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Hüter der Angst

von H.C. Scherf (Autor:in)
173 Seiten
Reihe: Liebig/Momsen-Reihe, Band 1

Zusammenfassung

„Du bist stärker als deine Angst! Sie spürt es und wird nachgeben“ Die geflüsterten Worte sollen Sarah beruhigen, ihre Höhenangst endgültig besiegen. Ein Psychopath nutzt die Urängste der Menschen, um sie in den Tod zu treiben. Sein perfider Plan geht bei den Schutzbedürftigen einer Selbsthilfegruppe auf, die ihre Phobien bekämpfen möchten. Wird Peter Liebig, Hauptkommissar im Essener Morddezernat, die Pläne des Wahnsinnigen durchkreuzen können? Der Täter hinterlässt keine Spuren. Erst als der erfahrene Beamte in die Hölle des Killers hinabsteigt, entdeckt er dessen Geheimnis. Ein Psychoduell beginnt, das zwei völlig verschiedene Welten aufeinanderprallen lässt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

HÜTER DER ANGST

 

 

Von H.C. Scherf

 

 

Thriller

1

Ich habe Angst. Kein Laut durchdrang die Schwärze der Nacht. Selbst die Stimmen der nachtaktiven Tiere waren restlos verstummt. Nur das Pochen ihres Pulses dröhnte in ihren Ohren, als würde jemand darin den Takt auf einer Trommel schlagen. Ein Takt, der anzuschwellen schien. Sie war geneigt, die Hände an den Kopf zu legen, laut zu schreien. Aufhören - lass es bitte aufhören! Doch es war nicht nur die Stille, die Helga Weiser lähmte. Ihr gesamter Körper bebte, während sie mit angstgeweiteten Augen auf die ruhig daliegende Fläche des so fürchterlichen Sees starrte. Das Weiß in den Augen ließ ihre braunen Pupillen fast verschwinden. Teile des nahezu mondlosen Sternenhimmels spiegelten sich in dem Wasser, das ihr die Lockrufe zuzurufen schien.

Komm näher – ich warte auf dich. Tu es – es ist doch nur noch ein einziger Schritt.

Doch ihr bebender Körper ließ keine weitere Bewegung zu, hielt sie von dieser allerletzten, entscheidenden Aktion zurück. Der offenstehende Mund war darum bemüht, einen Satz zu formulieren, zu schreien. Nichts. Kein Laut verließ die zitternden Lippen. Stattdessen durchschnitten die leise gesprochenen, fast sanften Worte hinter ihr die Lautlosigkeit wie ein Schwert. Als der Mann zu sprechen begann, entfuhr Helgas Mund lediglich ein fast stummes Stöhnen. Das Zittern verstärkte sich.

»Du darfst jetzt nicht zurückweichen. Es ist deine letzte Chance, es endgültig zu überwinden. Tust du es jetzt nicht, wirst du es für den Rest deines Lebens mit dir herumtragen. Es wird dir helfen, deine Phobie für immer zu überwinden. Wir haben doch schon so oft darüber gesprochen. Hast du das vergessen?«

Helga verkrampfte die Hände zu Fäusten, öffnete und schloss sie wieder, immer schneller werdend. Der Atem kam pfeifend aus ihrem Rachen und verdampfte in kleinen Wolken in der kalten Luft, die über dem See lag.

Niemals werde ich in dieses Wasser springen. Niemals! Ich will hier weg!

Gerne hätte sie es über den See geschrien, doch ihre Stimmbänder versagten. Nur die Gedanken lärmten durch ihren Schädel, wollten ihn sprengen. Aus den Tiefen ihres Bewusstseins drangen wieder seine Worte in sie ein.

»Du hast es dir versprochen, Helga. Weißt du das nicht mehr? Du hast verstanden, dass dieses Wasser dich tragen wird. Du wirst nicht ertrinken, wenn du tust, was ich dir gesagt habe. Du bist stärker als dieser See. Er bedeutet keine Gefahr für dich, weil du gegen ihn kämpfen wirst. Vertraue auf deine gewaltige Kraft. Nur noch dieser eine Schritt.«

Es war genau der Augenblick, in dem Helga glaubte, dass der See sein riesiges, zahnbewehrtes Maul weit aufsperrte, um sie zu verschlingen. Sie spürte diese kleine Berührung kaum, die aber ausreichte, um sie in das kalte Wasser stürzen zu lassen. Nun löste sich endlich ihre Starre. Der Schrei, der ihre angestaute Verzweiflung mit einer Urgewalt herausließ, schallte über die Oberfläche des Sees, der den Leib dieser Frau gierig in sich aufnahm. Vorbei war es mit der Lautlosigkeit der Nacht. Die Wasseroberfläche schäumte, als Helga Weiser wild um sich schlug, versuchte, das Gesicht über der Oberfläche zu halten. Mit jedem Atemzug floss gleichzeitig diese dunkle Flüssigkeit in ihre Lungen, brachte sie zum Husten. Die Abstände, in denen sie gurgelnd auftauchte, wurden immer länger.

Ein satanisches Lächeln umspielte den Mund der Person, die einen Schritt näher an das Ufer getreten war. Die Wellen, die sich zuvor noch kreisförmig ausbreiteten, versiegten nun endgültig. Schemenhaft war der absinkende Körper von Helga Weiser unter der Oberfläche zu erkennen. Ihre Hand reckte sich wie mahnend zum Himmel, bevor sie völlig in der Tiefe verschwand. Unschuldig lag der See da. So, als wäre nichts geschehen. Nur das Flüstern blieb zurück, als ein Schatten im Dunkel der Nacht verschwand.

»Du hättest es schaffen können. Ja, es wäre vielleicht möglich gewesen.«

2

Polizeimeisterin Roszek versuchte, das Absperrband so hoch wie eben möglich zu halten, als sie den Weg für Hauptkommissar Peter Liebig freimachte. Es gelang ihr nur ansatzweise, als der großgewachsene Mann sich darunter duckte. Ein tiefes Brummen sollte wohl seinen Dank und einen morgendlichen Gruß vereinen, bevor er die Frage an die aufmerksame Beamtin richtete.

»Wo ist die Leiche?«

Sein Blick folgte dem ausgestreckten Arm der Polizistin. Mit ausladenden Schritten bewegte er sich auf die Buschreihe zu, hinter der er nun Bewegungen und Personen erkannte. Mindestens ein Dutzend Männer und Frauen der Kriminaltechnik waren damit beschäftigt, den Fundort abzusuchen. Mitten im Gewusel erkannte Liebig den Mann, dessen Meinung ihm schon oft in anderen Fällen die schnelle Lösung eines Falles ermöglicht hatte. Ralf Schiller legte keinen Wert auf seinen Doktortitel, wollte auch nicht, dass man ihn damit ansprach. Er hielt die Forderung nach Nennung des akademischen Titels schlechthin für dekadent, weil es für ihn kein Indiz für Fachkompetenz bedeutete. Als hätte er schon längst bemerkt, dass Hauptkommissar Liebig hinter ihm stand, begann er ohne weitere Aufforderung mit der Analyse. Jeder, der ihn kannte, hatte sich bereits an diese piepsige Stimme gewöhnt, die irgendwo aus den Tiefen des Rauschebartes erklang und beeindruckend exakt die ersten Eindrücke preisgab.

»Das Opfer ist weiblich, schätzungsweise zwischen achtundzwanzig und vierunddreißig. Weiterhin denke ich, dass sie um die hundertsechzig Zentimeter groß ist und etwa fünfundsechzig Kilo wiegt. Der Todeszeitpunkt dürfte vor etwa zwei Tagen liegen, da der Kopf im Bereich der Hypostase schon fast blauviolett verfärbt und angeschwollen ist. Allerdings erkenne ich noch kein Durchschlagen des Venennetzes an der Brusthaut. Die Waschhautausbildung hat bereits die Hohlhand erreicht, was meine Einschätzung untermauern dürfte.«

Schiller erhob sich nun und zerrte die Latexhandschuhe von den Fingern. Erleichtert stellte der nur knapp einhundertsiebzig Zentimeter messende Schiller fest, dass der Hauptkommissar in einer Senke stand, sodass er nicht allzu sehr zu ihm hochsehen musste.

»Guten Morgen Liebig. Ihnen war doch bestimmt schon langweilig, so ganz ohne Leiche, oder? Der letzte Mord dürfte doch schon vierzehn Tage zurückliegen, wenn ich mich recht erinnere. Nun ja, sei´s drum. Übrigens – der neue Kurzhaarschnitt steht Ihnen gut. Viel besser als der gegelte Haarschopf vorher. Nun zur Sache. Die Dame dürfte meiner Einschätzung nach ertrunken sein. Genau kann ich das aber erst nach der Obduktion sagen. Der Mageninhalt und die Lunge werden mir Gewissheit verschaffen. Bisher wage ich jedoch die Behauptung, dass diese Frau nicht hier den Tod fand, sondern weiter oberhalb der Ruhr. Am linken Teil des Gesichtes weisen Schürfwunden darauf hin, dass sie, während die Strömung sie weitertrieb, irgendwo angestoßen sein müsste. Ein Ast eines Baumes oder etwa ein Stein an der Uferbefestigung. Wer weiß?«

Liebig nutzte die kurze Pause, um dem Mediziner die Hand zu reichen.

