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Traumland

von Claire O'Donoghue (Autor:in)
211 Seiten

Zusammenfassung

Dunkelheit. Noch immer. Wie viel Zeit wohl vergangen sein mochte? Minuten … Stunden … Tage? Juliette Durand weiß es nicht. Als die junge Frau erwacht, herrscht um sie nichts als vollkommene Finsternis. Und das ist noch längst nicht alles. Mit Entsetzen stellt sie fest, dass sie sich nicht mehr bewegen kann. Juliette ist gefangen. Gefangen in ihrem eigenen Körper. Doch was ist passiert? Nach und nach kehren Juliettes Erinnerungen zurück und mit ihnen die furchtbare Gewissheit, dass sie sich in großer Gefahr befindet. Juliette bleibt daher nur eine Wahl: Sie muss kämpfen. Egal wie …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Prolog

 

Julie

 

Dunkelheit.

Wo bin ich?

Um mich herum herrschte vollkommene Finsternis, ohne jeden noch so winzigen Lichtschein. Ich war mir sicher, dahinter musste etwas sein, irgendetwas, so wie das Ende eines langen, dunklen Tunnels.

Ich konnte es spüren. Konnte es fühlen.

Auch wenn ich es nicht sehen konnte, war es dennoch da. Aber egal was ich auch tat oder wie sehr ich mich auch bemühte, ich sah nichts. Nichts außer dieser allumfassenden Dunkelheit, die gerade wie ein Brennglas meine Gefühle zu bündeln schien und sich von Sekunde zu Sekunde mehr und mehr verstärkte.

Atme.

Ich versuchte zu atmen, versuchte krampfhaft meine Lungen mit Sauerstoff zu füllen, während mich die furchterregende Schwärze weiterhin gefangen hielt und zunehmend einengte.

Mein Herz raste.

Unendlich mühsam kämpfte ich mich zurück an die Oberfläche, dabei fühlte es sich so an, als hätte ich tagelang geschlafen.

Die Dunkelheit, die mich umgab, machte mir Angst. Schreckliche Angst. Panik explodierte in mir, schnürte mir die Brust und Kehle zu. Es war, als legten sich Hände um meinen Hals. Würgten mich. Drückten zu. Fester und fester.

Nein. Das hier war nicht real.

Es war nur ein Traum.

Ja, es musste so sein. Zumindest war es in diesem Moment die einzig logische Erklärung, die ich finden konnte. Ich befand mich inmitten eines beängstigenden Albtraums und sobald ich aufwachen würde, wäre er vorbei.

Bleib ruhig.

Ich riss mich zusammen, versuchte jetzt mit aller Macht die Augen zu öffnen.

Komm schon. Du schaffst das!

Wie ein Mantra hallten die Worte wieder und wieder durch meinen Kopf. In dem verzweifelten Versuch mir selbst zu beweisen, dass sich alles bloß um einen bösen Traum handeln konnte, wollte ich nur noch eines – ich wollte aufwachen.

Und so befahl ich es mir. Ich befahl meinen Augenlidern sich zu heben.

Mit aller Macht.

Ich wollte wieder auftauchen, wollte in meinen Körper zurückkehren, der sich allerdings gerade so fremd und kalt anfühlte, als wäre er nicht mehr meiner.

Meine Instinkte meldeten sich jetzt zurück, versuchten mich aus meiner Panik zu reißen und ich sagte mir erneut: Das hier ist nicht die Wirklichkeit.

Es konnte gar nicht anders sein. Denn die ganze Situation war viel zu abgedreht, als dass sie hätte real sein können.

Mach die Augen auf! Verdammt, mach sie doch einfach auf!

Es gelang mir einfach nicht.

Der Schrecken der Erkenntnis tröpfelte nun wie zähe Masse träge in meinen Verstand. Ganz gleich wie sehr ich mich anstrengte, wie sehr ich mich auch bemühte – ich schaffte es einfach nicht.

Um mich herum blieb es Nacht.

Nein. Das konnte nicht sein. Das durfte einfach nicht sein.

Ich rang nach Luft. Brauchte Sauerstoff.

Mein Atem wurde schneller.

Schneller, schneller, schneller.

Ich wollte mich aufsetzen, doch auch meine Arme und Beine ließen sich nicht mehr bewegen. Mein Herzschlag überschlug sich beinahe, als ich es ein weiteres Mal probierte und mit Entsetzen feststellen musste, dass ich mich überhaupt nicht mehr rühren konnte.

Mein Gott, ich war gefangen. Gefangen in meinem eigenen Körper. Es kam mir vor, als hätte man mich irgendwo verscharrt, tief unter der Erde, in einem finsteren Grab und es gab kein Entkommen.

Ich erstarrte.

Was, wenn es so war? Was, wenn sie mich wirklich bei lebendigem Leib begraben hatten?

Bei dem Gedanken bekam ich kaum noch Luft. Alles in meinem Kopf begann sich zu drehen.

Und auch jetzt erst registrierte ich diese unsichtbare Kraft, die von außen auf mich einwirkte. Diesen unsagbaren Druck, der tonnenschwer auf meiner Brust, ja auf meinem ganzen Körper zulasten und mich niederzudrücken schien.

Was zur Hölle war nur mit mir los? Was stimmte mit mir nicht?

Meine Gedanken rasten, überschlugen sich jetzt förmlich.

Angst grub ihre Klauen in meine Seele, ergriff weiter von mir Besitz.

Ich schnappte erneut nach Luft.

In der aufsteigenden Panik schaffte es der Sauerstoff kaum noch, in meine Lungen zu gelangen. Wie ein Monster streckte die Angst weiter ihre Klauen nach mir aus und zog mich immer tiefer mit sich hinab, bis in das Reich der Dunkelheit. Voller Verzweiflung wollte ich den Mund öffnen, wollte laut schreien und nach Hilfe rufen, doch es gelang mir nicht. Kein einziger noch so winziger Laut kam über meine Lippen.

Stille.

Bis auf den tonlosen Schrei, der lautlos durch mein Hirn hallte.

Mein Herz schlug mir inzwischen bis zum Hals. Der schnelle Pulsschlag dröhnte in meinen Ohren, so laut, dass ich es kaum noch ertragen konnte. Ich wollte atmen, konnte aber nicht.

Das Monster blieb erbarmungslos. Voller Verzweiflung begann ich mich zu wehren, bäumte mich mit letzter Kraft gegen es auf, aber ich hatte keine Chance.

Ich konnte nicht mehr.

Und so gab ich auf.

Das Monster, es hatte gewonnen und riss mich erbarmungslos mit sich in die Tiefe.

Kapitel 1

 

Julie

 

Einige Tage zuvor

 

Die Tür flog auf. Doch das lag nicht am Wind.

Er war es.

David.

Er betrat das Büro. Wie immer sah er mich nicht an, würdigte mich keines Blickes.

Zwanzig Schritte von mir entfernt durchquerte gerade derselbe Mann den Raum, der mich noch am Abend zuvor in seinen Armen gehalten und geküsst hatte.

Ich schluckte. Meine Wangen glühten.

Gestern war gestern und heute war heute. Ich kannte das Spiel. Hatte ich mich doch vor einigen Monaten sehr bereitwillig darauf eingelassen.

Ich griff nach dem Ordner, der auf meinem Schreibtisch lag und gab vor, mich intensiv mit dem Aufbereiten der Belege zu beschäftigen. Dabei huschte mein Blick immer wieder zu ihm.

Sein Haar war frisch geschnitten.

Glatt und dunkel.

Eine einzelne Strähne fiel ihm bei einem seiner nächsten Schritte locker ins Gesicht, was ihn jedoch nicht weiter zu stören schien. Noch immer hielt er seinen Blick starr auf den Boden gerichtet, während er an meinem Schreibtisch entlang zu seinem Büro ging.

»Guten Morgen.« Meine Stimme klang rau, war nicht mehr als ein Flüstern.

Ich sehnte mich nach ihm, nach einem flüchtigen Blick, nach einem Wort, nach einem Hauch von Aufmerksamkeit. Doch David ignorierte mich. Sah mich nicht einmal an. Seine Augen blieben weiterhin fest auf den Boden gerichtet, als er ohne meinen Gruß zu erwidern, einfach an mir vorbei, in sein Büro schritt.

Sobald die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, atmete ich wieder auf. Mit dem Klicken der Tür löste sich auch die Spannung, die sein plötzliches Auftauchen bei mir verursacht hatte.

Zumindest jetzt. Für den Moment.

Solange die Tür geschlossen blieb und er mich nicht, wie schon viele Male zuvor, in sein Zimmer hinein zitierte.

Was heute jedoch äußerst unwahrscheinlich war. Denn an diesem Abend fand die alljährliche Weihnachtsfeier statt und da hatte David wohl weitaus Besseres zu tun, als mit seiner unscheinbaren Finanzbuchhalterin aus seinem Vorzimmer zu flirten.

