Lade Inhalt...

Die Schuld bleibt

von H.C. Scherf (Autor:in)
191 Seiten
Reihe: Die Liebig/Momsen-Reihe, Band 2

Zusammenfassung

»Die Qualen der Zelle liegen hinter ihr – Doch die Hölle der Freiheit erwartet sie bereits« Sieben Jahre teilte Daniela die Zelle mit Psychopathinnen. Totschlag war ihr Verbrechen, für das sie lange sühnte. Nun steht sie vor dem Tor der JVA und einer Freiheit gegenüber, die keine ist. Unerbittlich begegnet ihr die Familie mit Ablehnung. Als sie in einen Strudel aus Gewalt gezogen wird, sehnt sie sich zurück in den Regelbetrieb des Strafvollzugs. Ein perverser Serienmörder und ein brutaler Zuhälter reißen sie in den Vorhof zur Hölle. Ausgerechnet ein Ermittler steht ihr zur Seite, den die Vergangenheit mit den Taten des perfiden Mörders verbindet.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

Die Schuld bleibt

 

 

Von H.C. Scherf

 

 

Thriller

 

 

 

 

 

 

 

 

1

»Bis bald, du lesbische Dreckschlampe. Wir werden uns schon bald hier wiedersehen.«

Der Ruf hallte durch den Zellengang, obwohl sämtliche Türen geschlossen waren. Jede hier wusste, dass eine von ihnen die Hölle des Knasts heute verlassen würde. Dass sich nicht nur freundschaftliche Gefühle entluden, wunderte keinen. Sandra Coburg legte den Arm um die Zellengenossin und strich ihr über das Haar. Zwischen ihnen hatte sich in den letzten fünfzehn Monaten dennoch eine gewisse Freundschaft gebildet, sofern man hinter diesen Mauern von etwas derart Tiefgreifendem sprechen konnte.

»Die verrückten Weiber darfst du nicht ernst nehmen. Die Sprüche kennen wir doch schon lange, wenn jemand von uns entlassen wird. Nimm jetzt deine Plörren unter den Arm und verdufte für immer von hier. Vergiss nicht, was du mir versprochen hast. Hier drin will ich dich nie wiedersehen. Und schick mir deine neue Adresse. In vier Monaten bin ich hier auch raus, falls die dem Antrag stattgeben. Dann können wir zusammen alles erreichen ... alles, glaube mir. Denke an unsere Pläne, Schätzchen.«

Daniela Weigel nahm die Stirn von der kalten Stahltür, als sie die sich nahenden Schritte zweier Personen hörte. Sie erkannte die Justizvollzugsbeamten schon am Gang, so vertraut waren die Geräusche des Hauses für sie in den letzten sieben Jahren geworden. Als sich die Tür öffnete, legte Daniela ihre Arme um die Freundin und verkniff sich eine Träne. Wortlos, nur die Hand zum Gruß hebend, folgte sie den beiden Männern zur ersten Gittertür, wissend, dass nun ein erbärmlicher Lebensabschnitt sein vorläufiges Ende finden würde.

 

Der kräftige Wind peitschte den feinen Regen fast waagerecht über das Pflaster. Daniela griff zum Hals, zog an den Schnüren, die ihre Kapuze fest am Kopf hielten. Sekunden später schon spürte sie die Nässe, die sich durch die wollene Joggingjacke zur Haut durchkämpfte. Ihre Augen presste sie zu schmalen Schlitzen, sodass sie nur schemenhaft die Fahrzeuge wahrnahm, die eine graue Wasserwand hinter sich herzogen und an ihr vorbeirauschten. Niemand der Fahrzeuginsassen verschwendete auch nur einen Blick an die einsam dastehende Frau, die sich gegen den Sturm stemmte und schützend ihre Sporttasche vor die Brust presste. Diese enthielt die wenigen Habseligkeiten, die sie besaß, als sie vor über sieben Jahren ihre Strafe in der Haftanstalt antrat. Sieben Jahre ihres Lebens, die ihr dieser verdammte Dreckskerl damals genommen hatte. In der tiefsten Hölle sollte er dafür schmoren. Nur dieser Gedanke half ihr über diese lange Zeit hinter Gittern, gepaart mit der Hoffnung, schon etwas früher wieder entlassen zu werden. Ein Wunsch, der sich nicht erfüllen sollte. Daniela hatte schon sehr früh erkannt: Sie hatte eine Rechnung ohne die Mithäftlinge gemacht.

Sie spürte die Blicke in ihrem Rücken. Blicke von Männern aus dem Vollzug, die ihr noch vor wenigen Momenten Glück gewünscht und ihr mit auf den Weg gegeben hatten, dass man sie nie wieder hier sehen wollte. Sie standen hinter den Panzerglasscheiben und beobachteten sie noch eine Weile, während sich das stählerne Rolltor schloss, das kurz zuvor einen Gefangenentransport durchließ. Dem Fahrzeug entstiegen drei Männer, die jetzt eine möglicherweise lange Haftzeit, Entbehrungen und Qualen vor sich hatten.

Daniela wusste, die Worte der mittlerweile vertrauten Vollzugsbeamten waren ehrlich gemeint. Gleichzeitig schwang jedoch offen der Zweifel darin mit, ob sich dieser Wunsch erfüllen würde. Auch sie selbst hatte in den zurückliegenden Jahren viel zu oft erleben müssen, dass Mithäftlinge in Freiheit schon nach kurzer Zeit wieder einrückten. Das sollte ihr nicht passieren, auch wenn die Perspektiven ungünstig waren. Zu diesem Zeitpunkt wusste Daniela Weigel noch nicht, dass sie lediglich die Hölle des Strafvollzugs gegen eine schlimmere hier draußen eintauschte. Sie beeilte sich, den Schutz der Bushaltestelle zu erreichen. Dort war sie zwar vor dem Regen geschützt, doch der kalte Wind ließ sie in ihren durchnässten Sachen erschauern.

2

Die Regenpfützen spiegelten die trostlosen Häuserwände wider, die diesen Teil der Stadt prägten. Kaum etwas hatte sich hier in den letzten sieben Jahren verändert. Der Ruß von Autoabgasen hatte die Gebäude noch grauer werden lassen. Lediglich der Kiosk, den Walter Steinmann fast sein Leben lang bewirtschaftete, stand nun verlassen und von Unkraut in Beschlag genommen vor dem Eingang zum kleinen Park. Bei ihm hatten sie schon als Kinder Süßigkeiten gekauft, aber auch die ersten Zigaretten, die sie dann mit Freundinnen im Wäldchen geraucht hatten. Sie fuhr sich mit der freien Hand nachdenklich durch das kurz geschnittene Haar, in dem sich bereits jetzt, mit vierunddreißig Jahren, die ersten grauen Strähnen zeigten. Ihr Blick glitt über die Fensterfront in der zweiten Etage der Hausnummer achtzehn. Noch zögerte sie es hinaus, nach dem Klingelschild zu suchen, auf dem sie den Namen Howald zu finden hoffte.