»Ich wünsche Ihnen ebenfalls einen guten Morgen. Sie werden wohl magisch vom Tod angezogen, wenn ich mir Ihr frühes Erscheinen am Fundort erklären sollte. Eigentlich haben Sie schon sämtliche Fragen beantwortet, die ich Ihnen gestellt hätte. Gibt es sonst noch verwertbare Hinweise?«

Peter Liebig beugte sich nun ebenfalls hinunter zur Leiche, der er eine lange Strähne des immer noch nassen Haares vorsichtig zur Seite strich.

»Das muss einmal eine sehr attraktive Frau gewesen sein. Sie trägt auch verdammt teure Klamotten. Ein Schuh fehlt. Vielleicht haben wir Glück und finden den anderen, den sie eventuell da verloren hat, wo sie ins Wasser geraten ist. Wir werden also das Ufer stromaufwärts absuchen müssen. Was glauben Sie, Schiller? Sieht das nach einem Suizid aus oder ist sie ertränkt worden? Man fällt doch nicht so ohne Weiteres in den See mit voller Montur, ohne dass es jemand bemerkt und meldet. Irgendwelche Verletzungen?«

»Da will ich mich nicht so weit aus dem Fenster lehnen, bevor ich die Frau auf dem Tisch habe. Bisher konnte ich zumindest keine Wunden feststellen, die auf einen Kampf hinweisen. Aber vielleicht finde ich ja noch Hautpartikel unter den Fingernägeln. Allerdings ist kein Nagel abgebrochen. Es deutet doch viel auf Suizid hin.«

Schiller fuhr sich mit den schmalen Händen über den kahlen Schädel, was er immer dann tat, wenn er sich über etwas ärgerte oder wenn er begann, zu philosophieren.

»Verdammt. Warum tut man sich so was Schreckliches an. Es gibt bestimmt bessere Methoden, sich umzubringen. Die meisten Menschen wissen vorher gar nicht, dass dieser Todeskampf im Wasser zwischen drei und fünf Minuten dauern kann. Du tauchst ja immer wieder auf, weil dich dein aufkeimender Selbsterhaltungstrieb zum Schwimmen zwingt. Du möchtest plötzlich nicht mehr sterben, willst weiteratmen. Der Organismus nimmt damit immer wieder neuen Sauerstoff auf, der dein Leiden verlängert. Das kann für einen geübten Schwimmer eine langwierige Angelegenheit werden. Scheiße, das wäre das Letzte, was ich mir zum Sterben aussuchen würde.«

Die umstehenden, ansonsten abgebrühten Beamten hingen fasziniert, aber mit zusammengezogenen Schultern, an Schillers Lippen. Sie kannten bereits die bissigen Kommentare dieses begnadeten Gerichtsmediziners. Der eine oder andere wandte sich ab, als sie sich diesen Todeskampf bildhaft vorstellten.

»Was glauben Sie, Schiller? Kann ich morgen früh schon ...?«

»Jetzt mal langsam, junger Mann. Ein alter Mann ist doch kein Rennpferd mehr. Sorgen Sie erst einmal dafür, dass mir die Frau auf den Tisch kommt, dann sehen wir weiter. Ich rufe Sie selbstverständlich sofort und als Ersten an, wenn ich mit der Beschauung durch bin. In der Zeit könnten Sie ja Ihren Job machen und herausfinden, welches Schätzchen ich aufschneide. Die Frau wird doch sicher schon vermisst, vor allem wenn man dermaßen gut aussah. Lassen wir uns also die Sache angehen, Herr Hauptkommissar.«

Es gab ein kurioses Bild ab, als die beiden Männer gemeinsam den Fundort verließen und auf die Fahrzeuge zuliefen. Peter Liebig, der den Mediziner um mindestens einer Haupteslänge überragte, hatte seinen Arm freundschaftlich um die Schulter Schillers gelegt. Dieses Duo war eingespielt und hatte sich in der Vergangenheit bereits zur absoluten Nummer eins in der Aufklärungsstatistik des Morddezernates emporgearbeitet.

3

»Chef, da will Sie jemand sprechen – ein gewisser Roland Weiser. Er bezieht sich auf die Berichterstattung über die Frau aus dem See. Er behauptet, dass es seine Schwester sein könnte. Soll ich ihn ...?«

Peter Liebig studierte weiter die Listen der vermissten Frauen der letzten Wochen. Hin und wieder überfuhr er bestimmte Stellen mit dem Marker. Nur kurz sah er hoch und deutete ein Nicken an, was Rita Momsen, seine jugendliche Praktikantin, als Zustimmung wertete. Es dauerte nur wenige Minuten bis sie in Begleitung eines elegant gekleideten Mannes wieder vor Liebigs Schreibtisch stand. Stumm wies sie auf den Holzstuhl, der vor dem Schreibtisch stand, verschwand schließlich wieder in ihrem kleinen Nebenraum, der ihr als Büro diente. Durch einen freien Streifen der Milchglasscheibe beobachtete sie das weitere Geschehen. Gerne verglich sie andere Männer mit ihrem Chef, in den sie sich ein klein wenig verguckt hatte. Nein, er war nicht als schön zu bezeichnen, aber trotzdem auf eine besondere Art anziehend. Aus Gesprächen heraus wusste sie, dass es in seinem Leben nach dem gewaltsamen Tod seiner Frau vor zehn Jahren nie wieder eine andere Beziehung gegeben haben soll. So zumindest die Gerüchte. Erst als Liebig aufsah und den Besucher begrüßte, widmete sie sich wieder dem Computer, der ihr Tabellen zeigte, die sie überprüfen sollte.

»Ich hörte, dass Sie Ihre Schwester vermissen und vermuten, dass sie möglicherweise die Tote vom See sein könnte. Die Beschreibung der Frau haben Sie, so denke ich, schon aus den Pressenachrichten entnommen? Ich werde Ihnen natürlich gleich ein Bild zeigen. Doch zuvor würde mich interessieren, wie Sie darauf kommen, dass ausgerechnet Ihre Schwester ...«

Liebig stockte, als er in die traurig dreinblickenden Augen seines Gegenübers blickte. Niemals hätte er diesem Mann, der beim Eintreten einen ungemein selbstsicheren Eindruck machte, diese deutlich sichtbaren Emotionen zugetraut. Seine Erscheinung verband Liebig eher mit dem kalten Bild, das man sich von einem Banker machte. Etwas irritiert tastete Liebig nach der Fotomappe und wartete auf eine Antwort.

»Sie ... sie machte schon seit längerer Zeit solche seltsamen Andeutungen. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Sie hatte ihren Lebensmut einfach verloren. Ihr Mann, ich meine ihr Freund, hat sie schon wegen dieser Depressionen verlassen.«

»Was denn nun? Mann oder Freund? Da müssen wir schon Klarheit haben. Wie lange vermissen Sie Ihre Schwester schon? Und wann haben Sie sie denn zum letzten Mal gesehen oder gesprochen?«

Immer noch ruhte Liebigs Hand auf der Mappe, in der sich die unschönen Fotos der Wasserleiche befanden. Sein forschender Blick fixierte gleichzeitig den Mann, der, aus welchen Gründen auch immer, vermutete, dass seine Schwester den Tod im See gefunden hatte. Spontan entschied er sich dazu, Weiser das schockierende Bild der Toten vorzulegen. Einen Augenblick meinte er, eine kaum wahrnehmbare Veränderung im Gesicht Weisers erkannt zu haben, was jedoch vom jähen Schock abgelöst wurde. Das konnte nicht vorgespielt sein. Der Mann war sichtlich betroffen und schlug beide Hände vor das Gesicht. Liebig ließ ihm ausreichend Zeit, das Gesehene zu verarbeiten, bevor er mit dem Finger auf das Foto tippte.

»Ist sie das? Ist das Ihre Schwester, Herr Weiser? Es tut mir leid, dass ich Sie damit quälen muss, aber wir müssen in diesem Punkt absolut sicher sein. Wir müssten Sie eventuell sogar später darum bitten, Ihre Schwester zu identifizieren. Dazu müssten wir ins Klinikum, zur Gerichtsmedizin. Allerdings besteht auch die Möglichkeit, das per DNA-Vergleich zu bewerkstelligen.

Ach, wie ich sehe, bekommen wir Besuch, der wie gerufen auf der Bildfläche erscheint. Darf ich die Herren bekannt machen. Das ist unser Gerichtsmediziner Ralf Schiller. Hier vor mir sitzt Herr Weiser, der glaubt, seine Schwester auf dem Bild erkannt zu haben. Setzen Sie sich zu uns, Herr Schiller.«

Die beiden Männer nickten sich zu, ohne weitere Begrüßung. Schiller zog sich vom Nebentisch einen Stuhl heran und beobachtete Weiser, der allmählich wieder seine Fassung zurückgewann. Nun war es Schiller, der die Frage an Weiser wiederholte.

