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Seegurken

von Regina Mars (Autor:in)
202 Seiten

Zusammenfassung

»Mutter, Vater.« Florentin räusperte sich. »Ich habe beschlossen, mich sexuell zu betätigen.« Florentin ist bereit. Endlich will der Adelsspross erotische Erfahrungen machen. Schließlich ist er über zwanzig und immer noch ungeküsst. Effizient, wie er ist, hat er schon den richtigen Mann gefunden, um seine Wissenslücken zu beseitigen: Chad Hardman, Amateur-Pornodarsteller und Gelegenheits-Callboy, der sein Unwesen bevorzugt auf Kreuzfahrtschiffen treibt. Es gibt nur ein Problem: Chad Hardman ist soeben in Rente gegangen. Unter seinem echten Namen will Harm Hartmann endlich seriös werden. Sich einen richtigen Job suchen und ein geregeltes Leben führen, ohne sich von einem Liebhaber zum nächsten treiben zu lassen. Leider weiß er nicht, wie er das anfangen soll. Und er kann sich bestimmt nicht auf sein neues Leben konzentrieren, solange er von einem Sonderling wie Florentin von Lammbergen verfolgt wird. Wie soll er seine Karriere planen, wenn dessen unmoralische Angebote ihn ins Wanken bringen? Kann er Florentin widerstehen? Kann er ihn abblitzen lassen, obwohl Harm ihn mit jeder Minute, die sie zusammen verbringen, mehr ins Herz schließt? Enthält Träume, Schiffe und eine Angst und Schrecken verbreitende Seegurke.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Seegurken

 

Ein Roman von Regina Mars

1. Ein ausgereifter Plan

 

»Mutter, Vater.« Florentin räusperte sich. »Ich habe beschlossen, mich sexuell zu betätigen.«

Er nahm einen einzigen Klumpen Rohrzucker und rührte ihn in seinen Tee. Die Farbe des Getränks erinnerte an Lindenblätter im Herbst: honigfarben mit einem goldenen Schimmer, leuchtend gegen das reinweiße Porzellan. Der aufsteigende Dampf erfüllte seine Nase mit herb-köstlichem Duft.

Es war ein angenehmer Nachmittag. Sonnenlicht fiel durch die Fenster, brach sich in der Wasserkaraffe und zauberte Muster auf die Tischdecke. Draußen lärmte der Aufsitzrasenmäher. Hugo, der Gärtner, zockelte damit über die Anlage wie ein alterskrummer Jockey auf einem in die Tage gekommenen Pferd. Gegen Abend würde er damit fertig sein, den Rasen um die Villa und den umliegenden Park zu mähen.

Florentin hatte mit ihm über einen neuen Rasenmäher gesprochen, aber Hugo hatte gemeint, der alte reiche noch. Nicht, dass es wirklich darum ging. Florentins Mutter hatte ihn gebeten, für einen neuen zu sorgen, weil die alte Klapperkiste ihr peinlich war. Und ein Elektromotor wäre zudem umweltfreundlicher.

»Sexuell betätigen? Du?« Die Stimme seiner Mutter klang etwas gepresst. Sie blickte ihn vom anderen Ende des Tisches her an.

»Ja.« Florentin bestrich ein weiteres Scone mit Butter und Ananasmarmelade. Er liebte das Teegebäck, seit er ein Semester in Cambridge verbracht hatte. »Ich bin schließlich volljährig. Schon seit einer ganzen Weile. Man hat mir zu verstehen gegeben, dass es höchste Zeit sei, dass ich mich auf diesem Gebiet engagiere.«

»Ah.« Sein Vater hielt die Tasse auf halbem Weg zum Mund. Wie lange verharrte sie schon dort? »Also.« Er verstummte, anscheinend unsicher, was es sonst noch zu sagen gab.

Nichts weiter, wenn es nach Florentin ging. Er hatte sie informiert, nun war es Zeit, zum nächsten Punkt überzugehen.

»Mutter, ich fürchte, es wird schwer, Hugo davon zu überzeugen, den Rasenmäher aufzugeben. Er hängt sehr an dem alten.«

Er hatte Ärger erwartet. Oder den Befehl, sich den Bediensteten gegenüber durchzusetzen. Doch seltsamerweise rief sein Bericht keine Reaktion hervor. Seine Mutter musterte ihn, als hätte er sich in etwas Unbekanntes verwandelt. Dabei saß er ihr seit über einem Jahr täglich gegenüber und sah immer gleich aus: blond, schlank, mit sauberen Fingernägeln und tadellos geradem Rücken.

Sie richtete den Kragen ihrer Seidenbluse. Die Goldkette um ihren leicht gebräunten Hals bewegte sich, als sie einatmete. »Also … Liebling? Sag doch etwas.« Sie schenkte Florentins Vater ein schmales Lächeln.

Der räusperte sich. »Also. Florentin. Wer hat dir denn zu verstehen gegeben, dass du … dich sexuell betätigen solltest?«

Er räusperte sich erneut. Erkältete er sich etwa? Vermutlich, weil er gestern bei Regen ausgeritten war. In seinem Alter hätte er es besser wissen sollen. Aber die Hunde und Pferde brauchten Bewegung, sagte er immer. Seine breiten Hände ließen die Kaffeetasse langsam nieder. Er faltete sie. Florentin fand, dass sein Vater wie die Karikatur dessen aussah, was er war: ein Adliger in den mittleren Jahren. Es stimmte einfach alles, von den karierten Hosen bis zu den grau melierten Haaren mit den weißen Schläfen.

»Es war Anna. Sie hat mir erklärt, dass es eher ungewöhnlich ist, mit zweiundzwanzig Jahren noch keinerlei Erfahrung in dieser Hinsicht zu haben.« Florentin nickte seiner jüngeren Schwester zu, der Vierten im Bunde.

Sie ließ ihr Handy sinken und schaute drein, als hätte man sie bei etwas Verbotenem ertappt. Ihre runden Augen wurden noch runder. Der dicke Wimpernkranz darum war rabenschwarz, im Gegensatz zu ihren langen, blonden Haaren.

»Anna.« Seine Mutter lächelte. Scharfe Falten erschienen in ihrem Mundwinkel. »Was hast du deinem Bruder erzählt?«

Anna hob die dezent manikürten Fingernägel. »Nichts! Ich meine … Er ist wirklich alt genug. Schon über zwanzig und er hat noch nie ein Mädchen geküsst. Das ist doch nicht …« Sie verstummte.

Alle sahen auf die Tischdecke.

Nicht normal, hatte sie sagen wollen. Florentin wusste selbst, dass er seltsam war. Schließlich hörte er es oft genug. Um sich seine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen, nahm er einen Bissen von seinem Scone. Köstlich. Doch ein leichter Aschegeschmack lag unter den buttrigen Bröseln. Er konzentrierte sich auf seinen Atem. Nach einer Weile verschwand der Druck auf seinen Magen.

Er nahm einen Schluck Tee. »Ich war selbst nicht sicher, ob ich ihr glauben soll. Bisher bin ich gut ohne diese Dinge ausgekommen. Aber dann hat sie mir erotische Videos gezeigt, um mich auf den Geschmack zu bringen, und …«

»Du hast was?!« Ihre Mutter fuhr zu Anna herum. »Du hast deinem Bruder Pornos gezeigt?«

»Ich wollte ihm helfen!« Annas Augen blitzten. »Willst du denn, dass er für immer hier in der Villa sitzt und sich um eure Aktien kümmert? Er könnte mal ein bisschen Spaß haben.«

»Aber doch nicht Florentin.« Vater lachte hohl. »Es gefällt ihm hier. Nicht wahr, Florentin?«

Der Druck auf seinen Magen war zurück. Vorsichtig legte er die Hände links und rechts von seinem Teller ab. Die Tischdecke war kühl und seidenglatt unter seinen Fingern.

»Selbstverständlich gefällt es mir.« Er versuchte ein Lächeln. Er war nicht allzu gut darin, aber es schien ihm angebracht.

»Na, siehst du.« Vater schnalzte mit der Zunge. »Also wirklich. Anna. Ausgerechnet Florentin mit so etwas zu konfrontieren.«

Ich hasse es, wie ihr über mich redet, dachte Florentin. Als wäre ich ein Kind. Als wäre ich nicht im vollen Besitz meiner geistigen Kräfte.

Nur, weil er etwas seltsam war. Na ja, SEHR seltsam, wenn man seinen ehemaligen Klassenkameraden Glauben schenkte. »Freak«, hatten sie hinter vorgehaltener Hand geflüstert. Schon früh hatte er zwei Klassen übersprungen und hätte sich gern eingeredet, dass seine Seltsamkeit darin begründet lag, dass er nie unter Gleichaltrigen gewesen war. Aber das war es nicht. Sein ganzes Wesen war anders. Die Bahnen, in denen er dachte, waren so weit abseits der normalen, dass er diese oft missverstand. Egal, wie sehr er es versuchte.

Er hatte geglaubt, dass es ihm nichts mehr ausmachte. Natürlich war es einsam, so wenig verstanden zu werden, aber er kannte es und war gut darin, sein Leben zu leben. Er hatte sich daran gewöhnt, dass man ihm auf die Schulter schlug und »Ach, Florentin« sagte. Dass man ihn belächelte. Er hatte es sich sehr erfolgreich eingeredet. Nun, bis gestern.

»Obwohl ich nie verstanden habe, was meine Klassenkameraden daran fanden, sich gegenseitig die Zunge in den Hals zu stecken, bin ich nicht aus Stein.« Er dachte an eine besonders ausführliche Knutschetappe von Konstantin und Elisa während seines Abschlussjahres, der er entsetzt beigewohnt hatte. Warum hatten sie die in der Bibliothek abgehalten? »Ich habe Bedürfnisse, wie fast jeder andere Mensch auch.«

»Bedürfnisse welcher Art?« Das Lächeln seiner Mutter wirkte verzweifelt.

»Sexueller Natur.« Florentin sah sie an. Sie blickte an die gegenüberliegende Wand. Vermutlich war er wieder in ein Fettnäpfchen getreten. Welche Gesprächsthemen am Teetisch angemessen waren, würde ihm für immer ein Mysterium bleiben.

»Ah ja.« Sein Vater räusperte sich erneut. »Gut, gut.«

»Soll ich Doktor Finster anrufen, Vater?«, fragte Florentin. »Das klingt nach einer beginnenden Erkältung.«

»Oder danach, dass er mit dir über Sex sprechen muss.« Anna wirkte amüsiert. »Vater, hast du etwa nicht das Bienchen-und-Blümchen-Gespräch mit ihm geführt, als er klein war?«

»Ich habe ihm ein Buch gegeben, das die Angelegenheit sehr gut erklärt«, sagte sein Vater. Eine Falte erschien zwischen seinen Augenbrauen. »Er hatte keine Fragen, also habe ich die Sache als abgehakt betrachtet.«

Florentin hatte keine Fragen gehabt. Das Buch war wirklich sehr ausführlich gewesen.

»Und?« Seine Mutter lächelte immer noch. Es wirkte schmerzhaft. »Hast du schon … Also hast du schon jemanden, mit dem du … aktiv werden willst?«

Er nickte. »Ja. Danke, dass du nachfragst.«

»Gerne doch.« Sie sah in die Runde, aber die anderen beiden schwiegen. »Also. Und. Wer ist die Glückliche?«

»DER Glückliche.« Florentin nahm ein weiteres Scone von der Etagere. »Ich habe ihn in einem der Filme gefunden, die Anna mir gezeigt hat. Sein Name ist Chad Hardman.«

Stille. Es war so still, dass er nicht nur das weit entfernte Tuckern des Rasenmähers hörte, sondern sogar das Bröseln des neuen Scones. Das Lächeln seiner Mutter schmolz.

»Anna.« Sie sah ihre Tochter nicht an. »Wir sollten reden.«

»Ich habe ihm gar nichts gezeigt«, murrte Anna. »Ich habe ihm nur eine Seite aufgemacht und gesagt, dass er sich da umschauen soll. Rausfinden, ob ihm etwas gefällt.«

»Ich habe etwas gefunden.« Florentin butterte sein Scone. »Vielen Dank.«

Seine Eltern wirkten äußerst unglücklich.

»Florentin …«, begann seine Mutter, aber sein Vater unterbrach sie.

