sich zu. Zurück blieben eine völlig verstörte Vanessa und ein Mann, der weiterhin wie in Stein gemeißelt wirkte und keinen Ton sprach. Wüsste sie es nicht besser, würde sie wieder davon ausgehen, dass er tot sein musste. Einen Moment lang hörte sie noch Leonies Kreischen, dann wurde es still.

Totenstill.

Vanessa zitterte am ganzen Leib und konnte ein Schluchzen nicht länger unterdrücken. Schließlich gab sie völlig auf und heulte, dass es einem das Herz zerreißen konnte.

Auch Blue blieb davon nicht unbeeindruckt, selbst wenn er es nicht zum Ausdruck bringen konnte. Diese Mädchen waren irgendwie anders und doch waren sie in ein paar Tagen sicher genau wie alle anderen... gebrochen, halbtot oder bösartig. Auch sie würden dann in der Menge stehen und applaudieren, wenn er transportiert und zu einer Hinrichtung gezwungen wurde. Töten hatte ihm früher nicht viel ausgemacht. Er hatte es trainiert, perfektioniert und zu seinem Job gemacht. Mitgefühl hatte er sich nie leisten können. Außerdem hatte er bei Evok schon so viel Grässlichkeit erlebt, dass ihm kein noch so kreischender Dämon wirklich nahe gegangen war. An ihrer Boshaftigkeit hatte es nie Zweifel gegeben und für ihn war es der einzig legale Weg gewesen, sein Talent zu nutzen. An manchen Tagen hatte er es sogar geliebt. Doch seit dem Tag, als er verwandelt worden und seit ihm hier die letzte Kontrolle genommen worden war, hasste er das Töten... und sein Leben noch dazu.

Die junge Frau heulte immer noch und langsam wunderte es ihn, dass sie nicht längst in einer Lache aus Tränen saß und froh darüber war, dass sie eine Bikinihose anhatte. Bikinihose? Verwunderte bemerkte er, dass ihm dieses Detail aufgefallen war. Lila mit Streifen. In Gedanken schüttelte er den Kopf über den Schwachsinn, den er aufnahm, obwohl er sich gerade in mitteltiefem Naikan-Zustand befand. Naikan hatte er von einem Japaner während seiner Kampfsportausbildung erlernt. Der hatte diese Meditationsform stets als innere Beobachtung oder Innenschau bezeichnet, doch für Blue war es die Möglichkeit, sich völlig in sich zurückzuziehen und alles an sich abprallen zu lassen. Naikan hatte er bei Evok nur selten angewandt, aber nach seiner Wandlung so richtig zu schätzen gelernt. Bikini! Er schüttelte erneut den Kopf – nur in Gedanken, versteht sich. Für so etwas hatte er jedenfalls schon lange keinen Sinn mehr gehabt. Bei den schönen Beinen? Aber hallo!

Plötzlich hörte das Schluchzen auf und Blue zappte sich endgültig aus seiner Meditation heraus, hob den Kopf und war dankbar für die Ablenkung von seinen idiotischen Gedanken. Das Mädchen hatte sich beruhigt, starrte ihn aber nun unverwandt an. Mit Augen so grün, dass jede frische Frühlingspflanze dagegen verblasste. Ihr Haar war zerzaust und dennoch wunderschön und ihr schmales Gesicht war perfekt und sehr natürlich. Ja, das Mädchen war schön und hatte es sicherlich nicht verdient, von Maslov vergewaltigt und verkauft zu werden. Aber das hatte nie jemand verdient. Moderne Sklavenhaltung war ein schwelendes Grundübel, das die meisten Menschen nicht einmal mitbekamen. Dennoch war sie nicht weniger brutal als zu früheren Zeiten und auch nicht weniger menschenverachtend.

Blue schluckte hart, als das Mädchen langsam aufstand und mit wackligen, überaus wohlgeformten Beinen auf ihn zukam. Jeder Muskel seines Körpers spannte sich an, stand mit einem Mal unter Strom. Nicht, Kleines. Komm nicht näher... wollte er sagen und sie warnen, doch sein Herz zog sich bei der Vorstellung schmerzhaft zusammen. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Er verstand nicht, was mit ihm los war, doch er fühlte, dass er ihre Nähe wollte und womöglich sogar brauchte. Etwas an diesem Mädchen war völlig anders, berührte seine Seele und die hatte er – weiß Gott – schon für alle Zeiten abgeschrieben gehabt.