Schließlich tastete Danielas Finger über den Klingelknopf, hielt immer wieder inne, um dann doch entschlossen zu drücken. Nichts geschah. Kein Türsummer, keine Frage über die Sprechanlage. Gerade, als sie sich abwenden wollte, vernahm sie die Schritte, die sich der Haustür näherten. Daniela wich zurück, als die ältere Dame versuchte, den Rollator durch den entstandenen Schlitz zu drücken. Beherzt drückte Daniela gegen das Türblatt, was ihr ein dankbares Lächeln der Frau einbrachte.

»Das ist aber lieb, junge Frau. Vielen, vielen Dank. Diese verdammte Tür geht so fürchterlich schwer auf. Das ist für uns Alte eine Qual. Ich habe schon so oft bei der Verwaltung angerufen, damit die da mal nachsehen. Wissen Sie was? Die kümmert das einen Dreck.«

Mittlerweile stand sie auf dem Bürgersteig, auf dem sich etliche Fußgänger nun einen Weg um sie herum suchen mussten.

»Wo wollen Sie denn hin? Ich kenne Sie gar nicht.«

»Wissen Sie zufällig, ob Frau Howald im Hause ist oder wo ich sie finden könnte?«

Daniela glaubte, in dem Gesicht der Dame eine Veränderung bemerkt zu haben. Zumindest verschwand das dankbare Lächeln, wurde durch Erstaunen ersetzt.

»Die Lea? Sie wollen zur Lea?«

Die faltige Hand zerrte an Danielas Ärmel, zog sie zu sich heran. Verschwörerisch sah sie nach links und rechts, als befürchtete sie Zuhörer, bevor sie die Worte fast flüsternd zischelte.

»Die kommt erst so um Mitternacht nach Hause. Die hat heute Spätschicht. Sind Sie auch so eine, ich meine, so eine Kollegin von ihr?«

Daniela wusste das Augenzwinkern der Hausbewohnerin nicht zu deuten. Während sie einer Gruppe von diskutierenden Männern Platz machte, wandte sie sich wieder an ihre Gesprächspartnerin.

»Was meinen Sie damit, ob ich eine Kollegin von Lea wäre? Sie betonen das so seltsam, als wäre es etwas Besonderes.«

Wieder dieses Zupfen an Danielas Ärmel.

»Na Sie wissen doch, eben eine von den Damen, die an der Straße ... Nicht, dass ich da Vorurteile hätte. Jeder muss wissen, wie er das Geld verdient. Und wenn es auch noch Spaß macht.«

Daniela zuckte zurück, als sie zum zweiten Mal das Augenzwinkern bemerkte. Diesmal wurde es von einem hexenähnlichen Kichern begleitet.

»Junge Frau, das ist doch überhaupt kein Problem. Lasst die Kerle ruhig ordentlich dafür blechen, wenn sie ihre Frauen betrügen. Wenn ich noch ein paar Jahre jünger wäre, dann ...«

Erstaunt sah Daniela immer noch in das verrunzelte Gesicht, das diese Worte scheinbar ernst meinte.

»Nein, nein, ich bin keine ... keine Prostituierte. Lea ist meine Schwester. Wir haben uns lange nicht mehr gesehen. Verdammt, das sind ja noch neun Stunden, bis sie kommt. Ich danke Ihnen auf jeden Fall für Ihre Hilfe. Ich gehe dann mal.«

Es wurde nun schon zur Angewohnheit, dass diese Frau an Danielas Ärmel zupfte. Doch ihre Worte halfen weiter.

»Der Wohnungsschlüssel liegt oben auf dem Türrahmen. Aber das haben Sie nicht von mir. Das müssen Sie mir versprechen. Ich will mir das nicht verscherzen mit Lea. Die ist nämlich eigentlich sehr nett. Aber wenn Sie die Schwester sind ...«

»Vielen Dank. Dann warte ich oben auf sie.«

Die enge Diele war angehäuft mit diversen Schränken und Kartons, als wäre jemand erst vor kurzer Zeit eingezogen. Nur die Gelegenheit wurde bisher verpasst, einzuräumen. Daniela wusste jedoch, dass Lea schon mindestens elf Jahre hier wohnte. Sie war so oft Anlaufpunkt für sie geworden, wenn sie einmal mehr von diesem Scheißkerl geschlagen worden war. Daniela war immer für sie da gewesen, wenn es brenzlich wurde. Das würde sie ihr hoffentlich niemals vergessen. In den ersten Jahren stellte sie den einzigen Kontakt zwischen Gefängnis und ihren gemeinsamen Eltern her. Warum sie in den letzten vier Jahren die Besuche eingestellt hatte, konnte sich Daniela nicht erklären. Bald würde sie es wissen.

Im Schlafzimmerschrank fand sie einen Jogger, den sie gegen ihren immer noch feuchten tauschte. Allmählich wich die Kälte, die sie seit der Entlassung quälte. Zufrieden rollte sie sich auf der Couch zusammen und versank nach wenigen Minuten in einen tiefen Schlaf.

 

Der Schrei hallte durch das Zimmer und holte Daniela aus tiefen Träumen. Als sie die Augen aufriss und sich aufsetzte, erkannte sie eine große Blondine mit langem, lockigen Haar, die eine Hand vor den Mund gepresst hielt und entsetzt auf die Couch blickte.

»Was ... was machst du hier? Bist du abgehauen? Das kann doch nicht sein. Du müsstest doch ...«

Daniela fasste sich schneller, als ihre Schwester und stand auf. Als sie auf Lea zuging, wich diese zurück und streckte schützend die Hände vor.

»Was soll das Theater, Lea? Du weißt doch ganz genau, dass ich heute rausgekommen bin. Das habe ich dir doch geschrieben. Du tust so, als wäre ich ein Geist. Eigentlich hätte ich eine andere Begrüßung erwartet.«

Es wirkte auf Daniela reichlich theatralisch, als Lea eine Hand auf den viel zu großen Brustausschnitt legte und sich aufstöhnend in den nächstbesten Sessel fallen ließ. Ihre Augen richteten sich nach wie vor in vollem Entsetzen auf die Schwester.

