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Stigma: Psychothriller

von Michael Hübner (Autor:in)
440 Seiten

Zusammenfassung

Dreizehn Jahre sind vergangen, seit Tom Kessler einem Kindermörder über Stunden hilflos ausgeliefert war, bevor er gerettet wurde. Noch immer leidet Tom unter Panikattacken, kann sich aber an nichts erinnern. Eines Tages steht die Polizei vor seiner Tür. Die Beamten zeigen ihm eine Nachricht, die bei der Leiche eines kleinen Mädchens unweit seines Hauses gefunden wurde. Sie stammt ganz offensichtlich von dem damaligen Täter, einem Mann, der seit dreizehn Jahren tot sein müsste, denn sie enthält Details, die nur er wissen kann. Und er droht damit, Toms Trauma zu wiederholen. Auf Anraten seiner Ärztin beginnt Tom schließlich eine Hypnosetherapie, die ihn in seine Kindheit zurückführt. Doch die Erinnerungen an jenen Tag vor dreizehn Jahren sind so grausam, dass die Rückführung außer Kontrolle gerät …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Michael Hübner

 

STIGMA

 

Psychothriller

 

 

 

 

 

Copyright © 2021 by Michael Hübner

info@michaelhuebner.de

Vertreten durch:

Dr. Harry Olechnowitz
Autoren- & Verlagsagentur
Grimmelhausenstr. 21
14089 Berlin
E-Mail: olechnowitz@agentur-olechnowitz.de

www.michaelhuebner.de

 

Umschlagillustration:

© kebox / stock.adobe.com

© NikhomTreeVector / stock.adobe.com

 

Die folgende Geschichte ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit wahren Begebenheiten oder realen Personen wären rein zufällig.

Prolog

 

 


Es war ein Dienstag, der dreiundzwanzigste Juli, an dem Tom Kesslers Kindheit endete. Er war zu diesem Zeitpunkt dreizehn Jahre alt.

Eigentlich hieß er Thomas, doch solange er zurückdenken konnte, nannten die Leute ihn Tom. Aus Bequemlichkeit, wie er vermutete, obwohl sein Großvater einmal behauptet hatte, diese Kurzform würde besser zu der Leichtfüßigkeit passen, mit der er der Welt entgegentrat. Vielleicht lag es auch daran, dass er für sein Alter schon ziemlich erwachsen wirkte. Seine Körpergröße, mit der er Gleichaltrige um gut einen Kopf überragte, und ein früh einsetzender Bartwuchs ließen ihn schon in diesem Alter wie ein junger Mann aussehen. Zudem verlieh ihm sein dunkelbraunes Haar, das ihm stets ein wenig zerzaust in die Stirn hing, eine gewisse Verwegenheit, die seine Mitschülerinnen bereits zu dem einen oder anderen bewundernden Blick verleitet hatte.

Bis zu jenem Tag, an dem Gewalt und Wahnsinn so unverhofft in sein Leben einschlugen, war Tom ein glücklicher Junge gewesen. Er lebte mit seinen Eltern und seiner zwei Jahre jüngeren Schwester Sandra in einer kleinen Hochhaussiedlung am Rand von Wiesbaden. Tom war ein guter Schüler und sehr beliebt. Neben seinen Freunden nahm seine Leidenschaft für Bücher den größten Teil seiner Freizeit in Anspruch, und bereits als Kind war seine Vorstellungskraft ausgereift genug, um erste Kurzgeschichten zu verfassen. Außerdem war er ein begeisterter Fußballspieler, liebte Schach und schwärmte für alte Hollywoodfilme.

Es gab viele Dinge, die ihm wichtig waren. Doch nichts von alldem konnte ihn auf das vorbereiten, was an diesem Sommertag geschehen sollte, als zwei kräftige Männerhände ihn in diesen Keller zerrten, hinein in eine Welt, die er bis dahin nur aus Büchern kannte. Hände, die nach Zigaretten und feuchter Erde gerochen hatten, nach Verwesung und Tod. Hände, die so unvorstellbare Grausamkeiten verübt hatten. Werkzeuge des Bösen.

Noch nie hatte er eine Leiche gesehen. Gelesen hatte er oft davon. Aber es waren nur Worte gewesen, erfundene Geschichten, die sich so schnell wieder verflüchtigten wie ein Albtraum, aus dem man erwachte und in dem man nichts Reales entdecken konnte. Nichts jedenfalls, was einen auf Dauer ängstigte oder verfolgte oder den Glauben an eine gute Welt zerstörte.

Tom liebte Geschichten. Oft hatte er seinem Vater zugehört, wenn der abends beim Essen von seiner Arbeit als Polizist erzählte, von Verkehrsdelikten, Einbrüchen und Verhaftungen. Es faszinierte ihn, in eine Welt einzutauchen, die außerhalb der fiktiven Bücher lag. Denn es war der unwiderstehliche Reiz des Wirklichen, der ihn anzog und der sich in seinen Geschichten niederschlug. Aber diese Wirklichkeit war es auch, die ihn zum ersten Mal erkennen ließ, dass manche Ereignisse einen Menschen verändern konnten.

Tom merkte sofort, dass etwas nicht stimmte, als sein Vater am Tag vor dem Ferienbeginn früher nach Hause kam. Frank Kessler saß stumm auf seinem Stuhl in der Küche, und starrte die ganze Zeit über verloren vor sich hin, als suche er in seinem Inneren verzweifelt nach etwas, das ihn befreien und ihm seinen Glauben an das Gute in der Welt zurückgeben konnte. Erst gegen Abend war sein Vater bereit, darüber zu reden, was ihn bedrückte. Noch immer tat er sich sehr schwer damit, musste hin und wieder Pausen einlegen. Wenn es um den Tod eines Menschen ging, war es eben nicht leicht, die richtigen Worte zu finden. Doch Tom vermutete, dass es für seinen Vater wichtig war, darüber zu sprechen, genauso wie es für ihn wichtig war, seine Geschichten zu erzählen. Eine Art Ventil, mit dessen Hilfe er angestauten Druck ablassen konnte, indem er ihn mit anderen teilte. Also hörte Tom aufmerksam zu, als sein Vater von dem Unfall auf der Autobahn berichtete. Von den ineinander verkeilten Autos und den Schreien der Insassen. Davon, wie sein Kollege versucht hatte, die Unfallstelle zu sichern und dabei von einem heranrasenden Auto erfasst und in zwei Stücke gerissen worden war. Und er sah die Tränen in den Augen seines Vaters, während er davon erzählte.

An diesem Abend fiel das Essen aus, und die Familie ging früh zu Bett. Doch Tom lag noch lange wach und grübelte. Die Bilder in seinem Kopf ließen ihn nicht los. Nie zuvor hatte er seinen Vater weinen sehen. Diesen groß gewachsenen Mann, der allein durch seine Anwesenheit Autorität ausstrahlte. Und er begriff, dass nicht alles im Leben nach einem festen Raster verlief, sondern dass Ereignisse eintreten konnten, die einen Menschen nachhaltig beeinflussten und die ihre Spuren hinterließen. Er verstand auch, dass es Zeit brauchte, um mit diesen Dingen fertig zu werden. Mit Dingen wie Tod und Verzweiflung. Dingen, denen man hilflos ausgeliefert war.

Damals war ihm nicht annähernd bewusst, wie sehr und wie nachhaltig ihn das schon bald selbst betreffen sollte.


Es war bereits früher Nachmittag, als er an diesem dreiundzwanzigsten Juli über den Lamellenzaun auf das abgelegene Grundstück kletterte. Die drückende Hitze dieses Sommers stellte sich ihm entgegen wie eine physische Barriere, die ihn an seinem Vorhaben hindern wollte. Nur wenige Meter entfernt standen seine Freunde und feuerten ihn an, bewunderten seinen Mut und seine Entschlossenheit.

Es sollte das letzte Mal sein, dass Tom sie sah.

Er hörte ihre Rufe noch, als er die frische Grube mit ihrem schrecklichen Inhalt in dem Garten entdeckte und sich kurz darauf die Hände des Mannes auf seinen Mund und um seinen Nacken legten.

Von da an schien die Zeit für ihn stillzustehen.

Vierzig Minuten dauerte es, bis Toms Freunde die Suche nach ihm aufgaben und seine Eltern verständigten. Weitere zwanzig Minuten, bis sein Vater in Begleitung zweier Kollegen vergeblich an der Tür des Hauses klingelte. Eine knappe halbe Stunde brauchte man, um die Adresse mit zwei Anzeigen und einer Suchmeldung in Verbindung zu bringen, und weitere eineinhalb Stunden für den richterlichen Durchsuchungsbefehl. Erst nach etwas mehr als drei Stunden drang die Polizei in das Haus ein. Drei qualvoll lange Stunden, die Tom im Keller des Mannes verbrachte, der sich selbst als »der Wächter« bezeichnete. Drei Stunden in Gegenwart des vollkommenen und menschenverachtenden Wahnsinns.

Was genau sich in dieser Zeit zugetragen hatte, konnte die Polizei nur anhand von Indizien rekonstruieren. Doch diese gaben nicht annähernd das wider, was Tom tatsächlich durchlebt hatte. Mehrere Gegenstände wurden sichergestellt und den zahlreichen Verletzungen und Misshandlungsspuren an Toms Körper zugeordnet. Des Weiteren fand man vier Leichen auf dem Grundstück, Kinder im Alter zwischen vier und zehn Jahren, die zum Teil schon seit Monaten als vermisst gemeldet waren.

Tom selbst war nicht in der Lage gewesen, sich zu den Vorfällen zu äußern. Das Letzte, was er bei halbwegs klarem Verstand wahrgenommen hatte, war das Gefühl von warmem Sommerregen auf seiner Haut gewesen, und ein gurgelndes, abscheuliches Lachen. Danach hatte sein Bewusstsein abgeschaltet wie ein überlasteter Stromkreis, und er war in tiefe, schützende Finsternis versunken. Er wurde sofort in ein nahe gelegenes Krankenhaus gebracht. Doch es gab Verletzungen, die man nicht einfach schienen oder verbinden konnte. Wunden, die weit tiefer in ihn eingedrungen waren als nur in sein Fleisch. Und er würde Zeit brauchen, bis diese Wunden sich schließen konnten. Sehr viel Zeit.

Es sollten Jahre vergehen, bis sie endlich zu heilen begannen.

 

 

 

 

 

TEIL EINS

Zeit der Dunkelheit

 

Dreizehn Jahre später

Montag, 15. Mai

 

 


Fast völlig entmutigt saß er am Schreibtisch seines Arbeitszimmers und starrte den blinkenden Cursor auf dem ansonsten leeren Bildschirm an. Seit geschlagenen vier Stunden tat er das. Und er hatte in dieser Zeit nicht einen vernünftigen Satz getippt. Es gab Tage, an denen er das Schreiben hasste, an denen ihm diese Gabe wie ein Fluch erschien. Heute war so ein Tag. Es gelang ihm einfach nicht, sich in seine Geschichte zu vertiefen, sich in seine eigens geschaffenen Charaktere hineinzuversetzen. Eigentlich war dies ein natürlicher Vorgang beim Schreiben, der ihm bei seinem ersten Buch vor vier Jahren wie von selbst von der Hand gegangen war.

Schatten der Seele hatte sich fünfzehn Monate in den Bestsellerlisten gehalten. Drei weitere Romane hatte er seitdem veröffentlicht, alle mit demselben Erfolg. Er konnte also getrost davon ausgehen, dass er sein Handwerk beherrschte. Und dennoch mehrten sich die Tage, an denen er eine völlige innere Leere verspürte. Ein tiefes schwarzes Loch, in dem er schwerelos zu schweben schien und das ihm jegliche Konzentration entzog. Dabei war ihm das Schreiben nie schwergefallen. Es war vielmehr ein eigenständiger Prozess, der ohne sein Zutun ablief. Beinahe so, als wäre da eine innere Stimme, die ihm diktierte, was er schreiben sollte. Und manchmal kam es ihm so vor, als ob diese Stimme tatsächlich existierte, als ob sie direkt aus seinem Kopf zu ihm sprach. Das Beunruhigende daran war, dass diese Stimme nicht wie seine eigene klang, ihm aber dennoch vertraut vorkam. Und noch viel beunruhigender war es, gelegentlich auch andere Stimmen zu hören, die sich dazugesellten. Dr. Westphal, seine Therapeutin, bei der er seit Jahren in Behandlung war, hatte sie als »Suggestivstimmen« bezeichnet. Als »Boten seiner Seele.« Und das Schreiben sei so etwas wie eine Therapie, ein »Ventil« für unverarbeitete Erlebnisse.

Übersetzt klang das für ihn so, als hätte er nicht alle Tassen im Schrank. Doch seine Ärztin meinte, dieses Verhalten sei eine ganz natürliche Reaktion auf die traumatischen Erlebnisse in seiner Kindheit, die zwar noch immer in seinem Unterbewusstsein verankert waren, auf die er jedoch keinen Zugriff mehr hatte. Auch die Gedächtnislücken und die gelegentlichen Panikattacken führte sie darauf zurück. Er müsse sich seiner Vergangenheit stellen und seine Dämonen besiegen, hatte sie gesagt, sie ein für alle Mal auslöschen.

Sich der Vergangenheit stellen.

Zum Teufel, das würde er ja gern tun, wenn er sich verdammt noch mal an sie erinnern könnte!

»Tom!«, tönte es schwach von unten durch die geschlossene Tür seines Arbeitszimmers. »Das Essen ist fertig, kommst du bitte? Es gibt Gemüseauflauf, und der ist nur genießbar, wenn er warm ist!«

»Komme sofort!«, rief er zurück und konnte gerade noch etwas durch den Flur hallen hören, das sich anhörte wie »Das sagst du immer!« Normalerweise kam er selten in den Genuss, sein Mittagessen warm zu sich zu nehmen, zumindest nicht, wenn er in seine Arbeit vertieft war. Heute jedoch war er mehr als dankbar für diese Unterbrechung. Entweder hatte sein Unterbewusstsein die Schreibtherapie für beendet erklärt, oder sein »Ventil« war verstopft.

Er knipste den Monitor aus und zog die Jalousie vor dem Fenster hoch, die ihn vor den blendenden Sonnenstrahlen schützte. Und er fragte sich, ob ein leerer Bildschirm es tatsächlich rechtfertigte, einen so herrlichen Frühlingstag auszusperren, der ihm einen nahezu ungehinderten Blick auf den angrenzenden See und die umliegenden Wälder ermöglichte, deren Grün zu dieser Jahreszeit besonders zu leuchten schien.

Nur schwer löste er sich von diesem idyllischen Anblick und öffnete die Tür seines Arbeitszimmers. Unter dem gequälten Knarren der Dielen schritt er den Flur entlang, vorbei an Schlaf- und Kinderzimmer. Dabei beschloss er, nach dem Essen ein wenig im Garten zu arbeiten. Karin hatte am Morgen die bestellten Stauden in der Gärtnerei abgeholt. Wenn das Wetter es zuließ, und danach sah es aus, würde er sie am Nachmittag einpflanzen. Vielleicht brachte ihn das auf andere Gedanken, und hoffentlich auf einen rettenden Einfall.

Er stieg die geschwungene Holztreppe ins Erdgeschoss hinab, wo es bereits köstlich nach Essen roch. Karins erstaunter Gesichtsausdruck entging ihm nicht, als er die geräumige Landhausküche betrat und sich an den Tisch setzte, an dem bereits ihr dreijähriger Sohn Mark saß und sich emsig die eigens für ihn angerichteten Pommes frites in den Mund stopfte.

»So schnell?«, sagte sie erstaunt und stellte eine Schüssel mit Blattsalat in der Mitte des Tisches. »Lass mich raten: Du kommst nicht weiter, richtig?«

»Es ist wie verhext«, bestätigte er niedergeschlagen. »Seit Wochen sitze ich da und starre diesen verdammten Bildschirm an. Und mir fällt einfach keine brauchbare Strategie ein, wie ich das ändern könnte. Ich fühle mich vollkommen ausgebrannt.«

»Kein Wunder«, meinte Karin gelassen. »Du schläfst in letzter Zeit auch ziemlich unruhig. Manchmal redest du sogar im Schlaf.«

»Ach ja, worüber denn?«

»Über deine rassige achtzehnjährige Geliebte, die du jeden Samstag im Hotel triffst, und über deine Pläne, mich zu verlassen.«

Entgeistert starrte Tom seine Frau an, doch sie lachte nur und küsste ihn sanft auf die Wange. Dabei streifte ihn eine Strähne ihres blonden Haares, das wunderbar nach Früchten duftete.

»Keine Bange, ich konnte kein Wort von dem verstehen, was du in dein Kissen gemurmelt hast. Dazu war ich selbst viel zu erledigt.«

»Na wenigstens kommt einer von uns beiden zur Ruhe.«

»Ja, und wenn du damit aufhören würdest, mitten in der Nacht im Haus herumzugeistern, könnte ich vielleicht sogar durchschlafen«, gab sie schnippisch zurück.

Tom wandte sich Mark zu, der mit einem Pommes einen Klumpen Mayonnaise mit Ketchup zu einer weiß-roten Soße zusammenmantschte. »Na, Champion«, sagte er, während er ihm das dunkelblonde Haar strubbelte, das genauso störrisch war wie sein eigenes. »Wie war’s im Kindergarten?«

»Wie immer«, antwortete sein Sohn mit vollem Mund.

Das sollte wohl heißen »Nicht besonders aufregend.«

Sein Blick glitt wieder zu Karin hinüber. »Du sagst, ich bin letzte Nacht im Haus herumgelaufen? Daran kann ich mich gar nicht erinnern.«

»Wirst du jetzt auch noch zum Schlafwandler? Vielleicht sollte ich dich nachts an die Leine legen.«

»Na ja«, bemerkte er grinsend, »wahrscheinlich hab ich mir gedacht, wenn sie mir nicht zuhört, geh ich eben woanders hin.«

Sie lachte, so dass das kleine Muttermal kurz über ihrem rechten Mundwinkel auf- und abhüpfte. Doch gleich darauf wurde sie ernst. »Bedrückt dich irgendetwas?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein.« Bis auf die Tatsache, dass ich gelegentlich Todesängste ausstehe und keine Ahnung habe, weshalb. »Jedenfalls nichts, was mir bewusst wäre.« Seine Augen verengten sich und wurden starr. »Diese ganze Geschichte von damals … Es ist wie ausgelöscht. Meine Kindheit, meine Jugend … Ich kann mich kaum noch daran erinnern, einmal jung gewesen zu sein.«

»Vielleicht solltest du mal mit Dr. Westphal darüber reden. Glaubst du, das könnte etwas mit deinen Panikanfällen zu tun haben?«

»Möglich ist alles, wenn es um die menschliche Psyche geht. Das behauptet sie zumindest. Die Seele vergisst niemals, das ist einer von ihren Standardsätzen. Wenn ich nur wüsste, was diese Anfälle auslöst.«

»Ihr werdet schon noch dahinterkommen. Sie ist eine gute Ärztin.«

»Ich weiß«, stimmte er ihr zu. »Ich habe ja nicht ohne Grund über sie für mein erstes Buch recherchiert.«

Schatten der Seele, rief er sich den Titel ins Gedächtnis. Möglicherweise hatte er sich einfach zu lange mit dieser Materie beschäftigt, und nun holten ihn seine eigenen Fantasien ein.

»Vielleicht brauchst du nur mal Urlaub«, bemerkte Karin und begann den Auflauf zu verteilen. »Seit über vier Monaten schreibst du ununterbrochen an deinem neuen Buch. Du müsstest vielleicht nur mal abschalten und auf andere Gedanken kommen.«

Karin schloss die Klappe des Backofens und war gerade im Begriff, sich zu ihnen an den Tisch zu setzen, als es an der Tür klingelte.

»Wer kann denn das sein, um die Mittagszeit?«, knurrte Tom.

»Ach, das ist bestimmt das Kleid, das ich mir bestellt habe. Du weißt schon, für Samstag.«

Tom sah sie verständnislos an.

»Samstag?«, wiederholte sie fragend. »Der zwanzigste Mai …« Entschieden fügte sie hinzu: »Mein Geburtstag

Toms Augen weiteten sich. »Dein Geburtstag … natürlich!« Er spielte verlegen mit dem Besteck. Über seinen verzweifelten Bemühungen, ein paar brauchbare Sätze zu Papier zu bringen, hatte er tatsächlich die Feier zu ihrem sechsundzwanzigsten Geburtstag vergessen. Vielleicht hatte er dieses Ereignis auch schlicht verdrängt; er war kein großer Anhänger solcher Feierlichkeiten. Zu viele Menschen in einem Raum machten ihn nervös, zumal die meisten davon für ihn Fremde waren, zu denen er kaum einen Bezugspunkt hatte. Karin war Elternsprecherin der Kindergartengruppe und half, Feste, Wanderungen und Ausflüge zu organisieren. Außerdem saß sie ihm Vorstand des Arbeiterwohlfahrtsvereins, der Freizeitaktivitäten für Senioren ausrichtete. All das machte ihren Freundeskreis für Tom sehr unübersichtlich, da er selbst so gut wie nie das Haus verließ. Lediglich einer einzigen Person hatte er es zu verdanken, dass seine Angst vor fremden Menschen ihn nicht zum sozialen Eremiten verkümmern ließ.

»Ich habe übrigens auch Fanta eingeladen«, rief Karin durch den Flur, während sie zur Haustür ging.