Schniefend ging Vanessa weiter, ließ sich von seinem stechenden Blick nicht irritieren. Der schöne Mann war hier genauso gefangen wie sie und vielleicht konnte er ihr Informationen geben, die weiterhelfen würden. Der bullige Typ mit dem hart geschliffenen Gesicht und dem blonden Pferdeschwanz konnte schließlich jeden Moment wiederkommen und dann war sie mit Sicherheit verloren.

Einen Meter von ihm entfernt blieb sie stehen. Ihre Augen waren rot vom vielen Weinen, doch ihre Iris leuchtete umso heller. Blue wirkte angespannt, wartete ab. Vanessa hob erneut die Hand, obwohl sie wusste, dass sie ihn nicht berühren durfte und er schüttelte sofort den Kopf, deutete mit den Augen, dass sie gehen sollte. Dabei biss er so fest die Zähne zusammen, als hätte er Angst den Mund zu öffnen, oder eben große Schmerzen.

„Was ist mit dir passiert, dass man dich nicht berühren darf?“, flüsterte sie sanft und mit solch ehrlichem Interesse, dass ihm schier die Luft wegblieb. Was war nur los mit dieser Frau? Sie hätte doch wahrlich alles Mögliche fragen können. Wo befinden wir uns hier, wie viele Männer bewachen das Haus, wo sind die entscheidenden Ausgänge, ...etwas in der Art eben. Als sie aufgestanden war, hatte sie genau diesen Ausdruck in den Augen gehabt. Sie war gekommen, um ihm Informationen zu entlocken, dessen war er sich sicher. Doch dann hatte sie nichts Besseres zu tun, als nur ehrliches Interesse zu bekunden? Außerdem kam sie immer noch näher. Verdammtes Weibsstück. Zischend sog er die Luft ein. Sie war doch hoffentlich nicht so verrückt, sich hier umzubringen?

„Nicht!“, forderte er. „Bleib stehen!“ Sein Oberkörper hob und senkte sich unter viel zu schnellen Atemzügen. Die Gefahr, dass er sie irrtümlich berührte, war größer denn je. Doch Vanessa hatte nicht vor, sich zu weit vorzuwagen. Aus irgendeinem Grund hatte sie nur das Bedürfnis, näher an ihn heranzukommen. Nicht der Gefahr wegen, sondern weil sie die Energie respektierte und neugierig war.

„Keine Angst, ich komme nicht näher.“ Ihre Hand blieb gut fünfzig Zentimeter von seiner Haut entfernt und dennoch spürte sie, wie die Kraft um ihn herum pulsierte, wie lebendig die Zeichen auf seinem Körper plötzlich waren. Wie schön und komplex. Als würden sie sie begrüßen und Kontakt auf Distanz anstreben. Was schlicht unmöglich klang, sich aber so anfühlte. Vanessa spürte die Schwingung bis in ihre Hand hinein und noch viel weiter. Ihre Augenlider flatterten kurz.

„Wie Wurzeln“, sagte sie fasziniert und schloss die Augen. Dann wurde ihre Stimme eine Nuance tiefer. „Himmelswurzeln. Ein Anker zu den Göttern.“ Ihre Stimme war nur ein Flüstern und Vanessa wirkte wie in Trance, aber das was sie sagte, ließ Blue erstarrten. Noch nie hatte jemand etwas anderes in seinen Zeichen gesehen als Tätowierungen oder Magie, die seine Schande bekundeten, seinen Fehler zeigten. Seinen Gott verfluchten Fehler.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739439341
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Dezember)
Schlagworte
Menschenhandel Magie Ägypten Blue Fantasy Romance Spannung Liebe Paranormal Erotik Urban Fantasy Erotischer Liebesroman Liebesroman

Autor

  • Sabineee Berger (Autor:in)

WARUM SABINE MIT DREI E? Sie passen zu mir und dienen zur Abgrenzung bei Namensgleichheit. Ich bin freischaffende Künstlerin & Schriftstellerin und schreibe seit mehr als fünfzehn Jahren Fantasy-Romane. Mein Slogan lautet "Kunst ist, was berührt und Impulse setzt!"
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Titel: Blue - tödliche Magie