»Sind Sie sich ganz sicher, Herr Weiser? Gibt es irgendetwas an Ihrer Schwester, mit dem man sie unverkennbar identifizieren könnte. Ich meine, irgendein Merkmal vielleicht?«

»Dieses große Muttermal wäre da möglicherweise zu nennen.«

»Ein Muttermal? Wo würden wir das denn finden? Wissen Sie das noch?«

Die beiden Kriminalisten wechselten einen Blick, während Weiser nach einer Antwort suchte. Sie warteten geduldig.

»Es ist ... sie hat dieses Muttermal direkt neben ihrer ... neben der Scheide eben.«

Roland Weiser beeilte sich, eine Erklärung nachzuschieben, als er das Erstaunen bei den Beamten feststellte.

»Unsere Mutter erzählte einmal am Tisch davon. Helga rastete beinahe aus, da sie das als großes Geheimnis bewahren wollte. Sie sah es als Makel ... sozusagen als Zeichen des Satans. Verstehen Sie? Darin lag auch der Grund, warum sie nie einen Badeanzug anzog, nie schwimmen lernen wollte. Es war schon verrückt, wie sie mit diesem harmlosen Muttermal umging. Sicher, es war schon daumennagelgroß, aber das war doch keine Schande.«

Wieder tauschten Liebig und Schiller stumme Blicke aus, bevor sich Liebig mit einer erneuten Frage an Weiser wandte.

»Sehen Sie eventuell darin einen Grund, dass sie, ich meine Helga, ins Wasser ging?«

Mit großem Erstaunen sahen die Männer, wie Weiser hochfuhr und fast überlaut reagierte.

»Niemals ... niemals wäre Helga auch nur wenige Meter an den Rand eines Gewässers getreten. Sie wäre eher durch ein Feuer gegangen, aber auf keinen Fall ins Wasser. Sie besaß eine panische Angst vor tiefen Gewässern. Sie können sich nicht vorstellen, wie sie reagierte, wenn wir als Kinder mit den Eltern in den Urlaub fuhren und sie mitbekam, dass sich ein See in der Nähe befand. Helga vermied sogar, jetzt lachen Sie bitte nicht, meine Herren, in eine hochgefüllte Wanne zu steigen. Sie duschte immer nur. Ich hasste sie manchmal dafür, denn dadurch machten wir niemals richtigen Badeurlaub am Meer.«

»Das ist in der Tat ungewöhnlich, aber wir wissen, dass es solche Phobien gibt. Im Fall Ihrer Schwester nennt man das eine Aquaphobie oder Hydrophobie. Doch so extrem wie bei Ihrer Schwester ist es zumindest mir noch nicht untergekommen.«

Peter Liebig stoppte den Mediziner, da er wusste, wie gerne dieser sympathische Glatzkopf seine medizinischen Monologe in die Welt hinaustrug.

»Gab es noch Kontakt zu dem ehemaligen Freund? Hat sich Ihre Schwester zwischenzeitlich jemand anderem zugewandt? Kurz gesagt, gab es derzeit Kontakte zu Freunden, zur Familie? Ich brauche Namen.«

»Moni hat sich in den letzten Monaten komplett zurückgezogen, gab sogar ihren Job auf. Es ist möglich, dass sie genau deswegen gefeuert wurde. Sie sprach nicht darüber. Selbst der Kontakt zur Familie fand nicht mehr statt. Wir telefonierten zuletzt ... warten Sie ... ich glaube in der letzten Woche. Kann ich aber in meiner Anrufliste nachsehen. Wir haben uns sogar dabei gestritten, weil sie ihre, ich meine, unsere Mutter beschimpfte. Sie meinte, dass sie die Schuld mit daran trüge, dass sie diese Phobie besäße. Total bescheuert, weil Mutter immer mit ihr zum Schwimmunterricht wollte. Moni war es, die das wegen ihrer Verunstaltung, wie sie es nannte, nicht annahm.«

Roland Weiser knetete seine Hände ohne Unterlass, was dem gewieften Kriminalisten nicht entging.

»Besteht für Sie die Möglichkeit, die Wohnung Ihrer Schwester zu öffnen, damit wir uns dort umsehen können? Wir dürfen in solchen Fällen die Möglichkeit einer Straftat nicht außer acht lassen. Schließlich klingt das Ganze etwas mysteriös, zumal Ihre Schwester keinen Kontakt zum Wasser suchte. Wir gehen bei Suizid in der Regel davon aus, dass der oder die Verstorbene einen Abschiedsbrief hinterließ. Das würde vielleicht vieles erklären. Vorher möchten wir Sie aber bitten, Ihre Schwester in der Gerichtsmedizin zu identifizieren. Ich erwähnte ja schon, dass Sie das nicht müssen, aber es würde uns den Vorgang bis zum DNA-Abgleich verkürzen.«

»Ich habe einen Schlüssel, von dem Moni allerdings nichts wusste. Können wir das schnell hinter uns bringen? Ich spüre, dass ich unbedingt Ruhe und etwas Abstand brauche, jetzt, wo ich Gewissheit habe, was mit ihr passiert ist.«

4

Das Licht der untergehenden Sonne warf einen rotschimmernden Mantel über den Grugapark, der von hier oben besonders attraktiv und einladend wirkte. Die gewaltigen Blumenfelder breiteten sich in voller Pracht vor den Augen der Besucher aus. Dafür zeigte Sarah Monk in diesem Augenblick jedoch keinerlei Interesse. Ihr Blick war ausschließlich auf die übergroße, stilisierte Tulpe über ihr gerichtet, die dem Parkturm, schon seit der zweiten Gartenbau-Ausstellung 1952 ein unverkennbares Wiedererkennungsmerkmal verlieh. Sie vermied es krampfhaft, von der Aussichtsplattform auf den Park hinunterzusehen, der immerhin etwa neunundzwanzig Meter unter ihr lag.

Die letzten Besucher hatten die obere Plattform längst verlassen, da die Öffnungszeit zumindest für den Turm in wenigen Minuten ablief. Im Grugaturm und auf den Flächen drumherum ebbte der Besucherstrom mittlerweile ab und es wurde still um die beiden Menschen, die sich wie Verliebte an den Händen hielten.

Ich will hier weg. Ich schaffe das nicht. Mein Gott, was tue ich nur hier oben?

Die Knöchel ihrer Finger traten weiß hervor, dermaßen verkrampfte sie ihre Hand um die der Begleitung. Dessen Blick war starr auf Sarahs Nacken gerichtet. Die kaum verständlichen Worte drangen tief in Sarahs Bewusstsein, lösten weitere Panik aus, verstärkten diese sogar.

»Du wirst es so niemals schaffen. Natürlich hilft es dir, eine Weile den Blick nach oben zu richten. Das hast du bis jetzt sehr gut gemacht. Ich bin so unendlich stolz auf dich. Du musst allerdings jetzt auch den nächsten, den wichtigsten Schritt tun. Die Tiefe tut dir nichts, sie greift dich nicht an, ignoriere sie einfach. Es ist nur eine Dimension, die ohne jedes Leben ist. Wir haben doch gelernt, wie wir uns entspannen. Du erinnerst dich sicher daran. Tue es jetzt und hier. Lass die Angst einfach auf dich einwirken, sie wird kurze Zeit später verschwinden. Lache sie aus. Sie bedroht dich nicht auf Dauer. Nur dein Kopf sagt dir, dass es so ist. Mach die Augen auf und lass es zu, dass sie dich überfällt. Du bist stärker als diese Angst, das merkt sie und gibt immer mehr nach.«

Sarahs Lider schlossen sich für einen Moment, in dem sie versuchte, ihre Muskeln zu entspannen. Leise summte sie einen ihrer Lieblingssongs. Das Zittern in den Gliedern ebbte unendlich langsam ab, verschwand schließlich. Ein zufriedenes Lächeln stahl sich um ihren Mund, als sie den Erfolg der Übung verspürte. Durch ihre flatternden Lider tauchte ein Teil des blutroten Himmels auf, der erstaunlicherweise sogar beruhigend auf sie wirkte. Selbst die Tulpe, von der sie wusste, dass sie die Spitze eines Turmes begrenzte, flößte ihr keine Angst mehr ein.

Als würde ihr Kopf an einer Schnur gezogen, drehte sie sich Richtung Geländer, das sie nun mit beiden Händen fest umfasste. Immer noch erfasste ihr Blick nur den Himmel, an dem in diesem Augenblick zwei Krähen den Kampf um Futter ausfochten. Das Krächzen störte Sarah zwar in ihrer Konzentration, doch ihr Wille, das Unmögliche zu schaffen war ungebrochen. Ihre Pupillen suchten nun den Horizont, weit hinter den sich auftürmenden Wolken. Den einsetzenden Schwindel versuchte sie dadurch zu reduzieren, dass sie mehrfach tief ein- und ausatmete. Das Beben in den Beinen zog sich unendlich langsam aus den Waden in die Oberschenkel. Sie spürte den Druck der Hand ihrer Begleitung auf der ihren. Es wurde besser.

Ich schaffe das! Angst, ich werde dich besiegen und dort hinunterschauen. Nie wieder sollst du von mir Besitz ergreifen!