Stefan Tauber, sein kritischster Leser und bester Freund, den vermutlich alle außer Tom mit dem Kürzel »Fanta« ansprachen, das sich aus den letzten drei Buchstaben seines Vor- und den beiden ersten seines Nachnamens zusammensetzte. Tom dagegen fand diesen Spitznamen reichlich unpassend für einen Mann, der alles andere als ein frenetischer Anhänger schaler Brauselimonade war. Würden die Leute ihn »Hefe« nennen, so hätte Tom sich eher damit anfreunden können. Allerdings lag Stefans modisches Erscheinungsbild weit jenseits jeden konventionellen Geschmacks und machte ihn, gepaart mit seiner äußerst direkten Art, in Toms Augen zum wohl ausgeflipptesten Typen auf diesem Planeten. Weshalb das Kürzel zumindest in dieser Hinsicht seine Berechtigung hatte.

Durch den Flur hörte Tom, wie Karin die Tür öffnete. Kurz darauf vernahm er eine fremde Männerstimme, konnte aber keine Einzelheiten verstehen. Es dauerte nicht lange, bis Karin in die Küche zurückkehrte und ihn unsicher ansah.

»Was ist denn?«, fragte er. »Haben sie das falsche Kleid geliefert?«

»Mark, Schätzchen.« Karin hob ihren Sohn von seinem Kinderstuhl. »Bitte geh in dein Zimmer, ja?«

»Aber Mama«, protestierte der Kleine. »Ich will doch noch Nachtisch.«

»Den gibt es heute ausnahmsweise mal später.«

»Was ist denn los?«, wiederholte Tom hörbar besorgt, nachdem Mark den Raum verlassen hatte.

»Es ist die Kriminalpolizei«, berichtete Karin erschrocken. »Sie sagen, es geht um einen Mord.«


»Sind Sie Tom Kessler?«, erkundigte sich einer der beiden Männer, als Tom die Tür erreichte.

»Thomas Kessler – ja, der bin ich«, antwortete er verstört.

»Dürfen wir hereinkommen?«

»Um was genau geht es denn bitte?«

»Das würden wir Ihnen gerne drinnen erklären, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

»Nein, natürlich nicht«, sagte Tom zögernd und führte die Polizisten durch den Flur in das große Wohnzimmer, an das ein kleiner Wintergarten angrenzte. »Bitte setzen Sie sich.« Er deutete auf die dreiteilige Sitzgruppe, deren Mittelpunkt ein massiver Tisch aus Kiefernholz bildete. Tom und Karin nahmen den beiden gegenüber Platz. Der Schmächtigere der Männer stellte sich als Kommissar Michael Dorn von der Kripo Koblenz vor. Er mochte Mitte dreißig sein, hatte dunkles, leicht gelocktes Haar und war leger in Jeans gekleidet. In der Hand hielt er eine blaue Aktenmappe.

Tom fiel auf, dass er sehr schlanke und gepflegte Finger hatte. Es war ihm fast schon zu einer zwanghaften Gewohnheit geworden, den Leuten zuerst auf die Hände zu schauen. Der andere Mann sah etwas jünger und förmlicher aus; brauner Anzug, aber keine Krawatte. Seine Hände waren kräftiger.

»Das ist mein Kollege Markus Bender.« Dorn nickte kurz zu dem Mann im braunen Anzug hinüber, während er gleichzeitig das Interieur des Hauses betrachtete.

Küche und Wohnraum bildeten fast eine Einheit und waren nur durch eine kleine Theke und einen im Rundbogen gemauerten Zugang voneinander getrennt. Die Möbel waren rustikal im Landhausstil gehalten, jedoch nicht im Mindesten wuchtig oder altmodisch. Die Wände waren in einem frischen Orangeton gestrichen und um den geschlossenen Kamin herum mit Bruchsteinen verkleidet. Rötliche Vorhänge umrahmten die Fenster und die breiten Glastüren, hinter denen sich ein großzügiger Garten erstreckte. Alles wirkte sehr warm und durchdacht, aber keineswegs protzig.

»Schön haben Sie es hier«, bemerkte Bender beeindruckt. »Und mit streitlustigen Nachbarn haben Sie hier draußen sicher auch keine Probleme, nicht wahr?«

»Nein«, erwiderte Tom. »Ich bin kein besonders geselliger Mensch und brauche die Abgeschiedenheit, wenn ich schreibe. Das Haus und das Grundstück gehörten meinen Großeltern. Leider sind sie vor ein paar Jahren gestorben.«

»Das tut uns leid.«

»Schon gut, Herr Kommissar. Was ist denn nun der Grund ihres Besuchs?«, drängte Tom, der kein Freund von Floskeln war.

»Nun, wie wir Ihrer Frau bereits erklärt haben«, sagte Dorn, »ermitteln wir momentan in einem Mordfall, der uns einige Rätsel aufgibt.«

»Ich hoffe doch, es betrifft niemanden, den wir kennen?«, fragte Karin besorgt.

»Nein, ich denke, das können wir ausschließen. Trotzdem haben wir die begründete Hoffnung, dass Ihr Mann uns helfen kann, etwas Licht in diese Angelegenheit zu bringen.«

Tom blickte kurz zu Karin hinüber. Dann sah er die beiden Männer unschlüssig an. »Nun, ich werde natürlich tun, was in meiner Macht steht«, versicherte er bestürzt. »Was genau ist denn passiert?«

Dorn räusperte sich kurz. Fast hatte es den Anschein, als wolle er nur zögernd mit den Einzelheiten herausrücken. »Gestern Nachmittag wurde neben dem baufälligen Gebäude in der Nähe des hier angrenzenden Hotels die Leiche eines fünfjährigen Mädchens gefunden«, begann er. »Sie war in einer offenen Grube deponiert und wies Spuren zahlreicher Misshandlungen auf. Die genauen Einzelheiten wollen wir Ihnen ersparen.«

»Mein Gott!« Entsetzt schlug Karin die Hände vor den Mund.

»Das Mädchen konnte mittlerweile identifiziert werden«, fuhr Dorn fort. »Ihr Name ist Franziska Kern, und wie sich herausstellte, war sie seit etwa acht Tagen als vermisst gemeldet. Allerdings stammt das Opfer nicht von hier, sondern aus der Nähe von Wiesbaden. Bei den Kollegen dort wurde auch die Vermisstenanzeige erstattet. Bis jetzt haben wir nur wenige Anhaltspunkte, wie das Mädchen hierher gekommen ist und was den eigentlichen Todeszeitpunkt betrifft, denn unser Gerichtsmediziner hat festgestellt, dass der Leichnam über längere Zeit gekühlt worden ist.«

Aus Toms Gesicht schien jegliche Farbe gewichen zu sein. Beinahe apathisch sah er die Beamten an. »Sie … Sie sagen, das Mädchen wurde in einer Grube gefunden?« Es war, als höre er sich selbst aus weiter Ferne sprechen. Er kam sich vor wie in einem bösen, immer wiederkehrenden Traum, aus dem er jeden Moment zu erwachen hoffte.

»Das ist richtig. Der Aushub war frisch, die Erde war zum Teil noch nicht getrocknet. Alles deutet darauf hin, dass der Täter beim Vergraben der Leiche überrascht worden ist.«

Tom sackte nach vorn, fing sich jedoch schnell wieder und ließ sich nach hinten in die Polster sinken. Seine Hände verkrampften sich. »Ich … ich glaube, ich brauche ein Glas Wasser«, stammelte er. Sein Puls raste und er spürte, wie er am ganzen Leib zu zittern begann.

Ganz ruhig, Junge, hallte die altbekannte Stimme wieder durch seinen Kopf, während der Raum um ihn herum immer enger wurde. Das ist nur wieder einer von deinen üblichen Anfällen. Gleich geht es dir besser.

»Hier, Tom, trink.« Karin reichte ihm das Wasser und er trank das Glas gierig in einem Zug leer. Er hatte gar nicht mitbekommen, wie sie den Raum verlassen hatte, um es ihm zu holen.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Dorn.

»Bitte entschuldigen Sie«, sagte Tom mit noch immer zittriger Stimme, während er versuchte, die Panikattacke so gut es ging zu überspielen, »aber ich bin etwas anfällig, wenn es um solche Nachrichten geht. Wir haben selbst einen kleinen Sohn, und es ist ziemlich beängstigend, wenn so etwas Entsetzliches hier in unmittelbarer Nähe passiert.«

»Ehrlich gesagt wundert es uns, dass Sie noch nicht davon erfahren haben. Es stand heute Morgen bereits in allen Zeitungen.«

»Ich lese keine Zeitungen, Herr Kommissar, ich beziehe meine Informationen ausschließlich aus Büchern. So gelingt es mir, Abstand zu solchen Dingen zu bewahren.«

»Aber sind es nicht genau diese Dinge, über die Sie schreiben?«, wollte Bender erstaunt wissen.

»Das stimmt. Aber das sind nur erfundene Geschichten, kombiniert mit ein wenig Recherche über Polizeiarbeit und etwas Grundwissen in Psychologie. Nichts, was der Realität entspringt. Das macht es …«

»Distanzierter«, vervollständigte Bender den Satz.

»Ja.«

»Verstehe«, meinte der Polizeibeamte. »Die Realität ist etwas anderes, als nur darüber zu schreiben, nicht wahr?«

»Das muss ich leider zugeben. Meine Romanfiguren sind diesbezüglich etwas abgebrühter.« Er versuchte sich an einem Lächeln, was ihm jedoch nicht darüber hinweghalf, wie sehr ihn die Routine erschreckte, mit der die beiden Beamten solche Nachrichten überbrachten. Für sie schien dergleichen Alltag zu sein, so wie ein Kurzschluss für einen Elektriker. Nur eine weitere Akte, die ihnen Arbeit machte.

»Ich hoffe, wir haben Sie nicht zu sehr schockiert«, sagte Dorn, als könne er Toms Gedanken lesen. »Oder sollen wir die Befragung lieber später fortsetzen?«

»Es geht schon wieder«, beteuerte Tom und setzte sich auf. »Sie sagen, das Mädchen stammt aus Wiesbaden?«

»Aus der näheren Umgebung«, bestätigte Kommissar Dorn. »Soweit wir wissen, haben auch Sie einmal dort gelebt, nicht wahr?«

Normalerweise hätte es Tom beunruhigen sollen, dass zwei Kriminalpolizisten sich mit Details aus seiner Vergangenheit beschäftigten. Doch eine solche Information hätte jeder auf seiner offiziellen Internetseite abrufen können.

»Meine Schwester und ich sind dort aufgewachsen«, entgegnete er. »Das liegt aber schon viele Jahre zurück. Meine Familie ist hierher gezogen, nachdem …« Er stockte. »Nun, es gab in Wiesbaden einfach nichts mehr, was uns hielt. Ich kenne dort niemanden mehr.« Und ich kann mich auch an niemanden mehr erinnern, den ich dort einmal gekannt habe. Nervös spielte er mit dem leeren Glas in seiner Hand. »Und Sie haben keine Ahnung, wie das Mädchen hierher gekommen ist?«

»Nein. Unseren Erkenntnissen nach hat die Familie hier weder Verwandte noch Freunde.«

»Demnach haben Sie also auch noch keinen konkreten Verdacht, was den Täter betrifft?«

»Leider nein. Alles, was wir bis jetzt haben, ist die Leiche und einen Haufen offener Fragen.«

Tom betrachtete die beiden Männer verwundert. »Also, dann würde mich wirklich interessieren, wie Sie darauf kommen, dass ich ihnen helfen könnte?«

Der Kommissar legte eine kurze Pause ein, während er Tom eingehend musterte. »Weil wir bei der Leiche etwas gefunden haben, das Ihren Namen eindeutig mit dieser Sache in Verbindung bringt, Herr Kessler.«

Toms Gesichtsfarbe glich nun der von feinem Zementstaub. »Wie … wie meinen Sie das?«

»Darauf kommen wir gleich zu sprechen«, wehrte der Kommissar ab. »Zunächst einmal wüssten wir gerne, ob es in jüngster Zeit irgendwelche Vorfälle gegeben hat, die Sie beunruhigt haben.«

»Vorfälle?«, wiederholte Tom aufgebracht. »Sie meinen, außer den Panikattacken, den schlaflosen Nächten und der Schreibblockade, mit der ich mich gerade herumschlage? Oder meinen Sie etwa den Schreck, den man bekommt, wenn zwei Polizisten vor der Tür stehen und einen unversehens mit einem Mordfall in Verbindung bringen?«

»Nein, nein, verstehen Sie mich bitte nicht falsch«, beschwichtigte der Beamte. »Ich meine, jemandem, mit dem Sie vor kurzem Streit hatten oder der Sie bedroht hat. Ein anderer Schriftsteller vielleicht, der Ihnen den Erfolg missgönnt, oder ein fanatischer Fan, der auf sich aufmerksam machen will?«

»Nein, nichts dergleichen.« Toms Stimme klang jetzt beinahe wie die eines wütenden Kindes.

»Gibt es sonst irgendjemanden, dem Sie ein solches Verbrechen zutrauen würden, um Ihnen zu schaden?«

Empört sah Tom den Kommissar an. »Nein, um Gottes willen, ich kenne niemanden, der zu so etwas Schrecklichem in der Lage wäre. Mein Bekanntenkreis besteht in der Regel nicht aus pädophilen Wahnsinnigen.« Er schnaufte wütend. »Was sollen eigentlich all diese Fragen? Könnten Sie mir jetzt bitte erklären, was das alles zu bedeuten hat?«

Dorn warf seinem Kollegen einen ernsten Blick zu. »Herr Kessler, vielleicht sollten wir erst einmal mit Ihrer Frau sprechen«, meinte er zögernd. »Ehrlich gesagt bin ich mir nicht sicher, ob …«

»Es geht mir gut, keine Sorge«, unterbrach ihn Tom.

»Hören Sie, ich will ehrlich zu Ihnen sein.« Der Kommissar beugte sich zu ihm vor. »Der Grund, weshalb wir hier sind, ist, dass wir Nachforschungen über Sie angestellt haben. Aus Ihrer Polizeiakte wissen wir von den schrecklichen Dingen, die Ihnen in Ihrer Kindheit zugestoßen sind. Und glauben Sie mir, wenn ich Ihnen versichere, dass sich selbst den erfahrensten Kollegen der Magen umgedreht hat, als sie den Bericht gelesen und die Fotos von den Leichen gesehen haben.«

»Und was hat das alles hiermit zu tun?«, wollte Karin wissen, und Dorn sah die Beklommenheit in ihren Augen.

»Nun«, sagte er und atmete tief durch. »Wir haben den begründeten Verdacht, dass der Mord an dem Mädchen in direktem Zusammenhang mit den Ereignissen von damals steht, auch wenn wir uns das im Moment nicht recht erklären können.«

»Das kann nicht Ihr Ernst sein«, entfuhr es Karin. Schützend griff sie nach Toms Hand. »Sie meinen doch sicher, es gibt da gewisse Ähnlichkeiten.«

»Nein.« Der Kommissar öffnete die Mappe in seiner Hand. Er zog zwei Fotos daraus hervor und legte sie nebeneinander auf den Tisch. Auf den ersten Blick schienen beide identisch zu sein. »Ich meine, dass die Grube, in der wir das Mädchen gefunden haben, der von damals in Form und Ausmaß genau gleicht.« Er deutete auf das rechte der beiden Fotos. »Die Leiche des Mädchens weist genau die gleichen Misshandlungsspuren und Merkmale auf wie der Leichnam vor dreizehn Jahren. Die Position, in der sie gefunden wurde, ist ebenfalls identisch. Das Alter, die Haarfarbe … sogar die Kleidungsstücke des Opfers stimmen bis ins Detail überein. Ich spreche von einer exakten Kopie des Fundortes, den Ihr Mann als Kind im Garten dieses Grundstücks entdeckt hat.«

Toms Atem war zu einem schnellen Keuchen geworden und sein Herz raste so schnell, dass er glaubte, das Blut in seinen Augen pulsieren zu sehen, die starr auf die beiden Fotos gerichtet waren. »Aber … aber das ist unmöglich«, keuchte er und kämpfte verzweifelt gegen eine erneute Panikattacke an. »Was Sie da behaupten, kann nicht sein.«

»Glauben Sie uns, wir waren nicht minder überrascht, als wir die Fotos von damals gesehen haben.«

»Was haben Sie dort noch gefunden?« Tom hatte jetzt Mühe, sich verständlich auszudrücken. Seine Stimmbänder waren wie gelähmt. Er umklammerte Karins Hand so fest, dass sie vor Schmerz das Gesicht verzog. »Sie haben gesagt, da wäre noch etwas. Etwas, das mich damit in Verbindung bringt.«

Dorn sah ihm eindringlich in die angsterfüllten Augen. »Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass Sie momentan in der Verfassung sind, das zu verarbeiten.« Er wandte sich an Karin. »Vielleicht sollten wir das Weitere im Beisein eines Arztes besprechen. Ich möchte nicht dafür verantwortlich sein, dass Ihr Mann einen Rückfall erleidet oder ernste psychische Komplikationen auftreten.«

»Ich sitze hier vor Ihnen!«, schrie Tom außer sich. »Also reden Sie nicht über mich, als wäre ich nicht in diesem Zimmer. Ich will jetzt wissen, was Sie dort gefunden haben!«

»Tom, beruhige dich!« Karin fasste seine Hand fester. »Der Kommissar hat recht. Ich finde diese ganze Unterhaltung schon beängstigend genug, ich möchte mir nicht auch noch Sorgen um dich machen müssen.«

»Sie sollten auf Ihre Frau hören«, meinte Dorn. »Ich bezweifle, dass es gut für Sie wäre, wenn wir das Ganze hier fortsetzen. Ich hatte von Anfang an Bedenken, was dieses Gespräch betrifft. Aber mein Chef ist der Meinung, wir sollten Sie warnen, bevor die Presse von den Einzelheiten Wind bekommt. Und natürlich hatten wir auch gehofft, Sie könnte uns erklären, was wir dort vorgefunden haben. Aber ich halte es für unverantwortlich, Ihnen das zuzumuten. Wahrscheinlich haben wir schon zu viele alte Wunden wieder aufgerissen. Wir sollten es vorerst dabei belassen.«

Tom, der sich mittlerweile wieder gefasst hatte, sah zu, wie die beiden Beamten sich erhoben, und stellte das leere Glas auf dem Tisch ab, das er die ganze Zeit wie einen rettenden Anker umklammert hatte. »Können Sie sich an Ihre Jugend erinnern, Herr Kommissar?«, fragte er unvermittelt, und seine Stimme klang fester, als er es erwartet hätte. »Ich meine, an Dinge wie Ihren ersten Kuss oder die Abiturfeier? Oder an den Moment, als Ihre Eltern das erste Mal stolz auf Sie gewesen sind?«

Dorn hielt inne und blickte ein paar Sekunden lang mitfühlend auf ihn herab. »Ja«, sagte er schließlich, »ich denke schon.«

»Sehen Sie«, meinte Tom, »ich kann das nicht, weil ich meines Wissens nach nie eine derartige Jugend erlebt habe. Und obwohl ich Alkohol verabscheue, würde ich mich wahnsinnig gerne erinnern können, wann ich mein erstes Bier getrunken habe. Vermutlich in irgendeiner Klinik, zwischen zwei Therapiesitzungen. Das ist nämlich alles, woran ich mich aus all den Jahren erinnern kann. An unzählige Untersuchungen, an Analysen, Diagnosen und Therapien. Aber all das Gerede und die Medikamente haben mir mein Leben und meine Erinnerung bis heute nicht wiedergegeben. Sicher, ich habe trotzdem eine Menge erreicht, und es geht uns gut hier. Aber glauben Sie allen Ernstes, ich lebe gerne in dieser Abgeschiedenheit? Ich würde mich liebend gerne mit Nachbarn streiten, Herr Kommissar, aber ich bekomme schon Schweißausbrüche, wenn ich nur einen Zaun sehe. Ich habe nicht viele Freunde, denn ich verlasse dieses Haus nur selten, und meistens auch nur, wenn es aus beruflichen Gründen sein muss oder ich meinen Arzt aufsuche. Und selbst dann fällt es mir schwer. Ich lebe nur in meiner Fantasie, Herr Kommissar. Sie ist mein gesamtes Kapital. Nicht gerade das, was man sich unter einem Prominenten vorstellt, nicht wahr?«

Er saß jetzt aufrecht da, und das Zittern in seiner Stimme war Entschlossenheit gewichen.

»Sie sagen, Sie haben den Bericht gelesen. Soviel ich weiß, beschreibt dieser Bericht fast ausschließlich Dinge, die sich während und nach meiner Befreiung abgespielt haben. Was genau in den drei Stunden geschehen ist, die ich diesem Monster hilflos ausgeliefert war, konnte nie genau geklärt werden. Trotzdem hat es mein Leben zerstört, Herr Kommissar. Nur ganze drei Stunden waren dazu nötig.«

Wieder rang Tom mit seinen Gefühlen, und es fiel ihm schwer, die Fassung zu wahren.

