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Die Stille vor Lilou

von Astrid Korten (Autor:in)
183 Seiten

Zusammenfassung

„Wenn man den Pfad der Vergeltung beschreitet, soll man zwei Gräber ausheben.“ (Konfuzius) Jules Lefèvre ist Lehrer an der Public École im normannischen Lion-sur-Mer. Jules und seine Frau Malin genießen das Familienglück mit der kleinen Tochter Lilou. Doch dann zwingt ein Burn-out Jules, sich zu Hause einzuigeln. Die Genesung verläuft schwierig, denn seine Wahrnehmung ist getrübt. Er ist psychisch instabil und paranoid. Auch als ihm Paul Moreau, der Rektor seiner Schule, einen Besuch abstattet, misstraut Jules dessen Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Dennoch beschließt er schließlich, den Ratgeber über „Achtsamkeit“ zu lesen, den Moreau ihm zur Genesung mitgebracht hat. Als sich Jules endlich halbwegs erholt hat, schlägt das Schicksal erbarmungslos zu … „Korten macht aus dem pathologischen Verhalten der Protagonisten ein meisterhaftes Spiel um Wahrheit und Dichtung.“ Westdeutsche Allgemeine Zeitung

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 Über das Buch

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„Wenn man den Pfad der Vergeltung beschreitet, soll man zwei Gräber ausheben.“ (Konfuzius)

 

Jules Lefèvre ist Lehrer an der Public École im normannischen Lion-sur-Mer. Jules und seine Frau Malin genießen das Familienglück mit der kleinen Tochter Lilou. Doch dann zwingt ein Burn-out Jules, sich zu Hause einzuigeln. Die Genesung verläuft schwierig, denn seine Wahrnehmung ist getrübt. Er ist psychisch instabil und paranoid.

Auch als ihm Paul Moreau, der Rektor seiner Schule, einen Besuch abstattet, misstraut Jules dessen Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Dennoch beschließt er schließlich, den Ratgeber über „Achtsamkeit“ zu lesen, den Moreau ihm zur Genesung mitgebracht hat. Doch als sich Jules endlich halbwegs erholt hat, schlägt das Schicksal erbarmungslos zu …

 

„Korten macht aus dem pathologischen Verhalten der Protagonisten ein meisterhaftes Spiel um Wahrheit und Dichtung.“

Westdeutsche Allgemeine Zeitung

 

 Malin

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„Ich habe dich nicht verlassen, ich bin dir nur ein Stück voraus.“

(Malin)

 

 

 

 

 

 Der Raubvogel

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Vor einem Monat ist meine Frau beerdigt worden. Es war ein trauriges Ereignis, aber mich machte es nicht traurig.

Am frühen Morgen betete die ganze Familie im Wohnzimmer neben dem Sarg, und alle erschraken, als etwa zur Hälfte des Gebets plötzlich unter Malins Körper das Kühlsystem ansprang.

Meine Schwiegermutter schnellte als Erste von ihrem Stuhl hoch. „Das ist ein Zeichen!“, rief sie.

Einen Moment lang dachte ich, sie mache einen unangemessenen Scherz, aber sie wiederholte ihre Worte mit tödlichem Ernst, während sie Malins kalte Hand ergriff.

Mein Vater beugte sich ebenfalls über den Sarg. „Das kann kein Zufall sein“, flüsterte er und schaute sich das Gesicht meiner Frau genau an, als wäre sie wieder zum Leben erwacht und würde gleich die Augen aufschlagen.

Entgeistert starrte ich meine Verwandten an, die dem Gerät, das der Bestattungsunternehmer in der Nacht zuvor angeschlossen hatte, völlig neue Funktionen zuschrieben.

Mir war das plötzliche Einschalten der Kühlung vertraut. Ich hatte die vergangene Nacht still neben dem Sarg verbracht, meine linke Hand auf Malins Haut. Ich hatte mein Herz gespürt, wie es dumpf gegen ihren eingefallenen Brustkorb pochte, und gedacht, dass es jetzt niemanden mehr gab, der mich erwartete, niemanden, der das Bett vorwärmte.

Das Kühlgerät schaltete sich jede halbe Stunde ein. Offenbar war es in unserem Haus zu heiß. Aber vielleicht habe ich ihren Körper mit meiner Berührung auch nur zu sehr gewärmt.

Einige Wochen zuvor war der Sarg meiner Tochter Lilou nicht geöffnet gewesen. Sechs goldfarbene Kugelschrauben, um einen Meter fünfzig fest zu verschließen. Nichts konnte mehr berührt werden. Ich war extra in die Rechtsmedizin gegangen, um Lilou vor der Versiegelung des Sargs noch einmal zu sehen. Ich musste sie anschauen, um zu verstehen, was passiert war.

Ein Mitarbeiter versuchte, mich davon abzuhalten. Aber ich ging einfach um den Mann herum und zog mit einem Ruck das Laken von ihrem zerstörten kleinen Körper.

Ich bin sicher, dass die Ärzte ihr Bestes getan hatten, um die Spuren der Stoßstange zu beseitigen. Aber sie waren kläglich gescheitert, und ich wurde ohnmächtig.

 

Meine Mutter unterbrach meine Gedanken. „Können wir das Gebet nun fortsetzen?“ Sie setzte sich neben mich, legte ihre faltige Hand auf meine Schulter und beugte sich vor. „Dann wollen wir jetzt um Kraft beten“, flüsterte sie. „Dieser Tag ist für keinen von uns einfach.“ Ihr Atem kräuselte sich um mein Ohr und strich über meinen Nacken.

Ich hätte es vorgezogen, das Beten abzukürzen, denn ich hatte andere Pläne, aber ich faltete die Hände und murmelte: „Lasst uns beten.“

Ein Gebet und einige Schluchzer später schloss ich die Außentür unseres Bauernhauses und sah zu, wie der Teakholzsarg in den Leichenwagen geschoben wurde. Die Proportionen waren auch besser als beim letzten Mal.

Damals … Lilous kleiner Sarg in dem riesigen Auto.

Die anderen sahen schweigend zu. Meine Mutter rauchte neben ihrem Wagen eine Zigarette. Sie hatte einen Arm um ihre Taille gelegt, als würde sie frieren, mit der anderen Hand hielt sie sich die zur Hälfte gerauchte Zigarette vors Gesicht: ein Ausrufezeichen, hinter dem sie sich zu verstecken versuchte. Ohne sie anzusehen, ging ich an den stumm Trauernden vorbei in Richtung Garage.

„Wohin willst du?“, fragte meine Mutter. Mit der Spitze ihres hochhackigen Schuhs drückte sie die Zigarettenkippe zwischen den Kieselsteinen aus, während eine letzte Rauchwolke ihren Lippen entwich.

Ich gab ihr ein Zeichen, dass sie in ihr Auto einsteigen könne. „Ich fahre hinter euch her, Mama“, antwortete ich ruhig.

„Das geht doch nicht, Jules.“ Meine Mutter kam auf mich zu. „Bitte, keine verrückten Sachen heute.“ Sie schlug den Kragen ihres Mantels hoch. Ein eisiger Ostwind wirbelte um das Haus. „Du fährst mit uns oder mit Malins Eltern. So war es abgesprochen.“

„Ich habe es mir anders überlegt. Ich werde selbst fahren.“

„Das ist keine gute Idee, mein Junge.“

„Es gibt niemanden, der mich davon abhalten kann. Nicht einmal du, Mama“, flüsterte ich.

Als ich an dem Leichenwagen vorbeigehen wollte, packte meine Mutter mich am Arm meines Mantels und visierte mich argwöhnisch.

„Du benimmst dich seltsam, Jules.“ Ihre Stimme klang beängstigend kalt.

Ich schaute auf ihre Finger, die sich in den Stoff krallten. Sie waren so dünn, als könnten sie jeden Moment zerbrechen.

„Ich habe mein Kind verloren, und nun ist auch noch meine Frau tot“, erwiderte ich mit eisiger Stimme.

Meine Mutter zuckte bei dem Wort „tot“ zusammen. Ich schmeckte ebenfalls die Härte, mit der ich es ausgestoßen hatte.

Ich wollte ihre faltige Hand mit einem heftigen Ruck abschütteln, aber in diesem Moment tauchte ein Bussard am Waldrand neben dem Haus auf und kam auf uns zu. Er flog tief über uns hinweg zur benachbarten Wiese. Gebannt folgten wir alle seinem Gleitflug bis zur Mitte der Wiese. Kurz schwebte der Raubvogel im Rüttelflug über einem Punkt, als würde er an einem unsichtbaren Faden am Himmel hängen. Er hielt seinen Körper dabei aufrecht, die Flügel standen in einem so großen Anstellwinkel, dass ihr Schlag einen hohen Auftrieb erzeugte. Einen Atemzug später stürzte er pfeilschnell zu Boden, den Schwanz nach unten geklappt und die Beine ausgestreckt, um unmittelbar danach mit einem kleinen Tier zwischen den Krallen wieder aufzusteigen.

„Was für eine Grausamkeit!“, seufzte meine Mutter und wandte sich ab.

Ich erwiderte nichts und behielt den Raubvogel im Auge, der einen Bogen nach rechts machte und wieder im Wald verschwand. Selbst bei der großen Entfernung konnte ich seine Beute hilflos zappeln sehen.

Bei dem Anblick des armseligen Opfers tauchte aus der Kälte meiner Einsamkeit die Vergangenheit wieder auf. Langsam und schmerzlich gab sie sich zu erkennen. Vielleicht, um der Leere der Gegenwart zu trotzen. Bilder, auf denen alle Bewegungen unscharf waren, stiegen aus meiner Erinnerung auf und zersprangen nacheinander in Stücke.

Hätte ich mich vor Lilous Tod anders entschieden, dann hätte die Stille vor Lilou ab einem bestimmten Punkt keine Macht mehr über mich gewonnen, dann wäre ich nicht in die Fänge eines Raubtiers geraten.

 

„Dass du dir das unbedingt ansehen musst“, murmelte sie und legte ihre zittrige Hand auf meine Schulter. „Mit dir stimmt doch etwas nicht, Jules. Eine Mutter kann das spüren.“

Sie wandte sich von mir ab und ging zum vorderen Fahrzeug. Bevor sie einstieg, schaute sie noch einmal in meine Richtung, als wollte sie sich von mir verabschieden.

Am Ende des Feldwegs, der zur Hauptstraße führte, wartete der Trauerzug darauf, dass ich mich ihnen mit meinem Auto anschloss. Doch schließlich bog der Leichenwagen nach links in Richtung Kirche ab.

Im Rückspiegel sah ich die Schaukel, die auf dem Rasen im Wind tanzte, als würde ein unsichtbares Kind darauf sitzen. Vor mir bewegte sich der Wetterhahn auf dem Dach unruhig hin und her.

Einen Moment lang blickte ich wieder auf die Trauerfahrzeuge, die meiner Frau langsam folgten, dann fuhr auch ich los. Zuerst ganz leise, zögerlich. Sekunden später wesentlich entschlossener, und schließlich trat ich mit Wucht auf das Gaspedal und lenkte den Wagen in eine scharfe Rechtskurve. Weg von meiner Frau, weg von den Trauernden.

Die Vorderräder schlitterten kurz über den Asphalt, eine Katze eilte vom Straßenrand in eine angrenzende Nebenstraße und sprang vor Schreck auf den Ast eines Baumes. Meine Fingerspitzen kribbelten, mein Herzschlag geriet ein paarmal ins Taumeln.