In dem Augenblick, als sie die Augen vollends öffnete und den Blick nach unten richtete, stockte ihr der Atem. Ihre Füße verloren den Halt auf dem stumpfen Boden und wurden nach hinten weggerissen. Ihr Kopf neigte sich über das Geländer, ihre Hände versuchten, den Griff am Geländer zu verstärken. Doch konnte sie nicht verhindern, dass sie kopfüber von der Plattform in die Tiefe stürzte. Der fast lautlose Schrei, den sie im Fallen ausstieß, verhallte im Gezeter der kämpfenden Krähen. Ein kurzes Geländer, auf dem sie aufschlug, stoppte ihren Fall, spaltete jedoch auch ihren Schädel. Das austretende, einst lebensspendende Blut versickerte im Rasen. Den Aufprall des restlichen Körpers hatte ein Sterndoldenstrauch gedämpft. Sarahs Begleitung lächelte zufrieden und schlug die Kapuze der Joggingjacke über den Kopf. Der Parkwächter, der die Eingangstür des Turms abschloss, sah nur noch den langen Schatten einer Person, die sich mit ruhigen Schritten und mit in den Hosentaschen vergrabenen Händen zum Parkausgang bewegte.

5

»Ich möchte Sie darum bitten, nichts anzufassen, Herr Weiser. Die Leute werden Zimmer für Zimmer durchsuchen und eventuell Dinge, die wir als wichtig erachten, sicherstellen. Setzen Sie sich einfach dort in den Sessel und warten Sie ab.«

Schon wollte sich Peter Liebig abwenden, als er sich ein weiteres Mal an Weiser wandte, der es sich schon in dem Sessel gemütlich gemacht hatte.

»Sie sagten uns, dass Sie schon lange nicht mehr in dieser Wohnung waren. Trotzdem die Frage an Sie: Fällt Ihnen spontan etwas Ungewöhnliches auf, das gegenüber Ihrem letzten Aufenthalt vielleicht verändert wurde? Entdecken Sie noch irgendwelche Bilder mit dem ehemaligen Freund? Haben Sie übrigens den Namen und womöglich die Adresse des Mannes? Es gehört in solchen Fällen zur Routine, auch frühere Bekannte zu befragen. Oft erfahren wir dadurch mehr über die Beweggründe der Suizidopfer.«

Weiser zog die Stirn in Falten, schien angestrengt nachzudenken. Dabei sah er sich im Zimmer um, betrachtete jeden Gegenstand genau.

»Nein, ich glaube nicht, dass ich Ihnen hier in der Wohnung Hinweise liefern kann. Aber geben Sie mir etwas Zeit, ich werde weiter nach dem Namen suchen. Mir schwebt da ein Bild des Freundes vor, der Name will mir aber spontan nicht einfallen. Ich überlege noch, während Sie sich umsehen, Herr Liebig.«

Aus den Räumen der Drei-Raum-Wohnung erreichten die Männer Geräusche der suchenden Kriminaltechniker. Peter Liebig nickte zustimmend und zog die oberste Schublade eines weißen Sideboards auf. Erst in der dritten wurde er fündig und zog eine Mappe heraus, die mit Fotos angefüllt war. Seine mit Handschuhen geschützten Finger wühlten durch etliche Aufnahmen, bis er bei einem Urlaubsbild länger hinsah. Es zeigte definitiv Helga Weiser in Begleitung eines etwa gleichaltrigen Mannes, der ihr freundschaftlich mit der Hand durch die langen, blonden Locken fuhr. Beide standen am Rande eines Bergabhangs, schienen ihren Ausflug sichtlich zu genießen. Liebig drehte sich um und hielt das Foto Weiser vor das Gesicht.

»Ja, ich glaube, das ist ihr ehemaliger Freund. Helga erzählte mir damals davon, dass sie mit ihm eine Tour durch die Pyrenäen machen wollte. Ich glaube, das war ...«

»... 2016 war das. Steht hinten drauf. Warten Sie, da hat jemand noch mehr geschrieben. Hier lese ich noch: Als Erinnerung an Piau-Engaly, dein David. Sagt Ihnen das was?«

Weisers Gesicht hellte sich auf. Immer wieder tippte er mit dem Zeigefinger auf das Bild, das Liebig vor ihm auf den Tisch gelegt hatte. Die Erleuchtung kam dann plötzlich.

»David ... David Parterre. Nein, warten Sie, es war ein Getränk, ein französisches ...«

»Vielleicht Pastis? Könnte es Pastis gewesen sein?«

»Ja, genau. Er hieß David Pastise. Ich weiß nun wieder, dass sie sich darüber lustig machte. Stellen Sie sich mal vor, Sie würden Wodka heißen? Wäre doch auch nicht unbedingt angenehm, oder?«

Peter Liebig deutete ein Lächeln an und setzte sich Weiser gegenüber auf das Sofa.

»Können Sie mir mehr zu deren Beziehung erzählen? War das was Ernstes oder würden Sie das als flüchtige Bekanntschaft bezeichnen? Schließlich fährt man ja nicht mit Irgendwem in Urlaub. Wie standen die beiden zueinander?«

»Ich muss zugeben, dass Helga diesbezüglich sehr zurückhaltend war, also wenig erzählte. Doch nach meinem Gefühl war da schon mehr als bei sonstigen Abenteuern. Da stand immer ein besonderer Glanz in den Augen, wenn sie mal über David sprach. Ich weiß noch, als sie ihn zum ersten Mal präsentierte. Sie kam mit ihm zu Besuch, direkt, nachdem sie aus der Gruppe kam.«

»Gruppe? Sie sprachen gerade von einer Gruppe. War sie sportlich aktiv oder welcher Art war das?«

Weiser lehnte sich zurück und öffnete den Schlips, der bis jetzt den Kragen exakt verschloss.

»Sie besuchte monatelang eine Selbsthilfegruppe. Sie wollte endlich selbst etwas unternehmen, um diese quälende Angst vor dem Wasser loszuwerden. Sie sprach mal davon, dass sie gute Fortschritte machte und sie dabei tolle Menschen kennenlernen durfte. Unter anderem diesen David. Kurz danach kam es dann zum Bruch mit der Familie.«

Hauptkommissar Liebig war nun hellwach und kramte nach einem Stift.

»Wissen Sie zufällig, wo wir diese Selbsthilfegruppe finden können?«

»Nein, Herr Liebig. Aber ich weiß genau, dass sich dort ein bekannter Psychotherapeut einbrachte. Er ist meistens in den Sitzungen dabei und gibt Hilfestellung. Ich habe sogar den Namen, wenn Sie möchten. Ich wollte selbst mal seine Hilfe in Anspruch nehmen, da ich eine Zeit lang Probleme hatte, Vorträge ohne Lampenfieber zu halten. Ein guter Mann, kann ich Ihnen versichern.«

Liebig nickte zufrieden und schrieb die Neuigkeiten in sein Notizbuch. Er wollte gerade eine weitere Frage loswerden, als ihn das Klingeln seines Telefons unterbrach. Er schielte auf die Anzeige, auf der ein bekannter Name auftauchte.

»Heute sind Sie aber spät dran, mein lieber Schiller. Verschlafen? Was gibt es so Dringendes?«

Weiser konnte die Antwort des Arztes deutlich hören, bevor Liebig aufstand und in der Diele verschwand. Er musste Grinsen, als der Polizist sich entfernte.

»Nun ja, da Sie ja im Zölibat leben, kann ich mir sicher sein, Sie nicht bei einem Tête-à-Tête zu stören. Nun aber im Ernst. Wir haben eine weitere Leiche.«

»Was soll das heißen? Wieder im See? Wiederholt sich jetzt bei uns das Jonestown-Massaker von 1978 in Guyana? Das wird schwierig, die 909 Toten zu übertreffen. Erzählen Sie.«

Nach einer kurzen Pause meldete sich Schiller wieder.

»Ich bewundere immer wieder Ihren äußerst schwarzen Humor und Ihr Gedächtnis in Bezug auf solche schrecklichen Ereignisse. Es ist nicht der See. Aber in einem Punkt haben Sie recht. Es riecht wieder nach Suizid. Doch wenn Sie mich fragen, mir stinkt die Sache etwas, obwohl ich noch keinen Beweis für äußere Gewaltanwendung finden konnte. Die Frau ist scheinbar vom Grugaturm gesprungen oder gesprungen worden. Das dürfte schwer nachzuweisen sein, da ihr Schädel fast völlig zertrümmert wurde, als sie aufschlug. Ich denke, Sie sollten sich das ansehen.«

Jetzt war es Schiller, der auf eine Antwort warten musste, die dann recht kurz auffiel.

»Scheiße. Was ist im Augenblick mit den Menschen los? Wissen die mehr als wir? Naht jetzt doch der Weltuntergang? Ich komm hin, Schiller.«

Nachdenklich tauchte Liebig wieder vor dem wartenden Roland Weiser auf. Er hielt ihm die offene Hand entgegen.

»Hören Sie, Herr Weiser. Ich muss dringend weg. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich den Türschlüssel Ihrer Schwester vorerst an mich nehme, damit wir zu einem späteren Zeitpunkt wieder die Wohnung betreten können? Sie möchte ich darum bitten, jetzt zu gehen. Ich habe Ihre Nummer und werde mich bei Rückfragen an Sie wenden. Hier ist meine Karte, falls Sie noch Informationen für mich haben, die zur Aufklärung der Todesursache beitragen könnten. Zum jetzigen Zeitpunkt war´s das und ich bedanke mich für Ihre Mitarbeit. Nun muss ich aber dringend weg.«

Weiser machte keine Anstalten, sich zu erheben, kramte aber den Schlüssel aus der Hosentasche und reichte ihn an.