»Nein«, sagte er. »Junge. Ich weiß nicht, warum du denkst, es wäre eine gute Idee, dich von … dich mit einem Pornostar einzulassen. Aber das ist es nicht. Ich verbiete es!«

Verwundert betrachtete Florentin die Ader, die auf der Stirn seines Vaters pochte. »Du kannst mir nichts verbieten, Vater. Ich bin volljährig.«

»Ich verbiete es!« Sein Vater erhob sich, zornig leuchtend wie ein Donnergott. »Wag es nicht, dieses Haus zu verlassen!«

Nun starrten ihn alle an.

»Liebling«, sagte seine Mutter und ihre Stimme hatte einen rauchigen Unterton. »Bitte schrei nicht. Was soll Carolin denken?«

Carolin, ihr Dienstmädchen, brachte gerade neuen Tee. Ihr Gesichtsausdruck besagte, dass sie nichts hörte, nichts sah und vollkommen uninteressiert am Geschehen am Teetisch war. Mutter sagte stets, sie sei das beste Dienstmädchen, das sie je gehabt hatten.

»Martha.« Florentins Vater stand immer noch. »Ich kann nicht zulassen, dass unser Sohn so etwas veranstaltet.«

»So etwas?« Ein Grinsen zupfte an Annas Mundwinkel. »Erklär uns, was du meinst.«

»Sei ruhig!«, herrschte er sie an. »Wie kommst du dazu, deinen Bruder zu verderben? Es ist deine Schuld, wenn«, er überlegte sichtlich, »wenn er einem männlichen Pornodarsteller hinterherrennt. Was glaubst du, was passiert, wenn er … Also. Was denkst du, was so einer mit ihm macht? Hinter seinem Geld wird der her sein, sobald er kapiert hat, dass da etwas zu holen ist.«

»Ich renne ihm nicht hinterher«, sagte Florentin. »Ich habe ihm geschrieben und ihn hierher eingeladen.«

»Du hast was?!« Die Ader auf der Stirn war zurück.

»Es ist recht interessant.« Florentin nahm einen Schluck von seinem Tee. »Dieser Mann scheint nicht angestellt zu arbeiten, oder Schauspieler für eine Produktionsfirma zu sein. Er ist ein Freelancer. Laut seines Profils kann man ihm einfach ein Angebot schicken und er antwortet, ob es ihm zeitlich passt.«

»Sehr interessant«, sagte seine Mutter. »Aber ich möchte nicht, dass er herkommt. Wir … Es passt in den nächsten Wochen leider nicht. Du weißt doch, Edith von Steinheim und ihre Familie wollten uns besuchen. Und danach findet Annas Dressurwettbewerb statt. Ihr Team übernachtet hier.«

»Aber wir haben mehr als genug Platz«, sagte er. »Annas Team besteht nur aus sechs Leuten und wir haben einundzwanzig Gästezimmer.«

»Es wäre zu viel Arbeit.« Auch auf ihrer Stirn erschien eine Ader. »Für die arme Carolin.«

Carolin schwieg.

»Oh.« Florentin stellte seine Tasse zurück auf die Untertasse. »Natürlich, das verstehe ich. Ich fürchte sowieso, dass ich zu ihm kommen muss. Es scheint sein Markenzeichen zu sein, dass er seine Tätigkeiten auf Kreuzfahrtschiffen ausübt. Die Videos spielten alle in Schiffskabinen. Das wird dich freuen, Mutter: Eins wurde auf der Queen of Salt and Water gedreht. Es scheint, als hättet ihr den gleichen Geschmack.«

Sie wirkte nicht, als würde sie sich freuen. »Die Queen of Salt and Water wird für Pornodrehs genutzt?«

»Amateurpornos«, korrigierte er.

Die Queen of Salt and Water gehörte zu einer Schifffahrtsgesellschaft, deren Anteile seine Familie im letzten Jahr auf sein Anraten gekauft hatte. Zu ihrer Flotte gehörte unter anderem das drittgrößte Kreuzfahrtschiff der Welt, die Queen of Salt and Water. Sie war 362 Meter lang, 65 Meter hoch und konnte bis zu 6.780 Passagiere beherbergen. Eine schwimmende Stadt voller Vergnügungen und Möglichkeiten, Geld auszugeben.

»Das sollten wir sofort unterbinden«, sagte seine Mutter. »Auf der Stelle.«

»Was die Gäste in ihren Kabinen machen, ist doch ihnen selbst überlassen«, sagte Anna. »Vielleicht ist das sogar Werbung für uns.«

»Was soll das denn für eine Werbung sein?« Vater saß wieder, aber die Ader blieb. »Wenn das alle machen, kann man sich bald nicht mehr auf Kreuzfahrten blicken lassen.«

»Das kann man sowieso nicht.« Anna strich ihre Haare zurück. »Kreuzfahrten sind zu einem Amüsement für den unteren Mittelstand verkommen.«

Florentin fragte sich, ob ein Pornodarsteller zum unteren Mittelstand gehörte.

»Du warst doch vollkommen begeistert von eurer Kreuzfahrt im letzten April.« Mutters Teetasse klirrte dezent. »Und Jules auch.«

»Wir haben die meiste Zeit auf dem Diamantdeck verbracht«, sagte Anna. »Unter unseresgleichen.«

»Hoffentlich habt ihr keine Videos in der Kabine gedreht«, murmelte Vater. Anna sah ihn schockiert an.

»Ich hoffe, das Thema ist damit beendet.« Florentin warf einen hoffnungsvollen Blick in die Runde. »Ich warte immer noch auf eine Antwort bezüglich des Rasenmähers.«

»Nein«, sagte sein Vater.

»Aber Hugo hängt wirklich an ihm.« Florentin seufzte. »Er ist darauf zu seiner zweiten Hochzeit gefahren.«

»Ich meine nicht den Rasenmäher, Florentin«, sagte Vater. »Ich meine diesen … Mann.«

»Chad Hardman?«

Die Ader auf Vaters Stirn pochte. »Ja. Den. Du wirst ihn nicht sehen, ist das klar? Ich verbiete es. Und ich verbiete den Bediensteten, dich zum Flughafen zu fahren.«

Florentin hatte einen Führerschein, aber das erwähnte er nicht. Er schwieg. Ein kleines Zupfen in seinem Magen erinnerte ihn daran, wie er Chad Hardman das erste Mal gesehen hatte. Einen blond gefärbten, tätowierten Muskelberg mit dem Lächeln eines Tigers und der Aura eines Erdbebens. Er verstand die Gefühle nicht vollkommen, die dieser Mann in ihm auslöste. Aber er wusste, dass er etwas tun musste. Dieses aufgeregte Zupfen in seinem Bauch bedeutete etwas. Ja, er fühlte sich seltsam. Als wäre er gerade aufgewacht, nach zweiundzwanzig Jahren.

Wie ein Hai, der zum ersten Mal Blut roch.

»Florentin, ich meine es ernst.« Vater sah so streng aus, dass Mutter sich über die Lippen leckte. »Du bleibst hier. Ist das klar?«

»Ja«, sagte Florentin. »Ja, na gut.« Entsetzt stellte er fest, dass er log. Es fühlte sich überhaupt nicht an, als würde er hierbleiben. Es fühlte sich an, als würde er trotzdem gehen. Aber das konnte er nicht. Oder?

2. Schlechte Neuigkeiten

 

Nachdem das Thema Rasenmäher endlich besprochen worden war (Florentin hatte einen Aufschub für Hugo und sein Gefährt aushandeln können), zogen sie sich zurück. Anna zu ihren Pferden, Vater zu den Hunden und Mutter in den Rosengarten. Es gab dort viel zu tun, seit der Frühling bei ihnen angekommen war.

Florentin betrat sein Büro, das bis vor kurzem noch Vaters Zweitbüro gewesen war und ließ sich auf dem Schreibtischstuhl nieder.

»Und nun?« Er schloss die Augen, roch das weiche Leder des Polsters und hörte das leise Summen des Rechners. Die Oberfläche des Mahagonischreibtischs war glatt und poliert, beinahe warm unter seinen Handflächen. Er mochte den Raum. Die hohen Fenster, die Nachmittagssonne, die sein Gesicht wärmte. Die Samtvorhänge und den gigantischen Teppich, der wie ein rotes Meer zu seinen Füßen lag. Er dämpfte alle Geräusche, so dass Florentin sich voll auf seine Arbeit konzentrieren konnte.

Normalerweise.

Heute war er unruhig, geradezu »hibbelig«, wie Hugo es nannte. Er überprüfte die Anlagen der Familie und erkundigte sich über die Fortschritte beim Bau der nahe gelegenen Eigentumswohnungen. Er überprüfte, informierte sich, justierte nach. Es war eine Ehre, bereits in solch jungen Jahren die Familiengeschäfte übernehmen zu dürfen. Vater hatte ihm erlaubt, sich darum zu kümmern, um selbst mehr Zeit für die Hunde und seine sportlichen Hobbys zu haben.

»Erledige deine Arbeit, Florentin«, flüsterte er, doch das Zupfen in seinem Bauch blieb. Und das andere auch. Etwas tiefer begann ein erwartungsvolles Kribbeln.

Vermutlich hatten seine Eltern recht. Anna hätte ihm diese Seite nie zeigen sollen. Er hätte nie diesen Chad Hardman bei seiner Arbeit sehen sollen.

Bilder zuckten durch sein Hirn und schossen direkt in seine Lenden. Breite Hände mit tätowierten Fingern strichen über zuckende Haut. Wanderten tiefer, erkundeten Hügel und Täler und … nun, Türme. Viele Türme. Die Anzahl an Chad Hardman-Videos war beachtlich. Florentin bewunderte seine Arbeitsmoral.

Er seufzte. Die Nummern verschwammen vor seinen Augen und sein Gemächt drängte gegen den weichen Stoff seiner Unterhose. War es das gewesen, was seine Klassenkameraden dazu gebracht hatte, ihren Trieben in der Bibliothek nachzugeben?

»Unverzeihlich«, murmelte er. »In der Bibliothek!«

Selbst wenn Chad Hardman nackt vor ihm stehen würde, wäre Florentin nicht versucht gewesen, seinen Trieben in einer Bibliothek nachzugeben. Für ihn war sie ein heiliger Ort des Wissens und kein … Also. Er seufzte erneut. Ein Kompromiss wäre vielleicht möglich. Wenn Chad Hardman wirklich nackt vor ihm stünde, könnte er seinen Trieben in einer weniger heiligen Abteilung der Bibliothek nachgeben. Der, in der die Romane seiner Großmutter standen, zum Beispiel.

Auf ihrem Œuvre beruhte der Reichtum ihrer Familie, was er ihr hoch anrechnete. Sie hatte das verarmte Geschlecht der von Lammbergens wieder zu Millionären gemacht. Auch ihre Arbeitsmoral war nicht zu verachten gewesen. Ein Buch pro Monat, über dreißig Jahre lang. Trotzdem. Vermutlich war es verzeihlich, wenn man vor Büchern wie »Die traurige Prinzessin und der heißblütige Scheich« und »Verführt und geschwängert in der Limousine des adligen Milliardärs« herumknutschte. Ein bisschen zumindest.

Chad Hardman hatte eine Narbe auf der Unterlippe. Florentin fragte sich, woher. Und noch mehr fragte er sich, wie es sich anfühlen würde, mit den eigenen Lippen darüber zu streichen. Gut, vermutlich. Die Narbe musste sich etwas härter anfühlen als der Rest.

Auch Florentin war etwas härter. Er rieb sich den Nasenrücken zwischen Daumen und Zeigefinger und stöhnte. Es half nichts. Vorsichtig lauschend ging er zur Tür und schloss sie ab. Wenn Carolin hereingekommen wäre, während er sich zu Kreuzfahrtpornos befriedigte, hätte sie ihm vermutlich schweigend eine Packung Taschentücher hingestellt und wäre wieder verschwunden. Aber trotzdem. Das hier war privat.

Der Schreibtischstuhl knarrte, als Florentin sich wieder hineinsinken ließ. Mit klopfendem Herzen setzte er die Kopfhörer auf. Er suchte die Website, die Anna ihm gezeigt hatte und die er seitdem mindestens fünfzig Mal aufgerufen hatte. Er hatte sogar eine Analyse der beliebtesten Techniken aufgestellt, sortiert nach Häufigkeit, Likes und Schlagwörtern. Er hatte versucht, hinter das Geheimnis der Aktivität namens Geschlechtsverkehr zu kommen.