Ich drückte meinen Rücken durch und atmete einmal tief ein und wieder aus, während ich meine Aufmerksamkeit erneut auf die Zahlen richtete, die vor mir lagen. Und so ignorierte ich auch den Schmerz und gab mir Mühe, mich so gut es ging auf meine Arbeit zu konzentrieren.

Nach einer Weile hatte sich mein Herzschlag wieder beruhigt.

Schon immer hatten Zahlen eine beruhigende Wirkung auf mich gehabt.

Mathematik war für mich kreatives Denken. Kurzum ein großes Abenteuer für den Kopf.

Bereits in meiner Schulzeit gab es für mich nichts Aufregenderes, als spannende mathematische Rätsel zu entschlüsseln, die für andere auf den ersten Blick unlösbar erschienen.

Nach Beendigung meiner kaufmännischen Ausbildung und einer erfolgreich abgeschlossenen Weiterbildung als Finanzbuchhalterin, hatte ich bereits in unterschiedlichen Firmen Praxiserfahrung sammeln können. Danach hatte ich eine Weile mal hier und mal dort gearbeitet, bis ich schließlich vor knapp zwölf Monaten das verlockende Angebot von Dr. Winter, dem Geschäftsführer und gleichzeitig auch Inhaber von W&C Immobilien erhalten und für ihn zu arbeiten begonnen hatte.

Eine riesige Chance für mich.

Denn wie man in der Branche wusste, war es eines der größten und erfolgreichsten Unternehmen Deutschlands, das bekannt dafür war, Objekte im Rahmen der Zwangsversteigerung günstig aufzukaufen, um sie anschließend aufzuwerten und dann wieder gewinnbringend zu verkaufen.

Ich wusste sofort, dass ich diese Gelegenheit beim Schopfe packen musste. Es war eine großartige Möglichkeit für mich, wertvolle Erfahrungen zu sammeln und von dem Bilanzbuchhalter der Firma, David Lange, zu lernen, indem ich ihm bei seiner täglichen Arbeit über die Schulter schauen konnte. Denn als Bilanzbuchhalter saß er nun mal an einer der strategischen Schnittstellen des Unternehmens und war somit auch im Besitz aller finanzieller Eckdaten.

Kurz gesagt, befand ich mich in einem Paradies von Zahlen und war so motiviert, dass ich neben meinem Job bei W&C Immobilien vor einigen Wochen sogar mit einem Fernlehrgang zur Bilanzbuchhalterin begonnen hatte.

Warum auch nicht? Ich war ungebunden und ehrgeizig und jederzeit bereit für neue Herausforderungen. Außerdem hatte ich noch eine Menge zu beweisen, vor allem aber mir selbst. Die neue Tätigkeit war ein Weg für mich zu lernen, wie man es richtig machte und erfolgreich ein Unternehmen führte.

Umso ärgerlicher war es da, dass ich mich auf die Affäre mit David eingelassen hatte. Er lenkte mich ab. Und ich musste mir eingestehen: Seitdem fiel es mir deutlich schwerer, mich auf meine täglichen Aufgaben zu konzentrieren und das war nicht gut. Schließlich hatte ich mir hohe Ziele gesteckt, die ich auch erreichen wollte.

Frustriert starrte ich in den Bildschirm meines Computers und nippte an meinem Milchkaffee, der inzwischen kalt geworden war. Ich rümpfte die Nase und schob ihn beiseite, ehe ich weiter auf die Zahlen vor mir starrte.

Als ich das nächste Mal aufblickte, stellte ich fest, dass es schon fast achtzehn Uhr war. Ich war so in meine Arbeit vertieft gewesen, dass ich völlig die Zeit aus dem Blick verloren hatte.

Irgendetwas stimmte nicht.

Aus reiner Neugier hatte ich einen Blick in die Gewinn- und Verlustrechnung des Unternehmens geworfen. Die Erträge waren sehr gering, was mich sofort stutzig machte. Nun nahm ich mir auch die Bilanz vor und stellte tatsächlich fest, dass die Einnahmen viel zu niedrig waren und somit die Höhe der ausgeworfenen Rendite nicht richtig sein konnte.

Normalerweise sollte durch das Unternehmen ein operativer Gewinn erwirtschaftet werden. Doch momentan sah es so aus, als ob die Firma nur noch von den Einlagen neuer Gesellschafter lebte. Bei dem Gedanken, dass man hier bewusst Menschen um ihr Geld gebracht und über den Tisch gezogen hatte, wurde mir ganz anders zumute.

Das war Betrug.

Die Ausdrucke noch immer in der Hand starrte ich auf Davids Tür. Seine Tür starrte zurück.

Ich schluckte trocken.

Das soeben Entdeckte beunruhigte mich. Nein, dies stimmte so nicht. Viel mehr beunruhigte mich der Gedanke, dass David als Bilanzbuchhalter doch eigentlich davon Kenntnis haben musste.

Ich stand auf, strich mit einer Hand meinen Rock glatt, mit der anderen griff ich nach den Papieren, die auf meinem Schreibtisch lagen.

»Wo willst du hin?« Emmas Stimme riss mich aus meinen Gedanken.

»Zu Herrn Lange«, stammelte ich, »ich wollte ihm noch die Unterlagen bringen, die noch unterschrieben werden müssen«, log ich.

Sie schüttelte energisch ihren blonden Bob und packte meinen Arm. »Vergiss es! Morgen ist schließlich auch noch ein Tag.«

»Aber ich wollte doch nur …«, protestierte ich und versuchte mich dabei aus ihrem Griff zu winden. Doch Emma ließ wie immer kein Widerspruch zu. Sie war erst seit kurzem am Empfang und eine der wenigen Kolleginnen, mit der ich auch privaten Kontakt pflegte. Wir befanden uns ungefähr im gleichen Alter. Sie war so anders als ich, so quirlig und lebensfroh, aber gerade das war es, was ich so an ihr mochte. Sogar ihr Kleiderstil war genauso ausgefallen und lässig wie sie selbst.

»Nichts da! Für heute hast du genug getan. Mein Gott, in der Schule warst du bestimmt einer dieser Oberstreberinnen, stimmt`s?«

»Was?« Abrupt blieb ich stehen. Ich hasste das Wort Streber. Und ja, ich war in der Schule immer sehr fleißig gewesen und habe motiviert mitgearbeitet. Ich fand da nichts Verwerfliches daran. Ich hatte heute wirklich keinen Nerv auf solche Diskussionen. Das, was ich eben entdeckt hatte, war mehr als beunruhigend.

»Komm, du hast den ganzen Tag wie eine Irre durchgearbeitet. Wir werden jetzt erstmal eine Tasse Kaffee zusammen trinken und dann machen wir uns frisch für die Feier.« Emma griff nach meinem Arm und bugsierte mich in Richtung Kaffeeküche. Ein heller, freundlicher Raum, in dem wir uns in unserer Pause gerne aufhielten.

Müde rieb ich mir über die Augen. Vielleicht sollte ich erst einmal eine Nacht darüber schlafen und morgen mit David reden, überlegte ich. Bestimmt gab es eine einfache, logische Erklärung für alles. Und so folgte ich Emma wortlos zum Kaffeeautomaten und gönnte mir einen Café au Lait. Mit der Tasse in der Hand ging ich zu der großen Glasfront und blickte hinaus auf die Lichter der Stadt. Es war Ende November. In ein paar Wochen wäre schon Weihnachten. Ich schaute traurig in den Himmel. Das erste Weihnachten, das ich ohne papa verbringen würde.

»Sag mal, was zur Hölle hast du da überhaupt an?«, unterbrach Emma meine Gedanken, während sie mich kritisch von der Seite betrachtete und dabei geräuschvoll an ihrer Tasse nippte.

Ich blickte an meinem dunklen Business-Outfit hinab und strich mit der Hand über den feinen Stoff. »Wieso? Was stimmt damit denn nicht?«

Ich mochte den Look. David hatte mir das Kostüm bei unserer letzten Shoppingtour ausgesucht und geschenkt.

»Herzchen, das fragst du mich jetzt nicht im Ernst?«

»Doch?« Trotzig sah ich Emma an.

Ihre Mundwinkel zuckten.

»Meine Güte, Juliette Durand. Manchmal kann ich nicht glauben, dass tatsächlich französisches Blut durch deine Adern fließen soll. Du siehst inzwischen schon genauso versnobt wie unsere ach so tolle Miss Stock im Arsch aus.«

»Emma«, zischte ich warnend und blickte mich um, in der Angst, dass uns jemand gehört haben könnte, »du sollst sie doch nicht so nennen.«

Miss Stock im Arsch war die Bezeichnung für Chiara Winter, die Tochter des Chefs und zukünftige Firmenerbin.

»Wieso? Ist doch wahr«, säuselte sie, wobei sie Chiaras Stimme imitierte und sich in einer theatralischen Geste eine Strähne aus dem Gesicht strich. Sie zuckte zusammen. Mit Sicherheit hatte sie gerade bemerkt, dass sie damit ihre Frisur ruiniert hatte, was sie jedoch wie so vieles andere auch nicht wirklich aus dem Konzept brachte.