»Ich dachte, dass du noch mindestens ein Jahr absitzen musst. Haben die dir nicht acht Jahre aufgebrummt? Lass mich mal rechnen. Du bist ...«

»Hör jetzt endlich auf damit. Das darf doch wohl nicht wahr sein. Meine eigene Schwester vergisst mein Entlassungsdatum. Kannst du dich überhaupt noch daran erinnern, dass ich es deinem Traummann zu verdanken habe, dass ich dort mein halbes Leben verbringen musste? Ist dir das vielleicht zwischenzeitlich abhandengekommen? Anstatt mich zu umarmen und mich herzlich zu begrüßen, tust du, als wäre ich ein Geist, der dich bedroht. Ganz toll, Schwesterchen, ganz toll. Danke für den herzlichen Empfang.«

Leas Miene veränderte sich im gleichen Augenblick, als Danielas Worte verklangen. Wild riss sie sich die Perücke vom Kopf und warf sie auf den Tisch, auf dem noch zwei halb volle Schnapsgläser neben der Chipsschale standen. Eines davon schnappte sie sich und trank den Rest des Glasinhaltes in einem Zug aus. Ihre Augen funkelten, als sie das leere Glas scheppernd auf den Tisch knallte.

»Habe ich dich damals darum gebeten, dich einzumischen? Manfred war nun mal eben etwas aufbrausend. Musstest du ihm sofort den Schädel einschlagen? Ich habe dich lediglich angerufen, um dich zu fragen, ob ich die Nacht bei dir schlafen könnte. Ich konnte ja nicht ahnen, dass er mir folgen würde.«

Ungläubig starrte Daniela auf ihre Schwester und trat wieder zwei Schritte zurück. Sie fiel fast zurück auf die Couch, suchte verzweifelt nach Worten.

»Du wagst es, mir das zu sagen? Ich habe dir damals den Arsch ...«

»Nichts hast du. Aber das hast du ja bis heute noch nicht begriffen. Manfred wollte mich nur zurückholen, weil er ohne mich nicht leben konnte. Er hat mich geliebt ... ja das hat er. Was kann ich dafür, dass er dich nie leiden konnte? Er stand nicht auf die dünnen Tussis. Der wollte eine richtige Frau an seiner Seite. Aber das hast du nie akzeptieren wollen, weil du ihn für dich wolltest. Als er dir eins in die Fresse gehauen hat ... konntest du da nicht einfach mal zurückstecken? Musstest du ihm gleich die schwere Vase auf dem Schädel zertrümmern?«

Daniela war anzumerken, dass ihr diese Anschuldigungen schwer zu schaffen machten.

Hatte Lea dieses Problem all die Jahre schweigend mit sich herumgetragen? War der Hass auf sie derart angewachsen, dass sie ihre Schwester vier Jahre lang nicht mehr im Knast besuchte?

»Ja, jetzt bist du schockiert, oder? Mit Rücksicht auf dich habe ich das immer verschwiegen, auch vor Gericht. So bist du mit Totschlag davongekommen. Für mich und auch für Mama und Papa war es kaltblütiger Mord. Du hast nur darauf gewartet, dass er mich wieder einmal schlägt. Du konntest es einfach nicht ertragen, dass er deine Anmachversuche ablehnte. Sein Angriff in deinem Zimmer kam dir da gerade recht. Glaubst du wirklich, dass ich dir das jemals verzeihen würde? Du bist für uns alle eine brutale Mörderin. Ja, das bist du. Und das wird sich niemals ändern. Hörst du? Niemals!«

Die letzten Worte schrie sie ihrer Schwester ins Gesicht. Ihre Haut verfärbte sich ins Dunkelrot, während sie die Fingernägel in die Polsterlehnen presste. Die nun eintretende Stille besaß etwas Gefährliches, was durch Danielas Mimik noch verstärkt wurde. Viel zu spät bemerkte Lea, was sie durch ihre unbedachten Anschuldigungen ausgelöst hatte. Sie verfolgte mit Entsetzen, wie sich Daniela erhob und auf sie zukam.

3

»Wieso soll gerade ich wieder mal die Listen durchsehen? Das kann doch auch mal jemand anderes machen, Chef. Kann ich nicht mitfahren? Ich war noch nie bei einer Razzia dabei. Mir wird schon nichts passieren, wenn hundert Leute vom SEK um mich herum sind. Bitte, Herr Liebig.«

Rita Momsens Blick hätte in diesem Augenblick Steine erweichen können, aber nicht Hauptkommissar Liebig. Er wollte diese junge Frau, die seit einigen Wochen seiner Abteilung als Praktikantin zugewiesen worden war, nicht ein weiteres Mal in Gefahr bringen. Nur um Haaresbreite waren sie im letzten Fall dem Tod von der Schippe gesprungen. Er wollte dieses schlanke, auf eine besondere Art sogar attraktive Mädel nur langsam an die Welt des Verbrechens heranführen.

»Wie heißt es so schön, liebe Rita? Gebranntes Kind scheut das Feuer. Ich mache solche Fehler nicht am Fließband. Der Einsatz bei dem Ruschtin-Fall hat mir gereicht. Das wäre beinahe fürchterlich in die Hose gegangen. Sie scheinen immer noch zu vergessen, dass Ihre Zeit als Praktikantin noch zwei Wochen läuft. Dann geht es ab in die Ausbildung. Seien Sie froh, wenn Sie diese Clans nicht jetzt schon erleben müssen. Die Einsätze können auch schon einmal ausufern. Die Leute sind nicht zimperlich, besonders wenn es um Frauen geht. Eigentlich sollten Sie als kluges Köpfchen wissen, welche Stellung eine Frau bei denen einnimmt. Also, ein klares Nein!«

Ritas Gesichtsausdruck ließ nicht die Vermutung zu, dass sie dieses Argument gelten lassen wollte. Als sie aufbegehren wollte, hielt die erhobene Hand Liebigs sie schon im Ansatz zurück.

»Ich sagte Nein und damit basta.«

»Menno, ich könnte doch ...«

Der eintretende Kommissar Spiekermann unterbrach den unfruchtbaren Dialog. Beide sahen gespannt auf ihn und warteten ab, welcher Grund sich hinter seinem Auftauchen verbarg. Bevor er sich vor Liebigs Schreibtisch setzte, strich er eine seiner widerspenstigen Locken aus der Stirn, die längst einmal wieder hätten gestutzt werden müssen. Seine Haarpracht passte ganz und gar nicht zur restlichen, so biederen Erscheinung. Obwohl ihn seine Körperfülle stark unterschied, hatte er sich im Präsidium den Spitznamen Atze eingehandelt, angelehnt an den Essener Comedykünstler Schröder. Unaufgefordert legte er sofort los:

»Doktor Schiller, der einmal mehr schneller war, als es die Polizei erlaubt, hat eine Frau auf dem Tisch, die vor zwei Stunden in der Notaufnahme eingeliefert wurde und mittlerweile verstorben ist«, erklärte Spiekermann. »Er ist davon überzeugt, dass es kein natürlicher Tod war. Seiner Meinung nach sollten Sie sich die Dame mal ansehen. Kann ich ihm sagen, dass Sie kommen?«

Spiekermann konnte sich keinen Reim darauf machen, warum Rita Momsen mit breitem Grinsen die Jacke überzog und Liebigs Mantel vom Kleiderhaken holte. Während ihr Grinsen immer breiter wurde, verfinsterte sich Liebigs Gesicht immer mehr. Er riss Rita schließlich den Mantel aus der Hand und schob sie zur Tür hinaus, ohne die Frage von Spiekermann zu beantworten. Der zuckte nur mit den Schultern und griff zum Telefon.