»Wieder ein Suizid?«

»Wie kommen Sie auf den Gedanken, Herr Weiser?«

»Ich habe Ohren, Herr Hauptkommissar. Ich kenne Jonestown und die Geschichte um den Kongressabgeordneten Leo Joseph Ryan auch. Er hätte Jim Jones und seine Sekte damals aufhalten können. Den Fehler konnte er sich nie verzeihen. Aber damals war meines Wissens Zyankali im Spiel. Ist das hier auch der Fall?«

Liebig war unschwer anzumerken, dass ihn die Frage überraschte.

»Ich muss zugeben, dass mich Ihr Fachwissen schon ein wenig irritiert. Wie kommt es, dass Sie diese spezifischen Kenntnisse über die damaligen, schrecklichen Ereignisse besitzen? Das ist schon etwas ungewöhnlich.«

Das fast schon überhebliche Lächeln in Weisers Gesicht trug nicht unbedingt dazu bei, den Hauptkommissar zu beruhigen.

»Ich kann mir das gut vorstellen. Aber Sie müssen wissen, dass ich bis vor einiger Zeit mit dem Gedanken spielte, mich schriftstellerisch im Genre der Krimis und Thriller zu betätigen. Mich faszinierten diese gruseligen Begebenheiten aus der jüngeren Geschichte schon immer. Vor allem in den Staaten gab es diesbezüglich viel zu erforschen. Denken Sie nur an solche Massenmörder wie Charles Manson, der 1969 unter anderem die Ermordung von Sharon Tate anordnete. Nun ja, den hat es ja 2017 endlich in Bakersfield hingerafft.«

»Lassen Sie es gut sein, Herr Weiser. Vielleicht haben wir ja später einmal Gelegenheit, uns dazu auszutauschen. Sie haben recht, dass die amerikanische Geschichte einige dieser Bestien hervorbrachte. Doch jetzt muss ich Sie darum bitten, zu gehen, damit die Leute hier ihre Arbeit erledigen können. Kommen Sie.«

Auf der Treppe drehte sich Liebig noch einmal zu seinem Zeugen um.

»Ach, ich vergaß, Sie nach dem Namen des Psychotherapeuten zu fragen. Den wollten Sie mir noch geben. Ich höre.«

»Das ist Dr. Hartmut Ruschtin.«

»Das klingt ein wenig indisch, oder täusche ich mich da?«

Die Frage ließ Weiser unbeantwortet und trat wortlos an Liebig vorbei auf die Straße.

6

»Gott noch mal, der Kopf ist ja fast vollständig abgetrennt. Habt ihr die Lage verändert, oder ist das noch im Original?«

Selbst der abgebrühte Hauptkommissar musste sich für einen Augenblick abwenden und einen Kloß hinunterschlucken. Schiller kniete voll konzentriert neben der Frauenleiche und zog einige Knochensplitter aus dem völlig deformierten Schädel, steckte sie in einen Plastikbeutel. Das schmale Geländer, das zumindest den Aufprall des Kopfes stoppte, wies ebensolche Knochen- und Blutreste auf, sodass der Fall des Körpers gut rekonstruiert werden konnte.

»Die Spurensicherung hat am Geländer der Aussichtsplattform ebenfalls leichte Blutspuren gefunden, die wir noch abgleichen müssen. Ich gehe davon aus, dass sich die Frau noch festklammern wollte, bevor es abwärts ging. Es fehlen auch an beiden Händen diverse Fingernägel, die wir noch suchen müssen. Für mich gibt es nur zwei Szenarien, Liebig. Entweder fiel sie kopfüber ohne Fremdeinwirkung und wollte sich noch im letzten Moment festklammern. Oder es wurde nachgeholfen und sie wehrte sich dagegen. Dann könnte der Täter aber zumindest Abwehrspuren aufweisen. Ich meine, dass es zumindest möglich ist. Ob sie einen Schlag auf den Kopf bekam, wird nach diesen Verletzungen wohl kaum noch nachzuweisen sein. Ich werde das aber erst seriös nach der Obduktion sagen können.«

Ein unüberhörbares Knacken aus dem Kniebereich begleitete den Mediziner, als er sich mühsam erhob. Dankbar griff er nach Liebigs ausgestreckter Hand, die ihn hochzog.

»Hatten Sie mir nicht gesagt, dass Sie damit zu einem Spezialisten gehen wollten? Das hört sich ja schrecklich an. Es schmerzt ja schon beim Zuhören.«

»Hören Sie, lieber Kollege, ich weiß als Mediziner recht gut, was man mir raten wird. Ich lass die Scharlatane nicht an mir rumschnippeln und schrauben. Das künstliche Knie macht später mehr Probleme als die Arthrose. Ich habe mich im Fitness-Center angemeldet. Der alte Körper braucht einfach Bewegung. Basta. In ein paar Wochen können wir zusammen joggen gehen.«

Wieder erschien auf Liebigs Gesicht dieses viel zu seltene Schmunzeln. Er war davon überzeugt, dass dieser jetzt sechzigjährige Mann schon jetzt in den Ruhestand gehörte. Der Job hatte ihn ausgehöhlt, was er aber von niemandem hören wollte. Lediglich Liebig gegenüber hatte er einmal beim abendlichen Bier sein Herz ausgeschüttet. Ansonsten verschanzte er sich stets hinter seinem scharfen Sarkasmus und seiner Arbeit. Und die machte er so gründlich wie kaum ein anderer.

»Was denken Sie, wie alt die Frau war? Die Haut wirkt noch so glatt. Wann trat Ihrer Meinung nach der Tod ein?«

Nur kurz überlegte Schiller, bevor er die Erklärung liefert.

»Ich würde aus verschiedenen Gründen auf den gestrigen frühen Abend tippen. Der Sturz während der Besucherzeiten wäre sicherlich nicht unbemerkt geblieben. Außerdem sind Muskelverkürzung und Totenstarre bereits bis in die unteren Gliedmaßen vollendet. Auch die Totenflecken sind längst an der Unterseite voll ausgebildet, was uns zeigt, dass der Leichnam später nicht mehr bewegt wurde. Da bereits viel Blut durch die große Kopfwunde austrat, sind die Totenflecken nicht in dem Maße vorhanden, wie Sie es vermutlich kennen. Ich würde mich so auf etwa achtzehn bis zwanzig Uhr festlegen wollen. Morgen mehr dazu.«

»Wissen Sie zufällig, ob schon jemand gefunden wurde, der gestern hier abgeschlossen hat? Der muss doch was gemerkt haben, wenn er nicht völlig blind ist. Gut, die Leiche ist durch die Büsche verdeckt, aber vielleicht kann er was über die letzten Besucher aussagen.«

Schiller hob die Schultern an und wies auf einen Polizeibeamten, der scheinbar den Einsatz befehligte. Der gesamte Bereich um den Turm war bereits weiträumig mit Absperrband vor Neugierigen geschützt worden. Peter Liebig hob dankend die Hand und machte sich auf den Weg zurück durch die sorgsam angelegten Bepflanzungen. Die Parkgärtner würden sich später die Haare raufen, wenn sie die Bescherung sahen.

»Hallo, Herr Hauptkommissar, so trifft man sich wieder. Bevor Sie danach fragen: Ich lasse gerade den Mann herfahren, der gestern abgeschlossen hat. Der hat heute eigentlich seinen freien Tag, doch das ist mal wieder ein Fall von denkste. Der Wagen müsste jeden Augenblick eintreffen. Wieder ein Suizid, oder hat da jemand nachgeholfen? Schon erste Erkenntnisse?«

Das vorfahrende Polizeifahrzeug ersparte ihm die Antwort. Ein grauhaariger Mann, der sich mühsam aus dem hinteren Sitz quälte, blickte sich scheu um und wurde vom begleitenden Beamten zum Eingang des Turms geschoben, an dem Liebig schon ungeduldig wartete. Der Hauptkommissar überragte seinen Gesprächspartner um mindestens eineinhalb Kopflängen, was die Unsicherheit bei dem Rentner noch zusätzlich erhöhte. Liebig schob den bibbernden Mann zum Treppenaufgang und setzte sich neben ihn. Er gab ihm die Zeit, den Puls wieder auf Normalmaß herunterzufahren, bevor er sich vorstellte.

»Ich leite hier die Ermittlungen zu diesem, sagen wir erst einmal, Unfall. Mein Name ist Hauptkommissar Liebig vom hiesigen Morddezernat. Standardmäßig übernehmen wir den Fall zu Anfang, bis Klarheit über die Todesursache besteht. Wie heißen Sie denn?«

Statt einer passenden Antwort erhielt Liebig eine Gegenfrage.

»Was ist denn passiert, Herr Kommissar? Ich habe noch nie mit der Mordkommission ... ich weiß auch nichts von einem Unfall. Der Polizist hat mir nichts verraten. Muss ich mit zum Präsidium?«

Schon viel zu oft hatte Liebig ähnliche Situationen erlebt, in denen harmlose Normalbürger völlig von der Rolle gerieten, wenn sie verhört werden sollten. Er blieb ruhig und legte den Arm um die zitternden Schultern des Mannes.