Nun, soweit es Chad Hardman betraf, gab es keine Gesetzmäßigkeit. Er hatte keine bevorzugte Stellung, keine Lieblingsspielzeuge und kein Gimmick, bis auf die Kreuzfahrtschiffe. Er nahm und ließ sich nehmen, war brutal, zärtlich, geschmeidig und hart. Er stellte sich auf seinen Partner (oder seine Partner) ein und gab jedem das, was er brauchte. Ein erotisches Chamäleon.

Auch deshalb fragte Florentin sich, wie es wäre, mit Chad Hardman zu schlafen. Würde der wissen, was er brauchte? Bisher hatte Florentin das Gefühl gehabt, in dieser Hinsicht im Nebel zu stochern. Erregung war ihm nicht fremd, ganz und gar nicht. Aber sie hatte sich nie an einem bestimmten Objekt festgemacht. Oder einem bestimmten Menschen.

Bisher.

Florentins Herz zuckte, als sein liebstes Video auf dem Bildschirm erschien: »Chad Hardman fickt den notgeilen Kabinenjungen XXX GayPorn Free!!!1«. Hinter dem schmucklosen Titel verbarg sich ein Juwel: ein schwankendes Doppelbett, ein Bullauge im Hintergrund und im Vordergrund Chad Hardman, der sich in einem dunkelblonden Kerl versenkte. Dem Kabinenjungen aus dem Titel, welcher vor Glück die Augen verdrehte. Speichel lief über sein Kinn, als die breiten Hände, die Florentin so faszinierten, in seine Hüften griffen. Fleisch verformte sich, Haut rammte Haut, Schweiß tropfte.

Florentin öffnete seinen Gürtel und anschließend den Reißverschluss. Er sah sich noch einmal um, dann holte er sein Gemächt heraus und betrachtete es nachdenklich. Es war nicht so groß wie Chad Hardmans. Ja, im Vergleich war es geradezu winzig. Dank seiner Recherche wusste er, dass die Größe eine nicht unwesentliche Rolle spielte. Sonst hätten nicht so viele Videos mit Längen geworben, die er bisher eher bei Zuchtbullen vermutet hätte.

Würde Chad Hardman zufrieden sein mit dem, was er ihm bieten konnte? Florentin sah auf und erblickte seine Spiegelung im Bildschirm, überlagert von dem noch nicht gestarteten Video. Breite Schultern, ein ebenmäßiges Gesicht, ordentlich gescheitelte Haare. Probeweise strich er mit den Fingern hindurch und versuchte, sie durcheinanderzubringen. Etwas wilder. Aber ein zahmer Stubenkater im Vergleich zu dem, was Chad Hardman war: ein reißender Tiger, sicher und stark.

Ich klinge schon wie Omas Heldinnen, dachte er und leckte sich über die Lippen. Wenn ich so weiter mache, werde ich als Nächstes von seinen Glutaugen schwärmen und sein süffisantes Lächeln bewundern.

Immerhin war Florentin ebenfalls muskulös. Da körperliche Aktivität sowohl die Leistungsfähigkeit des Gehirns als auch die Langlebigkeit förderte, spielte er regelmäßig Tennis, Golf und ging klettern. Und reiten. Zum Leidwesen seiner Eltern war er nur ein mittelmäßiger Reiter, aber er tat es genug, um ansehnliche Oberschenkel entwickelt zu haben. Waren Oberschenkel wichtig, wenn es um sexuelle Aktivitäten ging? Nicht so wichtig wie die Länge des Geschlechtsteils, wenn er nach seiner Auswertung von über fünfzig Videos ging.

Er zögerte noch einen Moment, dann startete er das Video. Chad Hardmans Gesicht erschien, richtete die Kamera, grinste und sagte »Hello«.

Die raue Stimme jagte Schauer durch Florentins Körper. Heiser und rauchig und nur schwach mit einem deutschen Akzent unterlegt. Er rätselte schon seit einer Weile, ob Chad Hardman ein Pseudonym war. Und, woher der Mann kam. Wenn er sprach, glaubte Florentin, einen nordischen Dialekt herauszuhören. Ärgerlicherweise sprach Chad Hardman nicht allzu oft, da er meist mit anderen Dingen beschäftigt war. Häufig hatte er den Mund voll. Und dann war Florentin zu abgelenkt, um herauszufinden, ob er Hamburger oder Ostfriese war.

Die vernarbten Lippen grinsten weiter. Chad Hardman zwinkerte, dann ging er auf das blütenweiß bezogene Bett zu, auf dem bereits der Kabinenjunge wartete. Man sah Chad Hardmans breiten Rücken, tätowierte Muskelstränge und einen Hintern, der zwei sehr appetitlichen Brötchenhälften ähnelte.

Wie ferngesteuert wanderten Florentins Hände in seinen Schritt. Er umschloss sein Gemächt und es fühlte sich an, als würden Funken durch die zarte Haut sinken. Würde es so sein, wenn Chad Hardman ihn anfasste? Hoffentlich würde der bald auf seine Nachricht antworten.

Bald ist es soweit, dachte Florentin, während Chad auf dem Bildschirm den Kopf des Dunkelblonden packte und ihn an sich riss. Er eroberte dessen Mund mit purer Kraft und Florentins Atem ging schneller. Vernarbte Lippen pressten sich auf weiche, ein kräftiger Daumen strich über eine mit hellen Stoppeln bedeckte Wange. So hell wie Florentins, wenn er sich nicht täglich rasieren würde. Sein Herz schlug so schnell, dass ihm schwindlig wurde.

Er kannte es nicht, dieses Gefühl, das durch ihn rauschte, angsteinflößend und betörend. Es fühlte sich an wie etwas, das außerhalb seiner Reichweite lag. Er war ein Kopfmensch, wie man ihm immer wieder versichert hatte. Gut mit Zahlen. Ein Genie, seinen netteren Klassenkameraden zufolge. Aber für zwischenmenschliche Dinge wie Küsse fehlte ihm das Verständnis.

Chad Hardman war ein absoluter Meister im Küssen. Und darin, seine Zunge über die Lippen des Kabinenjungen schlängeln zu lassen. Ein glänzender Film blieb. Der Kabinenjunge stöhnte und Florentin ebenfalls. Hoffentlich nicht zu laut.

Als Chad fertig mit Küssen war, rannen bereits helle Perlen aus dem Penis des Kabinenjungen. Er packte zu und rieb sich, bis Chad ihm Einhalt gebot. Seine Hand legte sich auf die des Dunkelblonden und zog sie weg. Sie sahen sich an, stumm, keuchend. Sie brauchten keine Worte. Das war es, was Florentin immer wieder faszinierte. In stillem Einverständnis drehte der Kabinenjunge sich um und presste das Gesicht in die Kissen. Als würde er sich schämen, genau wie Florentin sich geschämt hätte, wenn ihn jetzt jemand sehen könnte. Oder hören. Ein weiteres Stöhnen entkam seinen Lippen.

Chad Hardman schlug auf die Hinterbacken des Kabinenjungen. Einmal, zweimal, bis rote Striemen erschienen. Der Junge schrie in die Kissen. Chad schlug wieder zu und der Junge brüllte. Es klang genussvoll.

Ein Profi, dachte Florentin bewundernd. Ein absoluter Profi, der immer genau weiß, wie weit er gehen muss.

In anderen Filmen bewegten sie sich oft ungelenk, rammelten wie Ziegenböcke und hatten Mühe, ihre Bewegungen aufeinander abzustimmen. Chad nicht. Seine Videos waren alle wie das hier: ein Spiel, ein Tanz. Selbst, wenn er seine Partner so hart stieß, wie er es gleich mit dem Kabinenjungen tun würde. Weil der es liebte.

Ich frage mich, was Chad Hardman selbst liebt, dachte Florentin. Vielleicht genau das: die ewige Abwechslung. Oder …

Der Gedanke war seltsam und Florentin war zu abgelenkt, um ihn zu Ende zu führen. Bekam Chad Hardman je das, was er liebte?

Dessen tätowierte Hände, auf denen sich Schlangenbabys aus einer zerbrochenen Eierschale wanden und alle fünf Finger eroberten, zogen die rotglühenden Backen des Kabinenjungen auseinander. Das Tigerlächeln erschien. Der Junge stöhnte. Ein Speichelfaden tropfte aus Chad Hardmans Mund in die schweißfeuchte Ritze. Er verrieb ihn mit dem Daumen auf der Rosette. Presste seinen Finger dagegen, versenkte ihn.

Florentins Hände rieben immer schneller. Hitze schoss in seine Lenden. Er würde es nicht schaffen, bis zum Höhepunkt des Films zu warten. Tierische Gier lenkte seine Bewegungen. Das Sehnen in ihm schwoll an, wurde zu einem alles verschlingenden Strudel …

Auf dem Bildschirm ploppte ein Fenster auf, mit einem schrillen »Pling«. Florentin schrak zusammen und hielt inne. Chad Hardman und der Kabinenjunge machten weiter.

»Oh«, murmelte Florentin. Trotz seiner Erregung ließ er die Hände sinken.

Es war die Nachricht, auf die er seit gestern wartete. Die Antwort auf seine Anfrage, ob Chad Hardman ihm bei seinen Anfängen in sexueller Hinsicht behilflich sein würde. Die Antwort lautete Nein.

Sorry, las Florentin. Ich bin nicht mehr im Geschäft. LG, Chad Hardman.

Er hätte zumindest die lieben Grüße ausschreiben können, war das Erste, was durch Florentins Kopf zuckte. Gefolgt von tiefer Enttäuschung. Er pausierte das Video und lehnte sich zurück. Sein Gemächt zuckte noch einmal hoffnungsvoll, bevor es enttäuscht den Kopf sinken ließ.

»Nun«, sagte er zu Chad Hardman, der ihn vom Bildschirm her angrinste. Er war in der Bewegung eingefroren und holte gerade aus, um sich ein weiteres Mal im Hintern des Kabinenjungen zu versenken. »Nun, das ist bedauerlich, Mr. Hardman.«

Florentin schloss die Augen. Widersprüchliche Gefühle wirbelten durch ihn. Enttäuschung, Niedergeschlagenheit, Erregung und … Trotz.

Warum?

Trotz war ein vollkommen sinnloses Gefühl, also schob er es zur Seite. Er sollte denken. Einen neuen Plan machen. Sicher wäre ihm einer der anderen Männer auf dieser Website gern behilflich …

Aber er wollte Chad Hardman.

Mist, der Trotz war zurück. Florentin versuchte erneut, ihn zur Seite zu schieben, aber er tauchte immer wieder auf, wie ein Ball, den er unter Wasser drückte und der konstant nach oben drängte.

Ich will Chad Hardman!

Es war ein seltsamer Gedanke. Er hatte kein Anrecht auf Mr. Hardmans Hilfe. Gar keins. Der Mann war ein Freelancer und er hatte das Recht, Kunden abzulehnen. Vor allem, wenn er sich wirklich aus dem Geschäft zurückgezogen hatte.

Dennoch.

Florentin glaubte es selbst kaum, als seine Finger sich auf die Tastatur legten und zurückschrieben.

Das ist äußerst bedauerlich, tippten sie, ohne sein Zutun. Ist es wirklich ausgeschlossen? Was muss ich tun, damit Sie mein Angebot annehmen, Mr. Hardman? Geld spielt keine Rolle. Mit freundlichen Grüßen, Florentin Friedrich von Lammbergen

Seine Wangen brannten, als er die Nachricht abschickte. Er bot einem Mann Geld, um mit ihm zu schlafen! Dass es einmal so weit kommen würde, hätte er nicht gedacht. Niemals. Noch vor wenigen Wochen hätte er den Kopf geschüttelt über den fragwürdigen Kerl, der da in seinem Sessel saß und … Oh, Chad Hardman antwortete! Leider nur sehr knapp.

Nope, las Florentin. Sorry, Flo.

Flo? Florentin hasste Spitznamen und vor allem diesen. »Flo« klang, als besäße er sechs Beine, würde Hunde belästigen und Blut saugen. Das war doch nicht putzig.

Er atmete tief durch. Das eingefrorene Tigerlächeln strahlte ihn immer noch an. Sein Magen hob und senkte sich und etwas zupfte, tief in seiner Brust. Etwas flüsterte ihm zu, dass er nicht aufgeben sollte.