»Der Chef ist auf dem Weg.«

 

»Das ging ja flott mit Ihnen, Liebig. Gut, dass Sie sich gleich Verstärkung mitgebracht haben. Guten Tag, Frau Kommissarin.«

»Jetzt hören Sie bitte auf, Süßholz zu raspeln, und klären mich bitte darüber auf, was Sie so ruschelig macht«, knurrte Liebig als Antwort.

»Nur nicht so empfindlich, mein Herr. Man wird doch wohl noch einen Scherz machen dürfen. Also, das Ganze mal in Kurzform.

Die Dame, deren Name übrigens Lea Howald ist, wurde heute Nacht in die Notaufnahme eingeliefert. Fenstersturz!«

»Mitten in der Nacht? Da fällt die Frau aus dem Fenster? Hat die tagsüber keine Zeit zum Putzen?«

Liebig konnte den blöden Spruch nicht zurückhalten und erntete dafür verständnislose Blicke.

»Ein Taxifahrer, der einen Gast in der Straße ablieferte, wurde durch einen Schrei aufmerksam und sah noch, wie der Körper der Frau auf dem Gehweg aufschlug«, erklärte Schiller. »Der Mann lief sofort hin und stellte fest, dass die Frau noch atmete. Die Ambulanz wurde verständigt, sodass die Gestürzte relativ schnell eine Erstversorgung bekam. In der Notfallambulanz erkannten die Ärzte jedoch, dass irreparable Hirnschädigungen aufgetreten waren. Sie hat noch eine Stunde gekämpft, aber schließlich verloren.«

»Jetzt mal im Ernst. Wer fällt mitten in der Nacht aus dem Fenster? Stand die Tote unter Alkoholeinfluss? Es muss doch einen Grund geben, warum man da runterknallt. Das passiert doch in der Regel nicht mal eben so. Ist der Taxifahrer noch im Haus? Kann ich den vernehmen? Aus welcher Etage ist die denn abgestürzt?«

»Eine Menge Fragen auf einmal. Da hinten auf dem Tisch liegt eine vorläufige Aussage des Fahrers. Darauf finden Sie auch eine Telefonnummer, unter der er erreichbar ist. Soweit mir bekannt ist, handelt es sich um die erste Etage, also nur etwa fünf bis sechs Meter Höhe. Natürlich kann auch ein solcher Sturz tödlich enden, doch deshalb habe ich Sie nicht kommen lassen.«

Liebig zog die Augenbrauen hoch und wollte seine Praktikantin zurückhalten, die bereits das Leichentuch angehoben hatte und ihre Blicke über den nackten Frauenkörper gleiten ließ.

»Da sind ja Kampfspuren über beide Arme verteilt, die unmöglich vom Sturz herrühren können. Ist es das, was Sie meinen, Herr Schiller?«

Schiller umrundete den Seziertisch und legte lächelnd einen Arm um Ritas Schulter. Er zog das Tuch nun endgültig zurück und zeigte auf bestimmte Punkte.

»Das haben Sie sehr gut erkannt, Frau Momsen. Diese Frau Howald schlug mit dem Kopf auf, was eindeutig an den immensen Schädelverletzungen festzumachen ist. Die Verletzungen an den Armen, die ich als Druck- und Kratzspuren bezeichnen würde, können folglich nur vorher zugefügt worden sein und weisen deutlich auf Abwehrreaktionen hin. Wir können sogar am Hals leichte Würgemale feststellen. Sehen Sie hier und hier. Charakteristisch dafür sind Blutstauungen im Gesicht, ausgeprägte Bindehautblutungen und Nageleindrücke in der Halshaut. Davon finde ich etliche, was darauf hinweist, dass der Täter oder die Täterin mehrfach versucht haben muss, das Opfer zu würgen.«

Liebig stand mittlerweile neben den beiden und betrachtete die Leiche genauer. Er überragte Rita und Schiller um fast einen Kopf. Seine Größe und sportliche Figur flößten vor allem seinen Gegnern stets ein wenig Respekt ein. Eine Hand strich über seine kurz geschorenen Haare, bei denen er nur eine maximale Länge von zwei Zentimetern zuließ, bevor er sie wieder stutzte. Sein Kommentar fiel kurz aus:

»Dann gehen wir davon aus, dass in der Wohnung ein Kampf stattfand und die Frau aus dem Fenster gestürzt wurde?«

»Darauf würde ich mich nicht unbedingt festlegen, Liebig. Sie kann ja auch unglücklich während des Handgemenges gegen das offene Fenster gefallen sein. Was ich eventuell als gegeben anführen würde, ist der Verdacht, dass es sich bei dem Gegner um eine Frau handelte. Ein Mann muss schon sehr schwach gebaut sein, um mehrere Versuche zu benötigen, das Opfer zu erwürgen. Ich werde noch Spuren aus den Wunden aufnehmen und eine DNA-Analyse durchführen lassen. So, Liebig, jetzt sind Sie dran.«

4

»Howald ... Howald. Der Name sagt mir irgendwas. Das muss schon lange her sein, aber ich komme schon noch drauf. Rita, suchen Sie bitte nach Verwandten, denen wir die beschissene Nachricht überbringen müssen. Die Frau ist ja noch nicht so alt, sodass sicher noch Eltern oder Geschwister leben könnten. Ich unterhalte mich währenddessen mit dem Taxifahrer. Der müsste zwischenzeitlich eingetroffen sein.«

Kaum hatte Liebig die Worte ausgesprochen, als auch schon ein Klopfen an der Tür zu vernehmen war. Ohne ein Herein abzuwarten, betrat ein Mann den Raum, der bei Liebig ein Lächeln hervorzauberte.

»Hi. Ich wusste doch, dass mir der Name Holzmann was sagen musste. Wir zwei sind doch vor Jahren mal zusammen in Ihrer Taxe gefahren, als dieser Bankräuber ... warten Sie, ich hab`s gleich ... ja, dieser Schäfer auf uns schoss. Hat die Versicherung damals eigentlich für die Löcher im Blech gezahlt?«

Freddy Holzmann winkte ab und ergriff mit seinen kleinen, aber wurstigen Fingern Liebigs ausgestreckte Hand. Der recht korpulente Taxichauffeur vermied es, sich in den Stuhl vor Liebigs Schreibtisch zu quetschen, da dieser mit Seitenlehnen versehen war. Er zog sich einen lehnenlosen vom Besprechungstisch heran, der jedoch gequält aufschrie, als es sich die einhundertdreißig Kilo darauf bequem machten.