»Sie glauben tatsächlich zu wissen, was ich damals durchgemacht habe?« Vorwurfsvoll sah er zu den beiden Beamten auf. »Dann wissen Sie offensichtlich mehr als ich, denn alles, was an diesem verfluchten Tag geschehen ist, entzieht sich vollständig meiner Erinnerung. Es ist nicht gelöscht, aber ich habe einfach keinen Zugriff mehr darauf. Die Ärzte haben gesagt, das sei eine Art Schutzfunktion meines Unterbewusstseins. Quasi eine körpereigene Gehirnwäsche, mit der mein Verstand mich daran hindern will, das Ganze immer wieder zu durchleben. Ich frage mich nur, was auf Dauer schlimmer ist? Sich an etwas so Schreckliches zu erinnern und es so zu verarbeiten, oder ständig vor etwas Angst haben zu müssen, das man sich nicht erklären kann und das einen letztendlich am Leben hindert? Ich für meinen Teil ziehe Ersteres vor, auch wenn es vielleicht gewisse Risiken birgt. Die bin ich gerne bereit einzugehen, ich bin es nämlich langsam leid, davonzulaufen und mich zu verkriechen. Und ich möchte meinem Sohn auch nicht irgendwann einmal erklären müssen, dass sein Vater nicht mit ihm zum Fußball gehen kann, weil er sich nicht unter Menschen traut. Aber ich kann mein Ängste nur bekämpfen, wenn ich mich ihnen stelle, Herr Kommissar. Und wenn das, was Sie mir sagen wollen, schon nicht Ihnen helfen kann, dann hilft es vielleicht doch mir, mich an die Dinge von damals zu erinnern und diese Blockade zu durchbrechen.«

In den nächsten Sekunden sagte niemand etwas. Dorn schien Tom mit allen Sinnen zu fixieren, als wolle er ihn durchleuchten, um zu sehen, wie weit es für ihn vertretbar war, mit der Wahrheit herauszurücken. Schließlich schwenkte sein Blick zu Karin hinüber, in der Hoffnung auf so etwas wie eine Bestätigung.

»Bitte, Herr Kommissar«, flehte Tom. »Es ist schon schlimm genug, ständig diesen Ängsten ausgesetzt zu sein. Aber noch viel schlimmer ist es, wenn man nicht weiß, wovor man eigentlich solche Angst hat. Vielleicht muss ich das einfach alles noch einmal durchleben, damit ich damit abschließen kann.«

Wieder ein langes Zögern. »Also gut«, gab der Kommissar schließlich nach, und die beiden Männer setzten sich wieder. »Aber auf Ihre Verantwortung.«

Er nickte seinem Kollegen zu, der daraufhin in die Innentasche seines Jacketts griff und ein gefaltetes Blatt Papier zutage förderte.

»Das hier ist die Abschrift einer Nachricht, die wir bei der Leiche gefunden haben«, erklärte Bender. »Sie steckte in der Mundhöhle des Mädchens, als hätte der Täter Ihnen durch sie diese Worte mitteilen wollen.«

Zögernd nahm Tom das Papier entgegen; seine Augen suchten unsicher nach Karin, die erneut seine Hand ergriff. Sie hatte Tränen in den Augen, nickte ihm jedoch aufmunternd zu. Mit zitternden Händen faltete er das Blatt auseinander und las die gedruckten Zeilen:


Es beginnt erneut. Sie verlassen mich wieder. Und Du weißt, wie sehr ich es hasse, verlassen zu werden. Deinetwegen haben sie mir meine Schätze genommen, über die ich so fürsorglich gewacht habe. Ich habe es nicht vergessen, im Gegensatz zu Dir. Deshalb habe ich beschlossen, dass es an der Zeit ist, Dein Gedächtnis etwas aufzufrischen. Das Spiel ist noch nicht vorbei, Tom Kessler, egal, was sie Dir in all den Jahren eingetrichtert haben. Es beginnt erneut. Und diesmal werde ich vollenden, was ich an Dir begonnen habe. Ich werde dafür sorgen, dass Du dich daran erinnerst, wer der Wächter ist!


Tom fuhr zusammen. Eine Panikwelle flutete durch ihn hindurch wie Wasser durch einen geborstenen Schiffsrumpf. Die Wände des Wohnzimmers schienen zu schwanken, und das Sonnenlicht in den Fenstern und der Terrassentür wurde immer heller, bis es so grell war, dass es ihn blendete. Bilder tauchten plötzlich vor seinen Augen auf, zuckten wie grelle Blitze durch seine Wahrnehmung, als hätten sie nur darauf gewartet, eine Lücke in seinem Unterbewusstsein zu finden, um daraus zu entfliehen. Bruchstücke seiner Vergangenheit hasteten an ihm vorbei, so greifbar und nah, dass sie ihm beinahe real erschienen. Er sah eine breite Werkbank vor den nackten Mauersteinen einer Kellerwand. Er sah unzählige Gerätschaften, die an der Wand befestigt waren und zum Teil Spuren von getrocknetem Blut aufwiesen. Sägen, Schraubzwingen, Metallbohrer. Eine Kühltruhe, über deren Rand ein kleiner Fuß herausragte. Die Luft war feucht und stickig und mit einem entsetzlichen Geruch nach Verwesung getränkt. Und er hörte diese unnatürlich hohe Stimme, die ihn an Kreide erinnerte, die über eine Tafel quietschte.

»Willst du mit mir spielen?«

»NEIN!«, schrie er, jetzt völlig außer sich. Die Angst war unerträglich. Sie schien physische Ausmaße anzunehmen, lastete auf ihm wie ein tonnenschwerer Granitblock.

»Niemand widersetzt sich dem Wächter«, hallte es bedrohlich durch seinen Kopf. »Hörst du, NIEMAND

Ein entsetzlicher, brennender Schmerz durchzuckte Toms Bein. Er konnte warmes Blut auf seiner Haut spüren, das sich wie ein Schleier über sein Gesicht legte. Dann vernahm er dieses unmenschliche Lachen.

»Ich werde dich spüren lassen, was Verlust ist!« Die Stimme klang so klar und deutlich, als stünde der Wächter vor ihm. Er fühlte kräftige Hände, die ihn packten und an ihm zerrten.

»Willst du mit mir spielen?«

»NEIN! OH GOTT

»Tom!« Die Stimme seiner Frau drang zu ihm durch und traf ihn wie eine Ohrfeige. Langsam lösten sich die Bilder auf, zerliefen wie das Blut, dessen Schleier sich verflüchtigte und Tom die Sicht wieder freigab. Nur verschwommen erkannte er drei Gesichter über sich, sah seine Arme, die wild fuchtelten und sich zu befreien versuchten.

»Nein, lasst mich!«, schrie er in panischer Furcht und sprang auf. Er prallte mit Bender zusammen, der das Gleichgewicht verlor und an den Tisch stieß. Das leere Glas fiel zu Boden und zersprang auf den braunen Keramikfliesen.

Schluchzend sackte Tom auf die Knie und wischte sich wild mit den Händen übers Gesicht. Dann starrte er sie an, war sich sicher, dass sie voller Blut waren. Doch er fand nichts, außer glitzerndem Schweiß auf seinen zitternden Fingern. Sein Puls raste so schnell, dass er befürchtete, sein Herz könnte jeden Moment explodieren. »Oh Gott«, keuchte er wie ein verängstigtes Kind, während er noch immer seine Finger anstarrte. »Er ist wieder da. Es beginnt erneut!«

»Wir sollten einen Arzt rufen«, meinte Dorn, der Mühe hatte, die Fassung wiederzugewinnen.

»Ich rufe Dr. Westphal an!« Karin wischte sich die Tränen aus den Augen und stürzte zum Telefon. Bevor sie den Hörer aufnehmen und die ersten Tasten drücken konnte, hielt Tom sie zurück.

»Warte!«, rief er, während er noch immer keuchend auf dem Boden kniete. »Nicht … Es geht schon wieder.«

»Reden Sie doch keinen Unsinn, Mann«, widersprach Dorn. »Sie brauchen Hilfe.«

»Die hätte ich vor dreizehn Jahren gebraucht«, stöhnte Tom außer Atem. »Jetzt brauche ich nur etwas zu trinken.«

»Ich denke, das könnten wir jetzt alle vertragen«, bemerkte Bender. Er streifte mit beiden Händen sein dunkelblondes Haar nach hinten, das ihm wirr in die Stirn hing. Die Scherben knirschten unter den Sohlen seiner braunen Lederschuhe.

»Ich hole Besen und Schaufel«, sagte Karin, die noch immer völlig aufgelöst war und mit den Tränen kämpfte. »Bevor sich noch jemand verletzt.«

»Lass nur«, sagte Tom und stand langsam auf. Seine Glieder schmerzten und waren schwer wie nach einem Marathonlauf. »Ich mach das schon. Geh du bitte zu Mark und sorg dafür, dass er nicht runterkommt. Ich möchte nicht, dass er das hier sieht.«

Karin stand da und betrachtete ihren Mann unschlüssig. Seine Augen waren blutunterlaufen, und noch immer spiegelte sich das Entsetzten darin, das er gerade durchlebt hatte.

»Bitte«, fügte Tom mit Nachdruck hinzu. Er sah, wie sie mit sich kämpfte. »Es ist in Ordnung. Geh und kümmere dich um Mark.«


Mit einem dumpfen Scheppern kippte Tom die Glasscherben in den Abfallbehälter und verstaute das Kehrblech wieder in dem Schrank unter der Spüle. Der Anblick von Scherben löste in ihm stets ein beklemmendes Gefühl aus, das er ebenso wenig zu erklären wusste wie seine Angst vor fleischigen, behaarten Händen. Er schenkte sich ein weiteres Glas Wasser ein und spülte hastig eine Tablette damit herunter. Noch immer fiel es ihm schwer, das Zittern seiner Finger unter Kontrolle zu bekommen, doch es gelang ihm, es vor den beiden Beamten zu verbergen, indem er die Hände in den Taschen seiner Jeans vergrub. »Kann ich ihnen auch etwas anbieten? Einen Kaffee vielleicht? Oder etwas Stärkeres?«

»Nein, danke«, lehnte Dorn ab, der sich dafür einen missmutigen Blick seines Kollegen einfing. Die beiden waren Tom in die Küche gefolgt, in der es noch immer nach dem Essen roch, das mittlerweile auf den Tellern kalt geworden war. »Und Sie sind wirklich wieder in Ordnung?«

»Ja«, entgegnete Tom. »Ich fühle mich nur noch etwas aufgedreht. So ähnlich wie nach einem Stromschlag.«

»Dann erzählen Sie uns doch mal, was genau da eben mit Ihnen passiert ist. Ich kann natürlich nicht für meinen Kollegen sprechen, aber ich habe so etwas noch nie erlebt.«

»Tja«, sagte Tom, »dem kann ich mich nur anschließen. Das Ganze ist auch für mich eine neue Erfahrung.«

Er senkte seinen Blick und starrte verlegen auf seine Füße, die nervös auf und ab wippten. Und einen kurzen Moment lang kam es ihm fast so vor, als sei er immer noch dreizehn und müsste sich vor seinen Eltern für einen peinlichen Schulstreich rechtfertigen. Auch nach all den Jahren psychologischer Behandlung tat er sich noch immer sehr schwer damit, seine Seele vor anderen zu entblößen. Noch dazu vor zwei wildfremden Menschen, die gerade mit angesehen hatten, wie er völlig die Fassung verloren hatte.

»Was da eben passiert ist«, begann er leise, »ist auch für mich schwer zu erklären, und Erklären gehört normalerweise zu meinem Beruf. Es war nicht nur einer der üblichen Anfälle, von denen ich nicht immer genau sagen kann, was sie auslöst. Das hier war wesentlich intensiver. Eine emotionale Flutwelle, könnte man sagen, die mich in die Vergangenheit gespült hat. Als hätte sich eine Schleuse in einem mir unbekannten Teil meines Gehirns geöffnet, die normalerweise fest geschlossen ist.«

Dorn sah in mit ausdrucksloser Miene an. »Dann war das also eine Art Rohrbruch, den wir da erlebt haben?«

Tom lächelte. »Wohl eher eine undichte Stelle, würde ich sagen.« Sein Lächeln wurde breiter. Das dürfte der Umschreibung nicht ganz dicht eine völlig neue Bedeutung geben, fügte er in Gedanken hinzu.

»Was genau haben Sie denn gesehen?«

»Nur winzige Teile. Aber es waren nicht nur visuelle Eindrücke. Da waren auch dieser entsetzliche Gestank, und diese …« Er fing an, nervös auf seiner Unterlippe zu kauen »Ich war wieder in dem Keller. Mit ihm. Ich konnte ihn nicht sehen, aber ich habe seine Stimme gehört.«

»Was hat er gesagt?«

»Er hat mich gefragt, ob ich mit ihm spielen will. Ich glaube, ich muss Ihnen nicht erklären, was er damit gemeint hat.«

»Nein.« Der Kommissar räusperte sich. »Wie gesagt, wir sind mit den Fakten vertraut.«

»Dann wissen Sie ja sicher auch von der Leiche in der Kühltruhe. Ich konnte sie sehen. Ihr … ihr Fuß hing über den Rand hinaus. Er war ganz blau und … aufgedunsen.« Tom atmete tief durch. »Sie sagten, der Leichnam des Mädchens, den Sie gefunden haben, wäre ebenfalls gekühlt worden. Sehen Sie da auch einen Zusammenhang?«

»Schon möglich. Dem damaligen Täter ging es in erster Linie darum, die Verwesung aufzuhalten. Vielleicht wurde die Leiche des Mädchens in diesem Fall nur gekühlt, um sie über einen gewissen Zeitraum hinweg exakt in dem Zustand der damaligen zu erhalten, bis sie gefunden werden sollte.«

»Sie denken also, der Täter wurde gar nicht überrascht, sondern wollte, dass die Tote so entdeckt wird.«

»Davon gehen wir aus. Weshalb sollte er sich sonst solche Mühe mit den Details geben?«

»Wer hat die Leiche gefunden?«

»Ein paar spielende Kinder.«

Eine weitere Parallele. Und noch ein paar Kinderseelen, die vernichtet wurden.

»Dort ist zwar der Zutritt verboten«, erklärte Bender, »aber das Gebäude dient Kindern und Jugendlichen oft als Treffpunkt. Ist wohl so eine Art Abenteuerspielplatz für sie.«

»Das Haus steht schon seit Jahren leer, nicht wahr?«, fragte Tom.

»Das stimmt«, bestätigte Dorn und blätterte in den Papieren, die er in der Hand hielt. »Genaueres können wir leider nicht sagen, da es seltsamerweise keinerlei Unterlagen darüber gibt. Selbst die zuständige Behörde konnte uns das nicht erklären; sie vermuten einen Computerfehler. Merkwürdig ist nur, dass auch kein notarieller Eintrag zu finden ist. Offiziell existiert dieses Gebäude also nicht, deshalb fühlt sich auch niemand dafür zuständig und es gibt gerichtliche Streitigkeiten wegen der Entsorgungskosten. Allerdings wurde uns mitgeteilt, dass es früher wohl so etwas wie ein Depot gewesen ist. Wie auch immer, die Stadt würde das Objekt jedenfalls am liebsten dem Erdboden gleichmachen, weil es von vielen Anwohnern als Schandfleck bezeichnet wird und außerdem einsturzgefährdet ist. Das Grundstück ist zwar weitläufig eingezäunt, und überall stehen Verbotsschilder, aber dass scheint die Kids nicht abzuhalten.«

Zäune, dachte Tom, und ihm wurde speiübel. »Dieser Mann, der mich damals… dieser Wächter … Man hat mir gesagt, er habe sich das Leben genommen.«

»Das stimmt. Er wurde mit durchgeschnittener Kehle gefunden, nachdem die Kollegen die Kellertür aufgebrochen hatten. Das Messer hielt er noch in der Hand.«

Das Blut, das viele Blut. Es war seins. »Mein Gott«, keuchte Tom. »Wie krank muss jemand sein, um so etwas zu tun?«

»Ich denke, seine Taten sprechen da für sich«, bemerkte der Kommissar trocken.

»Wer war der Mann?«

Dorn sah Tom unschlüssig an. »Hat man Ihnen das nie gesagt?«

»Ich … ich weiß es ehrlich gesagt nicht mehr genau.« Tom fuhr sich mit der Hand über die Stirn und rieb sich die müden Augen. »Es gibt so vieles, an das ich mich nicht mehr erinnern kann. Am Anfang meiner Therapie haben die Ärzte es wohl nicht für ratsam gehalten, mich aufzuklären. Vielleicht hat man es mir später einmal gesagt, in der Hoffnung, ich würde mich erinnern. Aber ich habe das alles in den letzten Jahren so sehr verdrängt, dass es vermutlich irgendwann verloren gegangen ist. Ich wollte mich einfach nicht mehr erinnern. Ich wollte nur noch vergessen und nach vorn schauen. Aber Sie sehen ja, wie schwer mir das fällt. Und irgendwann ist dann der Punkt erreicht, wo selbst das nicht mehr möglich ist, weil es mich daran hindert, Dinge zu tun, die für andere Menschen ganz normal sind. Und wenn es mir nicht gelingt, mich endgültig davon zu befreien, dann werde ich wohl niemals ein normales Leben führen können.«

»Was ist denn mit Ihrem Vater? Wie ich dem Bericht entnehmen konnte, ist er Polizeibeamter und war an Ihrer Befreiung beteiligt. Er hätte Ihnen jederzeit eine Kopie …«

Tom unterbrach ihn. »Ich habe keinen Kontakt mehr zu meinem Vater. Er hat uns kurz danach verlassen. Ich schätze, er ist mit den Dingen, die mir damals passiert sind, nie fertig geworden. Ebenso wenig wie ich. Muss wohl in der Familie liegen«, stellte er verbittert fest. »Jedenfalls habe ich seitdem nichts mehr von ihm gehört. Und ich will auch gar nichts von ihm hören«, fügte er mit Nachdruck hinzu. »Aber wenn mich meine Vergangenheit schon wieder einholt, dann will ich doch wenigstens wissen, wem ich es zu verdanken habe, dass ich bloß noch ein verängstigtes Wrack bin.«

Dorn legte die Aktenmappe, die er noch immer in der Hand hielt, aufgeschlagen auf den Tisch. Sie enthielt die Berichte und Notizen zu den beiden Fällen. »Der Name des Mannes war Ralf Homberg. Er war Angestellter eines Sicherheitsunternehmens, bis er wegen Handgreiflichkeiten entlassen wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt ist er nie straffällig geworden und hat eigentlich unauffällig mit seiner Familie in dem besagten Haus gelebt. Die Leute, mit denen er Umgang hatte, haben ihn eher als schüchtern und zurückhaltend beschrieben, manche auch als sonderbar. Er war nicht sonderlich beliebt, galt aber als fürsorglicher Familienvater. Etwa sechs Monate vor seinem Tod hat seine Frau die Scheidung eingereicht und ist mit dem zehnjährigen Sohn zu ihrer Mutter gezogen. Vermutlich war das der Auslöser für seine Taten, er hat den Verlust wohl nicht verkraftet.«

Sie verlassen mich wieder, spukte es Tom durch den Kopf.