Aber er sollte aufgeben. Es war nur vernünftig. Chad Hardman war in den Ruhestand gegangen und er hatte seine Chance verpasst.

Florentin hätte die Website und seinen Hosenstall schließen sollen, um endlich weiter zu arbeiten. Er hatte noch viel zu tun, bis zum Abendessen.

Aber er fühlte sich nicht danach. Florentin von Lammbergen, absoluter Kopfmensch, verschränkte die Arme und … schmollte. Entsetzt über sich selbst entschränkte er sie wieder und atmete durch.

»Unwichtig«, sagte er. »Ich vergesse die Angelegenheit besser. Es ist ja nicht so, als hätte ich weitere Optionen. Ich kann ihm schließlich nicht hinterherlaufen und ihn anflehen, mir zu helfen. Zumal meine Familie dagegen ist.«

Er war niemand, der nachts aus seinem Fenster kletterte, den Porsche aus der Garage stahl und zu Erotikdarstellern fuhr, die nichts von ihm wissen wollten.

Also, theoretisch war er natürlich sportlich genug, um nachts aus dem Fenster zu klettern. Er hatte die Schlüssel für den Porsche und einen Führerschein. Aber praktisch war es … Nein, das war einfach nichts, was er tat.

»Außerdem weiß ich nicht einmal, wo Sie wohnen«, sagte er zu Chad Hardman, der ihn immer noch angrinste. »Ich kann also gar nicht zu Ihnen fahren, um zu verhandeln.« Er zögerte. »Natürlich spielen Ihre Videos stets auf Kreuzfahrtschiffen, was die Möglichkeit nahelegt, dass Sie sich immer noch auf einem befinden. Und natürlich gehört meiner Familie eins der Schiffe, auf denen Sie … Aber warum sollten Sie ausgerechnet dort sein?«

Wenn es so wäre, hätte er natürlich Zugriff auf die Fotos, die von jedem gemacht wurden, der an Bord ging. Jeder Passagier wurde fotografiert, um den Ocean Pass zu erstellen, der als Kreditkarte, Zimmerschlüssel und Personalausweis fungierte. Allerdings: Es wäre eine grobe Verletzung von Chad Hardmans Persönlichkeitsrechten gewesen, wenn er die Fotos benutzte, um ihn aufzuspüren.

»Aber die Wahrscheinlichkeit ist ohnehin gering«, sagte er sich. »Warum sollte er ausgerechnet auf der Queen of Salt and Water sein? Er könnte schließlich überall …«

Seine blöden Finger waren bereits auf dem Weg zum Telefon. Sein blöder Mund fragte Kapitän Nakada, ob er wohl einen Blick auf die Fotos der Passagiere werfen könnte.

»Ich glaube, dass ein alter Bekannter von mir an Bord ist«, log er. Er log! Entsetzlich! »Und ich würde ihn gern zu seinem Geburtstag überraschen.«

Er bekam Zugriff auf die Fotos. Und fand Chad Hardman, sofort. Mr. Hardman hatte kürzere Haare und war nicht länger blond, aber er war es. Eine Ahnung des Tigergrinsens lag um seinen ansonsten ernsten Mund. Florentins Magen überschlug sich.

Kapitän Nakada war immer noch in der Leitung. »Soll ich Bescheid sagen, dass Sie an Bord kommen? Wir haben immer einige Kabinen für die Anteilseigner und ihre Familien reserviert.«

»Das wäre sehr freundlich«, sagte Florentin. »Wenn ich heute Nacht losfliege, könnte ich in Marseille an Bord gehen.«

Was tust du da?, fragte er sich. Florentin! Du bist niemand, der sich bei Nacht und Nebel davonmacht, um … um was zu tun? Mit Chad Hardman zu verhandeln? Um herauszufinden, ob es einen Grund für seinen Ruhestand gibt? Und, ob er bereit wäre, eine letzte Vorstellung zu geben?

Nein, es war ganz und gar unmöglich, dass er so etwas tat. Absolut unmöglich. Vollkommen.

»Ich sollte lieber den Bentley nehmen«, murmelte er. »Anna hängt so an dem Porsche. Und ich muss Giannis Bescheid sagen, damit die Cessna bereit ist, wenn ich am Flughafen ankomme.«

3. Chad Hardman, Rentner

 

»Das war gut.« Martin lehnte sich in den Kissen zurück und schaute an die Decke. Er gähnte. Martin schlief immer ein, Minuten, nachdem er fertig war. Harm hatte schon so oft mit ihm geschlafen, dass er ihn in- und auswendig kannte.

»Fand ich auch.« Harm wälzte sich von ihm herunter und zog das Kondom ab. Bei Privatkunden benutzte er sie. Bei Filmen ließ er sich vorher ein negatives Testergebnis zeigen. »Ziemlich gut.«

»Danke, dass ich dein letzter Kunde sein durfte. Es war mir eine Ehre.« Martin gähnte erneut. »Bist du sicher, dass du in Rente gehen willst?«

Harm brummte etwas Zustimmendes und schaute ebenfalls an die Decke. Sie war weiß. Er sog den Duft nach Schweiß und Sex in seine Nasenlöcher, der die winzige Kabine erfüllte. Das Brummen der Schiffsmotoren ließ die Matratze unter seinem Rücken vibrieren. In den Kabinen am Heck war es immer laut, oft so sehr, dass einige Passagiere nicht schlafen konnten. Harm machte das Geräusch nichts aus, genau wie die trägen Bewegungen der Queen of Salt and Water. Sie halfen ihm beim Einschlafen. Martin offenbar auch. Dem fielen schon die Augen zu. Leider öffnete er sie noch einmal und sah Harm an.

»Warum?«, fragte er. Seine Augen waren von Fältchen umringt und sein Bauch stach in die Höhe wie ein treibendes Fass. Er war nicht nur Harms letzter Kunde. Er war auch einer seiner ersten gewesen. Vor fast zehn Jahren hatte er Harm angeboten, mit auf seine Kabine zu kommen. Auf einem anderen Schiff, vor langer Zeit.

Es kam ihm vor, als seien Jahrhunderte vergangen, seit er zugestimmt hatte. Halb krank vor Liebeskummer, jung und verzweifelt. Damals hätte er nie gedacht, dass aus einer heimlichen Verabredung und einem zugeschobenen Fünfziger eine Karriere werden würde. Eine lange, geile Karriere mit einigen Tief- und sehr vielen Höhepunkten.

Eine Karriere, die nun offiziell beendet war.

»Hab keine Lust mehr«, brummte Harm, was nur ein Teil der Wahrheit war. Aber alles, was er preiszugeben bereit war.

»Das ist alles?« Martin pennte schon halb, aber er war nicht blöd.

»Ja.« Harm stand auf. Der Schweiß trocknete auf seiner nackten Haut. Er fuhr sich durch die Haare, die sich ungewohnt anfühlten. Chad Hardman hatte blonde, zerzauste Haare. Harm Hartmann hatte kurze, schwarze, die sich anfühlten wie Teppichboden.

Leider gab es noch zu viele Ähnlichkeiten zwischen ihnen. Beide hatten gigantische, muskelbepackte, von Kopf bis Fuß tätowierte Körper. Harms Haut war überzogen mit einem Flickwerk aus Bildern, die er mal witzig gefunden hatte. Bei den meisten war er besoffen gewesen, was die kotzende Raupe auf seiner Schulter erklärte. Immerhin waren sie alle schwarz. Oder ausgebleicht-blau. Ein Teil war krakelig, ein anderer so kunstvoll und schön, dass sein Herz eng wurde, wenn er sie anschaute. Er wusste auch nicht, warum.

Als er beschlossen hatte, aufzuhören, hatte er gerade bis zum Anschlag in einem Rugbyspieler gesteckt. Harm hatte auf seine Hände gesehen, die sich in die Hüften des Kerls gekrallt hatten und die Schlangen auf seinen Fingern betrachtet und … aus. Die Müdigkeit, die er mit den Jahren immer stärker gespürt hatte, war über ihm zusammengebrochen. Er hatte den Job zu Ende gebracht (er brachte den Job immer zu Ende), und hatte dann alle weiteren Dates und Aufträge gecancelt. Nur für langjährige Kunden wie Martin hatte er eine Ausnahme gemacht.

»Und?«, brummte Martin, der eigentlich pennen sollte und stattdessen unangenehme Fragen stellte. »Was wirst du jetzt tun?«

»Erst mal mache ich die Fahrt zu Ende.« Sie war schon lange gebucht gewesen und er liebte Schiffe wie die Queen of Salt and Water. Sein Erspartes reichte, um die Fahrt zu Ende zu bringen und sich dann in Ruhe zu überlegen, für welche Jobs er als ehemaliger Pornodarsteller, Callboy, Barkeeper, Steward, Animateur und Raumpfleger geeignet war. Sicher viele. Nur hatte er das blöde Gefühl, dass eine ganze Menge wegfielen, weil man überall im Internet Videos fand, in denen er sich durch die Sieben Weltmeere vögelte. Es nagte an ihm, aber es ließ sich nicht ändern.

Er würde etwas finden. Bestimmt.

»Und dann?« Dieser nervige Martin.

»Dann fällt mir was ein.« Er grinste. »Glaubst du mir nicht?«

»Ich glaube dir alles.« Martin lächelte selig. Er lag auf dem Bett, als hätte Harm ihn in den Himmel und zurück gefickt. »Ich finde es nur schade, dass du in Rente gehst. Ein Mann mit deinen Talenten …«

»Ha. Ja.« Harm befürchtete, dass Leute in den Himmel und zurück zu ficken auch sein einziges Talent war. Nein, Moment: Ein anderes hatte er auch noch gehabt, aber das konnte er ebenso wenig ausüben. »He, ich kann nicht ewig so weitermachen. Ich bin jetzt dreißig.«

»Du zarter Jüngling.« Martin seufzte. Harm warf mit einem Pappbecher nach ihm. Sie hatten mit Sekt auf Harms Ruhestand anstoßen wollen, aber sobald sie die Kabine betreten hatten, waren sie übereinander hergefallen.

Harm köpfte die Flasche. Mit einem Plopp knallte der Korken gegen die Decke und landete neben Martins Ellenbogen auf der Matratze. Schaum rann über Harms Hände, kühl und prickelnd. Er goss den Sekt in einen Pappbecher.

»Willst du auch was?«

»Klar.« Martin raffte sich noch einmal auf, um mit ihm anzustoßen. »Auf dein weiteres Leben, lieber Chad.«

»Harm.«

»Ach, darf ich dich wieder so nennen?« Martin lächelte.

»Ja.« Harm nahm einen Schluck und der Alkohol schoss ihm ins Blut. Angenehme Entspannung machte sich in seinem Körper breit. Seine Waden kribbelten. »Ne, weißt du. Es war echt Zeit, dass ich Schluss mache. Kann ja nicht ewig zwischen Harald und dir stehen.«

Martin lachte. Harald war sein Gatte und sie waren sich absolut treu. Außer im Urlaub. Da lebten sie sich anderweitig aus, bevor sie wieder zurück in die heimatliche Kabine kehrten. Harald war gerade mit einem Kollegen von Harm zugange. Mer muss och jünne künne, sagte er stets, der alte Kölner. Harm, das Nordlicht, hatte es erst beim dritten Mal verstanden.

»Ich freu mich auf mein altes Pummelzebra«, sagte Martin und lächelte selig. »Falls ich einschlafe, weck mich, ja? Ich will morgen neben ihm aufwachen.«

Ein kleiner Stich ging durch Harms Brust, aber er ignorierte ihn. »Falls du einschläfst? Du pennst mir doch jedes Mal weg.«

»Gar nicht.« Martin gähnte. »Und das liegt nur daran, dass du so langweilig bist. Erzähl mir lieber was Lustiges.«

Harm lachte und goss sich Sekt nach. Ihm war immer noch warm. Sobald Martin pennte, würde er raus auf den Balkon gehen und sich abkühlen. Seewind auf nackter Haut war eine der schönsten Sachen auf einer Kreuzfahrt. Und der Grund, warum er trotz des Aufpreises für eine Balkonkabine geblecht hatte.