»Jetzt beruhigen Sie sich mal und verraten mir, mit wem ich es zu tun habe. Dann erkläre ich Ihnen, warum wir hier so gemütlich auf der Treppe sitzen. Sie müssen sich keine Sorgen machen. Ich habe nur ein paar Fragen zum gestrigen Nachmittag, an dem Sie ja wohl Dienst hier am Turm hatten. Also, legen Sie mal los.«

Der Mann schob beide Hände zwischen die Knie und verhinderte so, dass seine zitternden Hände dem großen Kerl neben ihm auffielen. Sein Körper fuhr allmählich wieder auf Normalmodus runter, was Liebig am fehlenden Beben der Schultern festmachte.

»Karl Schießer. Ich heiße Schießer. Ich wohne ja eigentlich gar nicht weit von hier, vielleicht drei Kilometer entfernt - in Rüttenscheid. Dadurch habe ich es auch nicht weit hierhin. Die haben mir den Job gegeben, als ich vor sechs Jahren arbeitslos wurde. Wissen Sie, ich will dem Staat nicht zur Last fallen und habe mir sofort danach ...«

Liebig wusste, dass er kurz davor stand, die gesamte Lebensbeichte eines fleißigen Menschen anhören zu müssen, der nicht zum Sozialschmarotzer mutieren wollte. Höflich unterbrach er, indem er auf seine Uhr tippte.

»Es tut mir sehr leid, Herr Schießer, dass ich Sie hier schon unterbrechen muss, aber die Zeit läuft mir davon. Ich habe einen sehr wichtigen Fall auf dem Tisch, der schnellstens erledigt werden muss. Sie verstehen? Ich laufe sonst Gefahr, dass uns ein sehr gefährlicher Verbrecher durch die Lappen geht.«

Das Interesse des Rentners war endgültig geweckt.

»Was wollen Sie von mir wissen, wie kann ich helfen?«

»So ist es gut, Herr Schießer. Wir müssen wissen, wann genau Sie hier abgeschlossen, oder besser, wann Sie den letzten Besucher rausgelassen haben. Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen? Uns hilft manchmal jede Kleinigkeit, von der Sie glauben, dass sie völlig belanglos ist. Denken Sie gut nach.«

»Also gestern war hier am Turm nicht so wahnsinnig viel los. An der Orangerie fand ein Konzert statt. Die sind fast alle dahin gelaufen. Es war stinklangweilig hier und ich habe mir am Kiosk eine Flasche Schorle geholt und eine Zeitung. Als ich um sieben, also um neunzehn Uhr zurückkam, war kein Mensch mehr oben. Als der letzte Besucher verschwand, habe ich nachgesehen, alles war leer. Da habe ich unten abgeschlossen. Kann höchsten fünfzehn Minuten später gewesen sein, also viertelnachsieben.«

»Moment, Sie sprachen vom letzten Besucher. Haben Sie den noch gesehen? Können Sie den beschreiben?«

Fast, als würde er Liebig für verrückt halten, blickte er ihn an. Absolutes Unverständnis stand in Spießers Augen.

»Wie soll ich den erkannt haben? Der war doch schon weit weg, Richtung Ausgang. Ist das wichtig für Ihren Fall? Wissen Sie, ich habe in der letzten Zeit so ein wenig Probleme mit den Augen. Der Augenarzt, Dr. Speis, sagte mir bei der letzten Kontrolluntersuchung, dass er eine Veränderung in der Netzhaut festgestellt hat und ...«

Wieder legte Liebig seine große Hand auf die schmale Schulter und schüttelte Spießer leicht.

»Haben Sie denn zumindest erkennen können, wie er gekleidet war, ob er jung oder alt, Mann oder Frau war? Mensch, an irgendetwas müssen Sie sich doch erinnern können.«

»Warten Sie, Herr Inspektor, ich glaube, dass er einen Kapuzenpulli anhatte, so wie ihn die jungen Leute überall tragen. Die laufen ja heute mit Sachen rum, die hätten wir früher nicht angezogen. Wissen Sie ...«

Peter Liebig war kurz davor, aufzuspringen und den Mann mit seinen Jugenderinnerungen allein zu lassen. Er beherrschte sich im letzten Moment.

»Welche Farbe hatte dieser Pulli denn?«

»Ich glaube so ein dunkles Schwarz ... oder nein ... ich glaube, es war dunkelblau. Ja es war ganz sicher blau. Die untergehende Sonne blendete ein wenig. Sie können sich nicht vorstellen, wie hinderlich diese Sache ...«

Jetzt reichte es dem Beamten. Liebig verdrehte die Augen und erhob sich.

»Lassen wir es gut sein an dieser Stelle. Ich bringe Sie jetzt zu einem Kollegen, der Ihre Aussage noch mal aufnimmt, damit wir es in den Unterlagen haben. Sie haben uns sehr geholfen. Für Ihre Zukunft wünsche ich Ihnen alles Gute, bleiben Sie gesund.«

Kaum war Liebig wenige Meter vom Zeugen entfernt, atmete er befreit durch und löste seine Fäuste, die er schon minutenlang geballt hatte. Er holte Schiller ein, der sich bereits auf dem Weg zu seinem Fahrzeug gemacht hatte. Das Opfer wurde derzeit in den Zinksarg gehoben und in einen Wagen verladen, der die verstorbene Frau zur gerichtsmedizinischen Untersuchung transportierte.

»Na, Liebig, Fall geklärt? Hat Ihnen der Zeuge weiterhelfen können?«

»Zumindest bin ich vorgewarnt, was die Erkrankung des Augenhintergrundes im Alter anbelangt. Gott erhalte mir meine Sehkraft und den gesunden Geist.«

7

Erwartungsvoll sahen die Mitglieder der Therapiegruppe auf den Eingang des kleinen Saales, den man für die wöchentlichen Sitzungen vom örtlichen Theaterverein angemietet hatte. Mittwochs gab es keine Proben, weswegen er in den Abendstunden zur Verfügung stand. Jeden Augenblick müsste Dr. Ruschtin erscheinen. Mittlerweile kannten sich einige Teilnehmer nach den vielen Monaten und teilweise sogar Jahren der Zugehörigkeit sehr gut und waren in Gesprächen vertieft, als sich endlich die Tür öffnete und ihr Gruppenleiter erschien. Augenblicklich trat Stille ein, da sie vom ersten Augenblick an das Gefühl bekamen, dass heute etwas anders war. Ruschtins Gesicht zeigte nicht das milde, gütige Lächeln, sondern war verschlossen und ernst. Augenblicke später wussten jeder, warum es so war. Alle in der Runde wunderten sich bereits, weil zwei Stühle der eifrigsten Besucherinnen heute leer blieben. Die Auflösung des Rätsels kam prompt.

»Meine Freunde, ich will gar nicht erst mit schönen Worten die traurigen Ereignisse der letzten zwei Tage einleiten, sondern sofort mit der Wahrheit vor euch treten. Ihr werdet selbst schon bemerkt haben, dass heute zwei Stühle unbesetzt bleiben. Das, meine Damen und Herren, hat einen Hintergrund, den ich nur schwer verarbeiten kann. Helga Weiser und Sarah Monk sind einen Weg gegangen, den wir alle durch unsere Arbeit, unsere Gespräche vermeiden wollen. Sie haben ihrem Leben ein Ende gesetzt. Ich habe es erst jetzt erfahren und möchte nun Sie alle sofort darüber in Kenntnis setzen.

Unsere Freundinnen haben über eine lange Zeit versucht, ihre Ängste zu bekämpfen, und befanden sich dabei auf einem sehr guten Weg. Selbst für mich ist es absolut unverständlich, warum sie jetzt, so kurz vor dem Ziel, die einzige Lösung darin sahen, sich dieser Hölle auszuliefern, aus der sie eigentlich fliehen wollten. Hoffen wir, dass sie dort, wo sie sich jetzt befinden, den Frieden finden, den sie suchten.«

Eine fallende Stecknadel hätte in diesem Augenblick einen Höllenlärm verursacht. Dr. Ruschtin sah in Gesichter, die Entsetzen, Fassungslosigkeit und Traurigkeit ausdrückten. Niemand sprach auch nur ein Wort, bevor Ingrid Kläser damit begann, das Vaterunser vor sich hinzumurmeln. Nach und nach stimmte der Rest der Gruppe darin ein, bis ein erleichtert ausgesprochenes Amen das gemeinsame Gebet beendete. Alle Augen waren auf den vom vielen Gebrauch schon stumpfen Parkettboden gerichtet. Wieder war es Ruschtin, der das Schweigen brach.