„Biegen Sie nach dreihundert Metern links ab in die …“, sagte die monotone Stimme. Ich musste versehentlich das Navi eingeschaltet haben, und mir wurde schmerzlich bewusst, dass die Dame im Armaturenbrett mir die letzte Fahrt meiner Frau aufschwatzen wollte.

Ich warf einen letzten Blick in den Rückspiegel und dachte: Es gibt Momente im Leben, in denen uns die Kontrolle entgleitet, in denen wir aus dem seelischen Gleichgewicht geraten und uns egal ist, ob wir uns gesund verhalten oder nicht.

Wie die meisten Menschen hatte ich immer versucht, die Kontrolle zu behalten, bis ich wie das Tier geworden war, das in der Falle saß und vergeblich um sein Leben zappelte. Aber im Gegensatz zu dem kleinen Wesen konnte ich das ändern.

Denn ich hatte jetzt eines begriffen: Gewalt konnte man nur mit Gewalt bekämpfen!

 

Der Abstand zwischen Malin und mir wurde immer größer. Mein Leben endete hier, und übergangslos begann ein neues. Es gab ein Vorher und ein Nachher, ein Früher und ein Jetzt. Früher war eine andere Zeit, ein anderer Ort, ein anderes Universum. Da hatte es noch uns beide gegeben.

Wenn man spürt, dass man alles verloren hat, bleibt einem nur noch die Erinnerung an das Glück, das sich so schnell verflüchtigt hat, durchfuhr es mich. Und dann will das Verdrängte mit aller Macht an die Oberfläche …

Meine Frau war tot. Und mit einem Mal verstand ich die Konsequenz dessen, was nicht mehr war, und dessen, was Jahre zurücklag: Ich habe sie geliebt. Aber es ist zu spät.

 

 

 Burn-out

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Der Tod meiner Frau und meiner Tochter nahm seinen Anfang, als mein Vorgesetzter anrief.

„Jules, ich komme heute vorbei.“ Paul Moreau hatte seinen Namen nicht genannt, aber ich erkannte seine tiefe Stimme sofort. Ich konnte nicht anders, als mich ertappt zu fühlen.

„Heute?“, fragte ich erschrocken.

„Passt es dir nicht?“ In seiner Stimme lag Irritation, Moreau duldete keinen Widerspruch. Mein Herzschlag beschleunigte sich, und in meinem Kopf wurde alles ganz leicht. Jetzt nur nicht hyperventilieren, dachte ich. Ich atmete zwei Sekunden lang ein und hechelte sechs Atemzüge aus, während ich den Hörer mit der Hand abdeckte.

„Bist du beschäftigt?“, fragte Moreau ungeduldig. Wieder sechsmal eine Sekunde lang ausatmen.

„Ich bin einfach nur zu Hause.“ Mit zwei Fingern dehnte ich den Rollkragen meines Pullovers ein wenig. Der Stoff drückte unangenehm gegen meinen Adamsapfel und kribbelte auf meiner Haut.

„Schön“, sagte Paul. „Ich fahre jetzt die Auffahrt hinauf!“ Er unterbrach die Verbindung, bevor ich antworten konnte. Müdigkeit überkam mich. Es war elf Uhr vormittags. Ich wollte in den Laken meines Bettes ertrinken.

Mit ein paar Schritten stand ich am Fenster. Ich schob die Gardinen zur Seite, nur ein wenig, sodass ich von außen nicht gesehen werden konnte, und erblickte ein schwarzes Auto, das in rasantem Tempo den Weg entlangfuhr. Viel zu schnell! Der Sand flog hinter dem Auto hoch und wurde zwischen den Bäumen hindurch auf die Wiese geschleudert.

„Es ist Moreau, er kommt vorbei.“ Der Schweiß perlte auf meiner Stirn.

„Wann?“, fragte Malin. Meine Frau spielte am Esstisch mit unserer Tochter Lilou.

„Jetzt gleich.“

„Wie nett von ihm.“

Ich drehte mich mit einem Ruck um. „Nett? Du glaubst doch nicht, dass der Typ vorbeikommt, um uns eine Freude zu machen? Wenn Paul freundlich sein will, schickt er eine Karte oder eine E-Mail, einen Blumenstrauß, oder er ruft kurz an, aber er kommt sicher nicht selbst vorbei!“

Lilou schaute erschrocken in meine Richtung. Ich versuchte sie mit einem schiefen Lächeln zu beruhigen. Sie zeigte mir die kleine Puppe, die sie mit Malin aus einer bunten Knetmasse gebastelt hatte.

Wieder wurde mir ein bisschen schwindelig. Ich hatte keinerlei Bedürfnis, Kollegen zu Hause zu empfangen, das hatte ich dem Betriebsarzt der Schule ausdrücklich mitgeteilt. Kein Kontakt, bis ich wieder die Energie aufbringen konnte, selbst anzurufen. Ich musste zuerst wieder zur Ruhe kommen. Und wenn jemand meinen Wunsch kannte, dann war es Moreau. Er war immerhin der Rektor der Mixted Public École in Lion-sur-Mer.

Ich sah, wie Moreau aus dem Auto stieg. Sein Blick schweifte über die Weiden, den Hof, die Holzgaragen neben der Einfahrt und verlor sich am Waldrand in der Ferne.

„Das ist kein gutes Zeichen“, überlegte ich laut.

„Du siehst Gespenster“, beruhigte mich Malin. „Lassen wir ihn doch erst einmal hereinkommen. Mal den Teufel nicht gleich an die Wand. Du musst die Dinge einfach auf dich zukommen lassen, Jules.“

Moreau stand vor dem Haus und spähte hinauf zum oberen Stockwerk. Oder sah er den Wetterhahn auf dem Dach an?

„Er ist gekommen, um mich zu feuern“, flüsterte ich. „Das Lehrerkollegium ist doch längst davon überzeugt, dass ich versagt habe.“

„Warum siehst du immer alles gleich so negativ? Immer die pechschwarze Nacht, auch wenn es draußen noch nicht mal dämmert. Er möchte doch nur wissen, wie es dir geht, Jules. Bleib locker!“

„Du kennst Moreau nicht so gut wie ich“, murmelte ich im Vorbeigehen.

 

„Seltsam, dass wir uns erst jetzt kennenlernen“, sagte Malin. Beim Blick über Moreaus Schulter sah ich, wie sie ihn anlächelte, und die Art und Weise, wie sie ihre Augen zu zwei schelmischen Schlitzen zusammenpresste und ihren Kopf leicht schräg legte, berührte mich auf eine unangenehme Weise. Wie ein winziger Dorn stach das Gefühl des Verrats in mein Herz, als Malin sagte: „Es kommt mir vor, als würde ich Sie schon ewig kennen.“

Langsam drehte sich Moreau zu mir um und lächelte. „In diesem Haus wird über mich geredet?“

„Nur positiv, nur das Beste und …“, antwortete ich schnell.

Moreau wandte sich wieder von mir ab, sodass ich die letzten Worte gegen den dunkelblauen Blazer sprach, der sich um seinen breiten Rücken spannte. Der Mann hatte einen Körper wie ein Bodybuilder und kleidete sich so, dass man das gut erkennen konnte. Ja, der Rektor des Mixted Public École in Lion-sur-Mer war eine wahre Führungspersönlichkeit, ein Mann von Format, der über eine natürliche Dominanz und Anziehungskraft verfügte, der man sich kaum entziehen konnte; als wäre seine Gestalt ein Himmelskörper, dessen Schwerkraft die Menschen zwang, sich ihm zuzuwenden.

Mich widerten die Worte an, die ich rasch gehaspelt hatte: nur positiv, nur das Beste. Sie waren jämmerlich defensiv, obwohl es überhaupt keinen Grund gab, ihm gegenüber eine Abwehrhaltung einzunehmen. Warum hatte ich mich gleich so unterwürfig zu verteidigen versucht? Selbstverständlich sprach ich zu Hause über meine Arbeit, in den letzten Wochen mehr denn je, und dabei war natürlich auch hin und wieder der Name meines Vorgesetzten gefallen. Was war dabei?

„Ich hatte mir ein ganz anderes Bild von Ihnen gemacht“, sagte Malin. Wieder zeigte sie Paul Moreau ein scheues Lächeln. Dann schaute sie über seine Schulter zu mir, als suchte sie Zuspruch bei mir. Doch mein Gesicht, dieses gefurchte Gesicht, war wie erstarrt, und ihre Augen zogen sich fragend zusammen.

Im selben Moment wandte sich Paul Moreau voller Energie an mich. „Jules, wie geht es dir?“

Jetzt ist es so weit, dachte ich. Moreau wird mir gleich den Gnadenstoß geben, jetzt, da er gesehen hat, dass ich ein alter Mann in einem jungen Körper bin.

„Ganz gut, danke. Den Umständen entsprechend. Letzte Woche habe ich viel geschlafen und …“, antwortete ich.

„Wunderbar!“ Moreau nickte. „In zwanzig Minuten muss ich wieder in der Schule sein. Ich bin auch nur schnell vorbeigekommen, um dir etwas zu bringen.“

Paul drückte mir ein Buch in die Hand. Auf der Vorderseite war eine sich brechende Welle abgebildet. Mindmapping der Achtsamkeit – Einklang in deinem Leben stand in roten Buchstaben am blauen Himmel über dem schäumenden Wasser. Was für ein bescheuerter Titel!

„Das schien mir genau das Richtige für dich zu sein.“ Moreau klopfte mir auf die Schulter, zu hart für eine freundschaftliche Geste, aber zu weich für eine Ankündigung feindlicher Aktivitäten. „In der wöchentlichen Vorstandssitzung werden stets die Vorkommnisse an der Schule besprochen. Letzte Woche hat Durand natürlich zur Sprache gebracht, dass du mitten im Unterricht die Schule verlassen hast und nach Hause gegangen bist. Diese Aktion sorgte verständlicherweise für Aufregung, besonders unter den Schülern.“ Er wandte sich an Malin, als wüsste sie nichts von diesem Vorfall. „Die Klasse hat gehört, wie Jules sagte: ‚Ich muss mich nur schnell um etwas kümmern‘, und dann stürzte Ihr Mann aus dem Klassenzimmer. Fünf Minuten später sahen die Schüler durchs Fenster, wie er mit dem Fahrrad über den Schulhof davonradelte.“

 

Ich sah mich wieder vor der Klasse stehen, kurz bevor es passierte. Ich erzählte den Schülern gerade von meiner festen Überzeugung, dass sich Geschichte niemals wiederholte, wie das Klischee uns glauben machen wollte, sondern lediglich in die Gegenwart nachhallte und so unter Umständen wieder ähnliche Prozesse auslöste.

„Konflikte werden in der Regel selten wirklich gelöst, und deshalb schwelen auch nach einer Versöhnung die Differenzen weiter, bis sich unterschwellig wieder etwas zusammenbraut“, behauptete ich und wischte den Satz „Die Geschichte wiederholt sich“ dabei von der Tafel.

Ich seufzte und schwieg einen Moment lang. Starrte schweigend auf die verschmierten, ausradierten Worte. Nicht, weil mir der Text ausgegangen wäre oder weil ich die Klasse durch mein Schweigen ermahnen wollte, sondern weil meine Stimmbänder auf einmal ins Stocken geraten waren.