»Vor ein paar Tagen hat mich ein Kerl angeschrieben.« Er schüttelte den Kopf. »Fast wäre ich noch mal schwach geworden. Einfach, weil der so seltsam war. Der … Warte, ich les dir vor.« Er zückte sein Handy und räusperte sich. »Sehr geehrter Herr Hardman.«

»Sehr geehrter?« Martins Augenbraue wölbte sich. »Sonst bekommst du eher Nachrichten wie: 'Hi. Ficken?', oder?«

»Jupp.« Allein deshalb war Harm neugierig geworden. »Es wird noch besser. Sehr geehrter Herr Hardman, wie geht es Ihnen? Über meine Schwester bin ich auf Ihr Œuvre aufmerksam geworden und bin sehr angetan von Ihrer Vielseitigkeit und Arbeitsmoral.«

»Wat?« Martin legte den Kopf schief. »Sicher, dass der dich meint? Das klingt, als wärst du … Pianist oder so.«

»Mit den Flossen?« Harm hielt seine Pranken hoch. »Ne, der meint mich. Hör mal: Wie sind die Bedingungen, wenn man sich für eine Nacht mit Ihnen interessiert? Bitte sehen Sie mir nach, dass ich in dieser Hinsicht nicht viel Erfahrung habe. Falls es Ihnen passt, lade ich Sie herzlich zu einem Besuch in unserer Villa ein. Selbstverständlich bezahle ich die Fahrtkosten. Da Sie in Ihrem Profil um ein Foto baten, habe ich es angehängt. Ich hoffe, es fällt zu Ihrer Zufriedenheit aus.«

»Zeig.« Martin richtete sich ächzend auf. »Wie alt ist der Kerl? Siebzig? Achtzig?«

»Jung.« Harm schüttelte den Kopf. Er rief das Foto auf. Hellgraue Augen sahen ihm entgegen und ein todernstes Gesicht. Der Mann schien aus Eis geschnitzt worden zu sein, aber von einem Meisterschnitzer. Er hatte ein kantiges Kinn, eine schmale, gerade Nase, und Lippen, die sich wölbten, als wären sie zum Küssen erschaffen worden. Ja, beinahe wäre Harm schwach geworden. Aber das durfte er nicht. »Hier.«

Martin schüttelte den Kopf. »Komischer Kerl. Aber hübsch ist der. Sind das … Hat der Reitklamotten an?«

»Ja.« Harm betrachtete die dunkelgrüne Weste. »Der sieht aus wie ein … Na, wie so ein Adliger.«

»Ein ganz hübscher Adliger.« Martin gähnte. »Warum erfüllst du ihm seinen Wunsch nicht? Vielleicht hat er Kohle. Wenn er sich in dich verliebt, hast du ausgesorgt.«

»Nein.« Harm legte sein Handy weg und griff nach dem Pappbecher. Der Sekt war wärmer geworden, aber er prickelte noch. »Nein, das ist eine Scheißidee. Ich will raus aus der ganzen Nummer.« Er setzte sich neben Martin und stützte die Unterarme auf die nackten Knie. »Ich bin nur hier gelandet, weil ich mich treiben lasse.«

»Bist du das?« Martin klang sanft.

Harm nickte. Die Wahrheit drängte doch aus ihm heraus. Lag wohl am Sekt. »Weißt du, damals … da wusste ich nicht, wohin mit mir, also habe ich den ersten Job angenommen, der mir vor die Füße gefallen ist. Auf der Costa Aura. Putzen und Kellnern, und dann haben sie mich hinter die Bar gestellt. Dann hab ich gemerkt, dass ich noch mehr Geld machen kann, wenn ich ein bisschen Spaß mit den Gästen habe. Dann hatte einer eine Kamera dabei und den Rest kennst du ja. Zehn Jahre Chad Hardman, Superstecher.« Er kippte den Rest des Bechers herunter. »Ich hab keine Lust mehr, ein Stück Treibholz zu sein. Ich will mein Leben in die Hand nehmen, verdammt. Ich will …« Er räusperte sich. Kacke, das klang, als würde er in einer Vorabendserie mitspielen. »Ich will selbst entscheiden. Hab keine Lust mehr, Angebote anzunehmen. Ab jetzt mache ich die Angebote.«

Hoffentlich fragte Martin nicht, was er eigentlich anbieten wollte. Harm hatte nämlich keine Ahnung.

Doch Martin schwieg.

Nett von ihm, dachte Harm, aber dann hörte er ihn schnarchen. Oh.

Er schleuderte den leeren Pappbecher in den Mülleimer und erhob sich. Den Seegang ausgleichend ging er nach draußen, öffnete die Balkontür und wurde von einem salzigen Luftzug begrüßt. Die Meeresbrise kühlte seine Haut. Er lehnte die Arme auf die Balkonumrandung und blickte in die Nacht. Links und rechts von ihm erhoben sich Trennwände zu den anderen Balkonen, aber vor ihm war alles weit und schwarz. Ganz hinten zogen Wolken über den Horizont. Kein Mond.

Es war eine angemessen finstere Nacht für seinen Abschied. Aber er hatte sich entschieden. Einmal im Leben hatte er sich entschieden und er wollte es durchziehen. Sich nicht von Versprechungen, von Geld und Sex zurücklocken lassen. Es fühlte sich richtig an.

»Mach's gut, Chad Hardman«, raunte er in den Wind.

4. Wiederaufnahme der Verhandlungen

 

Salziger Wind zerzauste seine Haare, Möwen kreischten über ihm und Florentin war schlecht. Er vertrug das Fliegen nie gut, und seine Aufregung hatte dafür gesorgt, dass er um ein Haar den Boden der Cessna vollgespuckt hätte. Die Übelkeit flaute nur langsam ab, obwohl sie bereits vor einer halben Stunde in Marseille gelandet waren.

Er bezahlte das Taxi und stieg aus. Der Fahrer holte seinen Rollkoffer, in den Florentin alles gepackt hatte, was man für eine Kreuzfahrt benötigte. Vermutlich. Seine letzte war so lange her, dass er damals die meiste Zeit im Kinderparadies verbracht hatte.

Der Hafen von Marseille erstreckte sich vor ihm. Der Geruch von Seetang schlug ihm entgegen, die weißen Leiber der Möwen kreisten am Himmel und das dunkle Wasser schwappte gegen die Stege. Er beachtete nichts davon.

»Nun«, murmelte er zu sich selbst. »Ich wusste ja, was mich erwartet.«

Aber das Schiff auf einem Foto zu sehen war nichts dagegen, die Queen of Salt and Water vor sich zu haben. Ihr Leib türmte sich vor ihm auf, größer als eine Hochhaussiedlung, mächtiger als jedes andere Kreuzfahrtschiff im Hafen. Aus seiner Perspektive sah er nur die Unterseite des Bugs. Er wusste, dass sich darauf ein Hubschrauberlandeplatz befand. Darüber hinaus wusste er, dass das Schiff 3000 Kabinen, einen Kletterpark, ein paar Dutzend Restaurants, ein Kino und ein Freilichttheater beherbergte. Aber sie zu sehen … Die Aufregung hob seinen Magen.

Das Schiff war erst vor Kurzem vor Anker gegangen. Menschenmassen ergossen sich aus seinem Leib. Menschen jeder Hautfarbe und jeden Alters. Ein Gewirr aus verschiedenen Sprachen mischte sich in das Heulen des Windes. Drei Kinder rannten an Florentin vorbei, gefolgt von schimpfenden Eltern. Er ging ein paar Schritte, um mehr von der schwimmenden Stadt zu sehen. Kabinen zogen sich um den Leib der Queen of Salt and Water, acht Reihen hoch, unendlich lang. Er wusste, dass im Innenbereich noch doppelt so viele lagen. Einige schauten auf den Innenhof hinaus, andere auf eine Wand. Immerhin konnte man auf den Flachbildschirmen einen Endlosfilm sehen, der ein Bullauge simulierte.

Über 6000 Menschen waren an Bord.

Zum ersten Mal fragte er sich, wie schwer es sein würde, Chad Hardman auf diesem Schiff zu finden.

Sein Handy klingelte. Es war Mutter.

»Ja, bitte?« Er bemühte sich, zu lächeln.

»Wo bist du?«, fragte sie und er hörte leises Klirren. Vermutlich rührte sie gerade ihren Kaffee um. »Wir frühstücken und du bist nirgendwo aufzufinden. Carolin macht sich Sorgen um dich.«

»Carolin?« Sollte sie als seine Mutter nicht besorgt sein? »Sag ihr, dass sie keine Angst um mich haben muss. Ich bin in Marseille.«

»Marseille.«

»Ja.«

»Darf ich fragen, warum?«

»Nun, ich habe herausgefunden, dass Chad Hardman sich auf der Queen of Salt and Water aufhält. Kapitän Nakada hatte glücklicherweise noch eine Kabine frei …«

»Chad Hardman?« Ihr Ton klang nach 'Benito Mussolini'.

»Ja. Er hat mein Angebot ausgeschlagen, daher bin ich hierhergereist, um herauszufinden, warum.«

»Er hat es ausgeschlagen?« Sie räusperte sich. Er hörte Flüstern. Klang nach Anna. »Florentin …«

»Mutter, ich fürchte, wir müssen dieses Gespräch später fortsetzen. Da kommt ein Steward auf mich zu.« Er winkte dem Mann, der ein Schild in den Händen trug. Florian Friedrich von Lammbergen stand darauf.

Plötzlich war sein Vater am Telefon. »Du lässt die Finger von diesem Hardman!«, brüllte er.

»Bis später.« Florentin beendete das Gespräch und stellte sein Handy lautlos. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Was tat er hier? Er konnte immer noch nicht glauben, dass er einfach weggelaufen war. Und, dass er ein Gespräch mit seinen Eltern so unhöflich beendet hatte.

»Mister van Lämmbörgen?«, fragte der Steward. Vermutlich stammte er von den Philippinen, der äußeren Erscheinung und dem Akzent zufolge. Er lächelte und strahlend weiße Zahnreihen blitzten Florentin entgegen.

Der nickte. »Yes.« Was gab es noch zu sagen? Er bedankte sich für den freundlichen Empfang und spazierte dem Mann hinterher. Zur Gangway, die den Gästen der Premiumklasse vorbehalten war. Obwohl diese so breit wie eine zweispurige Autobahn war, spürte er eine leichte Auf- und Abbewegung.

Der Steward geleitete ihn zur Registration, an der er seinen Ocean Pass erhielt. Das Foto wurde aufgrund der grellen Lampen recht hässlich, aber das war egal. Er würde es nicht mehr brauchen, wenn er die Fahrt beendet hatte. Dann führte man ihn weiter, durch den Leib des Schiffes, über knallrote Teppiche zu einem riesigen, silbernen Aufzug. Und es ging aufwärts.

Der Gang, in dem sie landeten, war lang und leer und vollkommen ruhig. Nur wenige Türen reihten sich aneinander. Hier lagen die Premium Suites, deutlich größere Kabinen als die der meisten Passagiere.

»This is your suite, Mister van Lämmbörgen«, sagte der Steward und deutete auf eine der Türen. »Please open it with your Ocean Pass.«

Florentin tat wie ihm geheißen und die Tür öffnete sich. Wieder sah er den Hafen von Marseille, diesmal von oben. Weit oben. Aus einer Höhe von über 50 Metern, durch die deckenhohen Fenster.

Er verabschiedete sich von dem Steward, der ihn darauf hinwies, dass er heute Abend einen Platz am Tisch des Kapitäns hatte. Und, dass gleich ein Butler erscheinen würde, um seinen Koffer auszuräumen. Dann war er allein.

Die Kabine war zufriedenstellend. Zu zwei Seiten ließen Fenster das Vormittagslicht herein und hinter ihnen lag ein Balkon, auf dem weiße Deckchairs zum Ausruhen einluden. Außerdem gab es dort draußen einen Whirlpool, einen Tisch und mehrere Stühle. Einfach, aber ansprechend.

Auf dem Teppichboden verteilten sich verschiedene Polstermöbel und an den Wänden hingen anthrazitfarbene Gemälde. Als Florentin die Treppe zum zweiten Stock hinaufstieg, stellte er zufrieden fest, dass das Bett seinen Ansprüchen genügen würde. Es war ein Doppelbett, dezent beleuchtet vom indirekten Licht aus cremefarbenen Lampen an der Wand. Es roch nach Waschmittel und dem Lavendel, der in zwei Bodenvasen links und rechts vom Eingang stand.