»Vor etwa zwei Stunden erhielt ich einen Anruf von der Polizei, die mich über das tragische Ableben der zwei informierte. Man hatte Kenntnis davon erhalten, dass unsere Freundinnen ein Teil unserer Gemeinschaft sind, das heißt, dass sie es waren. Nun gehört es auch zu den Aufgaben einer Mordkommission, den Tod, selbst wenn es ein Suizid war, zu hinterfragen. Dazu hat sich ein Hauptkommissar Liebig für heute Abend angemeldet, der jeden Augenblick erscheinen müsste. Er wird Ihnen Fragen stellen, die mögliche Hintergründe aufklären sollen. Ich bitte Sie alle, diesen Mann zu unterstützen, damit die beiden Frauen schnellstmöglich und ehrenvoll in Gottes Hände übergeben werden können. Sie werden verstehen, dass wir die für heute angesetzten Themen auf die kommende Woche verschieben werden. Ach ich glaube, da ist er schon, unser Hauptkommissar.«

Nach kurzem Klopfen öffnete sich die Saaltür, durch die ein großgewachsener, breitschultriger Mann trat, der zielsicher auf Ruschtin zusteuerte und ihm die Hand reichte.

»Dr. Ruschtin, wenn ich nicht irre. Ihr Bild im Internet entspricht zumindest klar dem Original. Schön, dass Sie und die Damen und Herren mir heute Abend etwas ihrer Zeit schenken. Es tut mir sehr leid, dass ich zu diesem traurigen Anlass auch noch mit Fragen auf Sie einstürme. Aber das gehört zum Job, wenn der mögliche Suizid noch nicht eindeutig geklärt ist. Bis dahin ermitteln wir in alle Richtungen. Wir wollen, nein, wir müssen vor der Beisetzung ein Fremdverschulden ausschließen.«

»Deutet denn etwas darauf hin, dass ... ich meine ... könnte es auch Mord gewesen sein? Schließlich sind Sie von der Mordkommission.«

Liebig ging die Runde durch. Sein Blick blieb auf einer Person haften, die ihre Frage nicht zurückhalten konnte. Ruschtin trat näher an Liebig heran und flüsterte ihm zu, dass es Astrid Münch war, die sich gemeldet hatte.

»Zumindest schließen wir das bei diesem Stand der Ermittlungen nicht aus, Frau Münch. Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich Ihnen mitteile, dass wir bisher bei beiden Opfern noch keinen Abschiedsbrief fanden. Die typischen Hinweise auf Suizid fehlen bisher komplett. Nun, wir wissen lediglich, dass Krankheitsbilder bestanden, die auf gewisse Angstzustände hinweisen, unter denen sie litten. Doch in der Regel wissen wir aus langer Erfahrung, dass Menschen, die ihren Tod planen, das nicht derart spontan tun, sondern vorab Zeichen senden und ebensolche hinterlassen. Jeder, der das tut, erklärt sich in den meisten Fällen. Das fehlt hier in vollem Umfang. Nun könnte es ja sein, dass die Damen sich Ihnen anvertrauten. Ich möchte mit jedem von Ihnen ein kurzes Gespräch führen, wenn Sie damit einverstanden sind.

Ich dachte mir, dass es besser hier wäre, als dass ich Sie alle einzeln ins Präsidium bestelle. Darf ich gleich mit Ihnen, Frau Münch, anfangen?«

Liebig fiel auf, dass Astrid Münch im gleichen Augenblick zusammenfuhr, als ihr Name genannt wurde. Nur zögernd erhob sie sich und blickte sich scheu um. Ebenso entging Liebig nicht das Gesicht eines relativ jungen Mannes, der eine bestechende Ähnlichkeit mit dem besaß, das er auf einem Foto in Helga Weisers Wohnung fand. Er war sich relativ sicher, dass er den Urlaubsbegleiter vor sich hatte, der Helga in den Pyrenäen Gesellschaft leistete.

Die Einzelgespräche bestätigten Liebig größtenteils die Ansicht, dass es im Leben der beiden getöteten Frauen keine Ansätze gab, die einen Suizid begründeten. Ganz im Gegenteil. Die Gruppe gab ihnen sogar stärkeren Halt, sodass ihr Lebensmut wieder angestiegen war. Der letzte in der Reihe der Gruppenmitglieder war der Urlaubspartner von Helga Weiser. Liebig war fest davon überzeugt, durch ihn tiefer in das geheimnisumwobene Leben der Frau eindringen zu können. Fast übertrieben selbstsicher legte der rundum modisch, fast hippimäßig gekleidete Mann mit den langen Haaren die Beine übereinander und erwartete die ersten Fragen.

»Von Ihren Freunden hörte ich schon, dass Sie David heißen. Wie weiter?«

»Oha, spricht man über mich? Mein Nachname ist Pastise. Was sagt man denn so über mich, Herr Hauptkommissar?«

Liebig überging diese Frage und irritierte sein Gegenüber mit einer Gegenfrage.

»Was macht Dr. Ruschtin für Sie alle so besonders? Er scheint sehr beliebt bei euch zu sein.«

Pastise war anzumerken, dass ihn diese Frage völlig aus dem Konzept brachte. Sein Blick richtete sich auf den Kursleiter, der sich an einem großen Tisch mit den Mitgliedern der Gruppe unterhielt. Als befürchtete er, dass Ruschtin mithören könnte, senkte er die Stimme.

»Wie kommen Sie jetzt ausgerechnet auf Dr. Ruschtin? Verdächtigen Sie ihn etwa, mit der Sache etwas zu tun zu haben? Das wäre absurd. Das ist die Güte in Person. Wenn wir ihn nicht gehabt hätten, stünde es um die Psyche einiger Mitglieder nicht zum Besten. Wissen Sie eigentlich, dass er seine Zeit völlig ohne Bezahlung für uns opfert? Obwohl er in seiner Praxis wahnsinnig viel zu tun hat, kümmert er sich in seiner Freizeit noch um uns. Wer macht das heute noch?«

Liebig ließ sich nicht anmerken, wie dieses Ruschtin-Lob auf ihn wirkte.

»Nein, Herr Pastise, wir haben derzeit keinen Grund, Herrn Ruschtin zu verdächtigen. Für uns sind die Sichtweisen von Außenstehenden immer wichtig. Wie standen Sie eigentlich zu den Verstorbenen? Ich meine damit, ob es Beziehungen gab, die über das Maß einer normalen Freundschaft hinausgehen. Wie gut kannten Sie sich?«

Wieder dieses kurze Aufflackern in den Augen von Pastise, bevor er betont lässig die Antwort formulierte.

»Ich weiß zwar nicht, was Sie als normale Freundschaft ansehen, aber wir trafen uns eben hier zu den Sitzungen, auch schon mal zum Bier, aber weiter war da nichts. Die Mädels waren ja auch durchweg ... wie soll ich das sagen ... ja, sie waren sehr zurückhaltend, wenn Sie wissen, was ich meine.«

»Nein, das weiß ich nicht. Erklären Sie es mir bitte.«

Fast verärgert über die Naivität des Polizisten, platzte es aus Pastise heraus.

»Nun ja, da war nichts mit ... ich meine, mit Sex oder so. Die beiden Frauen waren absolut prüde und ließen keinen Kerl ran. Das war doch nicht normal. Jeder muss doch mal ...«

Liebig unterbrach an dieser Stelle und stellte die nächste Frage.

»Haben diese, wie Sie sagen, prüden Frauen denn jemals auch nur Andeutungen gemacht, was ein vorzeitiges Ableben betraf?«

»Nein, nein, niemals. Soviel wie ich hörte, planten Sie sogar einen gemeinsamen Urlaub.«

»Das ist ja interessant. Wo wir gerade dieses Thema anschneiden. Wir fanden das hier in den Unterlagen von Helga Weiser. Könnten Sie mir etwas dazu sagen? Das sind doch Sie, wenn ich mich nicht irre, oder? Die Rückseite bestätigt das sogar eindeutig. Wie passt das zu Ihrer Bemerkung, dass da lediglich mal Treffen zum Bier vorkamen? Da hatten Sie beide aber eine lange Anfahrt.«

Pastise konnte nicht verhindern, dass ihm das Blut ins Gesicht schoss. Gebannt starrte er auf das Foto, das nun vor ihm auf dem kleinen Tisch lag. Es zeigte ihn und Helga in trauter Zweisamkeit. Liebig ließ ihm Zeit und schob das Foto etwas näher heran.

»Das war nicht so, wonach es aussieht. Damals hatten wir die gleiche Liebe zu dieser wilden Bergwelt entdeckt, die es eben noch in den Pyrenäen gibt. Schließlich wurde ich dort geboren, bevor meine Eltern wenig später nach Deutschland übersiedelten. Wir sind gewandert und haben ein paar unterhaltsame Tage verlebt. Mehr war da nicht zwischen uns. Wir hatten sogar verschiedene Zimmer. Das war eigentlich verrückt, da wir wenig Geld hatten. Aber sie wollte unabhängig sein. Ich sagte ja schon, dass sie anders war. Interpretieren Sie bitte nichts Falsches in dieses Bild. Das war nur eine Momentaufnahme bei der Wanderung.«

Das Foto verschwand wieder in Liebigs Innentasche. Pastise hatte sich in der Zwischenzeit wieder gefangen und fuhr sich mit der Hand durchs volle Haar. Das änderte sich jedoch sofort, als ihn die Frage erreichte.