»Etwa drei Monate nach der Trennung hat er dann seine Frau und seinen Sohn als vermisst gemeldet, angeblich, weil sie nach einem gemeinsamen Einkaufsbummel nicht in das Haus seiner Schwiegermutter zurückgekehrt waren. Diese Vermisstenanzeige war später einer der Gründe, weshalb die Polizei in sein Haus eingedrungen ist, zu diesem Zeitpunkt ist man bereits davon ausgegangen, dass er selber etwas mit ihrem Verschwinden zu tun hatte. Seine Frau hatte ihn bereits zweimal wegen Belästigung angezeigt. Wie sich dann herausgestellt hat, hatten die Kollegen recht. Bei der einzigen Jungenleiche, die man in dem Keller entdeckte, handelte es sich um seinen Sohn. Die sterblichen Überreste seiner Frau konnten bis heute nicht gefunden werden. Sie gilt noch immer als vermisst.«

Tom blätterte in den Aufzeichnungen, während er Dorns Ausführungen folgte. Er stieß auf die beiden Bilder der Opfer, die beinahe identisch waren, und sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. »Eine Sicherheitsfirma«, ging er laut seinen Gedanken nach. »Deshalb also der Wächter

»Keine Ahnung. Dieser Begriff taucht in keinem Bericht auf, er scheint also nur Ihnen bekannt zu sein.«

»Er hat sich mir gegenüber selbst so genannt.«

»Nun, der Verlust seines Arbeitsplatzes und seiner Familie hat ihn wohl den Verstand gekostet. So was kann einen Menschen schon fertigmachen.«

Der eigene Sohn. Kein Verlust auf dieser Welt könnte Tom zu so etwas treiben. »Eines verstehe ich nicht.« Er sah wieder zu den beiden Beamten auf. »Wenn ich der einzige Überlebende bin, wie kann dann jemand nach all den Jahren eine Botschaft verfassen, die Details enthält, die nur ich wissen kann?«

»Tja«, sagte Bender, »genau das ist es ja, was wir uns auch nicht erklären können.« Er setzte sich zu Tom an den Tisch. »Zunächst sind wir davon ausgegangen, dass es ein Trittbrettfahrer ist. Jemand, der Ihre Vergangenheit kennt und Ihnen schaden will. Aber die Botschaft, die wir gefunden haben, schließt das aus, weil darin, wie Sie schon sagten, Details beschrieben werden, die nur Ihnen bekannt sind.«

»Nun, da ich mich bis vor etwa zwanzig Minuten selbst nicht mehr daran erinnern konnte, und der eigentliche Täter seit dreizehn Jahren tot ist, wer kommt dann infrage?«

Bender lehnte sich auf dem Stuhl zurück. »Im Augenblick sind das natürlich alles nur Spekulationen, aber wir vermuten, dass Homberg vielleicht nicht allein gehandelt hat.«

»Sie meinen, er hatte einen Komplizen?«

»Das wäre zum jetzigen Zeitpunkt die einzig vernünftige Erklärung. Und deshalb hatten wir gehofft, Sie könnten sich vielleicht an eine weitere Person in dem Haus erinnern. Sind Sie sich ganz sicher, dass es Hombergs Stimme war, die Sie vorhin gehört haben?«

»Ja.« Tom rief sich die schrille Tonlage noch einmal ins Gedächtnis zurück. Es war ihm unbegreiflich, wie er sie je hatte vergessen können. Willst du mit mir spielen? »Ganz sicher.«

»War da noch eine andere Stimme? Vielleicht nicht direkt in dem Keller, aber in den oberen Etagen?«

»Nein … Ich weiß nicht.« Unsicher fuhr Tom sich mit den Fingern durch sein braunes Haar. »Wenn ich mich recht erinnere, hat er seine Stimme gelegentlich verstellt, wenn er mit mir gesprochen hat, so als wäre er jemand anderes. Aber da war sonst niemand. Und selbst wenn, die Polizei hätte ihn doch gefunden.«

»Sie waren drei Stunden in seiner Gewalt. In dieser Zeit kann die betreffende Person das Haus unbemerkt verlassen haben. Zumal dem Täter bewusst gewesen sein muss, dass die Polizei bald auftauchen würde, da Ihr Verschwinden nicht unbemerkt geblieben war.«

Tom dachte nach, und die Anstrengung zog Falten in seine hohe Stirn. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich kann mich nur an Bruchstücke erinnern, nichts Zusammenhängendes. Aber ehrlich gesagt, der Gedanke, dass da noch jemand sein soll, der zu so etwas fähig wäre, ist ziemlich erschreckend.«

»Aber durchaus nicht abwegig«, schaltete sich Dorn wieder zu. »In vielen Fällen stecken organisierte Banden dahinter, die Pädophile in der ganzen Welt bedienen, einschließlich Kindesentführung und Missbrauch. Allerdings sind uns keine Kontakte bekannt, die Homberg mit diesem Milieu in Verbindung bringen. Er besaß weder einen Computer, noch wurde in seinem Haus pornografisches Material gefunden, das seine Neigungen diesbezüglich bestätigt hätte. Es scheint, als hätte er vorher ein ganz normales Leben geführt. Aus den Unterlagen geht hervor, dass er einen Bruder hat, der bereits damals zu den Vorfällen vernommen wurde. Da jedoch keine weiteren Verdachtsmomente gegen ihn oder andere vorlagen, ging man bisher von einem Einzeltäter aus. Deshalb konzentrieren sich unsere Ermittlungen augenblicklich auf seinen Bekanntenkreis. So viel wir wissen, hatte er zwar nicht viele Freunde, aber da das Ganze nun schon dreizehn Jahre zurückliegt, dürfte es eine Weile dauern, diese wenigen ausfindig zu machen. Bis dahin raten wir Ihnen, Vorkehrungen zu treffen.«

Verstört blickte Tom in die ernsten Gesichter der beiden Beamten. »Was denn für Vorkehrungen?«

»Nun, diese Botschaft ist eindeutig eine Drohung gegen Sie«, meinte Dorn. »Das schließt Ihre Familie mit ein. Und solange wir nicht sicher sind, wer dahinter steckt, sollten Sie ein paar Sicherheitsmaßnahmen ergreifen.«

Erneut wich die Farbe aus Toms Gesicht. Zum ersten Mal seit er diese Zeilen gelesen hatte, wurde ihm deren reale Bedrohung klar. »Und was genau schwebt Ihnen da so vor, Herr Kommissar. Soll ich mich dem Leben etwa noch mehr entziehen, als ich es ohnehin schon tue?«

»Hat dieses Haus eine Alarmanlage?«

»Nein. Es gab nie einen Grund dafür.«

»Ich schätze, das wäre die Standardausrede von jedem Mordopfer.« Dorns Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, doch der Ausdruck in seinen dunklen Augen blieb todernst. »Ich würde Ihnen dringend raten, eine anzuschaffen. Außerdem würde ich Ihnen empfehlen, Kameras auf dem Grundstück zu installieren, insbesondere auf der Zufahrt zum Haus und im Garten.«

Großartig, dachte Tom. Jetzt wird aus diesem Gefängnis auch noch eine Festung. »Finden Sie das nicht ein wenig übertrieben?«

»Eine tote Fünfjährige empfinde ich keineswegs als Übertreibung, Herr Kessler.« Aus Michael Dorns Stimme war jede Kompromissbereitschaft gewichen. Nur noch die energische Autorität eines Kriminalpolizisten lag darin. »Gerade Sie sollten das nachvollziehen können.«

Tom blickte auf das Foto des Opfers, das wie ein infames Lesezeichen in die Innenseite der Aktenmappe gesteckt war. »Sie haben recht«, räumte er ein und schlug wütend den Deckel der Mappe zu. »Warum hat dieser Dreckskerl mir seinen Drohbrief nicht einfach mit der Post geschickt? Dann wäre dieses Mädchen noch am Leben.«

»Weil er wollte, dass Sie diese Drohung ernst nehmen«, antwortete Dorn. »Und genau das sollten Sie auch tun, denn das hier ist keineswegs die Tat eines Verrückten, der nur auf sich aufmerksam machen will. Der Täter muss sich ausführlich mit Ihrem Fall beschäftigt haben, er kennt Dinge aus Ihrer Vergangenheit, von denen nur Sie wissen können, und die Detailverliebtheit, mit der er das Ganze inszeniert hat, lässt auf eine ziemliche Besessenheit schließen. Sogar den Fundort der Leiche hat er nicht dem Zufall überlassen. Er wusste, dass dort ein beliebter Treffpunkt von Kindern und Jugendlichen ist, wo das, was er uns präsentieren wollte, auch zum richtigen Zeitpunkt gefunden wird. Und er war auch bereit, ein gewisses Risiko einzugehen, dort bei seinen Vorbereitungen beobachtet zu werden. All das erfordert einen abgebrühten Verstand und exakte Vorbereitung. Der Täter verfolgt ein klares Ziel. Und dieses Ziel sind augenscheinlich Sie, Herr Kessler.«

»Aber warum gerade jetzt, nach all den Jahren?«

»Das kann viele Gründe haben. Seiner Botschaft nach zu urteilen wusste er, dass Sie jahrelang therapiert worden sind. Es könnte sein, dass er einfach abwarten wollte, bis Sie für seine Spielchen bereit waren. Schließlich will er ja auch seinen Spaß daran haben. Möglicherweise ist er aber auch erst jetzt in der Lage, seine Pläne umzusetzen. Wie schon erwähnt nimmt die Vorbereitung für eine solche Tat sehr viel Zeit in Anspruch, und Zeit bedeutet bekanntlich auch Geld. Vielleicht musste er sich erst einmal die nötigen finanziellen Freiräume sichern. Denkbar wären auch eine längere Krankheit, geschäftliche Verpflichtungen, möglicherweise sogar ein Gefängnisaufenthalt. Unsere Ermittlungen sind sehr weitläufig. Sie können sich aber sicher vorstellen, wie viel Zeit uns das alles kostet. Deshalb wird bereits die Gründung einer Sonderkommission vorbereitet, die sich ausschließlich mit diesem Fall beschäftigen soll. Sämtliche Spuren und alles Beweismaterial, das wir am Fundort sichergestellt haben, sind schon beim LKA in Mainz und werden dort untersucht. Wir hoffen, mehr über die Kleidung des Mädchens und die Originalbotschaft zu erfahren. Außerdem werden wir die Kinder und Jugendlichen aus der Gegend befragen, ob ihnen auf dem Grundstück irgendetwas aufgefallen ist. Mehr können wir im Augenblick nicht tun.«

Durch das Küchenfenster hindurch beobachtete Tom Karin und Mark, die ausgelassen im Garten herumtollten. Sie mussten durch die Haustür nach draußen gegangen sein, ohne dass er es gemerkt hatte. Und obwohl er wusste, dass seine Frau voller Sorge um ihn war, wirkte ihr Spiel völlig unbeschwert. Das tut sie Mark zuliebe, dachte Tom, während er ihrem Lachen lauschte, das nicht im Mindesten gezwungen wirkte.

»Ich veranlasse gleich morgen früh all das, was Sie mir empfohlen haben«, sagte er mit gerade eben genügend Kraft, dass es nicht verzweifelt klang. »Und ich nehme meinen Sohn eine Zeit lang aus dem Kindergarten.«

Kommissar Dorn nickte zufrieden. Dann trat er neben ihn und sie sahen gemeinsam zu, wie Mark sich strampelnd aus dem Griff seiner Mutter zu befreien versuchte. »Wie alt ist der Kleine?«, erkundigte er sich.

»Er wird in zwei Monaten vier.«

»Dann müssen Sie ja sehr früh geheiratet haben.«

»Tja, ich schätze, ich hatte es wohl ziemlich eilig damit, erwachsen zu werden, nachdem ich schon keine Jugend hatte.«

»Ich will bestimmt nicht indiskret sein, aber wie haben Sie und Ihre Frau sich kennengelernt?«

Tom sah zu dem Beamten auf. Vermutlich wunderte dieser sich darüber, wie jemand, der so gut wie nie das Haus verließ, an eine so bezaubernde Frau geraten konnte. »Sie hat in der Praxis meiner Ärztin gearbeitet. Wahrscheinlich hat sie nicht nur beruflich ein Faible für verkorkste Seelen.«

Ein Lächeln huschte über Dorns Gesicht. Und diesmal lächelten auch seine Augen. »Sie haben eine tolle Familie, Herr Kessler«, stellte er fest, ohne dass es sich anhörte, als wolle er Tom trösten. »So etwas kann man gar nicht genug beschützen.«

Tom sah, wie Mark strahlend in den Armen seiner Mutter versank. »Ja«, sagte er, »da haben Sie wohl recht.«

Der Kommissar nahm die Mappe wieder an sich. »Ach, da wäre noch etwas«, meinte er beinahe beiläufig. »Sagt Ihnen die Zahl sechsundvierzig irgendetwas?«

Tom überlegte kurz. »Nicht, dass ich wüsste. Warum?«

»Diese Zahl stand auf der Originalbotschaft, die wir bei der Leiche gefunden haben. Es hat fast den Anschein, als ob sie eine Art Unterschrift darstellen soll.«

Tom schüttelte den Kopf. »Nein, tut mir leid, das sagt mir gar nichts.«

»Hatten wir auch nicht erwartet«, sagte Dorn und legte eine Visitenkarte neben Tom auf den Tisch. »Wir unterrichten Sie sofort, wenn sich etwas Neues ergibt. Hier ist auch meine private Handynummer vermerkt. So können Sie mich jederzeit erreichen, falls Sie sich noch an weitere Einzelheiten erinnern.«

Tom erhob sich und begleitete die Beamten in den Flur. »Vielleicht will ich das ja nach dem heutigen Tag gar nicht mehr. Mich erinnern, meine ich.«

Dorn blieb in der Tür stehen und drehte sich noch einmal zu ihm um. »Es dürfte jetzt keine Rolle mehr spielen, ob Sie das noch wollen, Herr Kessler. An dem Motiv des Täters gibt es keine Zweifel. Er will, dass Sie sich erinnern! Und er wird nicht aufhören, bis er erreicht hat, was er bezweckt.«


Tom sah zu, wie die Beamten in ihren Wagen stiegen und die geschwungene Auffahrt hinunterfuhren, bis sie in dem angrenzenden Wald verschwunden waren. Dann hastete er ins Wohnzimmer zum Telefon und tippte die Nummer ein, die ihm so vertraut war. Kurz darauf meldete sich die Sprechstundenhilfe.

»Tom Kessler hier. Ist Dr. Westphal zu sprechen?«

»Hallo, Herr Kessler«, antwortete die Frauenstimme. »Sie haben Glück. Im Moment hat sie keinen Patienten. Ich stelle Sie durch.«

Einige Sekunden lang hörte er leise beruhigende Musik in der Leitung, dann ein Knacken.

»Hallo Tom«, begrüße ihn eine raue, aber trotzdem weibliche Stimme. »Was kann ich für Sie tun?«

»Hallo, Dr. Westphal«, antwortete Tom erregt. »Ich weiß, wir haben uns erst letzte Woche gesehen, aber ich brauche für morgen dringend einen Termin. Es ist etwas geschehen, worüber ich unbedingt mit Ihnen reden muss.«

Eine kleine Pause trat ein.

»Immer mit der Ruhe, Tom.« Er hörte das Klacken einer Computertastatur. »Sie sind anscheinend sehr aufgeregt und bringen da etwas durcheinander. Sie waren letzte Woche nicht bei mir.«

»Was?«, stieß Tom verwirrt hervor. Seit nunmehr vier Jahren war Dr. Westphal seine Therapeutin, und er hatte noch nie eine Sitzung verpasst. »Aber ich weiß doch genau, dass ich …«

»Nein, Tom. Sie müssen da etwas verwechseln. Ihr Termin wurde abgesagt.«

Eine weitere Pause trat ein, während Tom ausdruckslos die Wand seines Wohnzimmers anstarrte. »Ach ja … natürlich«, stammelte er ratlos. »Das hatte ich völlig vergessen.«

»Ist alles in Ordnung, Tom?«

»Ja, ich hatte da wohl tatsächlich etwas verwechselt. Mein Fehler.«

»Kommen Sie morgen früh gegen neun Uhr in die Praxis. Ich nehme Sie gleich als Ersten ran«, sagte sie, ein wenig besorgt. »Dann sprechen wir in Ruhe über alles.«

»Danke.« Tom legte auf. Noch eine ganze Weile ließ er die Hand auf dem Hörer liegen. Er will, dass Sie sich erinnern, rief er sich die Worte des Kommissars ins Gedächtnis. Und er wird nicht aufhören, bis er erreicht hat, was er bezweckt.

Es würde weitere Botschaften geben. Weitere Morde. Obwohl es angenehm warm im Raum war, begann er zu frieren. Zitternd setzte er sich auf den Boden und schlang die Arme um seine Knie.

Abgesagt! Immer wieder hallte das Wort durch seinen Kopf. Doch so sehr er sich auch bemühte, er konnte sich nicht daran erinnern, wo er an diesem Tag gewesen war.

Nächster Tag

Dienstag, 16. Mai

 

 


»Das ist ja nicht zu fassen!«, sagte sie aufgebracht, nachdem Tom ihr die Ereignisse des Vortages geschildert hatte. Dr. Westphal saß an ihrem mahagonifarbenen Schreibtisch, auf dem neben einem Flachbildmonitor nur ein paar Schreibutensilien und ein in Leder gebundener DIN-A4 Block ihren gewohnten Platz einnahmen, und hielt das Blatt Papier in der Hand, dessen Botschaft Tom am Tag zuvor in die Vergangenheit katapultiert hatte. »Wer in Gottes Namen denkt sich so etwas Grausames aus, nur um Sie damit aus der Reserve zu locken?« Der Ausdruck in ihren braunen Augen schwankte zwischen ungläubigem Entsetzen und blanker Empörung. »Ich kann mir vorstellen, was das alles in Ihnen ausgelöst hat. Kein Wunder, dass Sie gestern am Telefon so verstört gewirkt haben. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht.«

Tom hatte beschlossen, seinen erneuten Gedächtnisverlust ihr gegenüber nicht zu erwähnen. Vorerst zumindest. Er wollte der Sache zunächst einmal selbst auf den Grund gehen.

»Immerhin hat es bewirkt, dass ich mich erinnert habe«, meinte er, und angesichts der Ereignisse, mit der diese Rückblende erzwungen worden war, klang es fast egoistisch und herzlos.

Dr. Westphal lehnte sich in ihren Sessel zurück. »Das soll hoffentlich keine versteckte Kritik an meinen Fähigkeiten sein, Tom«, sagte sie halb im Scherz. »Und ich hoffe doch sehr, Sie erwarten von mir in Zukunft nicht ähnliche Methoden.« Sie sah ihm in die Augen.

»Natürlich nicht«, wehrte Tom ab.

»Das beruhigt mich«, sagte sie und beugte sich wieder zu ihm vor. »Tom, ich weiß, wie sehr Sie sich wünschen, sich an die schrecklichen Dinge von damals zu erinnern, in der Hoffnung, dann wieder ein ganz normales Leben führen zu können. Und bis zu einem gewissen Grad teile ich diese Hoffnung auch. Denn die Ereignisse, die für Ihre posttraumatische Störung verantwortlich sind, waren nur von relativ kurzer Dauer, und die Erinnerung daran kann das Gleichgewicht möglicherweise wiederherstellen.«

»Da bin ich mir seit gestern ziemlich sicher.«

»Was Sie da gestern erlebt haben, Tom, war nichts weiter als eine Intrusion. Eine Art Flashback, der Sie die traumatische Situation nacherleben ließ. Vergleichbar mit einem Film, der vor Ihren Augen abläuft. Genau wie Ihre Gedächtnislücken ist das eine typische Begleiterscheinung Ihrer Krankheit. Das Ungewöhnliche in Ihrem Fall ist, dass Sie bis gestern keinen Zugriff auf diese Ereignisse hatten, was immerhin bedeuten könnte, dass Ihre Blockade anfängt zu bröckeln. Allerdings sollten Sie deswegen nicht zu euphorisch sein. Sie fangen lediglich an, sich wieder zu erinnern, nicht mehr. Und es bleibt abzuwarten, inwiefern das gut für Sie ist.«

»Aber das verstehe ich nicht.« Tom rutschte unruhig auf dem breiten Ledersessel herum. »Sie sagen doch immer, ich soll mich meinen Ängsten stellen, dass das die einzige Möglichkeit wäre, sie zu besiegen.«

»Das ist richtig, Tom. Und ich integriere diese Aussage auch fest in meine Therapie. Weshalb bestehe ich wohl sonst darauf, dass Sie zu mir kommen? Ich könnte Sie ebenso gut in Ihrem Haus aufsuchen, um mit Ihnen zu reden. Das wäre sicher keine gängige Methode, aber in Ihrem Fall durchaus nicht abwegig. Da ich aber weiß, wie schwer es Ihnen fällt, Ihre gewohnte Umgebung zu verlassen, verlange ich, dass Sie es trotzdem tun, um Ihnen damit klar zu machen, dass es Sie nicht umbringt. Das nennt man Angstbewältigung, Tom.«

Dem konnte er nur zustimmen. Er hatte immer noch schweißnasse Hände von der Fahrt hierher. Karin hatte ihn an der Praxis abgesetzt und dann gemeinsam mit Mark beschlossen, ein paar Einkäufe zu machen.

»Das Entscheidende ist«, fuhr Dr. Westphal fort, »sich diesen Ängsten auszusetzen, nicht unbedingt, deren Ursache zu erforschen. Das kann sicherlich hilfreich sein, reduziert aber das Ausmaß der Angst nicht.«

»Aber in meinem Fall könnte es entscheidend sein.«

»Ja, vielleicht, Tom. Vielleicht kann die Erinnerung Ihnen helfen, das Ganze zu verarbeiten. Vielleicht macht sie es aber auch nur noch schlimmer.«

»Na toll«, zischte Tom zwischen den Zähnen hindurch. »So oder so, ich bin und bleibe ein verängstigter Waschlappen.«

»Tut mir leid, Tom. Ich wünschte, ich könnte Ihnen eine klarere Antwort geben. Aber die Psychoanalyse ist keine exakte Wissenschaft. Es gibt keine allumfassenden Grundsätze, die man anwenden kann. Jede Psyche ist individuell geprägt, und damit auch jedes Ereignis, welches sie aus dem Gleichgewicht bringt. Sicher, es gibt gewisse Richtlinien, an die man sich halten kann, trotzdem ist jeder Fall verschieden. Das macht die Arbeit für uns ja so schwierig. Es ist aber auch eine ständige Herausforderung und sehr spannend.«

»Es freut mich, dass ich Sie gut unterhalte, Frau Doktor«, meinte er sarkastisch.

»Jetzt werden Sie unfair, Tom.« Trotz dieses Angriffs sprach sie mit der Gelassenheit einer Psychologin. »Ich muss Sie sicher nicht daran erinnern, dass Sie am Beginn Ihrer Therapie nicht einmal imstande waren, den Keller Ihres eigenen Hauses zu betreten. Mittlerweile nehmen Sie sogar Pressetermine wahr, die sehr wichtig für Ihren beruflichen Erfolg sind. Und Sie kommen zweimal im Monat zu mir in die Praxis. Und auch wenn Ihnen das schwerfällt, ist das ein beachtlicher Fortschritt.«

Tom wollte Dr. Westphal keineswegs einen Dämpfer versetzen, dennoch teilte er ihren Optimismus nicht ganz, was seine Fortschritte betraf. Die »Pressetermine«, wie sie es nannte, absolvierte er größtenteils von Zuhause aus. Meist handelte es sich dabei um Anfragen von Zeitungen oder Zeitschriften, die er telefonisch oder am Computer erledigen konnte. Nur vereinzelt gab er persönlich Interviews, die jedoch ausschließlich in seinem Haus stattfanden. Nur einmal hatte er den Fehler gemacht, für einen derartigen Termin seine gewohnte Umgebung zu verlassen. Sein Verlag hatte ihn zum Erscheinungstermin seines zweiten Buches zu einer Autogrammstunde in einer Buchhandlung in Koblenz gedrängt. Mehrere Hundert Menschen waren dort erschienen, um sich ihr frisch erstandenes Exemplar von Dunkle Erinnerung signieren zu lassen. Um das durchzustehen hatte Tom die übliche Dosis seiner Medikamente deutlich erhöht, was dazu geführt hatte, dass die Veranstaltung beinahe abgebrochen werden musste.