Würde dieses Bett Chad Hardman gefallen? Er wusste es nicht. Aber er hatte ihn seinen Job auf deutlich kleineren Betten verrichten sehen.

»Gut.« Florentin stellte seinen Koffer neben das Bett, damit der Butler ihn auspacken konnte. Er begab sich in das in Weiß, Grau und Hellgrau gehaltene Badezimmer, um sich frisch zu machen. Und dann machte er sich auf, um Chad Hardman zu finden.

Vielleicht hätte er den Kapitän um weitere Informationen ersuchen können. Chad Hardmans Kabinennummer zum Beispiel. Aber er wollte nicht ein weiteres Mal gegen die Datenschutzrichtlinien verstoßen. Und ein kurzer Blick in seine Nachrichten zeigte ihm, dass es seiner Mutter nicht recht gewesen wäre.

Sag auf keinen Fall irgendjemandem, warum du an Bord bist!!, hatte sie geschrieben, mit zwei Ausrufezeichen. Er wollte sie nicht noch weiter verärgern. Außerdem würde er diesen Chad Hardman schon finden. Die Kreuzfahrt ging noch elf Tage, da hatte er mehr als genug Zeit.

Kurz betrachtete er sich im Spiegel, verwuschelte sich erneut die Haare, strich sie wieder glatt und verließ die Kabine.

Wo würde ein Mann wie Chad Hardman hingehen?

Chad Hardman war sehr muskulös, also versuchte er es zuerst im Fitnessstudio. Es hieß 'Ocean Oasis of Fitness and Fun'. Dort fand er nichts als schwitzende Menschen, also verschwand er schnell wieder.

Vielleicht betätigte Mr. Hardman sich auf andere Weise sportlich? An der frischen Luft zum Beispiel, was Florentin sehr gefallen hätte. Er stellte sich vor, dass Chad Hardman gerne ritt und in engen Reithosen auf einem mächtigen Hengst saß …

»Nein«, murmelte er und schritt durch die Flure des Fitnessbereichs. Hinter keinem der Fenster sah er Hardman, weder beim Yoga noch bei der Wasser-Aerobic. »Nein, hier auf dem Schiff kann er nicht reiten. Aber vielleicht spielt er Tennis.«

Der Weg zum Oberdeck war gesäumt von Spielautomaten und entsetzlichem Teppichboden. Die bunten Muster stachen ins Auge und vermittelten den Eindruck, hier wäre ein Clown explodiert. Florentin flüchtete.

Immerhin war das Schiff recht leer. Die Hälfte der Gäste sah sich wohl Marseille an. Ob Chad Hardman unter ihnen war? Hoffentlich nicht.

Ich werde ihn finden, so oder so, dachte Florentin.

Er fühlte sich stark und entschlossen, als er ins Freie trat. Sonnenstrahlen wärmten sein Gesicht. Der Wind begrüßte ihn mit einer zarten Brise. Das Oberdeck war so gigantisch wie der Rest und die Reling war mehrere hundert Meter lang.

Kreischende Kinder rannten an ihm vorbei und stürzten sich in das Maul einer riesigen Plastik-Seegurke. Sie war der Zugang zur 'Slide of Fear and Horror', einer Rutsche, die sich mehrere Decks tief nach unten wand, bis sie ihre Opfer wieder ausspuckte. Schreie erfüllten die Luft, hohl von den Wänden der Röhrenrutsche widerhallend.

Florentin schauderte. Schon als Kind hatte er Rutschen gehasst. Den plötzlichen Kontrollverlust, wenn man nach unten sauste. Das Gefühl, dass sein Magen nach oben gestülpt wurde. Widerlich.

Schnell sah er von dem Unding weg und scannte die Sportplätze. Auf dem Tennisplatz betätigten sich zwei Rentner, was sehr löblich war. In der Mitte des Decks rauschten künstliche Wellen wie horizontale Wasserfälle. Man konnte darauf surfen, was einige Jugendliche und drei Männer taten. Leider war keiner von ihnen Chad Hardman.

Lautes Jubeln erscholl rechts von Florentin. Raue Männerstimmen, das Klatschen von Händen. Florentin sah sich um. Und erstarrte.

Chad Hardman umdribbelte seinen Gegner, duckte sich und sprang. Wie ein tätowierter Halbgott flog er auf den Korb zu. Schweiß lief über seinen bloßen Oberkörper. Ein Tropfen flog von seiner Schulter, als er aufkam. Der Ball zitterte im Netz und fiel neben ihm zu Boden. Wieder erscholl lautes Jubeln. Seine beiden Teamkameraden klatschten ihn ab. Sie waren ebenfalls große, muskulöse Männer, aber sie waren kein Chad Hardman. Er ragte zwischen ihnen auf wie ein Löwe unter Katern.

Florentins Hals wurde eng. Er stand an Deck der Queen of Salt and Water, nur wenige Meter von Chad Hardman entfernt, und er konnte sich nicht bewegen. Sein Herz galoppierte davon. Kalter Schweiß sammelte sich zwischen seinen Schulterblättern. Heiße Lust sammelte sich in seiner Körpermitte. Sein Gemächt füllte sich mit Blut.

Chad Hardman spielte weiter. Dribbelte, sprang, täuschte an … Er holte die meisten Punkte für sein Team, soweit Florentin das Spiel verstand. Und die anderen liebten ihn. Ständig fiel sein Team sich in die Arme. Einer der anderen rubbelte über Chad Hardmans kurz geschorenen Schädel und lachte. Chad schubste ihn zur Seite und lachte noch lauter. Sein Tigerlachen. Florentins Herz rutschte.

Mist. Wie lange stand er schon hier und starrte Hardman an? Einer der anderen Spieler bemerkte ihn. Sein fragender Blick brachte Florentin wieder zur Besinnung. Abrupt wandte er sich um. Er musste weg von hier. Er gehörte nicht hierhin. Chad Hardman spielte eindeutig in einer anderen Liga als er. Selbst Florentin, der sonst nie etwas kapierte, kapierte das.

Seine Beine fühlten sich an wie marode Schiffsplanken und er schaffte es kaum zur Seaside Bar. Erst, als er sich auf einem der mit leuchtenden Fischen übersäten Hocker niedergelassen hatte, fragte er sich, was er hier tat. Also, außer vor Chad Hardman zu fliehen. Wegen dem er hier war.

»Lächerlich«, murmelte er.

»Pardon?« Der Barkeeper schenkte ihm ein Lächeln. »I didn't get your order, Sir.«

Florentin hatte nichts bestellt, aber in seinem Zustand war es besser, nicht aufzustehen. Sein Gemächt hatte sich noch nicht von Hardmans Anblick erholt, nein, es schwoll noch weiter an. Er atmete tief ein. Dann atmete er aus und bestellte einen Cocktail. Einen Pink Blowfish, was recht harmlos klang. Er gab dem Barkeeper seinen Ocean Pass und der hielt ihn an den Kartenleser, der wie eine Muschel geformt war.

Das Basketballspiel ging weiter, irgendwo hinter seiner linken Schulter. Hardmans Stimme war unter all den anderen klar zu erkennen.

»Kevin, du Schwachmat! Netter Dreier!«

Das bezog sich vermutlich auf ein Basketballmanöver. Oder?

»Mit Dreiern kenn ich mich aus.« Lachen.

Florentin schwitzte. Ein entsetzliches Getränk landete vor ihm, bestehend aus strahlend pinken Glitzerregenschirmen, knirschendem Eis und einer halben Grapefruit, die zu einem Kugelfisch geschnitzt worden war. Es enthielt sehr viel Alkohol. Florentin probierte, verharrte und hustete unauffällig. Dann sog er erneut an dem Strohhalm, diesmal vorsichtiger.

Sei kein Feigling, Florentin, hörte er seinen Vater sagen. Feiglinge erreichen nichts und bereuen alles.

Trotz seiner Mängel hatte Florentin es meist geschafft, sich an diesen Rat zu halten. Er atmete tief ein und nahm noch einen Schluck. Das musste purer Alkohol sein, der seine Speiseröhre verbrannte.

Ich bin kein Feigling, dachte er. Und schließlich bin ich wegen Chad Hardman hier. Also sollte ich jetzt aufstehen und zu ihm gehen. Ja, das sollte ich.

Chad Hardman im echten Leben zu sehen, war überwältigend. Ganz anders, als wenn er in der Sicherheit seines kleinen Büros die Videos betrachtet hatte. Vollkommen anders. Florentin fühlte sich klein und unerfahren. Doch er konnte jetzt nicht aufgeben.

Er wartete noch einen Augenblick, bis sich seine Körpermitte beruhigt hatte. Da er sonst nichts zu tun hatte, trank er den Cocktail aus. Und bereute es sogleich. Schwindel sauste durch seine Glieder und vernebelte seinen Kopf. So ein Mist. Wer servierte denn derart starke Cocktails vor dem Mittagessen? Er sah sich um und war erstaunt, dass einige der anderen Gäste ebenfalls an Strohhalmen saugten. Nun gut. Die Nachfrage bestimmte das Angebot. Offenbar war es auf Kreuzfahrten normal, sich schon tagsüber zu betrinken.

Er erhob sich und schwankte. Hoffentlich war das den leichten Bewegungen des Schiffs im Hafen geschuldet. Hoffentlich war er nicht so betrunken, wie er sich fühlte. Er wollte keinen schlechten Eindruck bei Chad Hardman hinterlassen.

Er hatte Glück: Das Basketballspiel war beendet. Hardman und seine beiden Teamkameraden standen noch herum, rieben sich den Schweiß mit Handtüchern ab und unterhielten sich.

Florentin holte ein letztes Mal Luft. Machte drei Schritte. Und stand vor Chad Hardman.

»Guten Tag, Herr Hardman«, sagte er.

5. Ein unwillkommenes Angebot

 

»Das schaffst du nie.« Kevin lachte und Harm verfluchte ihn stumm. Er passte den Ball zu Marcel, täuschte an und rannte an seinem Gegenspieler vorbei. Marcel warf ihm den orangefarbenen Ball zu und Harm sprang.

Er donnerte den Ball ins Netz, dass die Kettenglieder klirrten. Harm war kaum gelandet, als Marcel ihn schon umriss und herumwirbelte.

»Gut gemacht, du Spießer!«, brüllte er. Das war der letzte Punkt zum Sieg gewesen und Harm hätte zufrieden sein können. Wenn seine blöden Freunde ihn nicht geärgert hätten, seit sie sich zum Frühstück getroffen hatten.

Martin hatte geplaudert. Anscheinend hatte er im Halbschlaf doch mitbekommen, was Harm ihm gebeichtet hatte und nun wusste es jeder.

Harm klatschte sich mit ihren Gegnern ab und schnappte sich sein Handtuch. Blütenweiß und flauschig legte es sich auf sein Gesicht. Er hätte es sich in die Ohren stopfen sollen, denn Kevin stichelte weiter.

»Chad, du alter Mönch. Schrumpelt dein Rohr schon zusammen, seit du es nur noch zum Pissen brauchst?«

»Ich hab gestern meinen letzten Kunden bedient«, knurrte Harm. »Und ich hab dir gesagt, dass ich nicht mehr Chad heiße.«

»Sorry, Harm.« Kevin nickte Marcel zu. »Sollen wir ihn überhaupt im Team lassen, jetzt, wo er keine Nutte mehr ist?«

»Solange er weiter Punkte macht.« Marcel schüttelte den Kopf. »Wie kannst du uns das antun, Chad-Harm? Das Nuttentrio wird nie wieder dasselbe sein.«

Kevin schaute traurig »Das Nuttenduo und Harm der Spießer klingt einfach nicht.«

»Das Nuttenduo fliegt gleich von Bord.« Harm versetzte Kevin einen Schlag mit dem Handtuch. Es peitschte über dessen Arsch und verursachte einen sehr befriedigenden Knall.

»He! Werd nicht frech, du Langweiler!«

»Was beschwerst du dich denn?« Eddie, einer der Gegenspieler, lachte. »Weniger Konkurrenz für uns ist doch 'ne gute Sache.«

Eigentlich mochte er Kevin, Marcel und Eddie. Sie waren Kollegen. Wie viele andere an Bord sorgten sie dafür, dass einsame Männer nachts ein bisschen Spaß hatten. Sie alle arbeiteten auf eigene Rechnung.