Schließlich fingen wir beide gleichzeitig an zu lachen.

»So und jetzt komm. Wir haben schon genug wertvolle Zeit vertrödelt. Jetzt werden wir dich erstmal für die Feier aufhübschen.«

»Bitte nicht«, jammerte ich, aber ich merkte schnell, dass bei Emma Widerstand zwecklos war.

»Oh, doch!« Emma sah jetzt noch entschlossener aus als zuvor. Sie nahm mir die inzwischen leere Tasse aus der Hand und stellte sie zur Seite, bevor sie meinen Arm packte und mich zur Tür hinaus zu den Aufzügen schob. Gemeinsam betraten wir die Kabine, die im Inneren verspiegelt war. Ein Blick auf mein Spiegelbild zeigte mir, wie unnatürlich blass ich gerade war. Kein Wunder. Ich hasste Fahrstühle, die so eng wie eine Sardinenbüchse waren. Schon seit meiner Kindheit, als ich beim Spielen in eine Grube hineingefallen war, litt ich an Platzangst. Und das hatte sich bis heute nicht geändert.

In engen Räumen bekam ich kaum noch Luft. So wie jetzt.

Ein leichter Schweißfilm bildete sich bereits oberhalb meiner Lippe, während die Kabine wackelte und nach unten surrte. Emma schien von meinem Unbehagen kaum etwas mitzubekommen. Sie plauderte weiter munter darauf los, doch ihre Stimme rückte in weite Ferne. Alles, was ich in diesem Moment tun konnte, war auf die roten Zahlen zu starren, die langsam nach unten kletterten.

Viel zu langsam. Mein Herzschlag verdoppelte sich.

Im Erdgeschoss angekommen, öffnete sich mit einem lauten Ping die Tür. Endlich.

Ich richtete ein Stoßgebet gen Himmel und atmete tief durch, ehe ich auf wackeligen Knien, dicht gefolgt von Emma, aus dem Aufzug stieg.

 

 

Nach einer gefühlten Ewigkeit, die wir in Emmas Wohnung zugebracht hatten, schafften wir es dann noch gerade rechtzeitig zur alljährlichen Weihnachtsfeier zu kommen.

Als wir den festlich geschmückten Saal betraten, wünschte ich, ich würde mich nicht dabei ertappen, alle paar Minuten auf die Uhr zu sehen und nach ihm Ausschau zu halten.

Ich wusste nicht, wann ich mich zum letzten Mal so unwohl gefühlt hatte. So vollkommen fehl am Platz.

Die vielen Menschen. Mein ungewohntes Outfit.

Mit feuchten Händen strich ich über den zarten Stoff des Kleides, das Emma ganz hinten aus ihrem Kleiderschrank hervorgezaubert hatte. Gefühlt hundert Augenpaare starrten mich an.

Emmas Lockenstab hatte mit meinen Haaren ein wahres Wunder vollbracht. Meine ansonsten so streng nach hinten frisierte lange Mähne war nun dunklen vollen Locken gewichen, die weit über meine nackten Schultern fielen. Das raffiniert geschnittene rote Kleid und die ungewohnte Frisur zogen ihre Blicke auf sich. Doch das alles spielte keine Rolle, solange er nicht hier war.

»Julie, jetzt hör endlich auf so rumzuzappeln«, wisperte mir meine Freundin belustigt über mein unsicheres Verhalten ins Ohr. »Du siehst rattenscharf aus. Wirklich.«

Sie lachte.

»Jetzt guck doch nicht so. Misch dich einfach unter die Leute und hab Spaß – so wie ich«, rief sie mir zu und warf mir augenzwinkernd ein Lächeln zu, bevor sie sich umdrehte und auf Mike, einen unserer gutaussehenden Makler zusteuerte.

Der Saal war riesig und die Außenwände sehr stilvoll aus raumhohem Glas, sodass man sich vorkam, als wäre man im Freien.

Mein Herz klopfte inzwischen bis zum Hals, während ich abermals den Raum nach ihm abscannte.

Dann war er plötzlich da und stand in der Tür.

David hatte sich ebenfalls umgezogen.

Dunkler Anzug. Weißes Hemd.

Ich konnte nicht atmen und starrte ihn an. Die Betriebsfeier war weder der richtige Ort noch der passende Zeitpunkt dafür, aber ich musste mit ihm reden. Nur ganz kurz.

David schritt durch den Raum, begrüßte hier und da ein paar Leute. In unmittelbarer Nähe von mir blieb er stehen. Die Gelegenheit war günstig. Ich trat einen Schritt auf ihn zu.

»David?« Er drehte sich um. Seine Augen wurden groß, als sein Blick über mein Haar hinab bis zu meinen Brüsten streifte.

»Julie?« Eine kaum zu entschlüsselnde Gefühlsregung huschte über sein Gesicht. Seine Stimme klang rau und tief, während sich seine Augen an meinen roten Lippen festsaugten.

Für einen Moment rückte alles in weite Ferne. Emma. Die Kollegen. Selbst die Rede von Dr. Winter interessierte mich nicht.

Ich beugte mich leicht zu ihm vor. »Können wir uns nachher kurz sehen?«

Sein Blick durchbohrte mich jetzt. Ich erstarrte. Sogar mein Herzschlag schien einen Moment lang zu stocken, ja sogar ganz auszusetzen. Nur seine eisblauen Augen bewegten sich, während er mich noch einmal ganz genüsslich von Kopf bis Fuß musterte. Quälend genau, als würde er mich zum ersten Mal richtig sehen. Unsere Blicke trafen sich, verhakten sich ineinander.

Ein Kellner blieb direkt vor uns stehen, hielt uns ein Tablett mit Champagnergläsern entgegen und durchbrach damit den Bann. Ich lehnte dankend ab. David ergriff eines der Gläser, trank einen Schluck und schwieg.

Ein süffisantes Grinsen erschien auf seinem Gesicht, während seine Augen mich weiter fixierten. Dabei sah er unfassbar gut aus. Leider.

Ich blinzelte und versuchte mich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren.

»Ich habe eben zufällig einen Blick in die Gewinn- und Verlustrechnung geworfen.« Ich räusperte mich und verlagerte mein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. »Mit ihr stimmt etwas nicht. Es … es gibt Unregelmäßigkeiten …«

Das Glas in seiner Hand verharrte auf dem Weg zu seinen Lippen. Er sog die Wangen ein. Seine Kiefer spannten sich an.

»Unregelmäßigkeiten?« Sein Blick ging hinüber zur Bühne.

»Ja«, wisperte ich. »Um ehrlich zu sein, mache ich mir Sorgen, David. Wenn du in Schwierigkeiten bist, dann …«

»Nicht jetzt«, schnitt er mir das Wort ab.

Ich öffnete den Mund.

«Juliette! Wir reden später.«

Später? Wann später? Doch ehe ich nachfragen konnte, wurde ich durch Dr. Winters dröhnende Stimme unterbrochen.

»David? Wo steckst du, mein Junge?«

Plötzlich waren alle Augenpaare auf uns gerichtet. David hob seine Hand und zwang sich zu einem Lächeln.

»Ah, da bist du ja!« Dr. Winters Miene erhellte sich. »Wie Sie wissen, ist David Lange seit einigen Jahren ein unentbehrlicher Mitarbeiter in unserem Unternehmen, auf den ich große Stücke setze. Umso mehr freut es mich, dass ich soeben von meiner bezaubernden Tochter Chiara erfahren habe, dass sie und David jetzt auch privat zueinandergefunden und sich in aller Stille verlobt haben.«

Verlobt! Verlobt?

Der Fußboden unter mir war aus Granit. Mit beiden Beinen stand ich fest auf dem harten Stein, dennoch fühlte es sich so an, als würde mir geradewegs der Boden unter den Füßen weggerissen und ich befände mich im freien Fall. Ich hörte das Blut in meinen Ohren rauschen und bemühte mich krampfhaft zu begreifen, was ich da hörte. Aber ich konnte nicht. Die Worte, sie taten weh und ich wünschte, ich hätte mich verhört und alles wäre bloß ein böser Traum, aus dem ich jeden Moment aufwachen würde.

Doch ich tat es nicht. Es war real.

David drehte sich zu mir um. Unsere Blicke trafen sich, verschmolzen miteinander, bevor er mir sein Glas in die Hand drückte und ging.

Ohne ein Wort. Einfach so.

Ein Stich. Mitten in mein Herz.

Für einen Moment hörte meine Welt auf, sich zu drehen.

David und Chiara waren ein Paar? Seit wann?

Ich schwankte.

»Julie? Alles in Ordnung?« Sofort war Emma an meiner Seite. »Du wirkst auf einmal so blass. Geht es dir gut?«

»Nein … ja, mir geht es gut. Es liegt wohl am Champagner«, entgegnete ich leise. »Bestimmt ist mir der Alkohol nur etwas zu Kopf gestiegen. Das ist auch schon alles.« Ich schenkte ihr ein falsches Lächeln, das sie jedoch sofort durchschaute.