Dr. Westphal lehnte sich wieder zurück und atmete tief durch. »Doch trotz dieser Fortschritte befürchte ich, dass wir an einem Punkt angelangt sind, wo wir nicht weiterkommen. Jedenfalls nicht mit den üblichen Methoden. Haben Sie vielleicht eine Erklärung dafür, Tom?«

Unruhig verlagerte er sein Gewicht in dem Sessel. »Sie sind doch die Ärztin. Sagen Sie es mir.«

»Tja, ich denke, genau darin liegt das Problem, denn Sie sehen in mir nur die Analytikerin, und nicht die Bezugsperson.«

Was sollte denn das nun schon wieder? Wenn er jeden Arzt, der in den letzten dreizehn Jahren an ihm herumgedoktert hatte, als seinen Freund bezeichnen würde, müsste er für seine Geburtstagsfeier wahrscheinlich die Rhein-Mosel-Halle mieten.

»Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz, worauf Sie hinauswollen.«

»Nun, Tom, dann werde ich versuchen, es Ihnen zu erklären«, sagte die Analytikerin in ihrem gewohnt neutralen Tonfall. »Wenn Sie Schmerzen haben, gehen Sie zum Arzt, in dem Wissen, dass er Ihnen Medikamente verschreibt, die Ihre Beschwerden lindern. Aber diese Medikamente bekämpfen nur das Symptom der Schmerzen, nicht deren Ursache. Und die kann, medizinisch betrachtet, sehr weitläufig sein. Deshalb ist eine umfassende Diagnose nötig, um sie aufzuspüren und dauerhaft zu beseitigen. Auf Ihren Fall bezogen, sind die Ursachen nicht körperlichen, sondern seelischen Ursprungs. Als Ihre Ärztin kann ich Ihnen auch weiterhin Medikamente dagegen verschreiben. Doch damit würden Sie Ihre Symptome nur betäuben. Die Ursache, durch die sie entstehen, wäre immer noch dieselbe. Und um die zu analysieren, ist es nun einmal erforderlich, mir gewisse Einblicke in Ihr Seelenleben zu gewähren, wozu Sie jedoch nicht in der Lage sind. Jedenfalls nicht in dem Maße, dass es uns weiterbringt. Ich denke daher, es wäre sehr nützlich, wenn wir jemanden in Ihre Therapie mit einbeziehen, der mehr Zugang zu Ihnen hat. Eine Person Ihres Vertrauens. Idealerweise jemand, zu dem Sie schon damals einen Bezug hatten, und der die Ereignisse aus seiner Sicht schildern kann.«

»Sie reden von meiner Familie, nicht wahr?«

»Ich weiß, Sie haben keinen Kontakt mehr zu Ihrem Vater, trotzdem wäre er natürlich meine erste Wahl, weil er damals selbst vor Ort gewesen ist. Er könnte die Situation wohl am besten wiedergeben.«

»Vergessen Sie’s«, wehrte Tom ab. »Selbst wenn ich es wollte, würde er vermutlich ohnehin hier nicht erscheinen. Aber da ich auch kein Interesse daran habe, ist mir das egal.«

»Vielleicht tun Sie ihm unrecht, Tom. Versetzen Sie sich mal in seine Lage. Bestimmt macht er sich Vorwürfe, dass er seinen eigenen Sohn nicht besser beschützt hat. Möglicherweise auch, weil er sich nicht schon früher Zugang zu dem Haus verschafft hat, um Sie dort herauszuholen, anstatt sich als Polizist an die offizielle Vorgehensweise zu halten .«

»Das ist keine Entschuldigung dafür, uns einfach im Stich zu lassen«, entgegnete Tom. »Und das ist das Einzige, was ich ihm vorwerfe! Ich habe ihm nie die Schuld für das gegeben, was mir passiert ist. Aber danach hätte er für uns da sein müssen. Stattdessen hat er es vorgezogen, sich einfach aus dem Staub zu machen. Jetzt will ich seine Hilfe nicht mehr. Also lassen Sie meinen Vater aus dem Spiel.«

Dr. Westphal seufzte hörbar. »Was ist mit Ihrer Mutter?«

»Sie besucht mich regelmäßig. Und früher hat sie oft mit mir über das gesprochen, was damals geschehen ist, aber irgendwie ist sie nie richtig zu mir durchgedrungen.«

»Vermutlich weil Sie Ihre Mutter nicht direkt damit in Verbindung bringen konnten.«

»Ja, vielleicht.«

»Und heute reden Sie nicht mehr darüber?«

»Nein. Ich schätze, irgendwann hat sie auch angefangen, das Ganze zu verdrängen. Sie hat damit abgeschlossen, und deshalb sehe ich keine Veranlassung, sie in ihrem Alter wieder damit zu konfrontieren. Sie hat genug durchgemacht. Und falls Sie auch auf meine Schwester zu sprechen kommen wollen, sie hat ein Stipendium in den USA und studiert dort Meeresbiologie. Sie könnte ohnehin nicht viel zu den Ereignissen beisteuern, sie war damals erst elf. Also wäre es wohl ziemlich unnötig, sie deswegen extra hierher zu bitten.«

»Aber immerhin wäre sie eine Bezugsperson für Sie.«

»Ich sehe meine Schwester nur einmal im Jahr an Weihnachten. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich zu meinem Apotheker einen näheren Bezug habe. Die wichtigsten Personen in meinem Leben sind meine Frau und mein kleiner Sohn.« Er zögerte einen Augenblick. »Und …«

»Ja?«, fragte Dr. Westphal neugierig.

»Na ja, es gibt da noch jemanden, einen guten Freund. Er ist einer der wenigen Menschen, denen ich vertraue. Sein Name ist Stefan Tauber.«

»Weiß er über die Ereignisse in Ihrer Kindheit Bescheid?«

»Ja, ich habe oft mit ihm darüber gesprochen. Na ja, eigentlich war es eher umgekehrt«, korrigierte er sich. »Er scheint großes Interesse daran zu haben.«

»Gut, dann würde ich Ihren Freund gerne hinzuziehen. Zuerst in einem Einzelgespräch und dann mit ihnen zusammen. Ihr Einverständnis vorausgesetzt.«

»Wenn Sie meinen.« Toms Antwort klang übertrieben gleichgültig.

Dr. Westphal seufzte erneut. »Tom, Sie müssen mir schon ein bisschen entgegenkommen, sonst kann ich Ihnen nicht mehr helfen.«

Tom spielte nervös an seinen Fingern herum. »Ich weiß«, sagte er kleinlaut, »aber wenn man in ständiger Angst lebt, ist es ziemlich schwer, sich jemandem zu öffnen. Es frisst einen innerlich auf.«

»Angst ist etwas ganz Natürliches, Tom. Sie könnten lernen damit zu leben, wenn Sie mit ihr umzugehen wissen.«

»Ich will aber keine Angst mehr haben!« Wütend fuhr Tom aus dem Sessel auf und lief aufgebracht im Raum umher. »Sie macht mich zu jemandem, der ich nicht sein will. Und ich bin einfach nicht länger bereit, das hinzunehmen.« Er drehte sich zu der Ärztin um und sah ihr in die Augen. »Und ich habe diese Therapien satt! Seit dreizehn Jahren erzähle ich Leuten wie Ihnen meine Geschichte, schlucke Medikamente und höre mir schlaue Ratschläge an, aber nichts ändert sich. Und dann schickt mir ein offensichtlich Irrer ein paar verwirrte Zeilen und erreicht damit mehr als jede Therapiesitzung es je vermocht hätte. Anscheinend habe ich mich jahrelang an die falschen Leute gewandt. Ganz offensichtlich braucht man tatsächlich einen Geistesgestörten, um einen Geistesgestörten zu heilen.«

»Ich kann Ihre Ungeduld durchaus verstehen«, erwiderte Dr. Westphal noch immer ruhig, »aber eine Psychotherapie benötigt viel Zeit. Man kann den Erfolg nicht erzwingen. Und Sie begeben sich auf äußerst gefährliches Gebiet, wenn Sie sich auf die grausamen Spielchen eines gewissenlosen Verbrechers einlassen. Dieser Jemand will Ihnen nicht helfen, Tom, er will Ihnen schaden. Und nach dem, was Sie mir eben erzählt haben, grenzt es fast an ein Wunder, dass er das noch nicht geschafft hat.« Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. »Tom, ist Ihnen eigentlich klar, welcher Gefahr Sie sich gestern ausgesetzt haben?«, fragte sie besorgt. »Diese Gedächtnisblockade, die Ihr Bewusstsein errichtet hat, hat durchaus ihre Berechtigung. Sie existiert zu Ihrem Schutz, Tom. Sie ohne weiteres einzureißen, könnte fatale Folgen für Sie haben. Und als ich gesagt habe, Sie sollen sich Ihren Ängsten stellen, habe ich damit nicht gemeint, dass Sie in diesen Keller zurückrennen und das Ganze noch einmal durchleben sollen. Eine derart direkte Konfrontation mit Ihrer Vergangenheit sollte nie ohne ärztliche Aufsicht durchgeführt werden. Im ungünstigsten Fall wären jahrelange Therapieerfolge verloren. Wollen Sie das wirklich riskieren, Tom? Nur für ein paar grauenhafte Erinnerungen?«

Er lehnte an der Wand neben dem einzigen Fenster, von dem aus man einen Blick auf die Koblenzer Altstadt hatte. Sein Gesicht sah müde und angespannt aus. Erschöpft rieb er sich die Stirn und dachte darüber nach, ob er nach dem gestrigen Vorfall tatsächlich noch dazu bereit war, sich auf seine Vergangenheit einzulassen. Wieder spürte er dieses lähmende Entsetzen in sich und roch den fauligen Verwesungsgeruch.

Willst du mit mir spielen?

»Nein. Aber ich befürchte, ich habe keine Wahl«, sagte er niedergeschlagen. »Dieser Dreckskerl will, dass ich mich erinnere. Also sollte ich alles versuchen, um das zu tun, bevor noch weitere Morde geschehen.«

»Ist Ihnen mal der Gedanke gekommen, dass dieser Dreckskerl genau das von Ihnen erwartet?«, gab Dr. Westphal zurück. »Vermutlich weiß er genau, wie schädlich diese Erinnerungen für Sie sein können und versucht, Sie auf diese Weise gezielt in den Wahnsinn zu treiben.«

»Mag sein. Aber möglicherweise komme ich so auch an ihn heran. Da die Polizei mittlerweile davon ausgeht, dass es damals einen zweiten Täter gegeben haben muss, könnten sich in meinen Erinnerungen auch Informationen verbergen, die helfen können, ihn zu identifizieren, womit dieser ganze Spuk ein Ende hätte.«

»Hm, verstehe«, meinte Dr. Westphal. »Aber warum sollte er dann wollen, dass Sie sich erinnern?«

Tom zuckte ratlos die Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht weil er verrückt ist? Ich weiß es nicht.«

Dr. Westphal atmete abermals tief durch und musterte Tom eingehend. Üblicherweise machte sie hinter ihrem Schreibtisch immer den Eindruck eines gelassenen und ausgeglichenen Menschen, was vermutlich für eine Psychoanalytikerin typisch war, die für ihre Patienten als Ruhepol fungieren musste. Jetzt jedoch wirkte sie eher wie jemand, der unschlüssig an einer Kreuzung steht und sich entscheiden muss, welchen Weg er einschlagen soll.

Schließlich erhob auch sie sich, was sie während einer Sitzung nur äußerst selten tat, und ging zu einem kleinen Beistelltisch an der anderen Seite des Fensters, auf dem neben einem Wasserkocher und diversen Getränkeflaschen eine Thermoskanne mit frisch gebrühtem Kaffee bereitstand. Tom beobachtete sie, während sie sich eine Tasse eingoss und Milch und Zucker dazutat. Und er musste sich dabei zusammennehmen, ihr nicht auf den Hintern zu starren, der durch ihr Nadelstreifenkostüm betont wurde. Sibylle Westphal war achtundvierzig und Mutter zweier Kinder, hatte aber noch immer den durchtrainierten Körper einer Zwanzigjährigen. Was Tom zu der Vermutung veranlasste, dass sie den Monatsbeitrag ihres Fitnessstudios voll ausnutzte. Ihr kastanienbraunes Haar war zwar mittlerweile getönt, doch der Stufenschnitt, deren Spitzen ihr ins Gesicht fielen, ließ sie noch immer jugendlich erscheinen. Nur die leichten Krähenfüße um ihre Augen herum, die sie ein wenig zu sehr mit Make-up zu kaschieren versuchte, ließen ihr tatsächliches Alter erahnen. Dennoch war nur schwer zu übersehen, dass sie noch immer eine äußerst attraktive Frau war, an der die Zeit nur geringfügige Spuren hinterlassen hatte. Manchmal erinnerte sie ihn sogar an seine Mutter, als diese noch jünger gewesen war.

»Für Sie das Gleiche wie immer?«, fragte sie.

Tom nickte ihr zu. »Mineralwasser, bitte.« Er trank keinen Kaffee mehr, seitdem er erfahren hatte, dass dessen anregende Wirkung die Auslöser einer Panikattacke noch verstärken konnte.

Sie öffnete eine der Flaschen und reichte sie ihm. Dann kehrte sie zu ihrem Schreibtisch zurück. »Tom«, sagte sie, nachdem sie einen Schluck aus ihrer Tasse getrunken hatte, und lehnte sich mit verschränkten Armen an die Tischplatte, »es gibt da vielleicht eine Möglichkeit, wie wir Ihre Erinnerungen zurückholen können.«

Tom sah sie erwartungsvoll an. »Ich bin gespannt, Frau Doktor.«

»Also, ich habe schon lange überlegt, ob ich Ihnen das vorschlagen soll, habe mich aber bis heute immer dagegen entschieden, weil diese Methode in den vergangenen Jahren zusehends in die Kritik geraten ist. Doch die jüngsten Entwicklungen haben meine Meinung diesbezüglich geändert; ich möchte nicht, dass Sie sich noch einmal schutzlos der Willkür einer offensichtlich fehlgeleiteten Persönlichkeit aussetzen.«

Es gehörte beinahe schon zum Wesen eines Analytikers, das Wort »verrückt« nicht in den Mund zu nehmen.

»Und von welcher Methode sprechen Sie?«, wollte Tom wissen.

»Haben Sie schon einmal von Regressionshypnose gehört?«

Toms Blick trübte sich. »Hat das nicht etwas mit Reinkarnation zu tun?«, erkundigte er sich abfällig.

»Nun ja, das ist nur ein Gebiet, auf dem diese Methode angewendet wird«, sagte Dr. Westphal. »Im Grunde geht es darum, mithilfe hypnosetechnischer Verfahren versteckte Erinnerungen wieder zum Vorschein zu bringen. Das umfasst unter anderem auch die Erinnerung an ein früheres Leben.«

»Und inwiefern sollte mir das helfen? Ich glaube nicht an so etwas.«

»In Ihrem Fall müssten wir ja auch nicht ganz so weit zurückgehen. Nur dreizehn Jahre, Tom.« Wieder nippte sie an ihrer Tasse. »Die Anwendungsgebiete dieses Verfahrens sind sehr vielfältig, es wird auch bei Patienten mit posttraumatischen Belastungsstörungen eingesetzt, um Erinnerungen an das traumatische Ereignis zurückzuholen. Zum Beispiel bei Kriegs- oder Unfallopfern. Aber auch bei Gewaltverbrechen und sexuellem Missbrauch.«

Tom trank gelassen einen Schluck seines Mineralwassers. Dr. Westphals bemühte Ausführungen hatten seiner Skepsis keinen Abbruch getan. »Sie sagen, diese Methode sei nicht ganz kritiklos. Wo also ist der Haken?«

»Genau das ist der Haken, Tom. Die Vielseitigkeit dieser Methode. Denn sie wird auch bei Menschen angewendet, die glauben, von Außerirdischen entführt worden zu sein, das lässt an der Glaubwürdigkeit mancher Ergebnisse argen Zweifel aufkommen.«

Prima, dachte Tom und malte sich die Schlagzeile aus: »Erfolgreicher Schriftsteller auf dem Holodeck eines Raumkreuzers von Klingonen sexuell missbraucht.« Das würde sein Trauma komplett machen. »Für mich klingt das alles nach psychologischem Hokuspokus.«

»Ich kann Ihre Bedenken verstehen. Selbst einige meiner Kollegen sind dieser Ansicht. In den Neunzigerjahren wurde diese Methode in den USA sehr häufig praktiziert, aber später fand man anhand von klinischen Studien heraus, dass viele der unter Hypnose gewonnenen Erinnerungen gar nicht den tatsächlichen entsprachen, sondern in dem hypnotischen Prozess indiziert und vom Patienten für real gehalten wurden. Das nennt man False-Memory-Syndrom

»Sie können es nennen, wie Sie wollen«, erwiderte Tom, »letztendlich wäre das, was dabei zum Vorschein käme, doch wohl sehr zweifelhaft.«

»Nicht unbedingt«, meinte Dr. Westphal. »In Ihrem Fall wissen wir jetzt, dass die Erinnerungen an das Trauma noch immer vorhanden und gespeichert sind. Wir müssen Ihr Unterbewusstsein nur dazu bringen, sie freizugeben. Behutsam natürlich. Und dafür ist Hypnose geradezu wie geschaffen, weil sie kontrollierbar ist. Ich habe sogar schon einen Therapeuten gefunden, den ich für geeignet halte und dessen Referenzen auf diesem Gebiet hervorragend sind. Er ist sehr interessiert an Ihrem Fall und wäre auch sofort bereit, die Sitzungen bei Ihnen zuhause durchzuführen, da Sie dort bestimmt wesentlich entspannter sind als in irgendeiner Praxis.« Dr. Westphal ging um den schweren Schreibtisch herum, öffnete eine der Schubladen und zog eine Aktenmappe daraus hervor. »Hier sind alle Informationen, die ich in den letzten Monaten darüber zusammengetragen habe«, verkündete sie. »Nehmen Sie es mit und entscheiden Sie sich in aller Ruhe.« Sie reichte ihm die Mappe.

Tom zögerte. »Ich weiß nicht«, sagte er skeptisch. »Ich halte nicht viel von solcher Effekthascherei.«

»Wir reden hier nicht von billigen Jahrmarkttricks, Tom. Die therapeutische Hypnose ist in der Psychiatrie eine anerkannte Methode zur Bekämpfung von Ängsten. Natürlich gibt es auch schwarze Schafe, die ihr Wissen in irgendwelchen Fernsehshows vermarkten. Trotzdem sollten Sie ein bisschen mehr Vertrauen haben, Tom.«

»Was für Alternativen hätte ich?«

»Nun, die üblichen. Sie könnten weiter alle zwei Wochen zu mir kommen. Ich habe auch gehört, dass es eine weiterentwickelte Therapieform für schwere posttraumatische Fälle wie Ihren gibt. Allerdings existieren noch keine brauchbaren Studien über Wirksamkeit und Dauer dieser Therapie. Es liegt also bei Ihnen, Tom. Wir können noch jahrelang auf diesem Weg weitergehen, oder wir riskieren eine Abkürzung.« Noch immer hielt sie ihm die Mappe hin. »Denken Sie wenigstens darüber nach. Es wäre eine echte Chance.«

»Also gut«, gab Tom schließlich nach und griff nach den Unterlagen. »Wie viele solcher Sitzungen wären denn nötig?«

»Das hängt davon ab, wie stark Ihre Blockaden sind und wie Sie darauf reagieren. Ich wäre natürlich bei jeder Sitzung dabei und könnte sofort eingreifen, wenn ich Bedenken hätte.«

»Und Sie sind wirklich überzeugt, dass mir das helfen könnte?«, fragte er, noch immer zweifelnd.

»Wenn Sie eine Garantie wollen, Tom, dann müssen Sie sich einen Fernseher kaufen«, gab sie schlagfertig zurück. »Die Psychoanalyse kann das nicht . Vertrauen ist alles, was ich Ihnen anbieten kann.«

»Na schön.« Er sah auf seine Armbanduhr. Es war kurz nach zehn. Karin würde ihn in ein paar Minuten abholen, und er konnte es kaum erwarten, wieder in seinen eigenen vier Wänden zu sein.

In einem Zug trank er sein Mineralwasser aus und stellte die Flasche zurück auf den Tisch. »Ich werde es mir überlegen«, versprach er, doch es klang nicht besonders glaubhaft.

»Tun Sie das, Tom. Und wenn Sie zu einer Entscheidung gekommen sind, lassen Sie es mich wissen. Ich veranlasse dann alles Nötige.«


»Hypnose?«, wiederholte Karin, während sie den Wagen durch die engen Straßen der Altstadt in Richtung Autobahn lenkte.

»Klingt ziemlich verzweifelt, was?«, meinte Tom, der nervös die losen Papiere in der Mappe durchblätterte, um nicht aus dem Fenster schauen zu müssen.