»Herr Hauptkommissar. Wie heißt es immer wieder? Man sieht sich im Leben stets ein zweites Mal. Wie kann ich Ihnen diesmal helfen? Es scheint sich um die arme Frau von gestern Nacht zu handeln.«

»Genau. Wir haben dazu nur noch ein paar kleine Fragen. Toll übrigens, wie schnell Sie reagiert haben, Holzmann. Das hat der Frau letztendlich nicht das Leben gerettet, aber trotzdem haben Sie alles richtig gemacht. Ist Ihnen was aufgefallen, als Sie die Frau fanden? Ich konnte lesen, dass Sie sogar den Sturz selbst mitbekamen.«

Dankbar nahm Holzmann die Tasse Kaffee aus Ritas Händen, setzte sie vorsichtig auf dem Schreibtisch ab. Bevor er den ersten Schluck nahm, schüttelte er den Kopf.

»Menschenskind, es war stockdunkel in der Straße. Da stand auch weit und breit keine Laterne. Ich habe meine Kohle verstaut und wollte gerade wieder losfahren, als ich diesen Schatten sah und dann kam dieses hässliche Aufschlagen auf dem Pflaster. Das hörte sich an, als hätte jemand einen Sack Melonen auf die Erde geknallt. Scheiße, das geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Habe dann nur noch das weit offen stehende Fenster in der ersten Etage gesehen. Das Ganze wird dem Karim bestimmt nicht gefallen, der wird stinksauer sein.«

»Halt mal. Wie kommen Sie auf Karim? Kennen Sie die Frau etwa? Und wer ist dieser Karim?

«Nun trat auch Rita näher an den Tisch, die interessiert dem Gespräch gefolgt war.

»Klaro. Sagen Sie bloß, Ihr habt noch nicht ermittelt, wer die Frau ist?«

»Doch, doch, Holzmann. Wir wissen, dass es sich um Lea Howald handelt. Doch wir suchen noch nach Angehörigen. Woher kennen Sie denn die Tote?«

Holzmann wischte sich mit dem Taschentuch einen Kaffeetropfen von den Lippen, nachdem er sich damit den Schweiß von der Stirn entfernt hatte.

»Die kennt doch jeder von uns aus der Branche. Die schaffte für den Karim an, lief schon seit Jahren auf dem Strich. Ab und zu habe ich die nach Hause geschafft, wenn sie zugedröhnt war. Die hat sich stets irgend so eine Designerdroge, diese Legal Highs, reingeworfen. Die hat mir mal gestanden, dass sie diese Scheiße sonst nicht aushalten könnte. Kann ich verstehen. Lea sah an manchen Tagen aus, als hätte man sie durch den Fleischwolf gedreht.«

Liebig hatte gut zugehört. Im Gegensatz zu Rita war das für ihn kein Neuland. Obwohl er nicht im Drogenbereich tätig war, begegnete er viel zu oft den Opfern dieser vermeintlich harmlosen Drogen. Die Hersteller veränderten deren Zusammensetzung regelmäßig, um betäubungsmittelrechtliche Vorschriften zu umgehen. So blieben sie für den Verbraucher im Internet stets in den verschiedensten Darreichungsformen bestellbar.

»Wo finden wir diesen Karim, Holzmann?«

»Glauben Sie, dass der was damit ...?«

»Verraten Sie uns nur, wo wir diesen Zuhälter finden. Derzeit können wir noch gar nichts sagen. Allerdings sind wir für jede Hilfe dankbar, die uns der Lösung näherbringt. Also, wo?«

Schon fast Verzweiflung erschien in Holzmanns Augen, als er sich zu Liebig vorbeugte.

»Das haben Sie aber nicht von mir. Das müssen Sie mir versprechen. Diese Brut knöpft sich jeden vor, der ihnen die Bullen auf den Pelz hetzt. Den finden Sie in der Ritze. Sie wissen, das ist die Bar ...«

»Kenn ich. Und wie heißt der Penner mit Nachnamen?«

»Das weiß ich auch nicht. Die haben im Milieu keine Nachnamen. Kann ich jetzt gehen? Ich verlier sonst eine Menge Kohle, wenn der Wagen steht.«

»Gut, Holzmann, hauen Sie ab. Wenn Ihnen noch was einfällt ... meine Nummer haben Sie ja. Und ... danke für alles!«

Kaum hatte der Taxifahrer den Raum verlassen, als sich Rita näher an den Schreibtisch ihres Chefs schob.

»Nein!«, rief Liebig sofort.

Erschrocken blickte die Praktikantin auf ihren Vorgesetzten.

»Bevor Sie fragen, Rita. Da gehe ich alleine hin. Sie suchen mir währenddessen sämtliche Daten der Angehörigen raus. Das ist noch kein Pflaster für Sie. Die sehen dort nicht gerne Frauen, die nicht aus deren Kreisen stammen. Haben wir uns verstanden?«

»Jawohl Sir. Ich habe verstanden.«

Rita erhob sich mit hochrotem Kopf und legte demonstrativ die ausgestreckte Hand zum militärischen Gruß an die Stirn. Mit erhobenem Haupt verschwand sie hinter ihrem Computerbildschirm und hämmerte auf der Tastatur herum. Nachdenklich betrachtete sie ihr Spiegelbild auf dem reflektierenden Bildschirm. Sie sah ein schmales Gesicht, das von einem frechen Kurzhaarschnitt, einem Knaben-Look umrahmt wurde. Ihr Friseur hatte sie dazu überredet, ihr tiefschwarzes Haar, dem Trend folgend, einmal kürzer schneiden zu lassen. Es würde hervorragend zu ihrer schlanken Figur passen und das hübsche Gesicht viel besser betonen. Sie musste zugeben, dass er recht behielt, nur seine billigen Komplimente hätte er sich sparen können.

5

»Oh, Gott im Himmel, das darf doch nicht wahr sein. Was ... was willst du hier? Hast du uns nicht schon genug gestraft? Geh weg, Daniela! Geh bitte wieder weg.«

Hilde Weigel nahm die Hand wieder zurück, die sie vor den Mund geschlagen hatte und rief in den Flur: »Rolf, kommst du mal?«

»Was willst du denn jetzt schon wieder? Ich kann jetzt nicht weg. Die Bekloppten haben schon wieder ein Tor kassiert. Lass keinen rein und mach die Tür wieder zu!«

Selbst an der Haustür konnte Daniela erkennen, dass ihr Vater bereits wieder den Kanal gestrichen voll hatte und bei Bier und Fußball keine Zeit für Nebensächlichkeiten aufbringen wollte. Sein Lallen ließ keinen kompletten, verständlichen Satz zu. Entschlossen schob sie ihre Mutter zur Seite, die fassungslos hinter ihrer Tochter erstarrte und rein mechanisch die Dielentür schloss. Daniela überraschte das Bild nicht, das sich ihr im Wohnzimmer bot. Vater fuhr sich mit aufgerissenen Augen durch das strähnige, ihm verbliebene Haar und schrie gegen den Bildschirm, der eine Szene aus dem Lokalderby des Schalke 04 gegen den Erzfeind aus Dortmund zeigte.