»Wo waren Sie in der Nacht von Donnerstag auf den Freitag?«

»War das etwa die Nacht, als Helga ... Glauben Sie nicht auch, dass Sie jetzt überziehen, Herr Hauptkommissar? Haben Sie diese Frage eigentlich allen gestellt, oder verdächtigen Sie mich, Helga getötet zu haben? Das ist schon ziemlich krass.«

Wieder blieb Liebig die Antwort schuldig, sah sein Gegenüber nur schweigend an. Er spürte eine kleine Unsicherheit bei Pastise, die er ausnutzen wollte.

»Ich war ... warten Sie ... ja, ich war an diesem Abend in der Funzel. Mit Freunden. Können Sie gerne nachprüfen.«

»Haben diese Freunde auch Namen und Telefonnummern, damit ich das gegebenenfalls überprüfen kann? Das ist reine Routine, Herr Pastise. Und zu Ihrer vorherigen Frage. Das habe ich natürlich alle in der Runde gefragt. Nehmen Sie das also nicht persönlich. Bitte schreiben Sie mir die Namen auf den Zettel. Dann sind wir hier für Heute fertig. Falls Ihnen noch was einfällt, rufen Sie mich einfach an.«

8

»David und Astrid, könntet ihr noch einen Augenblick bleiben? Die anderen sehe ich ja dann am kommenden Mittwoch wieder. Kommt gut heim.«

Die beiden Genannten sahen sich fragend an, blieben gespannt am Tisch sitzen. Dr. Ruschtin wirkte fahriger in seinen Bewegungen, was den beiden jungen Leuten sofort auffiel.

»Ihr werdet euch sicher fragen, was das soll. Eigentlich nichts von so großer Bedeutung. Doch diese Sache mit Helga und Sarah bereitet mir großes Kopfzerbrechen. Wir sind eine Gruppe, in der wir immer sehr offen mit unseren Problemen umgegangen sind. Darin soll sich auch in Zukunft nichts ändern. Alle müssen ehrlich sein und dürfen sich nicht hinter vermeintlichen Tabus verstecken.

Ich habe ja noch nicht mit dem Hauptkommissar sprechen können. Wir haben uns auf morgen vertagt. Dann kommt er in meine Praxis. Mich interessiert vorab nur, was er so im Allgemeinen von euch wissen wollte. Du, David, wirktest ab und zu etwas verstört. Was war geschehen?«

Wieder überzog Davids Gesicht ein roter Film, was jeder in der Gruppe mittlerweile kannte. Seine Verlegenheit, die sich zu den ungünstigsten Gelegenheiten bei ihm zeigte, machte ihm sehr zu schaffen. Es war einer der Gründe, warum er sich dieser Gruppe angeschlossen hatte.

»Nichts von Bedeutung. Wirklich, da war nichts. Dieser Kerl wollte von mir wissen, wo ich mich am Donnerstag aufhielt. Der hat mich behandelt, wie ein ... wie ein Verdächtiger. Verdammt, ich habe mit dem Tod der beiden nichts zu tun. Der Kerl spinnt wohl.«

»Ruhig, David, ganz ruhig. Das hat der Mann bestimmt nicht so gemeint. Das ist sein Job und reine Routine. Mach mal halblang. Wie ich es mitbekam, hat jeder sagen müssen, wo er zum Zeitpunkt der vermuteten Todeszeitpunkte war. Sonst war nichts?«

»Doch. Er hat ein Foto gezeigt, auf dem ich mit Helga zu sehen bin ... im Kurzurlaub in den Pyrenäen. Damals habe ich sie mitgenommen, ihr gezeigt, wo ich geboren wurde. Jetzt vermutet der natürlich mehr dahinter. Es fehlt nur noch, dass der mir eine Beziehungstat unterjubeln will. Die Typen sehen nur noch Mord und Totschlag.«

Ruschtin legte seine Hand über die von David und tätschelte sie leicht. Sein Blick ruhte bereits auf Astrids Gesicht.

»Und was war bei dir? Musstest du auch erklären, wo du dich aufgehalten hast?«

Astrid lag mehr im Stuhl, als dass sie saß. Ihre langen Beine, die sie in eine viel zu enge Jeans gequetscht hatte, waren weit unter den Tisch gestreckt. Fast spöttisch kam ihre Erklärung.

»Wir waren schnell mit der Sache durch. Dass ich mich zuhause aufhielt, kann eine Nachbarin bezeugen, die mir ein Päckchen anreichte, das man bei ihr abgegeben hatte. Ich habe dem Kerl dann erklärt, dass ich noch nicht so lange in der Gruppe bin und so gut wie nichts über die toten Mädels weiß. Stimmt doch auch, oder nicht? Die beiden hingen doch immer zusammen wie Kletten. Da kam eigentlich kaum einer richtig ran. Na ja, bis auf diejenigen, die sie in den Urlaub einluden.«

Ruschtin bemerkte das Aufbegehren Davids, der einmal mehr die Gesichtsverfärbung nicht vermeiden konnte. Nur dass sie diesmal einer Wut entsprang. Er hob die Hand, um die Entgegnung Davids zu unterbinden.

»Lass es gut sein, Astrid, das ist nicht fair gegenüber David. Es ist doch völlig normal, dass sie sich von einem gut aussehenden Burschen gerne einladen lässt. Und wir wollen nicht vergessen, dass du es den beiden ja auch nicht leicht gemacht hast mit deinen Bemerkungen über die Nichtschwimmer. Aber ich will jetzt nicht weiter darauf herumreiten. Kommen wir zum Thema Alibi zurück.

Ich weiß, dass es sich für euch seltsam anhören wird, wenn ich, vor allem dich, Astrid, um einen kleinen Gefallen bitten möchte. Ich sagte ja bereits, dass ich morgen ebenfalls Besuch von Liebig bekommen werde. Nun wird es sich nicht vermeiden lassen, dass ich auch einen Nachweis für die Abende liefern muss. Und genau hier liegt das Problem. Grundsätzlich kann ich das ja auch durch Zeugen bestätigen lassen ... doch genau das will ich vermeiden.«

Ruschtin blickte in Augen, in denen eine unausgesprochne Frage lauerte. Die Stille zog sich hin, bis der Psychologe mit einem Seufzer zur Erklärung ansetzte.

»Ihr müsst wissen, dass jeder Mensch eine Leiche im Keller hat. Das passt sicherlich in diesem Zusammenhang nicht unbedingt, doch will ich auf eines hinaus. Ihr habt eure Probleme, die wir in unserer Gruppe offen diskutieren. Das unterstütze ich gerne und helfe, wo ich kann. Doch eigentlich müsste auch ich über etwas mit euch allen reden, was mir zu schaffen macht. Bisher konnte ich mich nicht dazu durchringen.

Ich war an den besagten Abenden in einer Gaststätte, die euch sicherlich aus bestimmten Gründen bekannt sein dürfte. Dort treffe ich mich mit Gleichgesinnten, die, so wie ich, gewisse sexuellen Neigungen ausleben. Wir sind eine Gruppe, die selbst heute noch, in einer modernen Welt, stigmatisiert werden. Wir kleiden uns gerne ... wir tragen zuhause eben Frauenkleider. So, jetzt ist es raus.«

Astrid rückte nun doch nach vorne und sah ihr großes Idol mit aufgerissenen Augen an.

»Sie sind ein Transsexueller? Sie laufen so richtig ...?«

»Halt jetzt endlich die Klappe, verdammt.«

David stupste die jetzt grinsende Astrid gegen die Schulter und richtete seinen Blick auf Ruschtin.

»Und was sollen wir jetzt für Sie tun?«

»Du gar nichts, David. An Astrid hätte ich eine Bitte. Es wird wahrscheinlich nicht allzu lange dauern, dann werden die spitz kriegen, was mit mir los ist. Doch bis es so weit ist, wenn es überhaupt dazu kommt, möchte ich gerne ein völlig unauffälliges Alibi vorweisen können. Und dazu brauche ich dich, Astrid. Wenn ich aussagen würde, dass ich mich bei dir aufgehalten habe, würdest du das bestätigen? Mir zuliebe?«

Das Lächeln in Astrids Gesicht, das sie in diesem Augenblick zeigte, war nur schwer zu deuten. Das Flehen, das Ruschtin in seinen Augen beherbergte, war herzerweichend. David hätte Astrid am Liebsten das Lächeln aus dem Gesicht geschüttelt, hoffte, dass sie endlich dieses befreiende Ja aussprechen würde. Sie schien die Situation auf eine besonders perfide Art zu genießen, ließ sich Zeit. Nach endlosen Sekunden, die den Männern wie Stunden erschienen, nickte sie langsam und lehnte sich wieder zurück. Es war, als fiele Ruschtin eine Zentnerlast von den Schultern.

»Danke, Astrid, das werde ich dir niemals vergessen. Das verspreche ich.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752144307
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Mai)
Schlagworte
Eifersucht Lokalkrimi Phobie Serienmörder Folter Ruhrgebiet Krimi Ermittler

Autor

  • H.C. Scherf (Autor:in)

Der Autor begann nach Eintritt in den Ruhestand mit dem Schreiben von spannenden Romanen unter seinem Klarnamen Harald Schmidt. Da dieser durch TV bekannte Name falsche Erwartungen beim Leser weckte, übernahm er das Pseudonym H.C. Scherf zum Schreiben etlicher Thriller-Reihen.