Eddie, blond und sommersprossig, trug den Künstlernamen »Clark Hunt« und hatte letztes Jahr noch mehr Videos als Chad Hardman gedreht. Was er ihm ständig unter die Nase rieb.

Marcel ließ sich nicht filmen. Sie vermuteten, dass er heimlich eine Karriere in der Politik anstrebte, wenn er nicht mehr frisch genug war, um seinen Job zu machen. Falls das stimmte, bewunderte Harm seine Voraussicht. Er dachte nie weiter als bis zum nächsten Fick/Bier/Morgen, was auch der Grund war, warum er von Kopf bis Fuß bekritzelt war, mit Tattoos höchst unterschiedlicher Qualität. Und, warum er keine Ahnung hatte, was er tun sollte, jetzt, wo er Chad Hardman zu Grabe getragen hatte.

»Macht's gut ihr Nutten.« Eddie nickte ihnen zu. »Und du, alter Spießer. Ich hab gleich 'nen wichtigen Kunden. Muss mich vorbereiten.« Er winkte ihnen und ging. Seine Rückenmuskeln glänzten feucht und mehrere Rentnerinnen drehten sich um, als er an ihnen vorbeistolzierte.

»Das hältst du nicht mal bis Palermo durch«, sagte Kevin zu Harm. »Du brauchst es. Mehr als wir alle zusammen. Du gehst doch ein, wenn du nicht jede Nacht einen wegstecken kannst.«

»Laber nicht.« Das Blöde war, dass Kevin recht hatte. Er fühlte sich hohl und leer, ohne die Aussicht auf Sex. Auf Haut unter seinen Fingern, auf einen Arsch, in dem er sich versenken konnte.

»Ich laber nicht, ich sage die Wahrheit.« Kevin grinste. »He, ich hab morgen einen Abend frei. Wie wär's? Du bist doch scharf auf mich, seit ich dich auf der Melody Princess mal rangelassen habe.«

»Du hast gekreischt wie ein Weihnachtself, der von einem Rentier genagelt wird«, knurrte Harm. »Ne, danke. Mir tun immer noch die Ohren weh.«

Kevins Schulter rammte ihn. »Lieber ein Weihnachtself als ein Spießer.«

»Ich bin kein Spießer.« Harm schob ihn von sich. »Ich will nur aufhören. Ich hab genug.«

»Du hast eine Midlife Crisis, alter Mann.« Jetzt sprang auch noch Marcel ein. Sein faltenfreies Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. »Das ist ganz normal. Rutsch einfach über Kevin drüber und es ist vorbei.«

»Nein.« Harm rieb sich den Schweiß vom Nacken. »Du bist ganz schön undankbar, Kleiner. Wenn Kevin und ich dir nicht den Job erklärt hätten, wärst du nie so weit gekommen.«

»So viel gibt's da auch nicht zu erklären.« Marcel wirkte verstimmt.

Harm schnaubte. »Sicher. Hätten wir dich nicht weggezogen, hättest du dich auf der Waterbelle an einen Sicherheitsoffizier rangemacht.«

»Konnte ich doch nicht wissen. Der war in Zivil.«

»Ja, und du hast dir nicht die Mühe gemacht, dir ihre Gesichter zu merken.« Harm schüttelte den Kopf. »Du musst aufpassen, Junge. Wenn die mitkriegen, was wir hier treiben, sind wir schneller von Bord, als du bis drei zählen kannst.«

»Du nicht. Du treibst ja nichts mehr«, murrte Marcel. »Jetzt, wo du in Rente bist.«

»Unten spielen sie Shuffleboard.« Kevin rieb sich den Rücken trocken, so, dass sie jeden einzelnen Muskel bewundern konnten. Es waren viele Muskeln. Durch hartes Training hatte er seinen Körper in ein Kunstwerk verwandelt und Harm genoss den Anblick sehr. Wenn der Trottel nur die Klappe gehalten hätte. »Willst du da mitmachen? Shuffleboard ist doch der perfekte Rentnersport, du alter Sack.«

Harm hatte genug. »Was wollt ihr eigentlich? Ich steige aus, weil ich keine Lust mehr habe. Meine Entscheidung. Also was ist euer Problem?« Zornig sah er sie an. Zornig, weil er fürchtete, dass sie recht hatten. Dass er sich weiter treiben lassen würde, dass er auf das nächste Angebot eingehen würde, das irgendein Kerl ihm machte, statt den schweren Weg zu gehen: seinen eigenen. Von dem er keine Ahnung hatte, was er war.

Kevin schnalzte mit der Zunge. »Unser Problem ist, dass du ein spießiger Rentner bist. Du guckst jetzt schon, als wolltest du Kinder aus deinem Vorgarten vertreiben.«

»Einen Scheiß tue ich.«

»Schau halt in den Spiegel.« Marcel wischte sich über die Bauchmuskeln. »He, Kevin. Wetten wir darum, wann Harm schwach wird?« Er senkte die Lider und schaute Harm an. Seine Zunge erschien und er leckte sich über die Lippen. Der kleine Mistkerl. Kaum aus den Windeln raus und dachte, er könnte bei den großen Jungs mitspielen. »Ich wette, dass ich ihn übermorgen rumkriege. Dann ist nämlich mein freier Tag.«

Kevin schlug ein. Der Trottel. »Niemals, du Küken. Den locke ich morgen in meine Kabine und danach redet der nie wieder von Rente.«

»Ich stehe direkt neben euch.« Unwillkürlich musste Harm lachen. »Ihr solltet eure bösen Pläne schmieden, wenn ich nicht zuhöre.«

»Du hast keine Chance.« Kevin sah ihn mitleidig an. »Spätestens morgen schreist du doch danach, dass du endlich gemolken wirst.«

Harm verschränkte die Arme. »Wie wär's mit einer anderen Wette? Hundert Euro darauf, dass ich mit niemandem in die Kiste hüpfe, bis wir zurück in Barcelona sind.«

Kevin wieherte. »Harm-Chadchen. Das sind noch elf Tage.«

Marcel schüttelte den Kopf. »Das schaffst du nie.«

Wut brannte in Harm. So wenig trauten sie ihm zu? Dachten sie, er hätte so wenig Selbstbeherrschung, dass er seinen Schwanz keine elf Tage in der Hose behalten konnte? Gut, es war Jahre her, dass er elf Tage lang niemanden gevögelt hatte. Sehr viele Jahre. Aber er musste sich zusammenreißen, verdammt! Er wollte neu anfangen und diese beiden Hochsee-Stricher durften auf keinen Fall recht behalten!

»Was ist?«, knurrte er. »Wetten wir oder nicht?«

Kevin und Marcel sahen ihn an. Spöttisches Grinsen erschien auf den Gesichtern der beiden Flachpfeifen.

»Sicher.« Kevin schüttelte schon wieder den Kopf. »Harm-Chad, du bist noch nie so schnell zweihundert Euro losgeworden, das ist mal klar. Morgen zahlst du. Na, eh besser, wenn ich was für meine Mühe kriege. Ich bin gar nicht mehr daran gewöhnt zu ficken, wenn es kein Geld dafür gibt.«

Harm auch nicht, und das machte ihn nur noch wütender. »Kevin, ich werde deinen faltigen Arsch in Ruhe lassen, das verspreche ich dir.« Er grinste und hielt ihm die Hand hin. »Wetten wir?«

»Wer ist hier faltig?« Kevins Lächeln wirkte etwas gezwungen. Er war älter als Harm, fast fünf Jahre, und hasste es, darauf angesprochen zu werden. »Du wirst meinen blitzneuen Arsch nageln und dann zahlst du.«

»Oder meinen.« Marcel drängte sich dazwischen und packte Harms Hand. »Nur, damit ich es weiß: Verlierst du auch, wenn du dir jemand anders suchst als Kevin und mich?«

»Ja.« Harm schüttelte seine Hand so fest, dass Marcel das Gesicht verzog. »Kein Sex, elf Tage lang. Und danach auch nicht mehr.«

»Harm-Chad, du wirst elendig versagen.« Kevin schubste Marcel zur Seite und schlug ein. »Hundert Euro für jeden, ist das klar?«

»Zweihundert Euro für mich.« Harm quetschte Kevins Hand. Der verzog keine Miene. »Und …«

»Herr Hardman?«, sagte jemand hinter ihm. Eine unbekannte Stimme. Kühl wie die Meeresbrise.

Herr Hardman. Woher kannte der ihn? War das einer seiner alten Kunden? Harm drehte sich um und musterte den Mann. Nein, zumindest nicht, soweit er sich erinnerte. Hellgraue Augen in einem kantigen Gesicht, blonde Haare und ein trainierter Körper in einem hellgrauen Anzug. Aber irgendwoher kannte er ihn.

»Na klar«, sagte Harm und grinste. »Du hast mir doch gestern geschrieben. Flo!«

Eine Falte erschien auf der Stirn des Blonden. Hübscher Kerl, nur viel zu ernst.

»Ich würde es bevorzugen, wenn Sie mir keine Spitznamen verpassten.« Er räusperte sich. »Entschuldigung, ich möchte nicht unhöflich sein. Aber ich hasse Spitznamen.«

»Sorry.« Harm unterdrückte mit Mühe ein Lachen. »Mensch, du klingst genau, wie du schreibst.«

»Das hoffe ich.« Der Blonde nickte. Wie hieß der noch mal wirklich? »Aber Sie können mich gern duzen, wenn es Ihnen Freude macht.«

»Und wie.« Harm hatte sich den ganzen Tag noch nicht so amüsiert. »Ich wusste gar nicht, dass du auch auf dem Schiff bist, äh …«

»Florentin.«

»Florentin.« Hübscher Name. »Warum hast du das nicht geschrieben?«

»Also.« Der Blonde räusperte sich. »Gestern war ich noch nicht auf dem Schiff. Ich bin hier, um mit Ihnen zu sprechen, Mr. Hardman. Es geht um mein Angebot.«

»Dein Angebot.« Harm konnte nicht anders: Er musterte ihn von Kopf bis Fuß. Ja, sehr hübsch. Er konnte sich gut vorstellen, wie dieser Florentin auf seinem Bett lag, die Haut leicht gebräunt, goldschimmernd gegen das Weiß des Bettlakens, das Gesicht gerötet und die kräftigen Schenkel ….

Er hörte Marcel kichern. Und erinnerte sich. Nein. Er würde nicht mit diesem Kerl in die Koje steigen. Wut brandete auf. Er hatte gerade erst gewettet! Was für ein oller Lustmolch war er, dass er jetzt schon wieder schwach wurde?

»Tut mir leid.« Er zuckte mit den Schultern. »Falls du hier bist, um dich … Wie hast du das gesagt? Erotisch auszutoben?«

»Das habe ich ganz sicher nicht geschrieben.« Florentin schaute entsetzt.

»So was Ähnliches halt.« Harm straffte sich. »Ich habe aufgehört. Chad Hardman existiert nicht mehr.«

Die Stirnfalte war zurück. »Chad Hardman steht vor mir.«

»Ne.« Harm verschränkte die Arme. »Hier steht Harm Hartmann, und der steht nicht zur Verfügung.«

»Harm Hartmann.« Florentin betrachtete ihn, mit einem Blick, der sich unmöglich deuten ließ. »Ein schöner Name.«

»Danke.« Harm hörte Kevin kichern.

»Herr Hartmann.« Der graue Blick schien sich in Harms Seele zu bohren. Langsam fühlte er sich etwas unbehaglich. Der Blonde machte einen Schritt auf ihn zu und Harm roch, dass er getrunken hatte. Dabei sah der gar nicht aus, als würde er am Vormittag schon bechern. »Herr Hartmann, ich bin hier, um Ihnen ein Angebot zu machen. Was immer Sie wollen, ich besorge es. Für eine Nacht mir Ihnen.«

Harm starrte ihn an. »Für was? Ich meine …« Er spürte Kevins Atem im Nacken, hörte Marcels überraschtes Keuchen und verstummte. »Nein. Das wird nichts.«

Florentins Gesichtsausdruck war schwer lesbar, aber Harm glaubte, Enttäuschung in seinen ebenmäßigen Zügen zu sehen. Kein Wunder, wenn er wirklich wegen Harm angereist war.

»Warum?«, fragte Florentin.

»Ich bin in Rente gegangen«, sagte Harm. »Gestern habe ich meinen letzten Kunden bedient. Ich bin raus aus dem Geschäft. Für immer.«

»Und warum haben Sie das Geschäft verlassen?«, fragte Florentin.