Der Arm, mit dem ich den Text weggewischt hatte, zitterte leicht, und der groteske Drang, meinen Mageninhalt gegen die Tafel zu speien, wurde rapide stärker. Ich presste meine Lippen zusammen, atmete tief durch die Nase ein, schluckte ein paarmal, was den Brechreiz unterdrückte. Noch einmal atmete ich tief ein und aus.

„Das ist allerdings eine nicht ungefährliche Schlussfolgerung“, fuhr ich fort, „denn die These impliziert, dass es besser wäre, zwei Feinde einen Krieg bis zum bitteren Ende fortsetzen zu lassen, als mit einer internationalen Streitmacht einzugreifen und den Konflikt dadurch ins Unterschwellige zu verbannen.“

Wieder verstummte ich. Auch andere Teile meines Körpers begannen zu zittern. Arme, Beine, Unterlippe. Leicht panisch wandte ich mich an die Klasse. Niemand schien mir zuzuhören, wirklich zuzuhören. Leere Blicke starrten mich an, vier Schülerinnen hinten rechts unterhielten sich. Nicht einmal sehr leise. Eigentlich sollte ich etwas sagen zu den Rücken, die mir zugewandt waren, zu dem Flüstern und Kichern, den geschlossenen Büchern, den Heften, die noch in Schultaschen steckten, zu dem Jungen, der schlafend mit vorgebeugtem Kopf auf seinem Tisch lag, zu den Zeichnungen, die auf lose Blätter gekritzelt waren, den Handys, die trotz des Verbots benutzt wurden. Doch ich war nicht im Klassenzimmer anwesend, stand außerhalb dieser Welt, befand mich nicht einmal in meinem Körper. Ich schwebte im All. Oder besser: im Nichts.

Ich löste mich aus dieser bizarren Erstarrung und wandte mich wieder der Tafel zu, setzte meine Geschichte fort. „Wenn es ein Wort gibt, das seine eigentliche Bedeutung kläglich verfehlt, dann ist es ‚Frieden‘.“

Das Sprechen war mühsam geworden. Meine Unterlippe widersetzte sich mir, tat nicht, was sie tun sollte. Die Geräusche hinter meinem Rücken schwollen an, und in diesem Moment kam es mir so vor, als erschlafften die Muskeln in meinen Armen und Beinen. Der Stift in meiner Hand wurde zu einem monströsen Gegenstand, den ich kaum mehr zu halten vermochte.

Ich zwang mich, den Marker in die Aluminiumablage unter dem Whiteboard zu stecken, und wandte mich wieder dem Klassenzimmer zu. Ich hustete. Das Getuschel schien für einen Moment zu verstummen, schwoll aber sofort wieder an. War es Einbildung, oder fiel durch die riesigen Fenster nun ein anderes Licht herein? Ein diffuses, grelles Licht, das harte Linien in die gemeißelten Gesichter der Schüler zeichnete, die mich nun alle anstarrten.

„Leute, hört zu!“ Ich hielt inne, weil ein Zischen durch den Raum zu gehen schien. Es kam von den Schülern, sie verstummten nicht. Meine Stimme klang dünn. „Wir werden es einen Moment anders machen“, hörte ich mich fast flüsternd sagen. „Nehmt jetzt das Buch vor euch und lest euch Absatz vier Punkt drei durch. Ich muss mich nur schnell …“

 

Moreau riss mir das Buch aus der Hand und blätterte es durch, ohne es sich anzusehen. „Niemand hat deinen Burn-out kommen sehen, Jules. Das Einzige, was mir in den letzten Wochen aufgefallen ist, war, dass du ständig über alles etwas zu meckern hattest.“ Der Rektor wandte sich wieder an Malin. „Nichts schien mehr richtig zu sein. Alles war in Auflösung begriffen. In seinen Augen war alles nur noch Chaos. Unterrichten war schwieriger als jeder andere Beruf, die Schüler waren unwilliger als früher, die Arbeitsbelastung war viel zu hoch. Als Durand mir dein Verhalten letzte Woche genau beschrieben hat, kam mir dieses Buch in den Sinn. Mein Yogatrainer hat mich vor einem Jahr darauf aufmerksam gemacht, und seit ich es gelesen habe, habe ich eine andere Einstellung zum Leben gewonnen.“

Moreau drückte es mir wieder in die Hand. Mir war nicht aufgefallen, dass der Herr Rektor sich im letzten Jahr verändert hätte. In der Mixted Public École hatte niemand dazu eine Andeutung gemacht.

Ich lächelte zurückhaltend. Oder sieht es spöttisch aus?

„Ja, Yoga. Ich schätze mal, das hättest du nicht von mir erwartet“, fuhr Moreau selbstgefällig fort und schaute dabei auf seine Uhr. „Hoffentlich bin ich dir nicht zu nahe getreten, Jules. Was ich dir gesagt habe, war nicht persönlich gemeint. Ich will wirklich nur das Beste für dich und natürlich für unsere Schule.“

„Nein, nein. Ich verstehe das schon.“

Wieder ließ Paul sein dämliches PR-Grinsen aufblitzen, aber ich war froh, dass er mir wenigstens nicht die Hand reichte. Ich war stinksauer. Aus allen möglichen Gründen.

„Ich muss dann wieder. War schön, dich zu sehen.“

Als ich ihn hinausgelassen hatte und das Zimmer wieder betrat, sagte Malin fast ehrfürchtig: „Ein außergewöhnlicher Mann, zu dem man einfach aufsehen muss.“

Ich erwiderte nichts, wollte nicht darauf antworten. Ich starrte das Buch an und stellte mir vor, wie ich später am Abend das Kaminfeuer damit füttern würde. Seite für Seite hineinwerfen, damit ich es lange genießen konnte. Ich hatte kein Bedürfnis nach einem bescheuerten therapeutischen Buch, und ich sehnte mich schon gar nicht nach Veränderung. Ich wollte schlafen oder mir stundenlang Filme ansehen, und ich wollte, dass sich das Leben für eine Weile einmal wieder um mich drehte. Nicht um das Prestige der Mixted Public École, nicht um die Zukunft meiner Schüler, nicht um Testergebnisse, Klasseninhalte, Elternabende, Arbeitswochen, Sporttage, Studienwahlen, Meetings, all die Firlefanzprobleme von pubertierenden Mädchen und pickligen Jungs, die ihre Eltern und Lehrer verfluchen.

„Was war das für ein komischer Mann“, hörte ich Lilou zu meiner Frau sagen.

„Er war doch ganz nett“, antwortete Malin lachend.

Ich schlug das Buch an einer x-beliebigen Seite auf und las: Stress beinhaltet drei Faktoren. Da sind natürlich die Ereignisse, die den Stress verursacht haben. Dann ist da noch die Reaktion unseres Körpers auf diese Stresssituationen. Der dritte und entscheidende Faktor aber ist die Art und Weise, wie wir damit umgehen. Dass wir nur bei diesem letzten Faktor eine Wahl haben, ist die schlechte Nachricht, die gute aber ist, dass wir überhaupt eine Wahl haben. Bei Mindmapping der Achtsamkeit geht es darum, die richtige Wahl zu treffen.

Für Moreau war mein Fernbleiben von der Schule offenbar eine Entscheidung, die ich gefällt hatte. Dieser schmierige Scheißkerl tat so, als hätte ich einfach keine Lust mehr, die Schule aufzusuchen!

Ich warf das Buch wütend auf den Esstisch, genau auf die Puppe, die meine Tochter aus bunter Knetmasse gebastelt hatte.

„Was machst du denn da, Papa!?“, kreischte Lilou. Unmittelbar danach begann sie zu weinen.

„Du hast die Beherrschung verloren, Jules. Nun benimm dich doch nicht wie ein Kleinkind!“, zischte Malin.

Normalerweise hätte ich Lilou sofort getröstet und ihr ein „Entschuldigung“ ins Ohr geflüstert, woraufhin sie mich mit einem Schmollmund ansehen würde, ich wiederum ihre Stirn küssen und ihren Hals mit meinen Lippen kitzeln würde, bis sie wieder lachte.

Stattdessen ging ich zum Fenster, schob die Gardinen ein wenig beiseite und sah gerade noch Moreaus Auto in die Hauptstraße einbiegen. Seine Reifen hatten eine Spur durch den Kies gezogen.

„Warum musste er mir unter die Nase reiben, dass ich bei der Vorstandssitzung auf der Tagesordnung stand?“

„Er wollte doch damit nur sagen, dass sie sich Sorgen um dich gemacht haben.“

Ich glaubte, eine Irritation in ihrer Stimme zu hören. Sie nimmt Moreau in Schutz, dachte ich. Sie hat mehr Verständnis für seine Position als für meine. Er hat sie beeindruckt, und jetzt stellt sie sich auf seine Seite. Ich hatte Malin immer vertraut und konnte nun wirklich auch von ihr Loyalität erwarten. Doch die schien sich allein durch sein Auftreten verschoben zu haben. Ob Moreau meine Frau begehrte?, fragte ich mich plötzlich. Ob sie ihn wohl attraktiv fand? Hatte sie das im Grunde nicht sogar zugegeben?

Ich spürte fast schmerzhaft, wie sehr ich Marlin brauchte. Und dann tauchte Moreau hier unerwartet auf, als wollte er sie mir abwerben. Was hatte er hier in meinem Heim überhaupt zu suchen?

Dabei hätte ich heute Morgen noch jeden Eid geschworen, ihre volle Loyalität zu besitzen. Aber es gab doch immer einen Haken, wenn Loyalität im Spiel war. Es dauerte Jahre, um echte Loyalität aufzubauen, und es genügten Sekunden, um sie zu zerstören.

Und für Moreau war Loyalität ohnehin ein Fremdwort.

Verärgert zerknüllte ich den dekorativen Vorhang. „Moreau kann so viel Süßholz raspeln, wie er will. Ich traue dem Frieden nicht. Irgendwas ist da im Busch.“

Frieden. Da war es wieder dieses verlogene Wort.

Hinter mir ertönte ein Seufzer. „Sieh doch nicht immer gleich so schwarz. Er war doch wirklich sehr nett zu dir, Jules. Vielleicht hat er recht, und dieses Buch wird dir helfen. Versuch es doch wenigstens.“

Ihre Stimme vernahm ich nur schwach, als wäre sie durch den Nebel gedämpft, der sich über meine Gedanken legte.

Ich antwortete nicht, und sie wandte sich irgendwann ab und erklärte, sie würde zum Supermarkt fahren. Es drang kaum zu mir durch, denn ich dachte noch immer über Moreaus Auftritt nach.

Achtsamkeit war auch so ein Wort, das Normalität vorgaukelte, wo Empörung angebracht wäre.

Als ich schließlich wieder aus dem Fenster schaute, sah ich Lilou unten am Bordstein sitzen. Sie spielte weder mit ihren Barbiepuppen noch mit dem kleinen Kochherd, an dem sie so viel Spaß hatte, seit Malin ihn ihr vor einer Woche geschenkt hatte. Lilou saß ganz einfach nur traurig da und hielt Ausschau nach ihrer Mutter, die zum Einkaufen im Supermarkt gefahren war. Die Ellbogen auf den Schenkeln und das Kinn in die Hände gestützt, ein vierjähriges Mädchen, das auf seine Mutter wartete. Weil sein Vater es enttäuscht hatte.