»Ihr verdammten Wichser. Wo habt ihr das Fußballspielen gelernt? Könnt ihr denn nicht ...?«

Die weiteren Worte blieben ihm förmlich im Hals stecken, als sein Blick auf die Person fiel, die wortlos in der Türfüllung wartete. Seine zweite Hand, die er bisher unter dem Stoff seines schmuddeligen Unterhemdes versteckt hielt, kam hervor, um sich aus der weichen Polsterung der Couch hochstemmen zu können. Es gelang ihm erst, als er die Füße von der Tischplatte nahm. Daniela genoss den Augenblick, als ihr Vater nach Worten suchte, mit denen er normalerweise gedankenlos herumwarf. Rolf Weigel schien beeindruckt.

»Willst du mich nicht begrüßen? Möchtest du deine Tochter nach so vielen Jahren nicht ans Herz drücken? Da muss sich doch eine Menge Sehnsucht in den sieben Jahren angestaut haben, in denen du es nicht für nötig erachtet hast, mich zu besuchen. Was ist jetzt? Ich warte.«

Noch immer wirkte Rolf Weigel fassungslos. Seine Augen irrten wie im Fieber zwischen Fernseher, Daniela und seiner Frau hin und her. Schließlich griff er zur Bierflasche, bei der er entsetzt feststellen musste, dass sie leer war. Das wiederum war für Hilde Weigel das eindeutige Signal dafür, in die Küche zu eilen. Daniela vernahm das Klappern von Flaschen, bevor ihre Mutter wieder die Kühlschranktür zuwarf und im Wohnzimmer erschien. Noch während sie den Kronkorken entfernte, verharrte ihr Blick weiter auf dem Gast, mit dem sie in keinem Augenblick gerechnet hatte. Danielas Finger suchten den Ausschaltknopf des Fernsehers, was Rolf Weigel mit Panik in den Augen verfolgte, jedoch, unfähig, ein Wort zu äußern, zuließ. Das Flimmern erlosch und eine unheilige Stille erfüllte den Raum.

»Falls es dir entfallen sein sollte, Vater, ich bin Daniela, die du vor vierunddreißig Jahren gezeugt hast. Ich wollte mich nur mal in Erinnerung bringen, da es dir ja in den vergangenen sieben Jahren nicht eingefallen ist, deine Tochter zu besuchen. Nur zur allgemeinen Beruhigung ... ich habe immer noch keine ansteckende Krankheit. Wie ich sehe, hat sich hier bei euch nichts verändert. Du scheinst wohl immer noch dem Sozialstaat auf der Tasche zu liegen und Mama kommt ihrer Aufgabe als Sklavin nach. Du kannst jetzt den Mund wieder schließen, ich bin es tatsächlich.«

Rolf Weigel nahm die Bierflasche entgegen und setzte sie an die Lippen, ohne den Blick vom Gesicht seiner Tochter zu nehmen.

»Seit wann bist du raus?«

»Hört, hört, mein Vater zeigt plötzlich Interesse an mir. Die haben mich gestern an die Luft gesetzt. Da habe ich mir gedacht, besuche doch als Erstes deine Erzeuger, da die wohl vor Wiedersehensfreude platzen werden. Eure Begeisterung versteht ihr allerdings beeindruckend zurückzuhalten. Kann ich auch ein Bier haben?«

Hilde Weigel wusste mit dieser Situation nicht umzugehen, richtete einen fragenden Blick auf ihren Herrn und Beschützer. Erst als ihr Mann ein Nicken andeutete, begab sie sich in die Küche und erschien wieder mit einer weiteren Bierflasche, die sie zögernd auf den Wohnzimmertisch stellte.

»Öffner?«

Der Blick, mit dem Hilde Weigel ihre Tochter bedachte, war hasserfüllt. Sie kramte den Flaschenöffner aus der Kitteltasche und warf ihn Daniela zu, die ihn geschickt auffing. Nur das Zischen des ausströmenden Bierschaums erfüllte den Raum. Während Daniela die Flasche an den Mund setzte, griff ihr Vater nach der Fernbedienung. Daniela stellte sich demonstrativ vor den Fernseher und blickte herausfordernd auf ihren Vater, der den Mund für einen Fluch öffnete. Daniela kam ihm zuvor.

»Was soll die Scheiße? Du siehst nach vielen Jahren deine Zweitgeborene wieder und hast nichts anderes im Kopf, als weiter Fußball zu gucken? Dich scheint es ja wahnsinnig zu interessieren, was war, oder? Ich bin wieder zu Hause, ihr Luschen ... habt ihr das schon registriert? Eure Tochter ist wieder zurück. Ihr dürft euch jetzt freuen und mir um den Hals fallen!«

Die letzten Sätze schrie sie dem Vater entgegen und verschüttete dabei einen Teil des Bieres. Endlich fiel die Starre von Rolf Weigel ab, der jetzt aufsprang und einen Schritt auf Daniela zuging.

»Bist du jetzt fertig? Was glaubst du, was du in unseren und in den Augen der Nachbarn und Freunde bist? Du bist und bleibst eine Mörderin! Unsere Tochter ist eine verdammte Mörderin! Begreife das endlich.«

»Nein!«, rief Daniela sofort. Sie verfluchte sich innerlich dafür, dass sich Wasser in ihren Augen bildete, ihr eine Träne sogar über die Wange lief. Wie in Zeitlupe ließ sie die Bierflasche sinken, sodass ein großer Teil des Inhalts auf den minderwertigen, fleckigen Teppich lief, den ihnen damals ein Trickbetrüger für viel Geld als hochwertigen Täbriz verkauft hatte. Genau in dem Augenblick, als ihre Mutter ihr die Flasche aus der Hand nehmen wollte, holte Daniela damit aus und verfehlte den Kopf ihres Vaters nur um wenige Zentimeter. Fassungslos folgten seine Augen der kostbaren Flüssigkeit, die jetzt langsam die Blumentapete aufweichte. Mit vorgebeugten Oberkörpern standen sich Vater und Tochter kampfbereit gegenüber, als sie die Türklingel wieder zurück in die reale Welt holte. Hilde Weigel, die jetzt die Hand herunternahm, die sie entsetzt vor den Mund hielt, eilte zur Tür.