»Findest du? Für mich hört sich das an wie eine faszinierende Alternative.«

»Für dich hört sich in letzter Zeit alles faszinierend an, was Dr. Westphal sagt«, entgegnete er gereizt. »Ich glaube, sie könnte mir auch vorschlagen, einen Wochenendausflug auf den Mount Everest zu machen, und du wärst fasziniert von dieser Idee.«

»Ich halte sie nun mal für eine sehr gute Therapeutin. Immerhin habe ich mal für sie gearbeitet, schon vergessen?«

»Nein, Schatz. An ein paar Dinge kann ich mich durchaus noch erinnern, auch ohne diesen Voodoo-Zauber.«

Karin hielt an einer roten Ampel. Sie betrachtete Tom argwöhnisch und schüttelte den Kopf. »Du bist ganz schön unaufgeschlossen.«

»Da hast du recht. Vielleicht sollte ich das Ganze ja als Inspiration betrachten. Wenn es nicht hilft, kann ich hinterher wenigstens darüber schreiben, wie mir irgend so ein Kurpfuscher mit einem Pendel vor der Nase herumgewedelt hat.« Er winkt abfällig ab. »Hypnose, ich bitte dich.«

Tom sah kurz von den Unterlagen auf. In diesem Moment hielt auf der Spur neben ihnen ein Auto, worauf er so erschrak, dass ihm die Mappe entglitt und die Blätter sich lose im Fußraum verteilten. Der Fahrer des Wagens neben ihnen sah verwirrt zu ihnen herüber.

»Verdammt, was glotzt du so?«, fuhr Tom den Mann durch die geschlossene Scheibe an. »Hast du noch nie einen erwachsenen Mann gesehen, der sich vor Angst in die Hosen pisst?«

»Tom, reg dich ab«, sagte Karin und griff energisch nach seiner Hand. »Ich weiß, du bist ziemlich angespannt, aber du brauchst deine Laune nicht an uns auszulassen.« Sie deutete mit dem Kopf in Richtung Rücksitz, wo Mark saß und seinen Vater argwöhnisch betrachtete.

Tom schloss einen Moment die Augen und atmete tief durch. »Hey, kleiner Mann«, sagte er kleinlaut und verbog die Lippen zu so etwas wie einem Lächeln. »Das … das war gerade sehr unhöflich von mir. Verstehst du, ich hab im Moment ziemlich viel um die Ohren und …« Er brach ab und seufzte. »Weißt du was, wir vergessen das Ganze einfach. Tut mir leid, dass ich so ausgerastet bin. Ich wollte dir bestimmt keine Angst machen, glaub mir, das ist das Letzte, was ich will. Davon habe ich nämlich selbst schon genug.«

Die Ampel schaltete auf Grün, und sie bogen auf die Bundesstraße ab, die aus der Stadt führte.

»Wovor hast du denn Angst, Papa?«, fragte Mark.

»Tja, weißt du …«, begann er zögerlich. »Als ich noch ein Kind war, ist mir mal etwas Schlimmes passiert. Und das hat mir ziemliche Angst gemacht. Und diese Angst ist noch immer da und erschreckt mich manchmal. Das ist so, als würde dir plötzlich eine dicke Spinne den Arm heraufkrabbeln.« Er strich mit den Fingern an Marks Arm hinauf.

»Iiiiihh!«, quiekte Mark und zog eine Grimasse.

»Genau so geht es mir dann auch«, sagte Tom. »Und dann versuche ich, diese Spinne totzuschlagen, aber sie ist immer schneller als ich und versteckt sich an einer Stelle, wo ich nicht hinkomme. Und da wartet sie dann nur darauf, mich wieder zu erschrecken, verstehst du?«

Mark nickte. »Papa, was ist Hypnose?«

Tom sah Hilfe suchend zu Karin hinüber, die konzentriert auf die Straße blickte, sich aber ein Lächeln nicht verkneifen konnte.

»Tja, weißt du«, antwortete er schließlich, »das ist ein Mittel, mit dem man böse Spinnen aufspürt.«

Mark dachte kurz nach. »Dann sollten wir das mal in unserem Keller ausprobieren, da sind nämlich ganz viele.«

Fast wie aus einem Mund fingen Tom und Karin an zu lachen.

Sie fuhren von der Bundesstraße auf die Autobahn in Richtung Frankfurt. Karin schielte immer wieder auf die Papiere, die auf dem Boden des Wagens verstreut waren. Das Foto eines Mannes starrte zu ihr empor. Er hatte braunes, über der Stirn bereits deutlich lichtes Haar und ein längliches Gesicht, das durch einen Bart voller wirkte. Sein Lächeln schien aufrichtig und seriös.

»Wer ist das?«, fragte sie schließlich und deutete auf das Bild.

Tom zog den Ausdruck aus dem Blätterwirrwarr hervor. »Das ist Professor Dr. Peter Bartsch, 56 Jahre alt, Diplompsychologe und auf Hypnosetherapie und Traumdeutung spezialisiert«, las er den nebenstehenden Text vor. »Hört sich fast schon spirituell an, findest du nicht?«

»Ich finde, er macht einen kompetenten Eindruck. Du solltest einfach mal mit ihm reden, vielleicht änderst du dann deine Meinung.«

»Ja, vielleicht mache ich das sogar. Auf einen Arzt mehr oder weniger kommt es jetzt auch nicht mehr an.« Er warf das Blatt zurück zu den anderen. »Ich schaue das Ganze zuhause in Ruhe durch«, versprach er auf Karins argwöhnischen Blick hin. »Beim Lesen im Auto wird mir immer schlecht. Das war schon so, als ich noch ein Kind war.« Der Ausdruck in seinen braunen Augen wurde verträumt, als hätte er im Geiste ein Fenster geöffnet, durch das er zurückblicken konnte. »Komisch«, meinte er nach einiger Zeit, »solche Kleinigkeiten weiß ich noch.«

»Der Rest kommt auch wieder«, sagte Karin zuversichtlich. »Dr. Westphal wird schon dafür sorgen, da bin ich ganz sicher. Du solltest ihr einfach mehr vertrauen.«

Tom runzelte die Stirn. »Langsam könnte man wirklich meinen, ihr beide macht gemeinsame Sache, was diese Hypnosegeschichte angeht. Ihr habt euch nicht zufällig gegen mich verschworen,
oder?«

»Jetzt redest du aber Unsinn«, wehrte sie lachend ab.

»Na, ich weiß nicht. Ihr seid plötzlich ziemlich versessen darauf.«

»Wahrscheinlich wollen wir beide nur das Beste für dich. Was ist daran verkehrt?«

»Nichts«, sagte Tom. »Aber ich lasse mich nicht gern zu etwas drängen.«

»Du hast Angst davor, nicht wahr?«, fragte Karin unvermittelt. »Angst vor dem, was dabei herauskommen könnte.«

Tom schwieg. Die Frage müsste eigentlich lauten, wovor er keine Angst hatte. Das würde die Liste um einiges verkürzen. Aber ihm war tatsächlich nicht wohl bei dem Gedanken, sich wieder in diesen Keller zurückführen zu lassen. Noch dazu, wenn er dabei der Willkür eines Arztes ausgesetzt war, der ihn in Tiefschlaf versetzte und in seinen intimsten Gedanken herumkramte. Es gab nur eins, was er noch mehr hasste als Angst, und das war das hilflose Gefühl des Ausgeliefertseins.

»Mach doch einfach mal einen unverbindlichen Termin mit diesem Dr. Bartsch und lass dir das alles genau erklären«, schlug Karin vor.

»Du tust es schon wieder.«

»Ich will dich nicht drängen, Tom, ich will dir nur helfen.«

»Ich habe doch gesagt, ich werde in Ruhe darüber nachdenken. Und dann werde ich eine Entscheidung treffen.«

»Gut«, seufzte Karin, die an seiner energischen Stimmlage erkannte, dass dieses Thema für ihn beendet war.

»Aber wo wir gerade bei Terminen sind«, legte Tom nach einer Weile nach. »Hast du letzte Woche meine Therapiesitzung abgesagt?«

Entgeistert schaute sie zu ihm herüber. »Nein. Wie kommst du denn darauf?«

»Weil es irgendjemand getan hat.«

»Wann soll das gewesen sein?«

»Tu bitte nicht so, als wüsstest du nicht, dass ich jeden zweiten Mittwoch bei ihr bin. Du fährst mich schließlich hin.«

»Tom, ich war letzten Mittwoch den ganzen Tag als Betreuerin mit Marks Kindergarten unterwegs. Wir haben eine Wanderung im Wald gemacht und sind erst am frühen Nachmittag zurückgekommen.«

Tom dachte angestrengt nach, doch er fand nichts, was auch nur einem Anhaltspunkt für das gleichkam, was Karin da behauptete.

»Ja, Papa«, sagte Mark vom Rücksitz aus. »Wir waren bei dieser Hütte und haben Würstchen gegrillt. Ich hab dir doch auf der Kamera die Bilder gezeigt, die wir gemacht haben.«

Immer noch nichts. Dieser Tag schien wie ausgelöscht zu sein. »Ja, richtig«, log er, um seinem Sohn gegenüber nicht den Eindruck zu erwecken, er habe völlig den Verstand verloren. »Dann hättest du mich also gar nicht in die Praxis fahren können.«

»Nein, Tom«, sagte Karin, und ihre Stimme begann zu zittern. »Ich hatte nicht einmal das Auto mit. Jenny Peters hat mich und Mark abgeholt. Du weißt doch, wer Jenny ist?«, fragte sie beinahe flehend.

Das war die Mutter von Tanja Peters, einer Freundin von Mark. So viel wusste er immerhin. »Ja, natürlich«, versicherte er. »Aber … Wie hätte ich dann zur Therapie kommen sollen?«

»Das hatten wir doch alles besprochen. Fanta wollte dich abholen.«

Stefan? Das Leck in seinem Kopf schien immer größer zu werden. »Na ja«, stammelte er nervös, »dann … dann ist ihm vermutlich etwas dazwischen gekommen und …«

»Ich habe diesen Termin nicht abgesagt«, beteuerte Karin. Sie klang fast hysterisch.

»Aber irgendjemand muss es getan haben. Denk nach, möglicherweise ist etwas passiert und ich habe dich auf dem Handy angerufen.«

»Mein Handy lag zuhause in der Küche. Ich hatte vergessen, es aufzuladen.« Sie hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten. »Tom, ich mache mir ernsthaft Sorgen um dich. Bitte ruf diesen Arzt an und lass dir helfen«, flehte sie.

»Lass nur, du musst dir keine Sorgen machen«, antwortete er geistesabwesend. »Ich bin nur ziemlich angespannt. Das Ganze löst sich vermutlich auf, wenn ich wieder in meiner gewohnten Umgebung bin.«

Sie seufzte nur; ihr Atem ging stoßweise.

Tom wusste, dass seine Worte wenig tröstlich waren. Er starrte auf die weite Landschaft, die an seinem Fenster vorbeizog, und war dabei so in sich versunken, dass er darüber sogar seine Angst vergaß. Und je intensiver er seine Gedanken durchforstete, desto klarer schienen sich zwei Möglichkeiten in seinem Kopf zu formen, die ihn beide erschauern ließen: Entweder wurde er langsam verrückt, oder jemand legte es tatsächlich gezielt darauf an, ihn in den Wahnsinn zu treiben.


Der Rest der Fahrt herrschte Schweigen. Tom war so in seine Gedanken vertieft, dass er es gar nicht registriert hatte, als Karin die Autobahn verließ und sich an der Ortseinfahrt in den Kreisverkehr einordnete. Pausenlos ging er die Fakten durch, in der Hoffnung, auf etwas zu stoßen, was den Geschehnissen an jenem Mittwoch eine nachvollziehbare Logik verlieh. Aber entweder entzog sich diese Logik seinem Verstand, oder es war einfach keine Spur davon vorhanden.

Wiederum kamen sie an einer Ampel zum Stehen. An einem Zaun neben Toms Fenster wurde ein Plakat sichtbar.

»Es beginnt erneut«, las er vor dem blutroten Hintergrund, und sein Körper erstarrte so jäh, als sei ein Blitz durch ihn hindurchgefahren. Dabei biss er sich auf die Zunge, und der metallische Geschmack von Blut breitete sich in seinem Mund aus. Er schloss die Augen, um sie kurz darauf wieder zu öffnen, und seine Sinne entspannten sich, als die weißen Buchstaben ihre tatsächliche Botschaft preisgaben: »Essen Sie gesund?«, fragte die übergroße Schrift auf dem Plakat. Darunter prangte das Logo einer bekannten Supermarktkette. Er spürte, wie die Angst wich und war versucht, in lautes Gelächter auszubrechen.

Ich werde wirklich langsam verrückt, dachte er. Jetzt kommen zu den Blockaden und den Angstattacken auch noch Wahnvorstellungen hinzu.

Dr. Westphal konnte ihrer beruflichen Zukunft also beruhigt entgegenblicken, denn vermutlich würden noch ihre Kinder damit beschäftigt sein, seine verdrehte Psyche wieder geradezubiegen. Tom spürte eine leichte Berührung am Knie und zuckte erneut zusammen.

»Entspann dich, Schatz«, sagte Karin. »Wir sind gleich da.«

Sie fuhren durch den Stadtkern, in dem sich an beiden Seiten Geschäfte, Eiscafés und Restaurants aneinanderreihten, bis sie nach einiger Zeit an eine Abzweigung kamen, die zum östlichen Ende der Stadt führte. Die Häuserreihen lichteten sich nach und nach und machten einer Birkenallee Platz. Hier erreichte die Steigung der Straße ihren Höhepunkt, und sie passierten das größte Hotel der Stadt, dessen prächtige weiße Fassade links von ihnen hinter üppigem Grün aufragte. Immer mehr gewann die Natur in Form von blühenden Wiesen und bewaldeten Flächen die Oberhand, und je weiter sie in diese Idylle vordrangen, desto mehr Luft schien für Toms Lunge vorhanden zu sein. Es war, als lösten sich mächtige Schraubzwingen von seinem Brustkorb und ließen ihn tiefer atmen. Jetzt hatten sie fast den höchsten Punkt der Straße erreicht, und auf der rechten Seite tat sich in der dichten Baumreihe eine etwa zehn Meter breite Lücke auf. Darin waren die durchwucherten Überreste einer schmalen Einfahrt zu sehen. Wegen des hüfthohen Dickichts war sie nur auf den zweiten Blick zu erkennen, und obwohl Tom dieser Weg noch nie sonderlich aufgefallen war, wusste er genau, wohin er führte.

»Halt an«, verlangte er aus einem plötzlichen Impuls heraus.

»Warum?« Karin trat erschrocken auf die Bremse und hielt nach etwas Ausschau, das unvermutet ihren Weg kreuzen könnte. »Was ist denn?«, fragte sie verärgert, als ihre Suche erfolglos blieb.

»Fahr einfach rechts ran.«

Sie ließ den Wagen ausrollen und kam auf einem schmalen Fußweg etwas oberhalb der Einfahrt zum Stehen. Tom starrte aus dem Beifahrerfenster. Karin musste sich zu ihm herüberbeugen, um zu erkennen, was er sah. Doch durch die umliegenden Bäume und das wild wuchernde Dickicht hindurch war nichts zu erkennen, was diesen plötzlichen Stopp gerechtfertigt hätte.

»Was wollen wir hier?«, fragte sie verwirrt.

»Das weiß ich noch nicht«, erwiderte Tom und öffnete die Wagentür.

»Du willst doch wohl nicht da hingehen.« Beklommenheit lag in ihrer Stimme, als sie begriff, was er vorhatte.

»Ich muss es einfach sehen«, sagte Tom.

»Papa, darf ich mitkommen?«, fragte Mark neugierig.

»Nein!«, antwortete er entschieden. »Ich möchte nicht, dass du jemals auch nur in die Nähe dieses Grundstücks gehst, hast du verstanden?«

»Ja«, seufzte Mark enttäuscht und ließ sich schmollend in seinen Kindersitz sinken.

»Ihr wartet hier. Ich bin gleich wieder da.«


Der rissige Asphalt der Einfahrt war voller Unkraut und Schlaglöcher, die der Frost der letzten Winter zu kleinen Kratern geformt hatte, so dass Tom auf jeden seiner Schritte achten musste. Etwa nach der Hälfte machte der Weg eine leichte Biegung und führte zwischen Haselnusssträuchern und Brombeerbüschen hindurch, wo er nach circa fünfzig Metern leichtem Gefälle an einem Tor aus Maschendraht endete. Zwei große Warnschilder prangten an dem rostigen Drahtnetz: »Betreten verboten« und »Einsturzgefahr.« Tom versuchte sich auszumalen, wie diese Warnungen wohl auf die Abenteuerlust jugendlicher Halbstarker wirkten. Ebenso gut hätte man unter eine große Klingel ein Schild mit der Aufschrift »Nicht klingeln!« anbringen können.

Das Tor wurde von einer Edelstahlkette und einem Vorhängeschloss gesichert. Beides sah im Gegensatz zum Rest neu aus. Der Torrahmen war von Rost zerfressen und der Maschendraht an der rechten Seite durchtrennt, so dass dort ein Durchgang war, sobald man den Zaun beiseite drückte. Dies verlieh der Kette und dem teuren Schloss einen ziemlich grotesken Charakter.

Tom starrte durch den Zaun auf das Grundstück. Es war zu zwei Dritteln von kniehohem Gras und Unkraut bedeckt. Leere Bierdosen und zerbrochene Flaschen waren überall verstreut. An einigen Stellen waren kleinere Feuer entfacht worden. Dies schien tatsächlich ein beliebter Treffpunkt für Jugendliche zu sein, und Tom konnte es ihnen nicht einmal verdenken. Hier waren sie ungestört. Niemand, der ihnen Vorschriften machte, außer ein paar Schildern, deren Botschaften ebenso wenig bis in ihre Köpfe vordrangen wie die Warnhinweise auf den zerknüllten Zigarettenschachteln, die überall herumlagen. Er konnte sie beinahe vor sich sehen, wie sie an den Feuerstellen saßen, vor den Mädchen angaben, Bier tranken und sich aufführten, als gehöre die Welt ihnen allein. Und sofort beneidete er sie darum, denn seine Jugend verfügte nicht über solche Erinnerungen.

Sein Blick schwenkte zu dem alten Gebäude hinüber. Der ehemals weiße Putz war vergraut und bröckelte an einigen Stellen großflächig ab. Der Eingang war mit Brettern vernagelt, und die wenigen Fenster des Erdgeschosses waren eingeschlagen und zum Teil mit Plastikplanen überzogen. Dahinter schimmerten die Räume dunkel durch die zackigen Scherbenreste. Durch die Fensteröffnungen konnte Tom die ungewöhnliche Dicke der Mauern erkennen, die gut einen Meter betrug. Erst jetzt fielen ihm die rostigen Stellen um die Fenster herum auf. Er nahm an, dass diese früher einmal vergittert gewesen waren. Dieses Gebäude sah für ihn keinesfalls wie ein Depot aus, sondern vielmehr wie eine ehemalige Anstalt. Die Fenster der oberen zwei Stockwerke schienen größtenteils intakt zu sein. Wahrscheinlich traute sich dort niemand mehr hinauf, aus Angst, die Decke könnte nachgeben. Links neben dem Haus stand ein rostiger Bauschuttcontainer, bis zum Rand mit den Resten eines Mauerdurchbruches gefüllt. Er musste bereits Jahre dort stehen, denn er war von Schlingpflanzen umwuchert, die sich bereits bis zu den Rändern hinaufgearbeitet hatten. Der Abfall darin schien jedoch frisch zu sein, als hätte erst vor kurzem jemand in dem Haus gearbeitet. Um das Gebäude herum dagegen schien alles zu verkommen. Der Rest des Zaunes, der das gesamte Grundstück umschloss, war kaum noch zu erkennen. Efeu hatte sich wie ein grüner Mantel über ihn gelegt und wucherte an manchen Stellen bereits die Hauswand empor. Es hatte fast den Anschein, als wollte die Natur sich diesen Flecken Erde mit allen Mitteln zurückerobern.

Tom konnte durch den Zaun nicht alle Bereiche des Grundstücks einsehen. Also beschloss er zu seinem eigenen Erstaunen, etwas weiter vorzudringen. Seine plötzliche Unbefangenheit beunruhigte ihn etwas, da er es nicht gewohnt war, außerhalb seiner normalen Umgebung so zielstrebig zu agieren. Doch er verspürte einen fast zwanghaften Drang, dieses Gebäude aus der Nähe zu betrachten.

Sachte drückte er gegen die Verstrebung, und der Maschendraht gab sofort nach und öffnete ihm einen bequemen Durchgang. Er bemerkte, dass die Stelle einmal notdürftig mit Bindedraht geflickt worden war. Die Schnittstellen waren frisch und wiesen keinerlei Rost auf. Jemand musste sich also erst vor kurzem Zutritt zu dem Gelände verschafft haben, und Tom hatte seine Zweifel, dass es sich dabei nur um ein paar Halbstarke gehandelt hatte, schließlich hatten die in der Regel keine Drahtscheren dabei.

Tom bückte sich und glitt problemlos durch die Öffnung. Obwohl die Polizei ihre Zelte mittlerweile abgebrochen und das Gelände wieder freigegeben hatte, verfing sich ein letzter Rest von rot-weißem Absperrband um den Knöchel seines Fußes. Er schüttelte es ab und drang behutsam auf das Gelände vor, immer darauf bedacht, nicht auf irgendwelche Scherbenreste oder sonstigen Abfall zu treten. Und je näher er dem Gebäude kam, desto stärker wurde das beklemmende Gefühl, das ihn jetzt einhüllte wie ein nasses Tuch. Mit jedem Schritt ging sein Puls eiliger, und sein Atem wurde schnell und flach.

Neben dem Haupthaus erkannte Tom jetzt inmitten von dichtem Gestrüpp einen kleinen Geräteschuppen. Die Bretter, mit denen er errichtet worden war, schimmerten in der Nachmittagssonne schmutzig grün. Moos und Schimmel hatten das Holz im Laufe der Jahre zersetzt, und die dunklen Dachbahnen waren von Wind und Wetter brüchig geworden. Alles war von Zerfall gezeichnet, was in Tom unweigerlich eine Assoziation mit Verwesung wachrief.