Ich fühlte mich plötzlich elend, mir war zum Heulen.

Ich öffnete die Tür und ging auf meine Tochter zu. „Lauf nicht auf die Straße“, sagte ich und nahm Lilou ganz fest in die Arme.

„Tu ich nicht, Papa.“ Sie hauchte es fast nur.

… die Beherrschung verloren

Lilou hatte nur ein bisschen geweint … nein … nein … die Wahrheit war … ich hatte laut herumgebrüllt. Es war so schwer, sich durch den Nebel jener Wut daran zu erinnern. Da war immer wieder dieser ständige Misston, diese kleine, aggressive Stimme in meinem Hinterkopf.

Ich ließ sie abrupt los und ging wieder ins Haus, setzte einen Kessel Wasser auf und legte für Lilou ein paar Kekse auf einen Teller. Vielleicht kam sie ja doch noch herein und suchte Versöhnung.

Ich setzte mich in den Sessel, den großen Becher vor mir, und schaute aus dem Fenster zu Lilou hinunter. Sie saß immer noch in ihrer dicken Wolljacke am Bordstein.

Die Tränen, die ich die ganze Zeit zurückgedrängt hatte, flossen jetzt. Ich beugte mich über den Becher mit dem duftenden, dampfenden Tee und weinte hemmungslos.

Weinte um die verlorene Vergangenheit und aus entsetzlicher Angst vor der Zukunft.

 

 

 

 Ein Mann auf einer Mission

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Ich muss unbedingt meine Gedanken ordnen. Und dazu musste ich mich ganz von der Welt zurückziehen. Nur dann konnte ich klarer sehen und in aller Ruhe nachdenken. Ich durfte nichts überstürzen und nichts Unüberlegtes tun. Ich wollte alle Umstände berücksichtigen, alle Möglichkeiten bis ins Kleinste vorher durchspielen, damit ich keine unliebsamen Überraschungen erlebte, die mich zum Improvisieren zwangen. Alles sollte perfekt sein, methodisch, durchdacht. Wenn mir in meinem Leben eine einzige Sache ohne den kleinsten Fehler gelingen sollte, dann diese.

Ich handelte nicht aus einem plötzlichen Impuls heraus. Ich hatte alles geplant, alles vorher bedacht, mir alles überlegt. Der Wahnsinn wies mir den Weg, und diesmal hatte ich beschlossen, auf ihn zu hören. Ich lieferte mich ihm mit Leib und Seele aus, damit er mich endlich leben ließ.

Als ich ein kleiner Junge war, war mein Verständnis von Vergeltung so simpel wie die Sprichwörter in Sonntagspredigten, die einem Rachegedanken ausreden sollten. Adrette kleine Moralsprüche wie „Was du nicht willst, dass man dir tut, das füg auch keinem andren zu“ oder „Ein Unrecht hebt das andere nicht auf“. Denn doppeltes Unrecht konnte niemals Recht ergeben, weil ein zugefügtes Leid ja kein anderes ungeschehen zu machen vermag.

Ich habe das lange geglaubt, bin aber heute anderer Meinung. Bei der Vergeltung wie überhaupt im Leben führte jede Handlung zu einer ähnlichen, ihr entgegengesetzten Reaktion. Wie bei dem Duell zweier Revolverhelden kam es darauf an, schneller zu sein. Und wenn man aus dem Verborgenen zuschlug, hatte man einen Vorteil. Ich zweifelte nicht an der Genugtuung, welche die Vergeltung bot. Letztendlich würden die Schuldigen fallen.

Mein Smartphone leuchtete das erste Mal auf, als ich Plumetot längst hinter mir gelassen und gerade die Gemeindegrenze von Lion-sur-Mer überquert hatte. Ich war nicht überrascht, dass der Anrufer meine Mutter war. Eine angenehme Unruhe schlich sich in meinen Körper: Die Umsetzung meines Plans hatte begonnen.

Aber fast sofort wich diese Unruhe Zweifeln, und während ich mit hoher Geschwindigkeit über die holprige Straße raste, kamen mir alle erdenklichen Fragen in den Sinn: Warum hat es fast zehn Minuten gedauert, bis jemand bemerkt hat, dass ich dem Trauerzug nicht gefolgt bin? Was sagte mir das über mich und meine Familie? Würde mein Plan überhaupt funktionieren? War ich der Richtige für dessen Umsetzung? Oder wäre es besser gewesen, für diesen Job eine Schlägertruppe anzuheuern? Vielleicht sollte ich lieber umkehren? Wenn ich das jetzt tun würde, auf halber Strecke der D221, die Lion-sur-Mer mit Plumetot verband, könnte ich in der Kirche sein, bevor der Gottesdienst begonnen hatte, und den Platz zwischen meiner Mutter und meiner Schwiegermutter einnehmen. Sie würden meine verspätete Ankunft akzeptieren. Wenn ich meiner Mutter ins Ohr flüsterte, dass sie recht damit gehabt hatte, dass ich nicht selbst hätte fahren sollen, würde sie allenfalls die Hand beruhigend auf meinen Oberschenkel legen, mich versprechen lassen, mit ihr zurückzufahren und mich jetzt zu beruhigen; ich kannte meine Mutter gut genug. Danach würde alles so weitergehen, wie es von allen erdacht und beabsichtigt war; und das durfte ich nicht zulassen.

Meine Mutter gab nicht so schnell auf. Mein Smartphone klingelte etwa zwanzigmal, bis es wieder still wurde. Doch erst da traf mich der Zweifel mit voller Wucht. Ich trat mitten auf der Straße auf die Bremse und hielt an. Sofort griff der Herbstwind nach der hohen Karosserie meines Volkswagens, klopfte gegen die Scheiben, als wollte er mich anspornen.

Vor mir lag die schmale Straße, die sich durch die Wiesen schlängelte. Die Pappeln standen aufdringlich zu beiden Seiten des Asphalts, die dunkelgrauen Wolken schwebten wie Baldachine über ihnen.

Einen Moment lang schloss ich die Augen …

 

Ich hatte bereits vor zwei Tagen die Entscheidung getroffen, nicht zur Beerdigung meiner Frau zu gehen. Mittwochabend blätterte ich am Esstisch durch die vier Fotoalben, die das kurze Leben unserer Tochter Lilou chronologisch ordneten. Ein Buch für jedes Jahr, das hatte sich Malin unmittelbar nach der Geburt unseres kleinen Mädchens ausgedacht. Damals hielt ich das für eine lächerliche Idee, denn was sollte unser Kind an seinem achtzehnten Geburtstag mit zwei Metern aneinandergereihter Fotobände?

Meine Eltern hatten mir drei Alben mit Fotos von mir geschenkt, als ich zu Hause auszog – ein guter Überblick über die Highlights meiner ersten zwanzig Jahre. Und jetzt, da ich meine beiden Frauen verloren hatte, erlaubten mir diese vier Alben, zu der anderen Lilou zurückzukehren, vor dem Bild, von dem ich mich nicht mehr befreien konnte, weil es meine Netzhaut nie wieder verlassen würde: Malins lebloser Körper in der Scheune neben unserem Haus. Er baumelte an einem der Fahrradhaken an der Decke und schwankte leicht hin und her, wie ein Boxsack nach einem Hieb.

Es war still in unserem Haus, stiller, als es jemals sein sollte. Ich hörte nur das Knarren der alten Balken unter der Last des Herbstwindes und das Knistern der Schutzblätter im Album.

Fasziniert schaute ich auf die Fotos, die ich vor vier Jahren während der Schwangerschaft geschossen hatte. Ich erinnerte mich an die Geburt von Lilou, als wäre es gestern gewesen, und vor allem an das unumkehrbare Glück, das meine Frau ausstrahlte, trotz der vierundzwanzig Stunden anhaltenden Wehen und der zwei Stunden, in denen Malin ihre Urkräfte mobilisieren musste, um Lilou zu gebären. Von dem Moment an, als der gekrümmte, klebrige kleine Körper an die Brust seiner Mutter gelegt wurde, strahlte Malins erschöpftes Gesicht vor Freude.

Aber jetzt, da meine Frau seit zwei Tagen tot war, konnte ich diese Freude auf keinem der Fotos wiederentdecken. Es kam mir vor, als hätte ich sie mir im Laufe der Zeit selbst ausgedacht.

Plötzlich spürte ich eine brachiale Wut in mir: Mein Kind und meine Frau wurden mir genommen, ihr Leben wurde ausgelöscht. Einfach so.

 

Ich öffnete die Augen und trat wieder auf das Gaspedal, aber ich ließ die Kupplung noch nicht los. Der Motor heulte kurz auf, dann war es wieder still …

 

Nachdem ich die Fotoalben durchgeblättert hatte, schaltete ich den Fernseher ein und zappte kopflos durch die Sender, auf der Suche nach einer Ablenkung, nach etwas, um meine Wut zu kanalisieren. Ich blieb schließlich bei TV5Monde hängen und starrte auf den Actionfilm Sam, einen Streifen über einen Polizisten, dessen perfektes Leben in die Brüche geht, als seine Familie getötet wird. Sam nimmt Rache und avanciert zum kaltblütigen Killer. Der Ausgang stand fest: Die Verbrecher würden sterben, der Polizist überleben. Entschlossenheit lag im Blick des Mannes, seine eiskalte Ausführung sicherte ihm den Erfolg.

Auch meine Familie war tot, Frau und Tochter. Ich konnte nichts daran ändern, aber ihr Tod hatte alles für mich verändert. Ich sank tief in die Couch, und zum ersten Mal seit Tagen gelang es mir, mich zu entspannen. Die Vorhersehbarkeit und der unrealistische Charakter des Films hatten mich eingelullt und mir Ruhe geschenkt. Mir wurde bewusst, dass ich in meinem jetzigen Leben noch etwas zu Ende bringen wollte.

Meine Augenlider wurden schwerer, und mein Kopf sank zur Seite.

Warum siehst du dir das an, Jules?

Eine kleine Stimme wisperte in meinem Kopf. Ich setzte mich aufrecht hin.

Verdammt noch mal, glaubst du, es sei ein Zufall, dass dieser Film gerade heute Abend läuft?

Und ich sah weiter fern. Schaute auf den Polizisten, suchte nach dem, was sich hinter den Bildern verbarg, nach der Logik des Streifens. Am Ende, als alle Bösewichte getötet waren und der Held triumphierte, sah ich ihn mir genau an: Sam hatte nichts wiedergutmachen können, sein Schmerz würde für immer bleiben, aber dennoch wirkte er auf seltsame Weise befriedigt und befreit.

Nun war ich meiner Sache sicher: Diese Erfolgsgeschichte verdiente es, nachgezeichnet zu werden.

 

Jetzt, da ich auf der Straße zwischen den Wiesen stand, fragte ich mich jedoch, ob es wirklich das war, was ich wollte.

Ich war ein Lehrer, bei Gott, ein Mann mit einer Vorbildfunktion. Ich trichterte den Schülern immer wieder ein, dass sie ihre Energie besser darauf verwenden sollten, das Denken zu erlernen, denn nur die Kraft des Denkens bringe ihnen neue Schlussfolgerungen und könne verzehrende Emotionen in friedliche Erkenntnisse verwandeln.

Und nun stand ich selbst an der Schwelle zum Irrationalen. Bereit, sie zu überschreiten.