»Okaaay? Wenn du meinst.«

Mein Blick glitt zur Bühne. David erklomm die letzte Stufe des Podests. Sein Arm legte sich zärtlich um Chiaras Taille, während er sich vorbeugte, um ihr einen Kuss auf die Lippen zu hauchen.

Vor den Augen ihres Vaters. Vor den Augen der Mitarbeiter. Vor mir.

Applaus setzte ein. Das Paar wurde von den umstehenden Mitarbeitern gefeiert.

Und auch ich musste mir neidvoll eingestehen: Die beiden passten perfekt zusammen.

Mir wurde schlecht.

»Entschuldige, ich muss mal kurz raus.« Ich presste mir die Hand vor den Mund, während ich mich mit wild klopfendem Herzen an Emma und Mike vorbei nach draußen zwängte.

 

Kapitel 2

 

Julie

 

Gegenwart

 

Dunkelheit. Noch immer.

Minuten. Stunden. Tage.

Wie viel Zeit wohl vergangen sein mochte? Spielte das jetzt überhaupt noch eine Rolle?

Nein, vermutlich nicht.

Tod.

Ich musste tot sein.

Zumindest war das mein erster Gedanke.

Aber fühlte sich so der Tod an? Ich wusste es nicht.

Das Einzige, was ich mit Sicherheit sagen konnte, war: An meinem Zustand, dass ich mich nicht bewegen konnte, hatte sich nichts geändert.

Nichts. Überhaupt nichts.

Mein Herz raste und hämmerte wild gegen meine Brust, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Dabei gab ich mir wirklich Mühe, ruhig zu bleiben, mich nicht weiter in meine Angst hineinzusteigern.

Im Grunde war ich doch ein rationaler Mensch. Man könnte auch sagen ein Kopfmensch. Das war ich schon immer gewesen, wenngleich ich lieber ein Bauchmensch gewesen wäre. Doch nun war ich froh darüber, dass ich mich nicht, wie viele andere, von meinen Emotionen hinreißen ließ und stattdessen lieber meinen Kopf einschaltete. Aber das war gar nicht so einfach.

Nicht jetzt. Nicht so. Nicht in dieser Situation.

Unter Aufbringung meiner letzten Kraftreserven riss ich mich zusammen und bemühte mich, nicht komplett durchzudrehen. Ich atmete ein paar Mal tief durch und versuchte dabei, meine wirren Gedanken zu ordnen.

Nun, das Gute daran war: Ich schien bei Bewusstsein. Und doch verstand ich noch immer nicht, was mit mir passierte. Oder wo ich mich befand. Aber egal wo dieser Ort auch sein mochte, eines war mir inzwischen klar: Ich war nicht allein.

Jemand war bei mir.

Hier. Ganz in meiner Nähe.

Ich hörte ihn atmen. Mal schnell, mal langsam.

Diese Tatsache sollte mich wohl eher erschrecken. Doch auf seltsame Weise beruhigte sie mich. Ja, so verrückt es auch klang: Im Augenblick war ich einfach nur froh, nicht ganz allein an diesem dunklen Ort sein zu müssen.

Der Umstand, noch immer keinerlei Gewalt über meinen Körper zu haben, bereitete mir hingegen weitaus größeres Kopfzerbrechen. Ich spürte meine Arme und Beine nicht, konnte mich weder bewegen noch konnte ich meine Augen öffnen.

Meine Kehle war rau, fast schon staubtrocken und mein Kopf pulsierte vor Schmerz, sodass es mir schwerfiel, überhaupt irgendeinen klaren Gedanken fassen zu können.

Mühsam und mit purer Willenskraft kämpfte ich mich weiter aus der Benommenheit zurück.

Das Atmen fiel mir immer noch schwer. Ein unsäglicher Druck lastete auf meinem Brustkorb, auf meinem gesamten Körper. Es war, als müsste ich mich ungeheuer anstrengen, müsste um jeden einzelnen meiner Atemzüge ringen.

Wenn ich also all die Fakten berücksichtigte und logisch darüber nachdachte, kam ich letztlich zu dem Entschluss, dass ich nicht tot war.

Ich lebte.

Es musste so sein. Denn wäre ich tot, könnte ich schließlich nicht atmen. Und nicht nur das. Abgesehen von diesem schrecklichen Druck, der noch immer meinen Brustkorb erfüllte und dem Umstand, dass ich mich weder bewegen, noch sehen oder sprechen konnte, fühlte ich mich erstaunlich gut.

Wäre da bloß nicht diese allumfassende Schwärze, die inzwischen mehr als verstörend auf mich wirkte. Denn mit ihr stieg auch das Unbehagen und die Angst.

Plötzlich erinnerte ich mich daran, was einer meiner Professoren einmal zu mir gesagt hatte.

»Um deine Ängste überwinden zu können, wirst du dich mit ihnen konfrontieren müssen.«

Ja, verdammt. Er hatte recht.

Und so fragte ich mich selbst: War die Dunkelheit wirklich so bedrohlich, wie ich zu glauben schien?

In den westlichen Kulturen wurde sie oft mit etwas Gefährlichem, etwas Teuflischem oder gar Zerstörerischem verbunden. Aber was, wenn ich die Dunkelheit einfach nur als eine andere Seite des Lebens sah? Eine Seite, durch die ich mich endlich wieder bewusst wahrnehmen konnte – ohne meinen Körper. Eine Präsenz, die über meinen Körper hinausging und nicht mehr an physische Grenzen gebunden war und mit deren Hilfe ich schließlich wieder zurück zu meinem Ursprung des Seins gelangen konnte?

So wie ein Fötus.

Im Dunkeln. Der im Mutterleib in Sicherheit und beschützt war.

Eine geradezu tröstliche Vorstellung, wie ich in diesem Moment empfand. Und so lenkte ich meine Gedanken weiter auf meine Mutter, stellte mir vor, wie sie ihre Hand auf ihren gewölbten Bauch legte und mir liebevolle Worte zuflüsterte.

Die Vorstellung rettete mich.

Allmählich merkte ich, wie die Angst sich auflöste und sich auch mein Herzschlag wieder beruhigte. Ich tröstete mich mit der Vorstellung, dass alles wieder gut werden würde, und versuchte mich weiterhin darauf zu konzentrieren, einfach nur gleichmäßig ein- und wieder auszuatmen.

Ganz langsam. Ein und wieder aus. Ein und wieder aus.

Nach und nach entspannten sich jetzt auch meine verkrampften Muskeln. Von Sekunde zu Sekunde wurde ich ruhiger und ab da fühlte ich nur noch eine angenehme Schwere, die mich niederdrückte. Ich kämpfte auch nicht mehr weiter gegen die Müdigkeit an, ließ ganz los und glitt erneut in die Finsternis.

 

Die Zeit verging.

Schlafen und Wachsein verklebten zu einem zeitlosen Dämmerzustand, während ich immer wieder in das Land der Träume abdriftete, das mit seinen schrillen Farben einem Drogenrausch ähnelte.

Zumindest stellte ich es mir so vor.

Immer wieder durchlebte ich den gleichen Traum.

Ich sah eine Gestalt. Ihr Haar und ihr Gesicht halb von einer dunklen Kapuze verdeckt. Der Hauch eines Lächelns umspielte ihre Lippen, als sie ihre Hand nach mir ausstreckte und mir damit zu verstehen gab, dass ich mit ihr kommen sollte. Ich spürte, dass ich ihr misstraute. Mein Herz pochte. Ich zögerte kurz. Schließlich griff ich doch nach ihren langen, dünnen Fingern. Ihre Haut fühlte sich unnatürlich kalt an. Mit einem unguten Gefühl folgte ich ihr auf verschlungenen Wegen. Immer tiefer gingen wir in den Wald. Ich sah nichts. Es war stockdunkel.

Plötzlich näherten wir uns einer Lichtung. Ein ungewöhnlich geformter Stein ragte aus der Erde, erweckte meine Aufmerksamkeit. Nur wenige Meter davon entfernt wurden wild umherstehende Grabsteine sichtbar.

Ich trug ein weißes Hemdchen. Meine Beine und Füße waren nackt.

Schmutziger Schnee bedeckte die Gräber. Mir war kalt, sodass mein Atem kleine Wolken bildete, während ich der Gestalt weiter zwischen den Grabsteinen hindurch in die Dunkelheit folgte. Kurz darauf blieb sie stehen. Vor mir klaffte eine frisch ausgehobene Grube. Ich sah hinunter auf den offenstehenden, dunklen Holzsarg. Und aus irgendeinem Grund wusste ich, dass es mein Sarg war, dass ich darin liegen sollte.