Sie verlassen mich wieder.

Der Druck der Schraubzwingen um seine Brust nahm wieder zu. Was suchst du hier eigentlich, fragte er sich, in der Gewissheit, dass er keine befriedigende Antwort bekommen würde. Insgeheim jedoch wusste er, was ihn hierher geführt hatte. Denn jeder Schritt, den er auf diesem Gelände tat, kam ihm vor wie ein Schritt in seine Vergangenheit. Er bildete sich sogar ein, dass dieses Gebäude eine gewisse Ähnlichkeit mit dem hatte, über dessen Zaun er als Kind geklettert war. Die braunen Rahmen der Fenster. Das steil ansteigende Dach. Die roten Dachschindeln.

Unsinn, tadelte er sich selbst. Dieses Haus war viel größer. Und massiver. Und verfallener. Und überhaupt hatte jedes verdammte Haus ein verdammtes Dach und verdammte Fenster und…

Was war das?

Tom blieb wie angewurzelt stehen. Hatte sich dort etwas bewegt? Die Muskeln seiner Beine begannen zu zittern, und an seinem Rücken bildeten sich kleine kalte Schweißinseln, die den dünnen Stoff seines T-Shirts tränkten. Er war sich ziemlich sicher, hinter einem der Fenster im oberen Stock einen Schatten gesehen zu haben. Nur für den Bruchteil einer Sekunde, doch er hatte ihn gesehen.

Das bildest du dir ein, versuchte er sich zu beruhigen. Genauso wie du dir einbildest, unheimliche Botschaften auf Werbeplakaten zu sehen. Wahrscheinlich war es nur eine Spiegelung, nichts weiter.

Dennoch verharrte sein Blick weiter auf dem Fenster, in der Hoffnung auf eine Bestätigung seiner Täuschung. Doch solange er es auch anstarrte, es blieb nur ein altes vermodertes Fenster, hinter dem nichts zu erkennen war.

Sein neu gewonnener Mut begann ebenso zu bröckeln wie die Fassade des alten Hauses. Was auch immer ihn dazu bewegt hatte, sich diesem Ort zu nähern, es war nacktem Unbehagen gewichen, das in jede Faser seines Körpers vordrang und ihn zum Auto zurückdrängte. Und trotzdem fiel es ihm schwer, sich der Anziehungskraft dieses Gebäudes zu entziehen. Seine Sinne hafteten an diesen maroden Mauern wie Metall an einem Magneten, und er konnte sich nicht erklären, weshalb. Trotz seiner stetig zunehmenden Panik dauerte es gut eine Minute, bis er endlich den Blick abwenden konnte. Gerade als er kehrt machen und zum Auto zurückgehen wollte, entdeckte er die Grube.

Sie lag etwas abseits des Hauses, inmitten von etwas, das früher einmal ein gepflegter Rasen gewesen sein musste, nun aber aus kniehohem Gras und Unkraut bestand. Nur der unmittelbare Bereich um die Grube und den Aushub herum war von beidem befreit worden. Vermutlich, um das, was hier so makaber inszeniert worden war, jedem zugänglich zu machen.

Ein kalter Schauer lief Tom den Rücken hinunter wie Tausende kleiner Spinnenfüße. Er zitterte am ganzen Leib, doch trotz der Starre, die ihn befiel, ging er weiter, wie von einer unsichtbaren Schnur gezogen. Wie im Rausch bewegte er sich auf die Stelle zu und hatte dabei das Gefühl, durch ein Zeitportal gesogen zu werden. Die Luft um ihn herum schien plötzlich dichter zu werden und verzerrte den Anblick wie bei einer Fata Morgana. Frische Fuß- und Reifenspuren, die von Polizei und Spurensicherung dort hinterlassen worden waren, glätteten sich vor seinen Augen wie von Geisterhand … und unmittelbar darauf fand er sich auf einem schmalen Kiesweg wieder, auf dem jeder seiner Schritte ein scharfes Knirschen erzeugte. Das hohe Gras fiel in sich zusammen und schrumpfte zu einem gepflegten Grün zurück. Dorniges Gestrüpp verwandelte sich in blühendes Buschwerk und farbenfrohe Stauden. Auch das Absperrband, mit dem die Grube noch immer gesichert war, wurde aus seiner Wahrnehmung gelöscht und löste sich auf. Seine Umgebung veränderte sich im Sekundentakt, bis zurück zu jenem Punkt in seiner Vergangenheit, der für ihn als Kind zum Schicksal geworden war.

Er befand sich wieder im Garten hinter dem Haus, in dessen Keller er als Junge beinahe umgekommen wäre. Alles hier war sauber und makellos. Die Rasenflächen um den verzweigten Kiesweg herum waren sorgfältig gemäht und strotzten vor sattem Grün. Kleine Nussbäume und Sträucher erhoben sich darauf, erblühten zu farbenprächtigen kleinen Inseln. In der Nähe plätscherte ein künstlicher Bach, und der Duft blühender Rosen umgab ihn. Inmitten dieses Kleingärtnertraums wirkte das dunkle Erdloch, auf das er sich zubewegte so befremdlich wie ein Fleck auf einem weißen Hemd.

Verzweifelt versuchte er, seine Beine am Weitergehen zu hindern, doch sie marschierten wie von einer fremden Macht gesteuert auf die Grube zu. Und damit unweigerlich auf das, was darin verborgen lag. Es waren Szenen, die seine Augen vor langer Zeit eingefangen hatten, und die nun im Inneren seines Kopfes abgespielt wurden wie ein altes Video. Doch dieser Film bestand nicht nur aus Bildern. Es gehörten auch Geräusche, Gerüche und Gefühle dazu. Er erlebte diese Szenen noch einmal.

Es beginnt erneut!

Eine weitere Panikwoge überspülte ihn.

Tom spürte, dass er etwas in den Händen hielt. Es fühlte sich leicht an, rund und narbig. Doch seine Wahrnehmung war zu sehr auf die zierliche Hand fixiert, die über den Rand des Erdlochs herausragte. Ihre Finger waren zu einer lockeren Faust gekrümmt und glänzten feucht, als würden sie in der Nachmittagssonne schmelzen. Etwas daran wirkte nicht vollständig. Es war, als betrachtete man eines dieser Bilderrätsel, die früher immer in Zeitschriften zu finden gewesen waren und bei denen man Original und Fälschung miteinander vergleichen musste, um auf die winzigen Abweichungen zu stoßen. Erst bei näherem Hinsehen bemerkte er das grausige Detail.

Der Hand waren die Fingernägel entfernt worden.

Herausgerissen, ging es ihm durch den Kopf.

Sein Puls ging nun so schnell, dass er das Blut in seinen Ohren rauschen hörte. Das Geräusch übertönte beinahe seine Schritte im Kies. Ein erdiger Geruch schlug ihm entgegen, während sein Blick immer weiter an dem dünnen Arm hinabglitt, je näher er ihm kam. Verkrustete Striemen waren darauf, wie von Peitschenhieben. An manchen Stellen war das Gewebe von dunklen, kraterartigen Flecken überzogen, die wie tiefe Verbrennungen aussahen. Die Haut war bläulich verfärbt und sah ledern aus, beinahe wie aus Wachs geformt. Was für ein armes Geschöpf auch immer dort lag, es musste vor seinem Tod Schreckliches durchlitten haben.

Der Rand der Grube rückte immer näher. Tom verkrampfte sich, hielt von Angst gelähmt den Atem an, in der Erwartung, noch schlimmere Verstümmelungen am Rest des Körpers zu entdecken, der jeden Moment in sein Blickfeld geraten würde … als er plötzlich eine Hand auf seiner rechten Schulter spürte.

Er schreckte herum, riss panisch die Fäuste hoch und ließ sie wild durch die Luft zucken, fest entschlossen, sich dieses Mal nicht kampflos in sein Schicksal zu ergeben.

Doch der Film hatte längst angehalten, und die Rückblende, die er gerade durchlebt hatte, war zerplatzt wie eine Seifenblase. Zu seiner großen Verwunderung starrte er in das entsetzte Gesicht von Karin, die ihn mit großen, angstvollen Augen anstarrte und die abwehrend die Hände vor den Körper hielt.

»Herrgott noch mal!«, schrie Tom völlig perplex und riss im letzten Moment die Fäuste zurück, die sonst unkontrolliert auf seine Frau eingeschlagen hätten. Sein Atem ging wie der eines gehetzten Stiers, und er hatte Mühe, die Beherrschung wiederzufinden. »Willst du mich zu Tode erschrecken, oder warum schleichst du dich so an mich heran?«, keuchte er.

Noch immer sah Karin ängstlich aus ihrer geduckten Haltung zu ihm auf. »Heranschleichen?«, wiederholte sie, und ihre Stimme gewann an Kraft. »Ich habe mehrmals laut nach dir gerufen, aber du hast nur dagestanden und Löcher in die Luft gestarrt!«

Tom sah sich um. Er stand noch immer an derselben Stelle, von der aus er die Grube entdeckt hatte, etwa zehn Meter von ihr entfernt. Alles sah wieder so aus wie vorher. Die Fußabdrücke und Reifenspuren im Boden. Das hohe Gras. Die Absperrung. Nichts davon hatte sich verändert. Zumindest nicht in jenem Teil seiner Wahrnehmung, den er als Realität bezeichnete.

Erleichtert atmete er auf. Das Ganze musste eine weitere intensive Rückkopplung seiner Erinnerung gewesen sein. Eine erneute Intrusion, wie Dr. Westphal sagen würde.

»Alles in Ordnung?« Karin betrachtete ihn argwöhnisch. »Du hast mir eine Heidenangst eingejagt.«

»Tut mir leid. Was machst du eigentlich hier?«, fragte er, noch immer ein wenig desorientiert.

»Dasselbe könnte ich dich fragen«, gab sie barsch zurück. »Hast du die Schilder nicht gesehen? Mark und ich haben zwanzig Minuten auf dich gewartet, da habe ich mir Sorgen gemacht.«

Zwanzig Minuten? Ihm war es nur wie ein Augenblick vorgekommen. »Wo ist Mark jetzt?«

»Wo soll er schon sein, er wartet immer noch im Auto.«

»Du hast ihn allein gelassen?«

Karins Blick wurde scharf. »Ich konnte ja nicht ahnen, dass du vorhast, hier einzubrechen. Was zum Teufel erhoffst du dir davon? So was wie Erlösung?«

»Ich weiß nicht.« In Gedanken versunken starrte Tom abermals auf die Grube. Plötzlich fiel sein Blick auf eine Stelle, etwa drei Meter links neben der Absperrung. Genau dort, wo das Gras wieder in dichtes Unkraut überging, lag ein runder Gegenstand. Die dunklen Rillen darauf schimmerten durch die weiße Oberfläche wie Nähte nach einer Operation.

Ein Fußball.

So sehr wie ihn dieser Anblick irritierte, dachte er angestrengt darüber nach, ob dieser Ball schon vorher dort gelegen hatte. Er hätte ihm eigentlich auffallen müssen.

»Mein Gott«, entfuhr es Karin entsetzt, als sie seinem Blick folgte und das Erdloch entdeckte. »Ist das etwa die Stelle, wo sie das tote Mädchen gefunden haben?«

»Ja«, antwortete er fast teilnahmslos.

»Gütiger Himmel, Tom.« Bestürzt legte sie die Hände an die Wangen. »Du starrst diese Stelle an, als wäre das für dich eine Art Altar. Das macht mir Angst, Tom, das ist krank.«

Tom schaute in ihre graugrünen Augen, in denen Furcht und Sorge lag. Er konnte unmöglich von ihr verlangen, zu begreifen, was in ihm vorging. Niemand konnte das, der nicht ähnlich Traumatisches erlebt hatte und nun von derselben verzweifelten Unruhe dazu getrieben wurde, dieses klaffende schwarze Loch in seinem Leben zu erforschen, das seine Vergangenheit verschluckt hatte und die Gegenwart dadurch noch immer beeinflusste. Er selbst hatte oft genug Schwierigkeiten damit, das nachzuvollziehen, was durch sein Unterbewusstsein zu ihm durchdrang und ihn zu etwas wie dem hier veranlasste. Aber ihm war auch klar, dass dies nicht ohne Grund geschah. Etwas verband ihn mit diesem Gebäude und diesem Ort. Etwas, das mächtig genug war, ihn ohne Zögern hier eindringen zu lassen. Und das, obwohl er normalerweise nicht einmal sein eigenes Haus verlassen konnte, ohne dabei in Todesstarre zu verfallen. Allerdings konnte er sich nicht erklären, worin diese seltsame Verbindung bestand. Obwohl dieses Gelände nur gut einen Kilometer Luftlinie von seinem eigenen Grundstück entfernt lag, konnte er sich nicht erinnern, schon einmal hier gewesen zu sein. Für jemanden, dessen Erinnerungsvermögen so porös war wie die Struktur eines Gasbetonsteines, musste das zwar nichts bedeuten, dennoch war er sich absolut sicher, noch nie einen Fuß auf diesen Boden gesetzt zu haben. Selbst in seiner Kindheit – an die er sich noch gut erinnern konnte und in der er oft an Wochenenden seine Großeltern hier besucht hatte – fehlte jeglicher Bezug zu diesem Ort. Und dennoch verspürte er eine tiefe Vertrautheit mit dem, was sich ihm hier erschloss … und so etwas wie Wehmut. Ein Gefühl, das er üblicherweise empfand, wenn er einen Roman vollendet hatte. Ein zwiespältiger Punkt in seinem Leben, an dem er vollkommene Zufriedenheit dabei erlebte, etwas geschaffen zu haben, gleichzeitig jedoch die drückende Pflicht verspürte, sich nun neuen Aufgaben stellen zu müssen. Ein Punkt, an dem etwas lange Vertrautes endete und zugleich etwas Neues, Unbekanntes begann.

»Tom?«, riss Karin ihn aus seinen Gedanken. Er bemerkte, dass sie ihn noch immer voller Sorge betrachtete. »Sag doch bitte etwas. Was siehst du dort?«

Einen Ball, der dort nicht sein dürfte, hätte er beinahe gesagt, doch das würde sie wohl vollkommen an seinem Verstand zweifeln lassen. »Nichts«, antwortete er stattdessen, zu erschöpft, um ihr zu erklären, was sich eben in ihm zugetragen hatte. »Lass uns hier verschwinden.«

Sie gingen zurück zum Tor, und während Tom hinter Karin durch die Maschen schlüpfte, warf er noch einen letzten Blick auf das alte Gebäude. Wäre dies ein Schauplatz in einem seiner Romane gewesen, dann wären alle Handlungsfäden hier zusammengelaufen. Und ihn durchfuhr das unheilvolle Gefühl, dass er dieses Grundstück nicht zum letzten Mal betreten hatte. Diese alten Mauern waren der Schlüssel zu etwas, das ihn aus den dunklen Tiefen seiner Vergangenheit befreien konnte. Weder hätte er erklären können, woher diese Eingebung kam, noch weshalb er sich dessen so sicher war. Er wusste es einfach.


Sie fuhren weiter die Straße entlang, die an einem Reiterhof und einer Sportanlage vorbeiführte und schließlich am Waldrand endete. Dort passierten sie eine abgelegene Gaststätte und bogen kurz darauf nach links in einen schmalen Privatweg ein, der sich durch das Dickicht des Waldes schlängelte und bis zu ihrem Grundstück führte. Es lag oberhalb eines kleinen Tals – in dessen Sohle sich ein See erstreckte, etwa so groß wie zwei Fußballfelder –, malerisch eingebettet zwischen den Bäumen eines Laubwaldes, dessen hüglige Ausläufer sich bis zum Horizont erstreckten. Das Haus darauf unterschied sich nicht wesentlich von den anderen in der Gegend, bis auf die Tatsache, dass es als Nachbarn nur Eichhörnchen, Vögel und ein paar Forellen hatte, die der ortsansässige Anglerverein in dem See ausgesetzt hatte. Tom störten die Angler nicht. Er beobachtete sie oft von seinem Garten aus, wie sie mit ihren Kombis und Campingbussen die Ufer des Sees bevölkerten. Sie gaben ihm das Gefühl, nicht völlig von der Außenwelt abgeschottet zu sein, obwohl er ihre Leidenschaft nicht teilen konnte. Zu früh, als dass er es hätte begreifen können, war er damit konfrontiert worden, dass der Tod etwas Grausames sein konnte. Etwas Unnatürliches. Deshalb beschränkte er sich darauf, nur Dinge zu essen, die man vorher nicht umbringen musste.

Der asphaltierte Weg ging in eine gepflasterte Einfahrt über, die zu einer breiten Garage führte. Früher hatte dort nur ein einfacher Carport gestanden, bevor Tom beschlossen hatte, das Haus von Grund auf renovieren zu lassen. Neben der neu angebauten Garage hatte er die alten Dachziegel durch Schieferplatten ersetzen und den vergrauten Außenmauern einen neuen Anstrich verpassen lassen, so dass sie nun wieder in leuchtendem Weiß erstrahlten. Neben der Garage führte ein schmaler Kiesweg direkt in den großen Garten, der das Haus zu zwei Dritteln umschloss und dessen Pflege neben dem Schreiben zu Toms Hauptbeschäftigung geworden war. Würde er diese Mauern nicht als sein Gefängnis betrachten, hätte er sie höchst wahrscheinlich als sein Traumhaus angesehen.

Karin lenkte den Wagen in die offene Garage.

»Erinnere mich daran, dass ich den Kerl anrufe, der uns dieses Garagentor verkauft hat«, knurrte Tom, nachdem der Wagen zum Stehen gekommen war. »Das verdammte Ding ist jetzt schon seit Tagen kaputt. Da können wir ja gleich Einladungen an sämtliche Irre in der Gegend verteilen.«

»Ach, Tom«, seufzte Karin und zog mit einem ratschenden Geräusch die Handbremse an. »Das ist einer der vielen Vorteile, wenn man hier draußen wohnt. Man muss hier nicht in einer Festung leben, um einigermaßen sicher zu sein.«

Unwillkürlich rief Tom sich die Worte des Kommissars ins Gedächtnis, was ihn daran erinnerte, dass er einen Termin mit der Sicherheitsfirma ausmachen musste, die er sich noch am gestrigen Abend aus dem Internet herausgesucht hatte. Allerdings fragte er sich ernsthaft, welchen Sinn eine Alarmanlage hätte, wenn sämtliche Türen offen standen. Karin gegenüber hatte er noch nichts von Dorns Bedenken bezüglich ihrer Sicherheit erwähnt, um sie nicht unnötig zu erschrecken. Doch wie es aussah, war diese Sorge wohl völlig unbegründet. Denn wenn er ihrer Aussage von eben Glauben schenken durfte, schien sie das Ganze nicht weiter zu beunruhigen. Was in ihm die Frage auftauchen ließ, ob ihn das beunruhigen sollte. Angesichts der Tatsache, dass quasi vor ihrer Haustür die Leiche eines kleinen Mädchens gefunden worden war, grenzte ihre Sorglosigkeit beinahe schon an Verleugnung. Möglicherweise verdrängte sie ihre Angst, um sie so nicht greifbar werden zu lassen. Eine Methode, die Tom nur allzu vertraut war. Dennoch glaubte er – nein, er war sich fast sicher –, dass sie der Angelegenheit tatsächlich nicht allzu viel Bedeutung zumaß. Für sie schien das Leben weiter in geordneten Bahnen zu verlaufen. Es hatte ihn einiges an Überredungskunst gekostet, sie davon zu überzeugen, dass es im Augenblick sicherer für Mark wäre, ihn nicht mehr in den Kindergarten zu schicken.

»Ich werde nicht zulassen, dass diese Geschichte auch noch Marks Leben beeinflusst«, hatte sie gesagt und schließlich nur unter Protest zugestimmt, unter der Bedingung, dass es nur für ein paar Tage wäre. Wie konnte sie als Mutter eine derart unmittelbare Gefahr übersehen? Mark war die empfindlichste Stelle in ihrer Familie. Der Punkt, wo sie am ehesten verwundbar wären. Warum fiel es ihr nur so schwer, das zu begreifen?

»Hilfst du mir beim Reintragen?«, fragte sie, nachdem sie den Motor abgestellt hatte.

»Natürlich.«

Er öffnete die Tür, und in dem Moment, als er ausstieg, zog ein stechender Schmerz durch sein rechtes Bein. Er blieb in gebückter Haltung stehen und hielt sich am Dach des Wagens fest. »Verdammt«, zischte er durch die Zähne und verzog schmerzhaft das Gesicht.

»Was ist?«, fragte Karin, die bereits an der Heckklappe hantierte. »Wieder das Bein?«

»Ja«, sagte Tom und rieb sich die Stelle dicht unterhalb des Knies. Ein weiteres Andenken an den Wächter. Die Ärzte hatten ihm erklärt, dass er immer wieder mit diesen Schmerzen würde rechnen müssen. Meist holten sie in ein, wenn ein Wetterumbruch bevorstand oder es extrem kalt war. Noch heute waren die dunkel verfärbten Stellen zu erkennen, wo die dünnen Stifte aus seiner Haut herausgeragt hatten wie stählerne Insektenbeine; Stifte, deren kalter Stahl die Trümmer dessen zusammen gehalten hatte, was einmal sein Schienbein gewesen war. Eine Erinnerung, auf die er keinen großen Wert legte.

»Soll ich die Sachen in den Keller tragen?«, fragte Karin.