Wortlos standen sich die Kampfhähne gegenüber, warteten darauf, dass der andere eine Bewegung andeutete. Erst die Geräusche in Danielas Rücken ließen sie einen Blick zur Tür richten. Irgendwie kam ihr der männliche Gast bekannt vor. Auch der schien darüber nachzudenken, woher er dieses Gesicht kannte.

»Mein Name ist Peter Liebig, Hauptkommissar beim hiesigen Morddezernat. Ich hoffe, ich störe nicht. Doch leider muss ich mit Ihnen sprechen. Darf ich mich setzen?«

Rolf Weigel entspannte sich und stopfte sein Unterhemd wieder in die schlabbrige Hose, zog die Hosenträger über die Schultern. Sein ausgestreckter Arm wies auf einen Sessel, von dem Hilde noch schnell die Sofakissen entfernte, hinter denen zwei leere Bierflaschen zum Vorschein kamen.

»Sie werden sich sicher fragen, was ein Mann der Kripo ausgerechnet von Ihnen will. Deshalb möchte ich Sie auch nicht lange auf die Folter spannen. Ich nehme an, dass ich es mit den Eltern von Lea Howald zu tun habe. Allerdings kann ich Sie, junge Frau, nicht zuordnen. Gehören Sie auch zur Familie ... oder sind Sie eine Nachbarin?«

Einen Augenblick blickte Liebig irritiert von einem zum anderen, bevor sich endlich Rolf Weigel bequemte, Klarheit zu schaffen.

»Das ist die Schwester von Lea.«

»Ich bin sozusagen die andere Tochter dieser Herrschaften, was sie damit ausdrücken, aber nicht aussprechen wollen. Was führt Sie in dieses Haus? Sie erwähnten Lea. Hat Ihr Besuch etwas mit ihr zu tun?«

Liebig besaß schon lange ein feines Gespür für Spannungen, die in diesem Haus fast greifbar waren. Mittlerweile saß auch die Mutter neben ihrem Mann und blickte gebannt auf Liebig, der jetzt mit der Wahrheit herausrücken musste. Er hatte gelernt, dass es angeraten war, mit schlechten Nachrichten nicht lange hinter dem Berg zu halten.

»Sie haben recht mit Ihrer Frage nach Lea. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass es zu einem Zwischenfall kam, bei dem Ihre Schwester, ich meine natürlich auch Ihre Tochter ... ja, dass sie den Tod fand. Derzeit ermitteln wir noch, ob es sich um einen Unfall handelt, oder um ein Tötungsdelikt. Aus dem Grund haben wir diesen Fall vorerst übernommen. Damit wir ihn schnell abschließen können, müssen wir diverse Ermittlungen in alle Richtungen anstellen.«

Das Entsetzen stand Hilde Weigel ins Gesicht geschrieben, bei ihrem Mann war lediglich die Unterlippe heruntergeklappt. Liebig versuchte, sich einen Reim darauf zu machen, warum die Schwester ohne jede Reaktion blieb. Sie hing lediglich an seinen Lippen und schien auf weitere Erklärungen zu warten. Ihre Frage folgte postwendend:

»Sie sprechen von einem Zwischenfall. Was dürfen wir uns darunter vorstellen? Schließlich stirbt man mal nicht so einfach mit achtunddreißig. War es ein Unfall?«

»Ich sagte bereits, dass wir diesbezüglich noch ermitteln. Sie fiel in der letzten Nacht aus dem Fenster ihrer Wohnung und verletzte sich dabei tödlich. Es gibt allerdings auch gewisse Anzeichen dafür, dass man ihr kurz vor ihrem Tod Gewalt antat. Wir müssen nun herausfinden, ob dies ursächlich dafür verantwortlich war, oder ob der Fenstersturz auf einen banalen Unfall zurückzuführen ist.«

Jetzt meldete sich Hilde Weigel zum ersten Mal zu Wort.

»Sie glauben, jemand könnte sie ...?«

»Halt deine Klappe, Hilde. Wer sollte Lea was antun wollen? Die hatte keine Feinde. Sie war ein liebes Mädchen.«

Hilde Weigel zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen und verkroch sich wieder hinter den Händen, die sie schützend vor das Gesicht legte. Daniela übernahm.

»Was bringt Sie auf den Gedanken, dass jemand Lea umbringen wollte? Hat sie Verletzungen erlitten, die nicht vom Sturz stammen?«

Peter Liebig überging diese Frage geschickt und stellte seine eigene.

»Kennt jemand von Ihnen einen gewissen Karim?«

Daniela suchte in den Gesichtern der Eltern eine Reaktion, fand sie aber nicht. Beide schüttelten den Kopf.

»Und Sie? Hat Ihre Schwester nicht mit Ihnen über mögliche Bekanntschaften gesprochen? Das tut man doch so unter Geschwistern, oder täusche ich mich da?«

Bevor es Daniela verhindern konnte, mischte sich Rolf Weigel ein. Ihr blieb fast das Herz stehen, als sie die hasserfüllten Worte ihres Vaters vernahm.

»Die beiden Schwestern konnten nicht über private Dinge sprechen. Die da«, er zeigte mit dem ausgestreckten Arm und fiebrigen Augen auf Daniela, »saß etliche Jahre im Knast. Ich habe nur eine Tochter ... und die ist jetzt tot. Man hat mir das einzige Kind genommen. Der Mörder soll in der tiefsten Hölle schmoren!«

6

Peter Liebig konnte sich der Spannung, die sich plötzlich im Raum verstärkte, nicht entziehen. Gebannt betrachtete er die Schwester der Verstorbenen, rechnete jederzeit mit einem Ausbruch der Gefühle. Das äußerte sich jedoch anders, als er es sich vorstellte. Daniela Weigel, wie sich später herausstellte, war quasi zur Salzsäule erstarrt, bevor sich ein Zittern bemerkbar machte, das sich zusehends verstärkte. Sie wischte sich mit dem Ärmel den Schweißfilm ab, der sich auf ihrer Stirn bildete. Liebig sprang auf, da er befürchtete, dass die Frau umfallen könnte. Kaum spürte Daniela die Berührung des Beamten, stieß sie ihn weg.