»Das ist meine Sache.« Er würde jetzt nicht auch noch einem völlig Fremden seine Wünsche und Träume erzählen. Vor allem, wenn er die selbst so schlecht verstand.

Er hätte zu gern gewusst, was hinter der glatten Stirn vor sich ging. Dieser Florentin war jünger, als er zunächst gewirkt hatte. Vielleicht erst Anfang zwanzig, trotz der ernsten Art und des gebügelten Anzugs. In seinen Kreisen trug man das vielleicht schon als Baby. Harm hatte einige Kunden aus der Oberschicht gehabt und die waren ähnlich steif gekleidet gewesen, bis er ihnen den Anzug runtergerissen hatte. Ein paar mittelwichtige Politiker waren auch durch sein Bett getobt.

Der bohrende Blick des Blonden machte ihn nervös. Als könnte dieser Florentin auf den Grund seiner Seele schauen, die gerade ernsthaft ins Wanken kam.

Was immer Sie wollen, ich besorge es.

Er wollte … ja, was eigentlich? Vielleicht sollte er eine letzte Nummer mit diesem Florentin schieben und den dazu bringen, ihm einen Lebensberater zu mieten?

Nein. Allein aus Selbstrespekt konnte er das nicht tun. Und, weil der blöde Kevin hinter ihm schon wieder kicherte. Wenn er jetzt schwach wurde, würde er dem und sich selbst nur beweisen, dass er war, was er immer befürchtet hatte: ein sexsüchtiger Mitläufer.

»Ich muss los. Macht's gut, Jungs. Tschüss, Flo…rentin.« Er warf das Handtuch in den dafür vorgesehenen Metalleimer und marschierte davon. Die salzige Brise kühlte seine nackte Brust. Er spürte bewundernde Blicke. Eine Gruppe übernächtigter Frauen sah ihm nach. Das war der Junggesellinnenabschied, den er gestern auf der Tanzfläche des Under the Sea-Clubs gesehen hatte. Das war das Problem: Er hatte zu viele Gelegenheiten.

Ach, du armer Kerl, dachte er. Du siehst viel zu gut aus. Reiß dich zusammen, Harm Hartmann. Und überleg dir endlich, was du mit deinem restlichen Leben anstellen willst.

Keine Ablenkungen mehr. Kein Basketball mit den Jungs. Er würde sich einen Notizblock kaufen und dann würde er eine Pro-Kontra-Liste anfertigen wie einer, der ernsthaft nachdachte. So legte man los, wenn man sein Leben ändern wollte, oder? Bestimmt.

»Herr Hartmann.« Florentins Blondschopf erschien neben ihm. Er ging Harm fast bis zur Nase, was ihn immer noch überdurchschnittlich groß machte. »Herr Hartmann, bitte lassen Sie uns reden. Wenn Sie möchten, könnten wir uns an die Bar setzen und in Ruhe …«

»Von der Bar kommst du doch gerade, bei deiner Fahne.« Harm sah sich nach einem Fluchtweg um. Ah, da. Die grinsende Seegurke verschlang soeben ein weiteres Opfer, einen mittelalten Mann. Er hörte die Schreie aus der Röhrenrutsche schriller werden, bis sie abrupt abbrachen. Einer aus der Putztruppe hatte ihm erzählt, dass unten immer jemand bereit stand, um Pisse wegzuwischen. Die 'Slide of Fear and Horror' trug ihren Namen nicht umsonst.

Perfekt.

»Der Cocktail war weit stärker, als ich dachte. Bitte glauben Sie mir, dass ich üblicherweise nicht trinke. Und schon gar nicht am Vormittag … Herr Hartmann?«

Harm steuerte auf die Rutsche zu. »Mach's gut, Flo.«

»Florentin.«

»Mach's gut, Florentin.« Harm sprang auf die erste Stufe.

»Sie wollen doch nicht etwa durch dieses Höllending rutschen?« Das Entsetzen im Gesicht des Blonden war mehr Gefühl, als er bisher gezeigt hatte. Weit mehr. Er war ziemlich blass geworden.

»Du magst keine Rutschen, was, Florentin?« Harm grinste. Dann war er den Kerl ja los.

»Nein!« Florentin verzog den Mund. »Ich habe furchtbare Höhenangst und …«

Harm warf sich kopfüber in die grüne Röhre und ließ sich von der Seegurke verschlingen. Er jubelte. Sein Magen hob sich, die Geschwindigkeit nahm zu, jede Kurve schleuderte ihn die Wände hoch. Er liebte diese verdammte Rutsche. Glücklicherweise waren Kreuzfahrten Ponyhöfe für Erwachsene, wie Martin es einmal ausgedrückt hatte. Hier schaute niemand seltsam, wenn ein erwachsener Mann sich in Rutschen stürzte.

Unten wurde er wieder ausgespuckt, richtete sich auf und ging die letzten paar Meter über das Rutschenende. Elegant gelöst. Vor ihm erhoben sich Palmen und Balkone. Der Mittelgang des Schiffes war eine weitere Vergnügungsmeile, gesäumt von Restaurants. Er roch Bolognese und frisches Basilikum aus Antonios Trattoria und hörte Brutzeln aus der Paellaküche auf der anderen Seite. Rechts und links erhoben sich Kabinen über Kabinen, von deren Balkonen man das Treiben ausgezeichnet beobachten konnte. Kein Meerblick, dafür freie Aussicht auf die Partys unten. Und auf die Kabinen gegenüber, in denen sich sicher auch etwas Spannendes abspielte.

So, wo war der nächste Schreibwarenladen? Er brauchte dringend einen Notizblock. Und am besten noch einen Ordner oder sonst etwas, mit dem er sein neues Leben seriös und ordentlich planen konnte. Textmarker! Bestimmt brauchte man dafür Textmarker in verschiedenen Farben!

Ein entsetzter Schrei erklang hinter ihm, verzerrt durch die Wände der Plastikröhre. Ein Schrei, der immer lauter wurde. Er kannte die Stimme.

»Florentin?«

6. Eine erbärmliche Vorstellung

 

Harm Hartmann verschwand in der Rutsche des Todes. Das Letzte, das Florentin von ihm sah, waren die Sohlen seiner Turnschuhe. Sein Atem stockte.

»Herr Hartmann«, keuchte er. Sein Körper gefror. Er hörte Jubeln aus der Röhre, und stellte entsetzt fest, dass dieser Wahnsinnige Spaß daran hatte, acht Stockwerke tief durch die Gedärme einer Seegurke geschleudert zu werden.

»Na? Läuft wohl nicht für dich, Flo.« Jemand stand neben ihm. Einer von Hartmanns Teamkollegen. Der Ältere mit dem Stiernacken. »Sag mal, wo kommst du eigentlich plötzlich her? Bist du ihm gefolgt?«

»Sozusagen.« Florentin räusperte sich. »Warum ist er in Rente gegangen? Hat er wirklich aufgehört oder ist er nur nicht an mir interessiert? Es fällt mir schwer, soziale Feinheiten wie diese zu verstehen.«

Der Mann blinzelte. Nachdenklich schaute er Florentin an. »Warum der Trottel in Rente gegangen ist, weiß kein Mensch. Aber falls du ihn davon abbringen willst, würd ich dir raten, hartnäckig zu sein. Glaub kaum, dass der es lange aushält, ohne seine Salami ins nächstbeste Brötchen zu bohren.«

Florentin überlegte. »Seine Salami?«

»Seinen Schwanz.«

»Ach so.« Florentin rang sich zu einem Lächeln durch. »Danke für die Übersetzung.«

Wieder wurde er gemustert, mit einem Blick, den er zur Genüge kannte. »Du bist ein bisschen komisch, was?«

»Ja.« Florentin blickte zu der furchtbaren Rutsche. Das Jubeln war verklungen. Ihm war schwindlig. Nicht nur, weil unfassbare Mengen Alkohol durch seine Blutbahnen wirbelten, sondern wegen der Rutsche. Dieser Rutsche aus der Hölle.

»Und?« Der Stiernacken grinste ihn an. »Folgst du ihm oder soll ich es tun?«

Oh, offenbar hatte er Konkurrenz. Von einem sehr muskulösen Basketballer, den Hartmann offenbar mochte und der kein bisschen komisch war. Oder seltsam.

Trotz wallte in Florentin auf, schon wieder. Was war nur los?

»Ich folge ihm.« Er betrat die Rutsche, bevor der Stiernacken es tun konnte. Der Trick war, nicht darüber nachzudenken. Es einfach zu tun. Sich in den Schlund der Hölle zu werfen, der nach Plastik stank und dessen Röhrenelemente zusammensteckten wie die Wirbelsäule eins Dinosauriers. Die Füße voran sauste er abwärts.

Oh Gott, dachte er, als die erste Kurve sich vor ihm auftat. Oh Gott, das war ein Fehler.

Sein Körper wurde abwärts gerissen, der Magen trudelte aufwärts. Er öffnete den Mund und ein markerschütternder Schrei entkam. Er hallte in seinen Ohren wider. Florentin wurde in die Kurve geschleudert, stieß sich den Kopf, verkrampfte, schrie.

Den ganzen Weg nach unten.

Als er zurück ins Helle rutschte, schrie er immer noch. Das Licht stach in seine Augen. Sein Körper zitterte und seine Beine waren nicht in der Lage, aufzustehen. Als er endlich aufhörte zu brüllen, starrten ihn alle Umstehenden an.

Das sonnengewärmte Plastik unter seinem Hintern wackelte. Jemand anders kam die Rutsche herunter. Der Stiernacken! Er musste aufstehen, aus dem Weg gehen. Aber er konnte nicht. Keins seiner Glieder wollte ihm mehr gehorchen.

»Florentin!« Plötzlich war Harm Hartmann da und streckte ihm eine Hand entgegen. Florentin ergriff sie und wurde gegen den anderen Mann geschleudert. Was für eine Kraft! Blitze zuckten vor seinen Augen. Schwindel drehte ihm den Magen um. Florentin würgte. Seine Kiefer öffnete sich. Ein pinkfarbener Strahl schoss aus seinem Mund und direkt über Harm Hartmanns bloßen Oberkörper. Und die Hose. Und die Schuhe.

Hinter ihm, am Rutschenausgang, kreischten Kinder. Doch kein Stiernacken, der ihm gefolgt war.

»Mann!« Harm Hartmann machte einen Schritt zurück und betrachtete seine pinkfarbene Vorderseite.

»Es tut mir …« Florentin würgte erneut. Spritzer landeten auf dem Boden, der hölzernen Schiffsplanken nachempfunden war. Ein Mopp wischte hindurch. Florentin blinzelte Tränen weg und sah einen Mitarbeiter, der mit gleichmütigem Gesichtsausdruck das Erbrochene beseitigte. Das auf dem Boden. Das auf Harm Hartmann floss langsam über die Hügellandschaft seines Bauches.

»Herr Hartmann.« Hitze schoss in Florentins Wangen. »Das wollte ich nicht.«

»Das hoffe ich.« Eine Falte erschien auf Hartmanns Stirn. Dann seufzte er. »Komm mit, Flo. Ich bring dich in deine Kabine.«

Er wollte verneinen, aber fühlte sich zu elend, um zu protestieren. Schwach wie ein neugeborenes Lämmchen ließ er es zu, dass Hartmann sich seinen Arm um den Nacken legte und ihn mit sich zog. Immerhin schaffte Florentin es, ihm seine Kabinennummer zu sagen. Zum Glück war die Suite recht nah.

Sie nahmen den Aufzug, dann gingen sie durch den mit Teppichboden ausgelegten Flur zu den Premium Suiten.

»Nicht schlecht«, sagte Harm Hartmann. »Du lebst ja ganz nett hier.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752131185
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Januar)
Schlagworte
MM schwule Romanze Boys Love schwuler Liebesroman schwul Gay Romance Yaoi Humor

Autor

  • Regina Mars (Autor:in)

In einer magischen Vollmondnacht paarten sich ein Einhorn und ein Regenbogen und zeugten Regina Mars. Geboren, um Kaffee zu trinken, lebt sie im Süden Deutschlands und erfreut die Welt mit ihren poetischen Romanen, in denen die Liebe stets gewinnt und Witze so dumm, albern und fragwürdig sein dürfen, wie sie wollen.
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Titel: Seegurken