 

Aus Lion-sur-Mer näherte sich mir der Lieferwagen von Jacques Trémont, dem Blumenhändler aus unserem Dorf. Er hatte Blumen und Kränze für die Beerdigung geliefert. Ein unangenehmer Zufall. Der Fahrer verlangsamte den Wagen und fuhr im Schneckentempo an mir vorbei. Die Überraschung konnte ich in seinen Augen lesen. Ich nickte Jacques zu, nicht als Gruß, sondern als Bestätigung: Ja, ich bin es, Jules, der eigentlich gerade in einer Kirchenbank Rotz und Wasser weinen sollte.

Ich war aber auch der Mann, der eine Schuld zu begleichen hatte, der Mann mit einem Plan. Der Mann, der sich selbst wegzaubern würde.

In ein oder zwei Tagen, wenn ich offiziell als vermisst galt und mein Foto in den Zeitungen abgebildet war, würde Jacques besorgt zum Telefon greifen, um zu melden, dass er mein Auto mitten auf der Straße gesehen hatte, würde diesen Austausch von Blicken beschreiben, mein mechanisches Nicken, das man durchaus auch als Abschiedsgruß deuten könnte.

Ich schloss erneut die Augen und sah wieder den Raubvogel vor mir, seinen Sturzflug, die Krallen, die Beute. Voller Überzeugung trat ich abermals aufs Gas und ließ die Kupplung los, nachdem ich geschaltet hatte.

Während ich mit hoher Geschwindigkeit die lange, kurvenreiche Straße entlangfuhr, erhielt ich einen zweiten Anruf, diesmal von meinem Schwiegervater. Ich klickte den Anruf weg. Ein deutlicheres Signal konnte ich nicht geben.

Du bist ein Mann auf einer Mission!

Ich nickte mir selbst im Rückspiegel zu. Ich war ein Mann auf einer Mission, und niemand konnte mich davon abhalten, sie auszuführen.

Der Asphalt war am Wegrand abgesackt und rissig. Die Bäume auf beiden Seiten der Straße schienen mir mit ihren Zweigen Beifall zu klatschen, ab und zu schob der Herbstwind mein Auto leicht in ihre Richtung, damit sie mich umarmen konnten. Ein Hochgefühl erfüllte mich.

Viel zu schnell näherte ich mich der letzten Kurve kurz vor Lion-sur-Mer. Dort jubelten mir die Bäume nicht mehr zu, sondern zeigten stumm die Narben der abgeschlagenen Rinden, kahle Stellen wie Wundmale, die meinen Schmerz zurückriefen.

 

 Gebrochene Flügel

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Moreaus Buch ist nicht im Kamin gelandet. Malin rettete es vor der Zerstörung, nachdem ich ihr meine Absicht kundgetan hatte. Sie stellte es stattdessen in den Bücherschrank, und zwar frontal, die Vorderseite auf den Betrachter gerichtet.

„Bald wirst du es lesen wollen“, sagte sie mit Bestimmtheit. Malin stand direkt vor mir und umarmte mich: „Du wirst mir noch dankbar sein, dass ich es gerettet habe. Du musst erst zur Ruhe kommen, bevor du es lesen kannst.“

Sie küsste mich flüchtig und versuchte meinen Blick zu einzufangen, aber ich löste mich aus ihrer Umarmung. Die Welle auf der Vorderseite des Buches starrte mich aus dem Bücherregal an wie ein dunkles, hypnotisierendes Auge. Warum hatte sich Moreau die Mühe gemacht, den ganzen Weg von Lion-sur-Mer zu unserem abgelegenen Haus zu fahren? Hatte ihn dieses Buch tatsächlich dazu motiviert, anders auf seine Lehrerkollegen zuzugehen? Nein, bestimmt nicht. Da war irgendetwas im Gange, von dem ich ein Teil war, wovon ich aber nicht die geringste Ahnung hatte.

„Du solltest heute mal wieder an die frische Luft gehen, du hast eine Woche lang das Haus nicht verlassen“, fuhr Malin fort, als sie sich wieder an den Esstisch setzte. Lilou hatte ihre Tonpuppe repariert, die ich mit dem Buch zerquetscht hatte, und zeigte sie ihrer Mutter. Malin lächelte bewundernd. Dann drehte sie sich wieder zu mir um.

„Es ist wichtig, dass du in Bewegung bleibst, dass du positive Dinge tust, Jules. Dann wirst du dich auch schneller erholen. Geh doch wieder joggen. Wie lange ist es her, dass du das letzte Mal Laufen warst?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich bin immer noch verletzt.“ Ich umfasste mein linkes Knie und zog meinen Unterschenkel ein paarmal hoch. Der einstige Schmerz war längst verschwunden, ebenso meine Lust, durch den Wald zu laufen. Die Augen meiner Frau wanderten zu meinem Bein und wieder zurück.

Verachtung. Offensichtlich. Sie hatte mich durchschaut.

„Geh doch bitte heute Nachmittag mit Lilou ein bisschen in den Wald. Nimm einen Rucksack mit Getränken und etwas Leckerem zum Essen mit. Die Fleecedecke liegt im Kofferraum. Dann könnt ihr zwei irgendwo ein Picknick machen. Du musst endlich etwas tun, um wieder Energie zu tanken!“

Meine Tochter ließ die Knetmasse aus ihren Händen fallen. „Oh ja, in den Wald! Das machen wir, Papa. Wie toll!“ Lilou rutschte vom Stuhl und stellte sich strahlend direkt vor mich.

„Papa wird darüber nachdenken, Schätzchen“, antwortete ich und streichelte mit meiner Hand ihren Kopf.

„Ja! In den Wald, in den Wald, in den Wald“, jubelte Lilou vor Freude und hüpfte aus dem Zimmer.

Ich hörte, wie sie zum Schuhregal im Flur ging. Es gab keinen Ausweg mehr. Ich würde mit ihr nach draußen gehen müssen, weil meine Frau das für mich geplant hatte.

„Lilou hält das doch gar nicht durch“, protestierte ich. „Sie ist vier Jahre alt. Nach fünf Minuten jammert sie rum, dass sie müde ist.“

Malin presst ihre Augenlider zusammen. „Du meinst, du wirst nicht durchhalten?“

Ich antwortete nicht. Ich war abgelenkt. Mehr noch als Malins Augen spürte ich Moreaus Welle, die mich anstarrte. Sein Buch hatte sich in meinen Rücken eingebrannt. Entschlossen drehte ich mich um, ging zum Bücherregal und legte das Geschenk des Rektors flach hin, drehte es auf den Kopf, dachte kurz darüber nach und schob es schließlich irgendwo zwischen die anderen Bücher. Die Rückseite zeigte nur den Titel: Mindmapping der Achtsamkeit – Einklang in deinem Leben.

 

An der Rückseite des Hauses vorbei verließen wir unser Grundstück. Lilou lief vor mir die Landstraße hinunter, die sich allmählich zu einem Waldweg verengte. Der sandige Pfad war unser privater Eingang in den Wald. Außer Bauer Bernard, der uns schräg gegenüber wohnte und ein Weizenfeld rechts neben unserem Haus besaß, benutzte niemand diesen Feldweg. An heißen Sommertagen roch es nach aufgewühlter Erde und wilden Blumen. Die Baumkronen rauschten leise, als würden uns Hunderte Menschen gleichzeitig zur Stille ermahnen.

Lilou hatte bereits den Wald erreicht. Sie wartete nicht auf mich, sondern verschwand aus meinem Blickfeld, als der Weg nach rechts abbog. Ich ließ sie gehen. Sie würde bald müde sein und auf mich warten.

Ich drehte mich kurz zu unserem Haus um. Malin lehnte sich an den Türrahmen des Scheunentors. Sie hob ihre Hand, winkte mir kurz zu und verschwand gleich darauf im Haus. Ich erwiderte ihren Gruß nicht, ich wollte mehr als alles andere in die Sicherheit unseres Wohnzimmers zurückkehren, den Rest des Tages im Sessel am Fenster verbringen und auf das sanfte Wiegen des Maises links vom Haus und die Weizenfelder zur Rechten starren.

Ein Schrei ertönte aus dem Wald, ein tiefer, kehliger Ton, der in panisches Weinen überging. Ich brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass er von Lilou kam. Meine Lilou, mein kleines Mädchen, meine Mini-Malin! Ich erkannte es an der Art und Weise, wie mein Körper auf den Schrei reagierte, als ob sich mein ganzes Inneres für einen Moment zusammenzöge und dann wieder kräftig ausdehnte.

Mit großen Schritten lief ich über den sandigen Weg auf die Bäume zu. Die Thermoskanne in meinem Rucksack rieb an meiner Wirbelsäule, und bei jedem Schritt stieg Sand vom Boden auf.

Das Heulen ging weiter, und jeder Weinkrampf endete in einem lauten Schrei. Lilou war weiter entfernt, als ich gedacht hatte. Ich lief fast fünfzig Meter in den Wald hinein, ehe ich meine Tochter erreichte.

Sie stand mitten auf dem Feldweg und schrie. Erstarrt, den Kopf auf den Boden gerichtet. Ihre Fäuste ballten sich, ihre Arme hielt sie fest an den Körper gepresst. Es war niemand in der Nähe, es gab nichts zu sehen. Als sie spürte, dass ich hinter ihr stand, ging Lilou einen Schritt zurück, umfasste meine Beine und zeigte auf den Boden.

„Ich bin darauf getreten“, sagte sie schluchzend, „aber nicht mit Absicht.“

Zu ihren Füßen zappelte ein verletzter Vogel. Er drehte sich durch die lockere Erde im Kreis, weil er nur einen Flügel benutzen konnte, der andere war gebrochen. Die Federn bildeten keinen ordentlichen Fächer, sondern standen in alle Richtungen ab, und die äußere Hälfte des Flügels zeigte gerade nach oben. Der Kopf des Vogels war ramponiert, und sein kleiner Rücken teilweise aufgerissen. Wahrscheinlich war er knapp einer Katze entkommen und mit allerletzter Kraft hierhergeflogen.

„Ich stand auf seinem Flügel.“ Lilou schaute mit tränenüberströmten Augen zu mir auf. „Ich hab ihn doch nicht gesehen, Papa. Ich bin hier gelaufen, und plötzlich machte es knack.“ Sie deutete mit dem Finger auf den Flügel des Vogels, der wieder zu zappeln begann.

Ich sah, dass eines seiner Beine ebenfalls gebrochen war. Der Vogel bewegte seinen Kopf noch ein paarmal nervös hin und her, dann sackte er plötzlich zu Boden. Regungslos lag er zu Lilous Füßen. Meine Tochter klammerte sich an meine Beine. „Ist er tot, Papa? Hab ich ihn getötet?“

Die Brust des Vogels hob sich.

„Er lebt, Lilou. Er ist am Leben!“

Lilou ließ meine Beine los und beugte sich über das Tier. „Ich hab dich wirklich nicht gesehen, Vogel.“

In meinem Kopf hörte ich Malin kreischen: „Entferne sofort den Vogel! Du weißt, wie sensibel Lilou ist. Sie hat Angst vor dem Tod.“ Meine Frau würde mich mit ihrem Blick durchbohren.

Ich musste den Vogel schleunigst von hier fortbringen, oder wir mussten uns entfernen. Vorzugsweise beides.