Ich schnappte nach Luft. Unwillkürlich stolperte ich einige Schritte zurück, doch ehe ich mich versah, packte mich bereits die Gestalt am Arm, zerrte an mir, mit der Absicht, mich in die Grube zu stoßen. Nein. Ich begann mich zu wehren. Ich wollte nicht sterben. Meine nackten Füße rutschten auf dem feuchten, lehmigen Untergrund. Kleine Steinchen lösten sich am Rand der Grube und rieselten nieder auf den Sarg. Ich hörte das Geräusch, die Steine, die auf das Holz trafen. Ein letzter Stoß. Dann verlor ich den Halt und fiel.

Stimmen.

Mein Herz raste.

Ich brauchte einen Moment, um mich zu orientieren und um zu verstehen, dass es nicht mein eigener Schrei gewesen war, der mich aus dem Schlaf gerissen hatte. Nein, etwas anderes hatte mich geweckt. Da. Schon wieder. Diesmal ein Kichern, ein leises Lachen, aber ich wusste nicht, woher es kam.

Mein Gott, es gab noch andere. Konnte das wirklich sein?

Aufregung ergriff von mir Besitz. Mein Pulsschlag beschleunigte sich. Inzwischen ging er so heftig, dass jeder einzelne Schlag lautstark in meinen Ohren dröhnte.

Spätestens jetzt war ich mir sicher: Ich befand mich nicht auf einem völlig außer Kontrolle geratenem Drogentrip.

Das hier war real und passierte wirklich. Ich hatte es mir weder eingebildet noch hatte ich es geträumt. Ich befand mich an einem dunklen, mir unbekannten Ort. Ich lebte und es gab noch andere. Andere, außer mir und dieser Person, wer auch immer sie sein mochte, die neben mir atmete und schnaubte.

Ein Lichtblick.

Keine Ahnung, woher ich plötzlich die Kraft nahm, aber ich begann mich weiter durch die dichte, graue Nebelwand zu kämpfen, die nach wie vor meine Sinne zu dämpfen schien.

Und so drangen jetzt, trotz meiner verschwommenen Wahrnehmung, immer mehr Laute zur mir hindurch. Ich musste mich regelrecht dazu zwingen, ruhig zu bleiben, meine Sinne zu schärfen und mich noch mehr auf die Geräusche um mich herum zu konzentrieren.

Und wirklich. Es bestand keinerlei Zweifel mehr. Wenn ich mich anstrengte, konnte ich sie hören.

Ruhige Stimmen. Leichte Schritte.

Wortfetzen, die allerdings ohne Sinn und Bedeutung für mich waren und wie große Gesteinsbrocken aus dem Nichts auf mich zuflogen. Ich wollte verstehen, was sie sagten, was sie redeten, aber vor allem wollte ich mich bemerkbar machen und nach Hilfe rufen. Denn aus einem mir immer noch unbegreiflichen Grund, schien mich weiterhin niemand wahrzunehmen, geschweige denn zu beachten.

Sie mussten mich doch sehen. Sie mussten doch wissen, dass ich hier war. Hier. Direkt vor ihnen. Ganz in ihrer Nähe.

Die Stimmen entfernten sich wieder.

Was? Nein! Bleibt hier!

Wo gingen sie denn hin? Worauf zur Hölle warteten sie denn?

Der Gedanke, dass sie wieder gingen und mich hier allein zurückließen, ließ mich beinahe durchdrehen. Mein Pulsschlag nahm, wenn überhaupt möglich, noch mehr zu. Inzwischen hämmerte und pochte mein Herz so wild gegen meinen Brustkorb, dass ich das Gefühl hatte, er könnte jeden Augenblick zerspringen. Ich wollte den Mund öffnen. Wollte einen Ton, wenigstens einen einzigen Laut von mir geben.

Ich konnte nicht.

Verdammt, nochmal. Warum konnte ich es nicht?

Am liebsten hätte ich meine Hände zu Fäusten geballt und meine ganze angestaute Wut und Frustration laut herausgeschrien. Aber selbst das blieb mir verwehrt.

Ich verstand es nicht. Ich verstand es wirklich nicht. Das alles überstieg meine Vorstellungskraft. Warum um alles in der Welt half mir denn niemand?

Auf einmal war sie wieder da. Diese abgrundtiefe Angst. Wie immer war sie eiskalt und flutete meinen Körper wie flüssiges Gift.

Das Atmen neben mir wurde lauter, wurde schneller. Ich brauchte Luft. Abermals kämpfte ich gegen diesen unsagbaren Druck in meiner Brust an. Ich wollte atmen.

Atme, atme.

Zu wenig Luft.

Alles in mir verkrampfte sich, bis zur totalen körperlichen Erschöpfung. Schließlich gab ich auf. Und auf einmal war mir alles egal. Ich wollte nur noch wegdriften. Alles war besser als wach zu sein und mich der schrecklichen Realität zu stellen. Ich wollte nicht mehr und ließ mich einfach wieder in die Dunkelheit des Vergessens hinabgleiten.

 

Als ich das nächste Mal aufwachte, war es wieder ganz still. Bis auf das vertraute Schnauben neben mir, an das ich mich bereits gewöhnt hatte und ich inzwischen mehr als tröstlich empfand. Schließlich zeigte es mir doch, dass ich nicht ganz allein war, dass ich noch lebte und existierte.

Ich konzentrierte mich darauf, ruhig weiterzuatmen, wobei es mir schwerfiel, nicht ständig an die Stimmen zu denken, die ich gehört hatte. Es dauerte eine Weile bis ich meine Gefühle und die Enttäuschung darüber, dass sie mich einfach so ignoriert hatten, soweit unter Kontrolle hatte, dass mein Verstand wieder normal funktionierte. Ich wusste nicht, wie lange ich gebraucht hatte, um mich zu beruhigen. Ob es nun zwei Minuten oder zwei Stunden waren, ich hatte keine Ahnung.

Durch die anhaltende Dunkelheit hatte ich inzwischen jegliches Gefühl für Raum und Zeit verloren. Allmählich befürchtete ich sogar, ich würde verrückt werden oder gar dem Wahnsinn verfallen.

Aber bevor es so weit war, musste ich so schnell wie möglich herausfinden, was mit mir los war und vor allem musste ich mich erinnern – mich daran erinnern, wer ich war und weshalb ich überhaupt hier war.

Ich bemühte mich, durch diesen Nebel in meinem Kopf einen klaren Gedanken zu fassen. Und nach einer Weile schien es mir tatsächlich zu gelingen. Zuerst waren es nur kleine Bruchstücke, an die ich mich zurückerinnern konnte, doch dann wurden es immer mehr und mehr.

Mein Name war Juliette Durand.

Die Freude darüber, dass ich meinen eigenen Namen wieder wusste, war in diesem Augenblick so groß, dass ich am liebsten jemanden umarmt und sie laut herausgeschrien hätte.

Und das war noch lange nicht alles, an das ich mich erinnern konnte. Meine Freunde nannten mich Julie. Ich war Mitte zwanzig und aufgewachsen war ich in Toulouse. Besser bekannt als La Ville Rose, wie die Stadt angesichts ihrer rot schimmernden Ziegel nicht nur von den Einheimischen dort genannt wurde. In der Stadt der Farben hatte ich die ersten dreizehn Jahre meines Lebens verbracht. Es war eine schöne und unbeschwerte Zeit gewesen, an die ich mich auch heute noch gerne zurückerinnerte.

Maman war Lehrerin für Mathematik und Philosophie gewesen, papa Ingenieur. Nach dem papa ein lukratives Angebot von einem deutschen Unternehmen bekommen hatte, brachen wir die Zelte in der südfranzösischen Stadt ab und zogen nach Deutschland. Eine Weile lebten wir dort glücklich in einem schönen Reihenhäuschen am Rande der Stadt, bis maman plötzlich krank wurde. Vor über fünf Jahren war bei ihr ein Tumor im Gehirn diagnostiziert worden. Ich erinnerte mich noch ganz genau an den Tag, der meine Welt aus den Angeln hob.

»Ich habe Krebs.« Sie hatte es so leichthin gesagt, als würde sie mir mitteilen, dass sie sich gerade den Fuß verstaucht oder den Arm gebrochen hätte. Aber so war es nicht. Die Hoffnungslosigkeit in ihrer Stimme war dabei nicht zu überhören gewesen. Natürlich hatte ich damals gewusst, dass es schlimm war. Schlimmer, als sie es sich selbst eingestehen wollte. In dieser Zeit war ich nur noch traurig gewesen und hatte viel geweint. Ich dachte daran, wie sie abends oft an meinem Bett gesessen, mir beruhigend mit den Fingern durch mein Haar gekämmt und mir versprochen hatte, dass alles wieder gut werden würde.

Aber das wurde es nicht. Es wurde alles nur noch schlimmer und von da an hatte ich nicht mehr aufhören können, darüber nachzudenken, wie es wäre, wenn sie einfach sterben und nicht mehr bei uns sein würde.

Eines Tages war es dann so weit. Sie tat ihren letzten Atemzug.