»Nein, schon gut«, wehrte Tom ab. »Ich mach das schon. Mark, geh und hilf deiner Mutter.«

Mark gehorchte wortlos und lief an das Heck des Wagens. Natürlich suchte er sich die Tüte heraus, in der die Süßigkeiten waren, und knabberte sogleich an einem Schokoriegel herum.

»Der Rest kann in die Kühltruhe«, wies Karin ihn an und verschwand durch die graue Stahltür, die die Garage mit dem Haus verband. Mark trottete schmatzend hinterher.

»Ich fang schon mal an zu kochen!«, hallte es noch, was für Tom heißen sollte, dass er erst gar nicht auf den Gedanken kommen solle, sich noch vor dem Essen in sein Arbeitszimmer zu verkriechen. Doch diese Befürchtung war unnötig, im Augenblick machte er lieber einen großen Bogen um seinen Arbeitsbereich, um sich nicht mit seiner Schreibblockade herumschlagen zu müssen.

Blockaden. Im Moment war sein Leben so voll davon, dass sie vermutlich ausgereicht hätten, um den verdammten Mississippi zu stauen.

Er stolperte über etwas, als er zum Heck des Wagens hinkte. Um ein Haar hätte er das Gleichgewicht verloren und wäre auf dem Betonboden hingeschlagen, was seinem schmerzenden Bein sicher keine Linderung beschert hätte. Doch es gelang ihm, sich am Griff der Autotür festzuhalten.

»Verdammt«, fluchte er leise, während er den Gegenstand genauer unter die Lupe nahm. Verwundert hob er ihn auf und betrachtete ihn im hereinfallenden Tageslicht. Es war sein Spaten. Er war von einer Haut aus getrocknetem Lehm überzogen. An den Rändern bemerkte er Grasreste, die wie grüne Fasern daran klebten. Das allein wäre nicht allzu verwunderlich gewesen, schließlich benutzte er ihn für die Gartenarbeit. Doch normalerweise reinigte er ihn danach und verstaute ihn in dem kleinen Gerätehaus im Garten. Wie also war er hierher gekommen? Er schüttelte den Kopf, schenkte dem Ganzen aber keine weitere Beachtung und deponierte den Spaten an der Wand neben dem Wasserschlauch. Vermutlich hatte er ihn reinigen wollen und es dann vergessen. Er würde es später nachholen. Zuerst einmal galt es, die restlichen Lebensmittel ins Haus zu bringen.

Er griff sich den letzten verbliebenen Einkaufskorb, in dem Eiscreme, tiefgefrorene Kräuter und Gemüse lagen, und betrat durch die Stahltür einen schmalen Flur, der im hinteren Teil nach wenigen Metern auf eine Wand stieß und nach links auswich. Von dort ging er in eine geschwungene Treppe über, die den Flur mit den Kellerräumen verband. Er knipste das Licht an und stieg die hell gefliesten Stufen hinab. Auch dieser Bereich des Hauses war ausgiebig renoviert worden. Tom hatte den Keller so ausbauen lassen, dass Mark ihn später einmal als Wohnraum würde nutzen können. Gleich links neben der Treppe befand sich der Schlafbereich, der bis dahin als Gästezimmer diente. Gegenüber erstreckte sich ein großzügiges Badezimmer mit angrenzender Sauna. Tom schritt daran vorbei und ging weiter den schmalen Gang entlang, dessen Wände weiß verputzt waren. Sogar einige Bilder hatte Karin dort aufgehängt. Nichts hier deutete mehr auf die graue Zweckmäßigkeit eines Kellers hin, was Tom natürlich nicht ganz uneigennützig geplant hatte. Die Räume hier unten nahmen seinem Verstand durch ihre wohnliche Behaglichkeit den tief in ihm verankerten Schrecken eines Kellers. Es funktionierte. Er empfand hier unten keinerlei Angst mehr. Keine Dämonen aus der Vergangenheit, die ihn heimsuchten, keine Schreckensvisionen, die ihn überkamen. Vielleicht sollte ich hier unten einziehen, kam es ihm unverhofft in den Sinn, und er musste bei diesem Gedanken schmunzeln.

Jetzt betrat er den hinteren Bereich des Kellers, der früher eine Art Werkraum gewesen war. Tom konnte sich noch gut daran erinnern, wie sein Großvater ihn früher hierher mitgenommen hatte. Zusammen hatten sie hier unten Regale und Kisten gebaut. Es waren unbeschwerte Tage gewesen, in denen ein Keller für ihn nichts weiter gewesen war als ein Abstellraum. Doch die Erinnerung daran kam ihm nicht so vor, als läge sie schon viele Jahre zurück. Fast konnte er seinen Großvater noch dort stehen sehen, in seinem ausgewaschenen blauen Overall, der von Farbflecken und Kleberesten übersät war. Er vermisste ihn sehr.

Wäre ich doch nur nie über diesen verdammten Zaun geklettert, hörte er sich in Gedanken sagen und verfluchte diesen Tag ein weiteres Mal. Es war nicht nur die Angst, die er seitdem empfand. Es waren auch die vielen Erinnerungen, die ihm geraubt worden waren. Diese drei Stunden waren sein persönlicher Ground Zero, in denen die Türme seiner Hoffnung und Unbeschwertheit eingestürzt waren und eine Welt aus Angst und Paranoia zurückgelassen hatten. Eine Welt, die er verabscheute.

Noch immer hielt er den Korb mit den Lebensmitteln in den Händen, und seine Finger ballten sich um den Tragegriff, bis sie weiß und blutleer waren. Unbändiger Hass stieg schlagartig in ihm auf. Hass auf all die Dinge, die ihm als Kind angetan worden waren. Hass auf die Leere, die diese Dinge in ihm hinterlassen hatten. Das Schlimmste jedoch war, dass es niemanden gab, auf den er diesen Hass richten konnte. Kein Schuldiger, den er dafür büßen lassen konnte. Vielleicht würde es ihm eine gewisse Befriedigung verschaffen, wenn er diesen Mistkerl hinter Gittern verrotten sehen könnte. Doch der Wächter war tot. Er hatte sich jeglicher Verantwortung entzogen. Und damit auch Toms Hass auf ihn. Es gab Dinge, die konnte man nicht verzeihen. Und selbst der Tod eines Menschen reichte nicht aus, sie ungeschehen zu machen. Immer wieder hatte er in all den Jahren versucht, sich einzureden, dass er verdammtes Glück gehabt hätte. Er war am Leben, wenn auch mit Einbußen. Aber oft holten ihn Momente wie dieser ein, in denen er sich wünschte, er wäre ebenfalls in diesem Keller gestorben. Den anderen Opfern gegenüber war es sicher nicht fair, so zu denken, doch gelegentlich verfiel er dem Glauben, sie hätten mehr Glück gehabt, weil sie diese schrecklichen Erlebnisse nicht verarbeiten und damit weiterleben mussten. In der ständigen Angst, es könnte wieder geschehen. Und trotzdem wurde er von der Vorstellung getrieben, er wäre es ihnen schuldig, es wenigstens zu versuchen. Vielleicht war das Schreiben ja tatsächlich ein Ventil für ihn, durch das er ihre Geschichten erzählte, um so dem Ganzen einen Sinn zu geben. Nur in seiner Fantasie konnte er sich seine eigene Welt schaffen, eine Welt, die er kontrollieren konnte und in der nichts Unvorhergesehenes geschah.

Seine Finger entspannten sich wieder, und der Hass versiegte so schnell, wie er gekommen war. Und plötzlich wünschte er sich nur noch, dass die Ereignisse der letzten Tage, die ihn aus seiner Routine gerissen hatten, niemals stattgefunden hätten. Alles war besser, als sich selbst zu entgleiten und nicht mehr zu wissen, wer man eigentlich war. Es gab genug, wofür es sich zu kämpfen lohnte, und keine Angst dieser Welt war es wert, das alles aufs Spiel zu setzen.

Angst ist etwas ganz Natürliches, erinnerte er sich an Dr. Westphals Worte. Man kann lernen, mit ihr zu leben.

Das war immerhin besser, als sich von ihr auffressen zu lassen.

Die ehemalige Werkstatt seines Großvaters war durch eine Trennwand in zwei separate Räume unterteilt worden. Der Bereich, der später einmal als Küche dienen sollte, befand sich auf der linken Seite. Im Moment standen dort jedoch nur eine Waschmaschine und ein Trockner, der durch ein rotes Blinklicht anzeigte, dass das Programm abgelaufen war. Direkt daneben stand die Kühltruhe. Sie war der einzig verbliebene Gegenstand hier unten, der Tom Unbehagen bereitete. Als er sie betrachtete, lief ihm sogleich ein kalter Schauer über den Rücken, und den Bruchteil einer Sekunde lang glaubte er tatsächlich, einen kleinen Fuß über deren Rand ragen zu sehen. Sofort schloss er die Augen, um dieses Trugbild zu löschen.

Reiß dich zusammen, kämpf dagegen an!

Seine Knie begannen zu zittern, und er spürte, wie ihm der Schweiß aus den Poren schoss.

Es ist nicht real, es ist nur eine dunkle Erinnerung.

Langsam öffnete er wieder die Augen. Der Fuß war verschwunden. Nur das leise Summen der Kühlung drang aus der Truhe. Vorsichtig öffnete er den Deckel. Keine Leiche, kein gefrorener Körper. Nur die übliche Tiefkühlkost einer ganz normalen Familie. Und obwohl er im Grunde nichts anderes erwartet hatte, stieß er einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus.


Nachdem Tom die Lebensmittel verstaut hatte, kehrte er in die Garage zurück und stellte den leeren Korb wieder hinten in den Wagen. Als er die Heckklappe schloss, traf ihn ein Schock, so unverhofft, dass er ihn wie eine Lawine überrollte. Jäh starrte er in zwei blaue Augen, die ihn reglos betrachteten.

Ein erstickter Schrei entwich Toms Kehle, während er einige Schritte zurücktaumelte, bis er das Gleichgewicht verlor und rücklings über einen Reifenstapel stolperte. Es gelang ihm, sich an einem der Regale an der Wand festzuhalten, bevor er unsanft auf dem harten Betonboden aufschlug. Eine Dose mit Farbresten fiel von dem Regal und rollte blechern an ihm vorüber. Noch immer wie paralysiert, starrte er auf die Gestalt, die aus dem Halbdunkel der Garage trat und sich drohend über ihn beugte.

»Buh!«, sagte eine wohl vertraute Stimme, bevor sie in schallendes Gelächter überging.

Die Panik in Toms Gesicht wich augenblicklich Erleichterung, um sich gleich darauf in Wut zu verwandeln.

»Stefan, du verdammter Drecksack!«

»Sorry, Alter«, prustete Fanta, dem es sichtlich schwer fiel, seinen Lachanfall unter Kontrolle zu bringen, »aber dich zu erschrecken, ist immer wieder einen Anschiss wert.« Er schlug sich auf die Schenkel. »Du hättest dein Gesicht sehen sollen«, quietschte er und äffte ihn nach.

»Ja, wahnsinnig komisch«, knurrte Tom.

»Tut mir echt leid, Mann, aber ich konnte einfach nicht anders.« Fanta streckte die Hand aus und half ihm auf die Beine. »Ich hoffe, du hast dir nichts getan.«

»Nein«, sagte Tom und rieb sich das Bein. »Die Schmerzen hatte ich vorher schon.«

»Wieder die alte Geschichte, was?«

»Ja, die alte Geschichte«, grollte Tom. »Was machst du eigentlich hier?«

»Na ja, ich war gerade in der Nähe, und da dachte ich mir, ich schau mal vorbei. Du solltest deine Garage übrigens nicht offen lassen. So was zieht Ungeziefer an.« Er grinste verschmitzt.

Tom musterte ihn argwöhnisch. Ein schrilles Outfit war für Fanta nichts Ungewöhnliches, es gehörte quasi zu seinem Erscheinungsbild und unterstrich seinen unkonventionellen Charakter. Dennoch mussten sich Toms Augen jedes Mal erst an den Anblick gewöhnen, so wie sie sich nach längerer Dunkelheit wieder an Tageslicht gewöhnen mussten. Wie geblendet kniff er die Augen zusammen, als er Fantas grellbunte Lederjacke betrachtete, die ihn zu einer Art Designerhippie machte. Darunter trug er ein pinkfarbenes Seidenhemd und schwarze Jeans, die um die Taschen herum und entlang der Nähte mit kleinen silbernen Nieten verziert war. Seine Schuhe waren eine Mischung aus Motorradboots und Cowboystiefeln, jedoch nur halbhoch und reichlich mit Schmucknähten verziert. Tom fragte sich, woher man wohl solche Klamotten bekam. Das Verwunderliche daran war, dass Stefan darin gut aussah. Vermutlich stand sein Aufzug in Einklang mit seiner Gesinnung, die irgendwo im Bereich zwischen Che Guevara und Pippi Langstrumpf angesiedelt war.

»Nach einem Zufallsbesuch sieht das nicht aus.« Tom deutete auf das Sechserpack Bier in Fantas Hand.

»Wie sieht’s aus? Vernichten wir ein paar von den Babys hier?«

»Du kennst doch meine Ansicht dazu.«

»Sicher«, sagte Fanta, »aber solange wir Freunde sind, kannst du es mir ja wohl kaum verübeln, wenn ich alles daran setze, sie zu ändern. Und du weißt ja, ich kann sehr hartnäckig sein.«

Tom lächelte und schlug ihm auf die Schulter. »Komm mit, Karin wird sich freuen, dich zu sehen.«


Die wenigen Wolken am Himmel hatten der Sonne nichts mehr entgegenzusetzen, und der lang erwartete Sommer schien an diesem Tag endgültig Einzug zu halten. Etwas, das Tom sehr begrüßte, da ihn die Ereignisse des Vortages in einen eher trüben Gemütszustand versetzt hatten. Doch nun hellte sich seine Stimmung mehr und mehr auf, und wohltuende Entspannung machte sich in ihm breit, was nicht allein am Wetter lag. In Fantas Gegenwart hatte er dieses Gefühl sehr oft. Vielleicht lag es an der offenen, positiven Natur seines Freundes, die auf ihn abfärbte, ihn inspirierte. Oft jedoch war Tom fest davon überzeugt, dass es da noch etwas anderes gab. Etwas, das sie beide verband. Fast so, als wären sie auf irgendeiner Ebene verwandt, als wäre er ein Teil von ihm. Rein charakterlich gesehen war das natürlich unmöglich. Ebenso gut hätte man Leitungswasser mit einem tropischen Cocktail vergleichen können. Doch so unterschiedlich ihre Ansichten auch waren, sie hatten keinerlei Einfluss auf ihre Freundschaft. In ihrem Fall schienen Gegensätze sich tatsächlich anzuziehen.

Sie saßen auf der Terrasse im Garten, der einen eindrucksvollen Blick auf den angrenzenden See und die erblühende Landschaft bot, redeten über alltägliche Dinge und analysierten die neusten Fußballergebnisse. Gelegentlich gab Fanta ein paar seiner Witze zum Besten, über die Tom so spontan lachen musste, dass er sich an seinem Mineralwasser verschluckte. Eine Zeit lang gab ihm diese Ausgelassenheit das Gefühl, ein ganz normales Leben zu führen und drängte all seine Sorgen und Ängste in den Hintergrund. Fanta, der mittlerweile bei seiner dritten Flasche Bier angelangt war, lehnte sich entspannt zurück und nahm einen weiteren kräftigen Schluck.

»Langsam dämmert’s mir, warum dich alle Fanta nennen«, meinte Tom. »Du trinkst das Zeug, als wäre es Limonade.«

»Höre ich da ein wenig den Moralapostel heraus?«, fragte Fanta.

»Na ja, ich meine ja nur, wenn du dein Auto lieber stehen lassen willst … Du kannst gerne über Nacht bleiben. Das Gästezimmer wird ohnehin nie benutzt.«

»Danke für das Angebot«, winkte Fanta ab, »aber ich muss gleich wieder los. Hab im Moment reichlich zu tun.«

Tom fragte sich nicht zum ersten Mal, womit Stefan wohl so beschäftigt war. Obwohl er ihn als Freund betrachtete, wurde ihm erneut bewusst, wie wenig er eigentlich über ihn wusste. Ganz zu schweigen davon, womit er seinen Lebensunterhalt verdiente. Er hatte ihn nie danach gefragt, und der Grund dafür lag auf der Hand. Stefan ging keiner geregelten Arbeit nach, so viel war sicher. Ansonsten wäre es ihm kaum möglich gewesen, jederzeit bei ihm aufzutauchen. Mal abgesehen davon, dass eine solche Tätigkeit auch nicht zu ihm passte. Dafür war er viel zu eigenwillig. Dennoch schien er über genügend Mittel zu verfügen, um sich ein angenehmes Leben zu ermöglichen. Seine Kleidung mochte ausgefallen und sicher nicht nach jedermanns Geschmack sein, aber sie kam keineswegs von der Stange. Und auch sein Wagen gehörte nicht gerade zur untersten Klasse. Er fuhr einen roten Ford Mustang Fastback GT, Baujahr 1968, mit Chromfelgen und 270 PS, die vermutlich schon im Leerlauf mehr Sprit verbrauchten als ein Panzer bei voller Fahrt im Gelände. Bis auf die Farbe war es das gleiche Modell, das Steve McQueen in Bullitt gefahren hatte. Tom verfluchte sich jedes Mal dafür, dass er nicht Autofahren konnte, wenn er vor diesem Traum von Wagen stand, der stets den Eindruck erweckte, als käme er gerade fabrikneu vom Händler. Das alles deutete auf einen gewissen Wohlstand hin. Und auf Unabhängigkeit. Die Basis dieser Unabhängigkeit hatte Tom nie zu hinterfragen versucht. Vermutlich, weil er fürchtete, sie könnte auf einem illegalen Fundament errichtet worden sein. Stefan war sein Freund. Sein einziger, wie er unzweifelhaft zugeben musste. Und auch wenn ihm diese Freundschaft manchmal etwas absurd und unwirklich erschien, hatte er nicht die Absicht, sie durch die falschen Fragen zu zerstören. Denn sie verkörperte für ihn das, was man als soziale Stabilität bezeichnete und gab ihm das Gefühl, auf eine gewisse Weise dazuzugehören. Gerade in Momenten wie diesem wusste er das sehr zu schätzen. Wäre da nur nicht Stefans unbequeme Eigenart gewesen, ihn immer wieder auf seine Vergangenheit anzusprechen. Manchmal fand es Tom beinahe penetrant, wie sehr er daran interessiert war.

»Wie kommst du mit deinem neuen Buch voran?«, fragte Fanta, nach einigen Sekunden des Schweigens.

Tom, dessen Laune sich augenblicklich verschlechterte, seufzte verlegen. »Im Moment bin ich so ausgebrannt wie ein Heuschober nach einem Funkenflug«, gab er schließlich betreten zu.

»Passiert so etwas Schriftstellern nicht öfter?«

»Sicher gibt es Tage, an denen einem das Schreiben schwerer fällt, aber diesmal ist es anders. Irgendwie kommt es mir so vor, als … als wäre mir meine Fantasie abhanden gekommen.«

»Vielleicht ist sie im Moment bloß durch andere Dinge abgelenkt«, sagte Fanta und sah verstohlen auf die Bierflasche in seiner Hand hinunter.

»Wie kommst du denn darauf?«

»Na ja, ich meine durch Dinge, die dich zu sehr beschäftigen«, wich sein Freund aus.

Tom seufzte. »Karin hat mit dir gesprochen, stimmt’s?«

Fanta räusperte sich kurz. »Sie hat mich gestern Abend angerufen und mir erzählt, was passiert ist. Sie meinte, es würde dir sicher gut tun, wenn ich mal vorbeischaue, um dich auf andere Gedanken zu bringen.«

»Warum lassen wir das Thema dann nicht einfach aus?«

»Weil ich finde, dass es wichtig ist, darüber zu reden. Sie hat mir auch von deinen Gedächtnislücken erzählt.«

Toll, dachte Tom. Schlimm genug, dass sein einziger Freund nur auf die Bitte seiner Frau hin hier aufgekreuzt war. Nun hielt er ihn vermutlich auch noch für frühsenil, oder schlimmer noch, für verrückt.

»Tja, anscheinend tut sie in letzter Zeit so einiges, ohne vorher mit mir darüber zu reden.«

»Bist du jetzt sauer auf sie?«

Tom stellte sein Glas auf dem Tisch ab und lehnte sich in den gepolsterten Stuhl zurück. »Nein, natürlich nicht.« Er sah zu Fanta herüber, der still über seiner Flasche brütete. Beinahe hatte es den Anschein, als wäre er enttäuscht. »Ich … ich habe nur Angst, sie wegen dieser Geschichte auch noch zu verlieren, verstehst du?«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752143843
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Mai)
Schlagworte
Psychothriller Blackout Koblenz Westerwald Gedächtnislücke Horror

Autor

  • Michael Hübner (Autor:in)

Bereits in jungen Jahren hat Michael Hübner Bücher verschlungen, die eigentlich nicht für seine Altersklasse geeignet waren. Das Genre des Thrillers hat es ihm schon immer angetan. So war es nur eine Frage der Zeit, bis daraus eine Leidenschaft wurde, die ihn schließlich selbst zum Schreiben solcher Geschichten animierte. Dabei vermischt er in seinen Büchern gekonnt Fiktion mit aktuellen, brisanten Themen und erzeugt atemberaubend spannende Thriller, die den Leser nachdenklich zurücklassen.
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Titel: Stigma: Psychothriller