„Du bleibst hier, Lilou. Papa sucht für den Vogel einen Platz zum Schlafen. Er muss sich ausruhen.“ Ich sank auf die Knie und bewegte meine Hände in Richtung des Vogels. Seine Augenlider wölbten sich weiter auf, das Tier erstarrte, bewegte sich nicht mehr.

„Genau wie Papa“, sagte Lilou. Sie klopfte mir auf die Schulter.

Überrascht wandte ich mich wieder meiner Tochter zu. Genau wie Papa? Was hat mein vierjähriges Mädchen noch von meinem Burn-out mitbekommen?

„Mama sagt, Papa ist müde, und wir werden deshalb bald keinen Cent mehr haben“, fügte Lilou hinzu, als ob sie meine Gedanken lesen könnte.

Ich nickte. „Ja, Papa ist müde, aber du musst dir keine Sorgen machen. Mama macht nur Spaß.“

Mit Abscheu, Gänsehaut an meinen dünnen Armen und gegen die Tränen ankämpfend, hob ich den verstümmelten Vogel vom Boden auf.

Sein Körper war warm und klebrig, er zitterte vor Stress und zappelte wieder unkontrolliert. Reflexartig schloss ich meine Hände, um ein Entkommen zu verhindern. Das aufgerissene Fleisch drückte gegen meine Handflächen, und ich spürte etwas Feuchtes zwischen meinen Fingern.

„Du wartest hier auf mich. Okay?“, sagte ich wieder. Lilou schaute stumm auf meine Hände. Der ramponierte Vogelkopf ragte wie ein Zeiger zwischen meinen Daumen empor.

Ich verließ den Weg, ging zwischen den Büschen hindurch zu einer moosbewachsenen Lichtung und kniete dort außer Sichtweite meiner Tochter hinter einem dicken Baumstamm nieder. Der Vogel verkrampfte sich, als ich ihn hinlegte. Ich nickte ihm zu, stand auf und wollte zu meiner Tochter zurückkehren. Wenn ich ihn hier so zurücklassen würde, würde er einen langsamen Tod erleiden oder von einem anderen Tier als Spielzeug oder Abendessen benutzt werden. Ich schaute mich um und fand einen Stein, der groß genug war, um den Vogel von seinem Elend zu befreien.

Ich kniete mich wieder neben ihn hin, und es kam mir so vor, dass ich mich selbst ansähe. Ich war dieses angeschlagene Tier auf dem Moos. In einem Moment der Schwäche war ich von einem mehrköpfigen Raubtier geschnappt worden. Wochenlang hatte es mich gejagt, mit mir gespielt, und nun lag ich erschöpft am Boden.

Malin hatte mich aus einem bestimmten Grund nach draußen geschickt, meine Tochter war mir aus einem bestimmten Grund vorausgelaufen, dieser Vogel lag aus einem bestimmten Grund auf dem Weg hinter unserem Haus. Jemand versuchte mir zu sagen, dass ich ein angeschlagener Vogel mit einem gebrochenen Flügel sei, der keinen Gnadentod brauchte, sondern Hände, die ihn trugen.

Ich holte tief Luft. In dem Moment, als ich meine Hand öffnete und den Stein losließ, entwich meinem linken Auge eine Träne.

 

 

 Ein hochkomplexes Innenleben

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Als ich die Landstraße verließ und auf die Provinzstraße zwischen Plumetot und Lion-sur-Mer fuhr, fiel die Anspannung ein wenig von mir ab. Das Adrenalin, das mich anfangs hellwach gemacht und meinen Verstand geschärft hatte, ließ nach, und als ich auf der Schnellstraße war, richteten sich meine Augen nach innen. In tiefem Dunst glitt ich durch die normannische Landschaft, ließ Plumetot hinter mir, ohne gewahr zu werden, dass ich die Orte Cresserons und Douvres-la-Délivrande passierte, mein Auto über Verkehrsplätze lenkte, unter Viadukten hindurch und an Ampeln vorbei.

Ich dachte zurück an die Aufnahmen der Geburt meiner Tochter, die ich mir Anfang der Woche in der tödlichen Stille angesehen hatte. Besonders die Aufnahme der Hebamme, die Lilous kleinen Körper mit einer Hand an den Beinchen hochhielt und mit der anderen die Wirbel in ihrem Rücken zählte, war mir nun wieder deutlich vor Augen, denn dieses Ereignis war offenbar einfach aus meinem Gedächtnis gelöscht worden. An das Durchtrennen der Nabelschnur hingegen erinnerte ich mich gut und auch an die Zärtlichkeit, mit der die Hebamme den vor Kälte gekrümmten Babykörper in eine hydrophile Windel wickelte, und ich wusste noch genau, wie ohrenbetäubend Lilou gekreischt hatte, als sie gewaschen wurde.

Ich vernahm wieder das Seufzen meiner kleinen Tochter, nachdem sie ihren ersten Durst an der Brust ihrer Mutter gestillt hatte. Aber der Apgar-Test war mir ebenso entrückt wie der Telefonanruf, in dem ich meinen Eltern mitteilte, dass unsere Tochter ein gesundes Mädchen von sieben Pfund sei. „Sie heißt Lilou, und alles ist dran.“

Erst als ich Lion-sur-Mer erreichte und mein Auto auf der Küstenstraße zum Spielball des starken Oktoberwindes wurde, kehrte ich aus meiner Abwesenheit zurück und war sofort wieder hoch konzentriert. Zu meiner Rechten wellte sich der Atlantische Ozean, zu meiner Linken erstreckte sich in der Ferne die Stadt. Ich warf einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett. Der Gottesdienst musste mittlerweile fast vorbei sein. In wenigen Augenblicken sollte ich die letzten Worte an meine Frau richten, bevor der Sarg zum Grab auf den Friedhof hinter der Kirche getragen würde. Mein Vater nähme vermutlich meinen Platz ein, um auf Geheiß meiner Mutter den Anwesenden mitzuteilen, ich sei so von meinen Gefühlen überwältigt, dass ich die Beerdigung nicht mehr ertragen könne. „Jules bedauert dies sehr“, würde er vielleicht mit belegter Stimme hinzufügen, „aber ich denke, wir alle verstehen, dass ihm für diese zweite Beerdigung in so kurzer Zeit die Kraft fehlt.“

Auch bei Lilous Beerdigung hatte mein Vater spontan eingreifen müssen. Beim Hören von „Tears in Heaven“ von Eric Clapton stand Malin plötzlich auf und ging zum Mikrofon. Ich war genauso überrascht wie der Bestatter, der sofort anfing, im Programmheft zu blättern, und dann nervös auf seine Uhr schaute. Ich sah Panik in seinen Augen. Wir hatten uns vorher darauf verständigt, dass niemand sprechen würde, weil uns durch den Schmerz das Atmen schwerfiel, weil wir erstarrt waren zwischen dem Vorher, als alles hell, strahlend und leicht war, und der Dunkelheit, nachdem Lilou uns verlassen hatte. Als hätte Lilous Tod das Licht verdrängt.

Aber da vorne stand nun trotzdem meine Frau. Schluchzend, zitternd, in sich gekehrt. Malin zog das Mikrofon mit einem lauten Ruck aus dem Ständer, ging auf den geschlossenen Sarg zu, beugte sich über ihn und ließ ihre Hand über den Deckel gleiten, als würde sie Lilous Haut streicheln. Dann stammelte sie minutenlang unverständliche Worte in das Mikrofon, während ihr Tränen über das Gesicht liefen.

„Tears in Heaven“ klang langsam aus, hinter mir hörte ich Gemurmel. Schließlich ging mein Vater an mir vorbei und nahm meiner Frau das Mikrofon ab. Sie wehrte sich nicht. Das Einzige, was schließlich verständlich durch das Kirchengewölbe hallte, war ihr letzter Satz: „Mami ist so dünn wie ein Blatt Papier.“

 

Während ich die Küstenstraße weiter entlangraste und ein Auto nach dem anderen überholte, versuchte ich mir meinen Vater vorzustellen, wie er jetzt neben dem Sarg stand, die Hände unbehaglich in Höhe seines Kreuzes gefaltet, den Blick auf den Steinboden der Kirche gerichtet. Ich konnte das Gesicht, das mir so vertraut war, aber nicht vor mein inneres Auge holen. Stattdessen sah ich immer nur Moreaus widerwärtige Visage. Das spöttische Lächeln, die Art, wie er trotzig sein Kinn hob, wenn man ihn anschaute. Ich drückte das Gaspedal ein wenig weiter durch.

Tu es jetzt! Kehr um, fahr mit dem Auto durch das Tor zu seinem Haus, schlag ihn ins Gesicht, bis er bewusstlos wird, schleif ihn in deinen Schuppen und häng ihn auf, schau zu, wie seine Augen aus den Höhlen quellen, während deine Hände seinen zappelnden Füßen einen Schubs geben.

Einen Moment lang wollte ich dem Drang nachgeben, dieser dünnen inneren Stimme zu gehorchen. Aber Ruhe zu bewahren war eine Voraussetzung für eine erfolgreiche Mission. Ich musste mich auf meine Aufgabe vorbereiten wie Sam in dem Actionstreifen: konzentriert, selbstbewusst und unsichtbar für die Welt …

 

Als wir im Krankenhaus eintrafen, erhielten wir bereits die ersten Ergebnisse der Kriminaltechnik. Niedergeschlagen hörten wir dem jungen Polizisten zu, der nach einer Beileidsfloskel sachlich rekonstruierte, wie sich der Unfall unserer Tochter zugetragen hatte.

Ich rief mir seine Worte wieder ins Bewusstsein, als ich über die Küstenstraße raste: „Der Fahrer ist viel zu schnell gefahren.“

Meine Seele hatte sich vor Schmerz gekrümmt, als der junge Polizist diese Worte sprach, und eine Flut von Bildern war über mich hereingebrochen. Meine Tochter fuhr mit dem Fahrrad in gerader Linie am Bürgersteig entlang, wurde aber von einem Scooter aufgeschreckt, der so nah an ihr vorüberrauschte, dass sie die Kontrolle verlor. Sie stürzte in dem Moment vom Rad, als ein Fahrzeug vorbeifuhr. Der Fahrer konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen. Die Stoßstange traf Lilous Hinterkopf, und ihr kleiner Körper wurde durch die nach vorne gerichtete Kraft des Autos etwa elf Meter weit über das Pflaster geschleudert. Das hatten Zeugen ausgesagt. Erst hörten sie quietschende Reifen, dann einen dumpfen Aufprall und schließlich das Geräusch einer Tasche, die über den Boden geschleift wurde. Diese Tasche gehörte offenbar meiner Tochter. Ein Scooter wurde nicht erwähnt.

Der Polizist neigte den Kopf. Seine Hände zitterten, und das Papier, von dem er den Text ablas, zitterte mit ihm. Ich schloss meine Augen und sah den zertrümmerten Kopf meiner Tochter vor mir: unförmig, stark geschwollen und mit Rissen übersät, die Haut abgeschabt. Rohes Fleisch und Knochen waren sichtbar. Ein paar Stunden zuvor war ich bei ihrem ersten Anblick ohnmächtig geworden, jetzt war es wichtig, ruhig ein- und auszuatmen, um mich nicht übergeben zu müssen. Was für einen Schmerz musste Lilou empfunden haben, als die Stoßstange den Schädel meines Mädchens spaltete.