Bis dahin hatte ich geglaubt, ich sei vorbereitet gewesen, hätte genügend Zeit gehabt, mich mit dem Gedanken zu arrangieren, dass es ihr jetzt, in diesem Augenblick, wo auch immer sie nun sein mochte, besser ging.

Aber ich hatte mich geirrt. Nichts konnte dich auf den Tod oder Verlust eines geliebten Menschen vorbereiten.

Es schmerzte. Das würde es immer tun. Und das tat es auch heute noch.

So wie jetzt in diesem Moment, wenn ich an sie dachte.

Und papa? Er hatte den Verlust seiner geliebten Monique nie verkraftet. Wochenlang hatte er sich eingeigelt, hatte nicht einmal mehr das Haus verlassen. Er litt an schrecklichen Depressionen und nicht nur einmal hatte ich Angst gehabt, dass er sich das Leben nehmen könnte. Mit dem Tod meiner Mutter hatte sich alles verändert. Die Fröhlichkeit und Unbeschwertheit waren mit ihr aus unserer Familie verschwunden. Übrig blieb nur noch eine unheimliche, erdrückende Stille, die sich wie ein dunkler Schatten über unser Haus, ja über mein ganzes Leben legte.

Es dauerte eine Weile, bis ich meine Trauer überwinden konnte und wieder einen Weg zurück ins Leben gefunden hatte. An manchen Tagen hatte ich mir gewünscht, es gäbe einen Zaubertrank, der meinem Vater helfen könnte, sein gebrochenes Herz zu heilen. Doch es war ihm nie gelungen, über seine eigene Trauer hinwegzukommen und so war er maman vor ein paar Monaten, nach einem Hinterwandinfarkt, in den Tod gefolgt.

Seitdem gab es nur noch meine zwei Jahre ältere Schwester Annick und mich.

Annick.

Mein Herz überschlug sich beinahe. Ich hatte eine Schwester.

Um Himmels Willen. Wie hatte ich das nur vergessen können?

Aufregung ergriff von mir Besitz.

Annick und ich standen immer in regelmäßigem Kontakt. Früher oder später würde ihr doch auffallen müssen, dass ich verschwunden war! Oder nicht?! Natürlich würde sie es bemerken. Ganz bestimmt machte sie sich schon große Sorgen um mich.

Auf einen Schlag war ich total aufgewühlt.

Auch wenn es nicht mehr als ein winziger Hoffnungsschimmer für mich war, war es dennoch eine Möglichkeit, eine Chance auf Rettung.

Ich versuchte nachzudenken, so sehr, dass mein Kopf wieder stärker zu schmerzen begann.

Okay, Juliette, konzentriere dich! Was ist das Letzte, an das du dich erinnerst?

Die Weihnachtsfeier.

Oh mein Gott, natürlich.

Alles in mir verkrampfte sich. Plötzlich war der Abend wieder so präsent, als wäre es gestern gewesen. Einzelne Erinnerungsfetzen zogen an mir vorbei. Einerseits glücklich, dass ich mich an jede noch so winzige Einzelheit erinnern konnte, schmerzte mich auf der anderen Seite der Gedanke an Davids Verrat nach wie vor sehr.

Ich bemühte mich, mir die Geschehnisse nach der Feier zurück ins Gedächtnis zu rufen. Irgendetwas in mir schien sich jedoch zu sträuben, wollte sich nicht erinnern. Doch ich musste …

 

Kapitel 3

 

Julie

 

Einige Tage zuvor

 

Nachdem ich den ersten Schock überwunden hatte, verließ ich die Damentoilette und lief auf wackeligen Beinen zurück in den Saal. Etwas abseits meiner Kollegen blieb ich stehen und lehnte mich mit meinem Rücken gegen die kühle Wand. Ein paar Mal tief ein- und wieder auszuatmen, half mir schließlich dabei, mich etwas zu entspannen.

Automatisch glitten meine Augen über die Köpfe der umstehenden Menschen hinweg, wo sie letztlich wie von selbst an Chiara Winter hängen blieben.

Sie sah unglaublich schön aus mit ihrem bodenlangen Chiffonkleid. Ihre Robe erstrahlte in einem satten dunklen Blau. Wie ein schillernder Schmetterling schwebte sie darin anmutig durch den Raum, nur um hier und da mit ein paar Angestellten zu plaudern und dann gleich weiter zum nächsten zu flattern.

Unsere Blicke trafen sich. Sie lächelte. Doch ihr Lächeln war wie immer nicht echt.

Ihre Finger strichen durch ihr langes, blondes Haar, während sie mit raschen, eleganten Schritten auf mich zuhielt, bis sie schließlich kurz vor mir zum Stehen kam.

Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und Tränen brannten in meinen Augen.

»Oh Gott«, murmelte ich und blinzelte hastig. »Okay, reiß dich zusammen.« In Gedanken zählte ich leise bis zehn und räusperte mich.

Ich konnte es schaffen, sagte ich mir und bemühte mich, ruhig zu atmen und mir meine Aufregung nicht anmerken zu lassen. Aber mein Herz schlug mir inzwischen bis zum Hals und meine Kehle fühlte sich auf einmal an wie zugeschnürt. Nach dem herben Tiefschlag, den David mir durch die Verlobung mit ihr verpasst hatte, war ich gerade nicht ich selbst, doch ich wollte ihr gegenüber jetzt unter keinen Umständen Schwäche zeigen.

»Juliette, wie gut Sie doch heute ausschauen!« Chiara streckte ihre langen Finger nach einer meiner dunklen Locken aus. »Ich wusste ja gar nicht, was für eine Schönheit sich hinter der großen Brille und der sonst so strengen Frisur verbirgt.«

War das jetzt Neid oder Bewunderung, was aus ihrem Blick sprach? Ich entschied mich für Ersteres und schenkte ihr daraufhin nicht mehr als ein gleichgültiges Lächeln. Endlich ließ sie die Strähne los und trat einen Schritt zurück, wobei sie weiterhin eingehend mein Gesicht musterte. Ich tat es ihr gleich.

Die dezenten dunklen Ringe unter ihren Augen deuteten darauf hin, dass auch im Leben einer Chiara Winter nicht alles perfekt zu laufen schien.

Chiara war das makellose Victoria`s Secret Model, nur etwas vollbusiger. Sie hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Claudia Schiffer in jüngeren Jahren. Doch im Gegensatz zu der Model-Ikone wirkte Chiara keineswegs bodenständig und sympathisch. Sie gab sich Mühe, ihre überhebliche Art hinter einem falschen Lächeln zu verbergen, doch es gelang ihr nicht. Mit dem Ergebnis, dass die meisten Mitarbeiter ihr, wenn möglich, aus dem Weg gingen.

Das Problem war, dass weder ihre aufgespritzten Lippen noch all die überteuerten Kleider darüber hinwegtäuschen konnten, welch schlechten Charakter sie hinter ihrer ach so mühsam aufgebauten Fassade zu verbergen versuchte.

Chiara war eine Luxuszicke, während ich wohl das glatte Gegenteil von ihr war. Gut in meinem Job zu sein, das war mir wichtig, dabei hatte ich nie viel Wert auf Äußerlichkeiten gelegt oder mich dafür interessiert, was andere Leute über mich dachten. Ohne dabei arrogant klingen zu wollen: Ich wusste, dass ich etwas im Kopf hatte und ich wusste auch, dass ich nicht schlecht aussah, wenn auch auf meine ganz eigene, spezielle Art und Weise.

Mein Haar war schwarz wie die Nacht und meine Haut wies einen hellen, fast schon unnatürlichen Alabasterton auf.

»Irgendwie gefällt mir das Kleid, obwohl ich es für eine Firmenfeier doch etwas übertrieben finde.« Sie schüttelte ihr langes Haar und griff nach einem Glas Champagner, das sie sich von dem Tablett eines vorbeikommenden Kellners schnappte.

Das sagte gerade die Frau zu mir, die in einer mehr als auffälligen Abendgarderobe vor mir stand. Ich schluckte meine Gedanken jedoch hinunter und schaltete wie immer in solchen Situationen auf Durchzug. Es konnte mir gerade nichts gleichgültiger sein, als das, was sie über mein Outfit dachte.

»Auch noch ein Gläschen?« Sie hielt mir das Glas unter die Nase, so wie die Hexe Schneewittchen den vergifteten Apfel.

»Nein, danke!« Ich schüttelte den Kopf. »Für heute habe ich genug.«

»Ja, das glaube ich Ihnen.« Sie trank einen Schluck und lächelte wissend auf mich hinab.

Unwillkürlich versteifte ich mich und fragte mich gleichzeitig, ob sie von der Affäre zwischen David und mir wohl wusste? Hatte er ihr vielleicht sogar davon erzählt? Die Art, wie sie mich gerade ansah, legte die Vermutung ziemlich nahe.

Mist.

»Es wird wohl das Beste sein, wenn ich jetzt gehe«, stellte ich fest.

»Ja, das denke ich auch.«

Irrte ich mich oder wies Chiaras Blick plötzlich eine Spur von Mitleid auf? Doch ehe ich weiter darüber nachdenken konnte, drehte sie sich auch schon um und ging.

 

 

Der neue Tag war erst wenige Minuten alt, als ich wie benommen die Weihnachtsfeier verließ und aus dem Gebäude stolperte. Eine kühle Brise wehte durch mein Haar. Ich schloss meinen Mantel und atmete ein paar Mal tief durch, während ich die Straße überquerte und den Gehsteig entlang in Richtung Parkplatz lief.

Da bald der erste Advent sein würde, hingen in den meisten Fenstern bereits leuchtende Weihnachtsdekorationen. Die Geschäfte und Boutiquen, an denen ich vorbeihuschte, hatten schon vor Tagen damit begonnen, ihre Schaufensterauslagen festlich zu schmücken und in der ganzen Stadt wurden Lichterketten von einer Straßenseite zur anderen gespannt. Eigentlich mochte ich die Vorweihnachtszeit. Doch nach alledem, was in den letzten Stunden geschehen war, schwand meine Weihnachtsstimmung in Richtung Tiefpunkt.

Der bitterkalte Novemberwind kroch an meinen nackten Beinen empor und durch meine viel zu dünne Kleidung hindurch. Unwillkürlich begann ich zu zittern.

»Julie, warte!« Davids Stimme ließ mich herumfahren.

Auch das noch. Warum konnte er mich nicht einfach in Ruhe lassen?

Ich richtete meinen Blick wieder nach vorne und lief weiter. Allerdings kam ich nicht weit. David packte meinen Arm und hielt mich fest.

»Es tut mir leid. Ich weiß, ich hätte es dir schon längst sagen müssen, doch das alles ist viel komplizierter als du denkst.« Er zwang mich dazu, mich umzudrehen.

»Ist es das?« Innerlich bebte ich vor Wut und Enttäuschung, doch nach außen zeigte ich mich wie so oft unbeeindruckt.

»Ja.«

Ich starrte ihn an und im selben Moment öffnete der Himmel seine Schleusen.

Was für ein mieses Timing?

Der Regen lief mir kalt über mein Gesicht, doch das interessierte mich nicht.

Nicht jetzt. Alles, was ich noch wahrnahm, war der Mann, der direkt vor mir stand. Inzwischen war er so dicht, dass ich seinen warmen Atem auf meinem Gesicht spürte. Innerhalb von Sekunden war er genauso durchnässt wie ich. Seine dunklen Haare schimmerten feucht im Licht der Laterne, unter der wir uns gerade befanden.

Atemlos starrten wir uns an.

Sekunden erschienen mir wie Stunden.

Ich schloss die Augen, wollte den Nebel der Empfindungen vertreiben, der mich nach wie vor einhüllte, sobald er auch nur in meiner Nähe war. Als ich die Lider wieder aufschlug, stand er noch dichter. Er hob seine Hand. Einen Moment hielt er inne, ehe er es sich doch noch anders überlegte und sie unverrichteter Dinge wieder sinken ließ.

»Ja. Das ist es. Es ist so, wie ich bereits sagte. Es ist kompliziert.« Er rückte noch näher. Sein Blick wurde hart und sein Ton jetzt eisig. »Ich liebe Chiara Winter nicht. Selbst wenn ich es dir erklären könnte, befürchte ich, du würdest es nicht verstehen.«

Die Art, wie er es sagte, trieb mir beinahe die Tränen in die Augen. Doch ich schluckte sie herunter. Ich wünschte, er wäre mir nie gefolgt.

Hilflos wandte ich mein Gesicht von ihm ab, doch er berührte sanft meine Wange.

Die Wärme seiner Fingerspitzen auf meiner Haut war zu viel für mich, und so wandte ich den Kopf noch weiter ab und trat einen Schritt zurück, bis es nicht mehr ging und ich mit dem Rücken gegen die kalte Hauswand stieß.

»Du hast recht. Das würde ich ganz sicher nicht«, sagte ich und konnte nicht verhindern, dabei verletzt zu klingen. Ich stieß zitternd die Luft aus. »Genauso wenig, wie ich verstehen kann, was es mit den Zahlen auf sich hat, die ich gesehen habe.«

Nun war es David, der den Kopf abwandte. Als er nach einer gefühlten Ewigkeit wieder auf mich hinabsah, musterte er mich eine Weile schweigend. Dann beugte er sich zu mir vor, sodass sein Gesicht nur noch wenige Zentimeter von meinem entfernt war.

»Das musst du auch nicht«, sagte er nun sanfter.

»Du leugnest es also nicht?«

»Nein«, flüsterte er und seine Nasenflügel blähten sich wie die eines wilden Raubtiers auf.

»Oh mein Gott!« Ich schlug mir die zitternden Finger vor den Mund.

Bis eben hatte ich es nicht wahrhaben wollen, hoffte, dass ich mich irrte.

Ich musste mich einfach irren. Aber Davids ausdrucksloser, zu Stein erstarrter Blick sagte mir gerade mehr als tausend Worte.

»Du … du hast mich nur benutzt?«, stieß ich hervor, obwohl ich die Wahrheit bereits wusste. »Dir war klar, dass es früher oder später jemandem aus der Buchhaltung auffallen würde. Und da hast du dich an mich herangemacht und mit mir geschlafen, in der Hoffnung, ich würde darüber hinwegsehen und dich decken? War es nicht so?«

Ich senkte den Blick auf seinen Hals, weil ich ihm nicht länger in die Augen schauen konnte.

Wie im Zeitraffer sah ich vor meinem inneren Auge, was in den letzten Wochen zwischen uns passiert war. Wir hatten Sex gehabt – ziemlich guten sogar, den ich so schnell wohl auch nicht mehr vergessen würde. Doch das alles schien Teil eines perversen Plans gewesen zu sein.

Während ich weiterhin auf seinen Hals starrte, war mir quälend bewusst, dass er mich dabei beobachtete.

»Ja … nein, so einfach ist es nicht, Julie«, sagte er schließlich. »Lass mich dir wenigstens das erklären. In Ordnung?« Seine tiefe Stimme klang angespannt und als ich erneut zu ihm aufsah, entdeckte ich eine Verbissenheit in seinem Gesicht, die ich so bei ihm noch nicht gesehen hatte.

»Nein!«, flüsterte ich und schüttelte den Kopf, während ich meine Hand auf seine Brust legte und ihn ein Stück von mir schob. »Gar nichts ist in Ordnung. Ich will es nicht hören. Verstehst du? Deine Ausreden und Lügen bin ich satt. Lass mich ab jetzt ein für alle Mal in Ruhe.«

Ich schluchzte und hielt mir die Hand vor den Mund.

Der Gedanke, dass es endgültig vorbei zwischen uns sein sollte, zerriss mich innerlich, doch welche Zukunftsperspektive blieb mir denn jetzt noch, wenn er sich mit Chiara Winter verlobt hatte und alles andere zwischen uns nicht mehr als eine Lüge gewesen war?

David ergriff meine Hand, obwohl ich nicht wollte. Auch wenn sich seine Haut auf meiner gerade warm anfühlte, legte sich dennoch eine Eisschicht um mein Herz.

Er war zu nah.

Es war zu viel. Er war zu viel.

Plötzlich fühlte ich mich nur noch unendlich leer. All meine Träume waren an dem heutigen Tag mit einem Schlag verpufft. David hatte sich einfach so in mein Leben geschlichen, in meine Gefühlswelt. Ich hatte Wünsche und Pläne gehabt und eine Weile hatte ich tatsächlich geglaubt, dass sie irgendwann mit diesem Mann in Erfüllung gehen könnten.

Mit einem Ruck wollte ich ihm meine Hand entziehen, aber er hielt mich weiterhin fest. Tränen sammelten sich in meinen Augen. Ich hatte jetzt wirklich keine Kraft mehr, mir seine Ausreden und Ausflüchte anzuhören – zumindest nicht jetzt in diesem Augenblick.

»Nein!«, stieß ich noch einmal lautlos hervor.

»Juliette, hör jetzt auf, rumzuzicken. Es ist jetzt wirklich wichtig, dass du mir zuhörst«, beschwor er mich eindringlich.

»Nein. Lass mich.« Doch David dachte gar nicht daran, mich loszulassen. Ganz im Gegenteil, sein Griff um mein Handgelenk verstärkte sich nur noch.

»Bitte. Du musst mir glauben, es ist nicht so, wie es scheint.«

Mein Herz schlug schneller. Ich konnte mich nicht erinnern, wann David mich je um etwas gebeten hätte. Auf jeden Fall nicht so. Suchend musterte ich sein Gesicht, aber es war zwecklos, was auch immer er für mich empfand, er hielt seine Gefühle gut versteckt.