Die Stimme des jungen Polizisten überschlug sich für einen Moment, als er fortfuhr. „Auch ihr Fahrrad wurde schwer beschädigt. Bis der Trauma-Hubschrauber landete, verging eine Viertelstunde. Ihre Tochter starb, kurz nachdem sie in den Helikopter gehievt worden war.“

Der Polizist verstummte wieder. Er sah uns verzweifelt an, faltete das Papier zusammen und räusperte sich: „Der Fahrer ist unverletzt geblieben.“

Ich erinnerte mich noch genau daran, wie Malin am Ende des Berichts sagte: „Er konnte nichts dafür, ihn trifft keine Schuld.“

Wer hatte dann aber Schuld? Irgendjemand musste doch den Unfall verursacht haben? Die Suche nach der Schuld warf Fragen auf und war für mich eine alles beherrschende Qual.

Man konnte der Schuld den Rücken zukehren, doch am Ende schlich sie sich von hinten an und verschlang den Schuldigen bei lebendigem Leib.

Das war meine Mission.

 

Ich hielt am Denkmal auf halber Strecke der Küstenstraße und starrte auf das Smartphone auf dem Beifahrersitz. Wenn mir etwas zustieße, wäre dieses Ding die einzige Verbindung, die ich mit der Außenwelt hätte.

Sicher, in Notfällen bräuchte ich das Handy. Aber das Gerät könnte auch jemandem nützlich sein, der mich aufspüren wollte. Sein hochkomplexes Innenleben sendete kontinuierlich Signale in den Weltraum, und all diese Signale wurden auf dem Server eines Providers gespeichert. Mord- und Entführungsfälle wurden manchmal dank der Funkdaten von Telefonmasten aufgeklärt. Wenn ich für längere Zeit an einem Ort bleiben würde, wäre ich relativ leicht zu lokalisieren.

Ich riss die SIM-Karte aus dem Gerät, stieg aus und ging zu einem der Mülleimer, die den Parkplatz säumten, als mir einfiel, dass es nicht ausreichte, sie wegzuwerfen. Jedes aus der Luft aufgefangene Signal war ein potenzieller Richtungsanzeiger. Warum hatte ich nicht schon früher daran gedacht? Weil ich in den letzten Tagen ganz damit beschäftigt gewesen war, den trauernden Ehemann zu spielen, den Mann, der eine perfekte Beerdigung für seine Frau wollte, der von Schmerz zerrissen war, sich stotternd mit dem Bestatter über die Zeremonie beriet, mit brechender Stimme über Farbe und Holzart des Sargs sprach sowie über Rosen oder Tulpen, Blumen oder Kränze, Schubert oder Mozart, Kuchen oder Kekse, Suppe oder Sandwiches? Es war nicht die Trauer, die es mir unmöglich machte, tagsüber zu funktionieren, und mich nachts wach hielt, sondern Wut. Während dieser schlaflosen Nächte hatte ich genug Zeit, um darüber nachzudenken, wie meine Rache aussehen würde.

Ich starrte vom Parkplatz oben auf den kilometerlangen Strand in Richtung Saint-Aubin-sur-Mer. Konnte ich die SIM-Karte zusammen mit dem Smartphone nicht in den Atlantischen Ozean werfen? Wäre es besser, die Karte zu zerschneiden? Wäre dann gewährleistet, dass der Chip kein Signal mehr aussendete?

Ich wandte mich vom Meer ab. Ein älteres Ehepaar beugte sich auf der anderen Straßenseite vor, dem Wind zugewandt, um das Denkmal aus der Nähe zu bewundern. Die Frau hatte ihren Arm fest in den ihres älteren Mannes eingehakt. Sie trug ein geblümtes Kleid und ein Kopftuch, aus dem sich ihr graues Haar vorne kräuselte. Was für ein Privileg, dachte ich, in diesem Alter auf vier wackeligen Beinen zusammenzustehen, sich gegen den Wind zu stemmen und nicht zu brechen.

Als sie weg waren, ging ich zurück zu meinem Auto, öffnete den Kofferraum und schnappte mir die Kurbel, die neben dem Ersatzreifen lag, legte den Chip auf die Steine und zertrümmerte die SIM-Karte in drei Teile. Ich schob sie mit dem Fuß in eine Bordsteinrinne. Dann lief ich zur Brücke und warf mein Handy ins Wasser, aber der starke Gegenwind erfasste das Gerät, das am Ende auf den Steinen, die den Schutzwall vor dem Wasser bildeten, zerschellte.

Ich nickte zufrieden. Die Vergangenheit war gekappt.

 

 

 Der Mann mir gegenüber

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Malin schien sich ertappt zu fühlen, jedenfalls schreckte sie durch das Öffnen der Tür auf. Mit einer fließenden Bewegung erhob sie sich vom Stuhl und klappte mit einem Finger das Buch zu, das vor ihr auf dem Tisch lag.

„Ihr seid schon zurück?“

Ich wusste sofort, um welches Buch es sich handelte. Das blaue Cover war so dominant, fast beschwörend.

„Papa musste weinen“, sagte Lilou. „Und ich auch.“

„Du hast geweint? Was ist passiert?“

Ich machte eine abwehrende Geste, ging an Malin vorbei zum Tisch und nahm das Buch in die Hand. „Es war nichts.“

Zum zweiten Mal an diesem Tag legte ich Moreaus Lebenslektionen beiseite.

„Ich würde es trotzdem gerne wissen.“ Malin stand hinter mir. „Was ist passiert?“ Ich machte einen Schritt zur Seite, aber sie versperrte mir den Weg.

Ich seufzte. „Lilou ist auf einen verletzten Vogel getreten. Sie geriet in Panik. Das Tier lag bereits im Sterben. Wahrscheinlich hat sich eine Katze an dem Vogel vergriffen und ihn auf dem Weg liegen lassen.“

„Papa hat den Vogel in ein Bettchen hinter einem Baum gelegt, und ich musste auf dem Pfad warten, weil er sich ausruhen muss, genau wie Papa“, ratterte Lilou herunter.

„Was hast du getan?“

Ich räusperte mich. „Der Vogel war krank und müde.“

„Hast du ihn …?“

Langsam schüttelte ich den Kopf. „Ich konnte es nicht“, flüsterte ich.

Lilou erlöste mich. „Zuerst fing ich an zu weinen, und dann ging Papa los, um den Vogel in sein Bett zu bringen, und als er zurückkam, fing Papa an zu weinen, und dann sagte ich, dass man doch nichts dagegen tun könne, und da lachte Papa wieder. Nur einen Moment lang. Stimmt’s, Papa?“

Ich nickte fast unmerklich. „Dann sind wir einfach nach Hause gegangen“, fügte ich hinzu.

Malin berührte einen Moment lang meine Schulter, eine winzige Berührung mit ihren Fingerspitzen. „Oh, Jules, es steht schlimmer um dich, als ich vermutet habe.“

Ihre Worte berührten mich. Ich biss die Zähne fest zusammen, aber die Tränen konnte ich nicht mehr zurückhalten.

 

In dieser Nacht wurde ich von einer aufdringlichen Stimme wachgerüttelt: Du musst laufen. Sofort schaltete ich die Leselampe auf meinem Nachttisch ein. Malin lag neben mir und schlief. Ich schaltete das Licht aus und wälzte mich in den Laken. Wieder diese Stimme: Du musst laufen, laufen, laufen.

Ich lag auf der Seite, starrte die Wand an und hatte noch den Geschmack von aufgelöstem Aspirin auf der Zunge, die sich jetzt rau und ein wenig taub anfühlte. Malin atmete langsam und regelmäßig.

Es steht schlimmer um dich … Du brauchst dir um nichts Sorgen zu machen, Jules. Malins Stimme am Abend hallte beängstigend kalt in meinem Kopf nach.

„Was genau ist das Nichts, um das ich mir keine Sorgen zu machen brauche? Sag’s mir, Malin!“, murmelte ich.

Die Glut des Grolls brannte in meinem Herzen. In meinem Kopf tobte das Reiß-Moreau-in-Fetzen-Verlangen.

Ich kniff die Lippen zusammen. Niemals hätte ich gewollt, dass Moreau vor meinem mahagonigetäfelten Wohnzimmer in Plumetot stand und mit mir sprach! Was hatte er nur gewollt? Nun, es sah so aus, als ob er mir den Flügel brechen wollte, weil Malin und dieser Bastard glaubten, ich würde noch größeren Mist bauen, wenn ich zu viel Bewegungsfreiheit hätte. Das passte zu Moreaus Verständnis von Loyalität. Ich schnaubte.

„Jules?“ Malin sah mich mit schläfrigen Augen an.

„Nein“, flüsterte ich. Mehr wagte ich nicht zu sagen. Das Blut pochte mir in den Schläfen, und ich musste die bitteren Worte, die aus mir herauswollten, mit Gewalt zurückhalten. Verzweifelt versuchte ich, positiv an Malin zu denken, die von mir abhängig war, die nun wieder friedlich neben mir schlief oder zumindest so tat. Die glaubte, dass alles okay sei, wenn man ein Zauberbuch las.

Aber dennoch wollten die bösen Worte heraussprudeln, und ich fürchtete, meine Wut über ihre mangelnde Loyalität nicht mehr lange zügeln zu können.

„Aber, Malin …“, zischte ich leise, „… ich kann doch nichts für den Burn-out. Dafür kann ich wirklich nichts“, knurrte ich, aber sie schien tatsächlich zu schlafen.

Einen Augenblick lang war meine Wut so groß, dass ich mich am liebsten zu ihr gedreht und sie gewürgt hätte. Laut pochte das Blut in meinen Ohren.

„Jules, du siehst schrecklich aus“, hatte sie vor dem Zubettgehen gesagt. „Bist du krank?“

„Weiß nicht. Ich hab wieder Kopfschmerzen. Ich geh früh ins Bett.“

„Soll ich dir etwas Milch heiß machen?“

Ich lächelte müde. „Das wäre nett.“

Und jetzt lag ich neben ihr und spürte ihren warmen Schenkel an meinem. Bei dem Gedanken an mein Gespräch mit Moreau fiel mir wieder ein, wie ich mich vor ihm lächerlich gemacht hatte. Wieder wurde mir abwechselnd heiß und kalt. Eines Tages würde die Abrechnung kommen. Dann gnade ihm Gott.

Im Zustand höchster Erregung starrte ich in die Dunkelheit und wusste, dass es Stunden dauern würde, bevor ich einschlafen konnte.

Aufgewühlt durch eine plötzliche Unruhe in meinem Körper schlüpfte ich aus den Laken.

Nur mit der Unterhose bekleidet stolperte ich durch unser Haus, stieß im Dunkeln gegen Wände, Türen und Möbel, öffnete schließlich die Küchentür und trat in den Garten. Sofort erfasste die Kälte meinen nackten Körper. Die Nacht empfing mich still, das feuchte Gras schmiegte sich an meine Füße, und meine Haut leuchtete blass im Licht des Mondes. Wieder diese Stimme: Du musst laufen!