»Nein«, flüsterte ich abermals und schüttelte den Kopf. »Geh. Bitte. Ich kann nicht. Ich will das jetzt nicht hören!«

»Also gut, wie du meinst.« Widerwillig ließ er mich los. »Wir werden morgen darüber sprechen.«

Er stieß die Luft aus und fuhr sich mit gespreizten Fingern durch sein dichtes Haar. »Und Julie …«

»Ja?«

»Pass gut auf dich auf, Kleines«, sagte er leise.

Dann drehte er sich um und ließ mich zurück.

 

Kapitel 4

 

Julie

 

Gegenwart

 

Zeit.

Ich konnte nicht sagen, wie lange ich schon hier war. Ein paar Tage? Oder gar nur ein paar Stunden?

Was ich jedoch sicher wusste, war, dass jeder Mensch ein Gefühl für das Vergehen von Zeit hatte, doch in dieser Eintönigkeit, die mich permanent umgab, schien mir diese Fähigkeit einfach so abhandengekommen zu sein. Allein mein Pulsschlag und meine Atemzüge machten für mich fühlbar, dass Zeit auch in mir noch vorging.

Denn Zeit war doch nicht mehr als der Hauch eines Moments, der an uns vorüberflog – wie ein Bach oder gar ein reißender Strom, der auch nicht statisch war, sondern immer im Fluss. Eben eine dynamische Veränderung, die man Leben nannte.

Ich war noch nicht tot. Trotzdem war bei mir ganz und gar nichts mehr im Fluss.

Ganz im Gegenteil. Mein Leben stand still.

Und das Schlimmste war, dass ich ebenso ratlos war wie zuvor. Ich hatte nicht nur das Gefühl für Zeit verloren, sondern auch die Erinnerung daran, was geschehen war.

Wenigstens wurden die Momente, die ich aktiv wahrnehmen konnte, länger. Ich nutzte diese Phasen inzwischen sehr bewusst, um mich auf meine Umgebung zu konzentrieren.

Stimmen. Schritte.

Hier und da eine gemurmelte Unterhaltung.

So wie jetzt.

»Ich übernehme die 220. Ist Herr Dr. Bach schon auf Station?«

Auf Station? Und hatte sie Doktor gesagt? Eine Flut unterschiedlichster Emotionen überschwemmte mich.

Das bedeutete: Ich war im Krankenhaus?!

Tiefe Atemzüge.

Unregelmäßige Herzschläge.

Ich hatte recht. Oh mein Gott, ich hatte recht.

Ich lag weder in einem Leichenschauhaus, noch hatten sie mich lebendig begraben.

Ich lebte.

Verdammt nochmal, ich lebte! Das war die beste Neuigkeit seit Langem. Denn alles war jedenfalls besser als der Tod.

Gummisohlen, die auf Linoleum quietschten, kamen näher, bis sie unmittelbar neben mir zum Verstummen kamen. Es war so weit. Ich hätte vor Glück weinen können. Endlich würde alles gut werden. Sie würden bemerken, dass ich wach war und würden mir helfen.

»Ich übernehme die Grundpflege von Frau Durand«, sagte eine Frau mit einer Stimme, die wie ein Reibeisen klang und ganz offensichtlich meinen Namen kannte. Wenn sie im Krankenhaus wussten, wer ich war, hatten sie auch sicherlich Annick verständigt.

Kurz darauf spürte ich, wie jemand damit begann, an mir herumzuhantieren.

Stoff raschelte. Kühle Luft traf auf meine Haut.

Das Gefühl von Hilflosigkeit übermannte mich.

Wäscht mich hier jemand?

Der Gedanke, dass gleich jemand Fremdes mich wusch, gefiel mir in diesem Augenblick ganz und gar nicht, aber wem gefiel das schon? Wie jeder andere Mensch auch empfand ich es als Eingriff in meine Intimität. Nichtsdestotrotz war es wohl unumgänglich. Und so gab ich mir Mühe, meine Scham und vorübergehende Hilflosigkeit auszublenden. Schließlich machte diese Pflegekraft das nicht zum ersten Mal. Es war Teil ihres Jobs und sie führte diese Tätigkeit jeden Tag bei etlichen Patienten durch.

»Jetzt sieh dir mal an, was für einen Körper die hat!«, rief sie plötzlich. »Meinst du, diese Brüste sind echt oder sind die gemacht?«

Wie bitte? Ich hatte mich doch hoffentlich verhört.

Ein feuchtes Tuch landete auf meiner Haut.

Ein Geräusch neben mir.

Ich lauschte.

»Lass mal sehen«, hörte ich jetzt eine andere weibliche Stimme, mit einem südländischen Akzent. Einen Augenblick später spürte ich eine Hand an meiner rechten Brust und sie wurde unsanft zusammengedrückt.

Was zur Hölle?

Es folgte ein Kichern. »Quatsch, dafür sind die doch viel zu klein. Guck doch mal. Die Möpse sind gerade mal so groß wie zwei Mückenstiche.«

Ein dicker Klos bildete sich in meinem Hals. Um ehrlich zu sein, wusste ich gerade nicht, was mich mehr aufregte, die Tatsache, dass sie sich über mich lustig machten oder dass sie mich behandelten, als wäre ich überhaupt nicht existent?

»Für meinen Geschmack ist sie ohnehin viel zu dürr«, fuhr die Südländerin fort. »Da sieht man ja schon jede einzelne Rippe.«

Im nächsten Moment wurde ich grob zur Seite gedreht.

Aua, das tat weh. Waren die beiden verrückt?

Und überhaupt, was fiel ihnen ein, so über mich zu reden? Ich war schließlich hier und konnte jedes einzelne ihrer Worte laut und deutlich hören.

»Du bist doch nur neidisch, Maria«, lachte nun die Raubeinige laut. »Gib`s doch einfach zu.«

Eine Hand griff gerade fest nach meinem Arm, am liebsten hätte ich laut aufgeschrien.

»Neidisch? Du spinnst doch. Und auf die hier ganz gewiss nicht. Wer weiß, ob die jemals wieder aus dem Koma aufwachen wird und selbst wenn, hat sie sowieso nur noch Matsch in der Birne.«

Koma! Koma?

Schlagartig lösten sich nun auch die letzten Fetzen des Nebels auf.

Himmel. Plötzlich ergab alles einen Sinn. Ich lag in einem Krankenhausbett und aus irgendeinem Grund befand ich mich im Koma. Zumindest dachten die beiden Krankenschwestern das. Aber wenn das wirklich der Fall sein sollte, müsste ich mich dann nicht eigentlich in einem Zustand tiefer Bewusstlosigkeit befinden?

Aber das tat ich ja ganz offensichtlich nicht. Denn ich konnte die beiden hören. Jedes einzelne verdammte Wort, das sie sagten, konnte ich verstehen.

Also warum um alles in der Welt sahen sie nicht, dass hier etwas nicht stimmte? Sie mussten doch merken, dass ich wach war, dass ich sie hörte, dass ich sogar ihre Hände auf meinem Körper spüren konnte.

Oh Gott. Was, wenn dieser Zustand weiterhin anhalten würde? Was, wenn ich Zeit meines Lebens hier liegen und in meinem eigenen Körper gefangen wäre, ohne Aussicht auf Hilfe und Besserung? Oder noch schlimmer, wenn sie plötzlich auf die Idee kommen würden, einen Eingriff an mir vorzunehmen und ich alles hautnah miterleben würde?

Ein Albtraum. Ein absolut furchteinflößender, schrecklicher Albtraum.

Mir wurde schlecht. Bilder wie aus einem Horrorfilm tauchten vor meinem inneren Auge auf. Ich lag auf einem OP-Tisch. Ärzte in blauen Kitteln und Mundschutz standen um mich herum. Einer von ihnen griff nach einem Skalpell, setzte es zwischen meinen Brüsten an und schnitt mich auf. Ich wollte schreien, die Hände zu Fäusten ballen – doch wieder gehorchte mein Körper nicht. Stattdessen schienen meine Gliedmaßen Tonnen zu wiegen und meine Zunge lag leblos in meinem Mund.

Ich schüttelte mich innerlich, um die Schreckensbilder wieder aus meinem Kopf zu vertreiben, aber die Angst, dass dieser Albtraum irgendwann doch noch zur schrecklichen Realität werden könnte, blieb zurück.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752143928
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Mai)
Schlagworte
Liebesroman Drama Romantic Crime Spannung Mystery Liebe Spannende Liebesgeschichte Theater Drehbuch Schauspiel

Autor

  • Claire O'Donoghue (Autor:in)

Claire O´Donoghue ist das Pseudonym einer 1977 geborenen, deutschsprachigen Autorin. Sie lebt mit ihrem Mann und den beiden Söhnen zurückgezogen im Südwesten Deutschlands. Bereits in frühen Jahren entdeckte sie ihre große Leidenschaft für Bücher. Seit Anfang 2015 arbeitet sie als freie Autorin und hat sich mit ihrem Debütroman "I´m dreaming of you", einen großen Kindheitstraum erfüllt, dessen Erfolg ihre Erwartung bereits jetzt bei weitem übertroffen hat. Weitere Romane folgten ...
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Titel: Traumland