Ich wollte zurück in mein Bett, aber der Drang zu laufen war zu groß, zu zwingend. Ich nahm einen kurzen Anlauf, sprang über den kleinen Zaun, der unseren Garten von dem sandigen Pfad trennte, und sprintete barfuß in Richtung Wald, wo es plötzlich sommerlich hell wurde. Fassungslos blieb ich stehen. Das Haus war in der Dunkelheit kaum zu erkennen. Nochmals kam der Befehl: Du musst weiterlaufen. Ich gehorchte. Der Wald winkte wie eine willige Frau. Die Bäume streckten ihre Äste einladend in meine Richtung, und die Blätter trugen einen goldenen Schimmer. Dort wollte ich hin. Zu dem leuchtenden Wald, der weniger als hundert Meter von mir entfernt war. Aber sosehr ich auch rannte, so groß meine Schritte auch waren, ich kam dem Wald nicht näher. Ich rannte und rannte und rannte. Ich ballte meine Hände zu Fäusten, spannte jeden Muskel in meinen Beinen an, stieß meine Füße hart in den Sand, aber ich kam keinen Schritt näher an den leuchtenden Wald heran. Jedes Mal, wenn meine Füße den Boden trafen, spürte ich nur, wie meine Gelenke den Aufprall dämpften. Und urplötzlich gab mein linkes Knie nach, und ich fiel nach vorne auf den Feldweg.

„Lass mich dir helfen.“ Ich drehte mich auf den Rücken und sah Moreau. Er war auch nur mit Unterhosen bekleidet. Nackt sah mein Vorgesetzter noch größer und breiter aus als in seinen Blazern. Seine Brust ragte dominant hervor, doch weiter unten hatte die Fetteinlagerung unübersehbar begonnen. Sein Bauch hing über den Gummizug seiner Unterhose. Tiefschwarzes Brusthaar breitete sich über seinen Oberkörper aus, als trüge er eine Häkelweste aus flauschiger Wolle. Moreau beugte sich keuchend vor, die Arme auf seine Hüften gestützt und außer Atem vom Laufen.

„Ich war in der Nähe.“ Moreau kniete neben mir nieder und zeigte auf das Haus. „Du wohnst übrigens sehr schön für einen Lehrer.“

Er lächelte freundlich und zwinkerte mir zu. Mit einer schnellen Bewegung schnappte er sich einen Stein vom Boden und hob seinen Arm ruckartig hoch. Ich schrie, schloss die Augen, versuchte den Kopf wegzudrehen und … spürte dann, wie etwas Weiches auf meinem Gesicht landete. Es waren die aufgeschlagenen Seiten eines Buches. Als ich sie von meinem Kopf riss, sah ich gerade noch, wie die Unterhose im Wald verschwand.

 

Schnaufend setzte ich mich auf die Bettkante. Malin murmelte etwas Unverständliches, drehte sich um und zog die Bettdecke über ihren Kopf. Ich verließ das Schlafzimmer, trank in der Küche ein Glas Wasser und starrte aus dem Fenster. In der Dunkelheit konnte man den Wald nicht sehen, aber irgendwo da draußen wartete der kleine Vogel noch immer auf seinen Tod. Ich hatte ihn verlassen, ohne ihn von seinem Elend zu erlösen, obwohl er mir gezeigt hatte, dass ich Hilfe brauchte, um mich von meinem Burn-out zu erholen.

Ich schaltete das Licht der Abzugshaube ein und sah mein Spiegelbild im Fenster: einen kleinen, zierlichen Mann. Unsere Augen suchten einander, und als sie Kontakt aufnahmen, brach der Mann mir gegenüber zusammen. Er führte seine Hände zum Mund, und sein Körper zitterte von unterdrücktem Weinen. Plötzlich richtete er sich auf: „Mein Name ist Jules Lefèvre, und ich bin so unsagbar müde.“

Ich ging ins Wohnzimmer, nahm das Buch von Moreau aus dem Schrank, setzte mich an den Esstisch und schlug es auf. Auf der ersten Seite las ich das Motto: Nimm nicht alles so ernst, es geht nur um dein Leben …

 Maison Artemis

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Zwei Tage vor ihrem Tod saß Malin am Esstisch. Fast drei Stunden lang starrte sie zusammengekauert auf den Computermonitor, schien nach etwas zu suchen, doch dann lehnte sie sich urplötzlich gegen die Rückenlehne und seufzte: „Das darf doch nicht wahr sein!“ Ihre Hände sanken hart auf die Tischplatte.

„Was ist los?“, fragte ich.

Noch ein Seufzer. „Die Welt ist so traurig. Erinnerst du dich, als ich dir von meinem Großonkel David erzählt habe?“ Malin wartete nicht, bis ich antwortete. „David hatte ein wunderschönes Haus direkt am Strand. Vor etwa sechs Jahren habe ich dir doch davon berichtet, dass direkt neben dem Haus eine moderne Ferienanlage gebaut wurde. Erinnerst du dich? Ich fand das so schade, weil das Haus mit einem Mal mit der bewohnten Welt verbunden wurde. Der Reiz des Hauses lag gerade darin, dass es in der unberührten Natur stand. Mein Onkel verstarb vor fünf Jahren, und seitdem steht es zum Verkauf, aber niemand will es haben. Nur wegen dieser idiotischen Ferienanlage. Die Gier hat das Haus zerstört, so wie Geld alles zerstört. Das Haus wurde von Stadträten geopfert, die sich mit einem sinnlosen Projekt profilieren wollten und auf hohe Einnahmen hofften. Seitdem verfällt das Haus, weil die Instandhaltung nicht mehr finanzierbar ist.“

Sie zeigte auf den Bildschirm. „Dreimal darfst du raten, was ich gerade gelesen habe.“

„Das Haus wurde verkauft?“

„Schön wär’s!“ Sie zeigte wieder auf den Bildschirm. „Der beschissene Ferienpark ist bankrott. Der Stecker wurde sofort gezogen. Es wird keine Übernahme oder einen Käufer geben. Die Häuser stehen leer, die Stadträte lassen sie verrotten, nur ganz selten verirrt sich noch ein Urlauber dorthin. Ich finde das so traurig. Muss denn alles zugrunde gehen?“ Sie klappte den Laptop zu und verließ das Wohnzimmer.

 

„Willkommen in der Ferienanlage La Capriceuse! Hatten Sie eine gute Anreise?“ Die Frau, die vor dem Empfangsgebäude auf mich wartete, trug einen makellosen weißen Anzug und hatte ihr blondes Haar zu zwei Dutts am Hinterkopf hochgesteckt. Ihr Gesicht war weich und symmetrisch, ihre Augen ungewöhnlich groß, sie standen in keinem Verhältnis zum restlichen Gesicht. Das rote Namensschild auf ihrer Brust hob sich so heftig von dem weißen Kostüm ab, dass es unmöglich war, es nicht zu lesen. Ophelia Simone.

Wer in aller Welt nannte sein Kind heute Ophelia?

„Es ist ziemlich windig, besonders auf der Küstenstraße“, antwortete ich.

Ophelia nickte zustimmend. Es hatte fast etwas Devotes. „Es sind in der Tat verrückte Zeiten“, sagte sie. „Ich merke es an meinen Kindern. Seit Tagen wirbeln sie durch das Haus wie Herbstlaub im Windkanal. Sie lassen sich einfach nicht bändigen.“ Sie rieb sich einen Moment lang den linken Oberarm, als wäre ihr beim Erwähnen der Wetterlage kalt geworden. „Haben Sie Kinder?“

Noch bevor ich antworten konnte, blickte sie auf die Unterlagen in ihren Händen. „Ah, hier steht es. Sie sind zu dritt?“

Ich nickte, aber als Ophelia auf dem Parkplatz mein leeres Auto sah, sagte ich schnell: „Meine Frau und meine Tochter kommen später nach.“

„Dann ist Ihr Kind noch keine vier Jahre, sonst müsste es ja die Schule besuchen.“ Sie lächelte triumphierend, als hätte sie soeben eine Quizfrage richtig beantwortet.

Mein Blick fiel auf ihre Armbanduhr. In diesem Moment wurde der Sarg mit meiner Frau in das Grab gesenkt, und alle Anwesenden warfen zu den Klängen des Ave Maria eine Rose auf den Sarg.

Das Loch, in dem Lilou vor ein paar Monaten versenkt worden war, war viel zu groß für ihren kleinen Sarg gewesen. Das Grab machte überdeutlich, dass Eltern ihr Kind nicht auf die andere Seite begleiten sollten. Malin und ich standen dicht nebeneinander, und als sich der kleine Sarg langsam hinabsenkte, legte ich meinen Arm um meine Frau. Malin befreite sich aber mit einem kurzen Schritt aus meiner Umarmung. „Nicht“, flüsterte sie nicht gerade freundlich. „Mir wäre es lieber, du würdest mich nicht anfassen.“

 

„Sie haben heute Glück“, sagte Ophelia. „Denn ich darf Ihrer Familie ein Last-Minute-Angebot machen?“

„Ein Angebot?“ Ich hob die Augenbrauen.

„Die Anlage ist nicht ausgebucht. Davon könnten Sie profitieren.“

Wieder konzentrierte ich mich auf ihre Armbanduhr. In zehn Minuten standen Kaffee und Kuchen in der Rosengaststätte in Plumetot bereit. Irgendwann in den verlorenen Minuten zwischen dem Werfen der Rosen und dem Trinken des Kaffees würde meine Mutter abermals versuchen, mich anzurufen. Davon war ich überzeugt. Sie würde sich unbemerkt vom Trauerzug entfernen, das Handy aus der Handtasche holen und zum sechsten Mal meine Handynummer wählen.

Ophelia öffnete einen Ordner und zeigte mir das Foto des Hauses, das ich im Internet gebucht hatte. „Sie haben Maison Artemis gebucht, aber Sie sollten wissen, dass das Haus nur noch selten vermietet wird. Die Wartung wurde in letzter Zeit etwas vernachlässigt. Maison Artemis ist … wie soll ich es sagen? Nicht sehr modern, äh … luxuriös. Für fünfzig Euro mehr …“ Sie blätterte auf die nächste Seite. „… kann ich Sie in eine Hermes-Suite umbuchen.“

„Umbuchen?“

„Typ Hermes ist ein Deluxe-Appartement. Es hat einen praktischen Gasherd und eine Sauna. Und für nur fünfundsiebzig Euro extra können Sie sogar eine Woche in einem Appartement Typ Pegasus wohnen. Sieht aus wie das Hermes, aber …“ Sie blätterte zwei Seiten weiter.

„Ich brauche keinen Luxus“, erwiderte ich barsch. „Ich hätte gerne den Schlüssel zu meinem Appartement.“

Ophelia nickte. „Eine ausgezeichnete Wahl. Maison Artemis liegt direkt am Strand.“ Sie reichte mir einen Schlüsselbund. „Ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie einen angenehmen Aufenthalt in La Capriceuse. Wenn Sie Fragen haben, sind wir Tag und Nacht für Sie da.“

„Sie haben nicht nach meinem Namen gefragt. Woher wissen Sie denn, wer ich bin?“

Sie lächelte kurz. „Für heute sind Sie der einzige neue Gast in unserer Ferienanlage, Monsieur Lefèvre.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752144000
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Mai)
Schlagworte
Verlustschmerz Burn-out Schuld Trauer Kind Wahn Familie Liebe Krimi Thriller Spannung

Autor

  • Astrid Korten (Autor:in)

Das Spezialgebiet der Bestseller-Autorin sind Thriller, Psychothriller und Romane. Sie schreibt außerdem Kurzgeschichten, Drehbücher und Romane. Ihre Thriller erreichten alle die Top-Ten-Bestsellerlisten vieler Ebook-Plattformen. Die Autorin schreibt für den Verlage und veröffentlicht auch selbst.
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Titel: Die Stille vor Lilou