»Lass mich in Ruhe! Hast du gehört, was dieses Schwein gerade ausspuckte? Der verleugnet sein eigenes Blut, nur weil ich im Gefängnis saß. Dabei gehört dieses Tier selbst hinter Gitter. Wenn ich ausplaudern würde, was der mit seinen Töchtern früher angestellt hat, was er von ihnen verlangte, säß er selbst hinter diesen verflixten Mauern. Oh, Gott, wie hasse ich ihn dafür. Das will ein Vater sein? Eine versoffene Bestie ist das, die ihren Schwanz in jedes Loch steckt, das sie finden kann. Ich muss hier raus.«

In diesem Augenblick schien Daniela jede Kontrolle über Orientierung und Motorik verloren zu haben. Sie blickte wild um sich, suchte die Tür, um sich auf unsicheren Beinen zur Haustür zu bewegen. Langsam folgte ihr Liebig, da er einen Kollaps befürchtete. Daniela Weigel zeigte klare Symptome für einen Entzug. Im Augenblick durfte er sie auf keinen Fall aus den Augen lassen, da eine Selbstgefährdung nicht auszuschließen war. Er griff zum Telefon.

 

»Ich will hier raus! Ich bin nicht krank. Wieso liege ich in einem Krankenhaus?«

Peter Liebig, der neben Danielas Bett saß, strich ihr beruhigend über den Arm, woraufhin sie den abrupt zurückzog.

»Lassen Sie sich helfen, Daniela. Sie behaupten zwar, dass Sie völlig gesund sind, doch das ist nicht die Wahrheit. Und das wissen Sie ganz genau. Wann haben Sie dieses Zeug zum letzten Mal zu sich genommen?«

»Wovon sprechen Sie überhaupt?«

»Ich spreche von Chrystal Meth. Kommen Sie, das konnten wir sehr schnell über das Blut nachweisen. Sie müssen das Zeug also innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden eingeworfen haben. Außerdem haben Sie fast einundvierzig Grad Körpertemperatur und starken Blutdruckabfall. Was soll das Leugnen? Haben Sie noch mehr davon bei sich?«

»Ach, gehen Sie zum Teufel. Mir geht es wieder gut. Ich will hier raus. Wo sind meine Klamotten?«

Beide bemerkten nicht, dass zwischenzeitlich Dr. Rühe den Raum betreten hatte und sich in das Gespräch einmischte.

»Das kann ich nicht zulassen, Frau Weigel. Das Risiko eines Rückfalls wäre derzeit viel zu hoch. Wir nehmen an, dass Sie beim letzten Konsum dieser Teufelsdroge etwas zu viel nahmen. Neben den bekannten Begleiterscheinungen, wie Herzrasen, Muskelkrämpfe und etwa Halluzinationen, traten diesmal sogar eine Überhitzung, Lähmungserscheinungen und eine Intoxikationspsychose, bekannt als Realitätsverlust, auf. Ein Suizid ist in diesem Zustand nicht zweifelsfrei auszuschließen. Folglich müssen wir Sie noch ein paar Tage beobachten und den Körper wieder auf Normal einstellen. Derzeit befinden sich Unmengen an Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin in Ihren Adern, was Sie unter Dauerstress setzt. Schließlich täuscht Ihnen dieser Zustand permanent eine Gefahrensituation vor, die eigentlich gar nicht existiert.«

Daniela richtete sich mit ihrem Oberkörper auf, indem sie sich auf die Ellbogen stützte.

»Das ist doch idiotisch. Ich werde mich irgendwo angesteckt haben und eine Grippe mit mir rumschleppen. Ich hau jetzt ab.«

»Das werden Sie nicht tun, Frau Weigel!«

Jetzt schaltete sich Liebig ein, als er bemerkte, dass die Patientin aufstehen wollte. Mit sanfter Gewalt drückte er sie zurück.

»Das hier ist kein Spaß. Die Ärzte haben nachgewiesen, dass Sie eine verbotene Droge zu sich genommen haben. Sollten wir also bei Ihnen eine Menge von über fünf Gramm finden, wandern Sie für mindestens ein Jahr in den Knast. Ich frage Sie deshalb, ob Sie im Besitz von weiterem Meth sind. Wir finden es sowieso.«

Daniela wurde sichtlich vorsichtiger, legte sich wieder auf das Kissen. Sie wartete ab, bis sich der Arzt verabschiedete, verfolgte beim Blick aus dem Fenster die beiden Krähen, die sich um Futter stritten. Schließlich sah sie dem Hauptkommissar ins Gesicht, der sich geduldig abwartend in seinem Stuhl zurückgelehnt hatte.

»Ich habe bisher nur Speed genommen. Das müssen Sie mir glauben. Mein Lieferant hatte mir zur Entlassung zwei Gramm Meth verkauft. Das konnte ich bezahlen, da ich den Restlohn ausbezahlt bekam. Ich kannte die Nebenwirkungen bisher noch nicht. Nun gut, man hörte davon. Aber man glaubt es erst, wenn es ausprobiert wird. Sie werden außer einem Gramm davon nichts mehr finden. Das war wirklich nicht besonders prickelnd. Diese verdammten Kopf- und Gliederschmerzen. Ich bin schon froh, dass ich das Zeug nicht gesnieft habe, sondern nur als Bömbchen schluckte. Das passiert mir nicht noch einmal. Dafür könnt ihr mir doch nichts ans Zeug flicken, oder?«

»Nein, dafür nicht. Aber wie stellen Sie sich das in Zukunft vor? Wollen Sie diese verfluchten Drogen weiternehmen und riskieren, dass Sie bleibende Organschäden bekommen? Haben Sie schon Bilder von Menschen gesehen, die da nicht mehr von runterkamen? Hören Sie, die sehen mit dreißig aus wie ihre eigenen Großeltern. Und die Lebenserwartung ist relativ niedrig. Gehen Sie um Gottes willen zu einer Beratungsstelle und lassen sich helfen. Sie haben doch noch so viel Leben vor sich.«

Wieder richtete Daniela ihren Blick aus dem Fenster. Ihre Worte machten Peter Liebig nachdenklich, da Daniela mit ihrer Skepsis nicht weit weg war von der Realität.

»Herr Liebig ... so ist doch Ihr Name, oder? Sie wissen gar nichts. Von euch hat noch keiner in dieser Gefängnishölle gesessen und auf den Tag warten müssen, an dem sich die Zellentür für den Abgang wieder öffnet. Ihr erfüllt eure Aufgabe, uns hinter Gitter zu bringen. Das war´s. Danach macht sich doch keiner von euch einen Kopf darum, was mit uns passiert. Die Brut darin sitzt ihre gerechte Strafe ab, am besten lässt man die nie wieder raus. Ist es nicht so?«

Liebig hielt sich mit einer Antwort zurück, wusste aber aus vielen Diskussionen, dass Daniela nicht weit weg war von den Einstellungen mancher Kollegen. Viele vertraten die Ansicht, dass man die überführte Bande wegsperren und den Schlüssel wegwerfen sollte.

»Glaubt ihr Idioten denn wirklich, dass wir in den vielen Jahren unter Psychopaten resozialisiert werden? Ich habe in den sieben Jahren acht verschiedene Zellengenossinnen gehabt. Darunter waren Tiere, bei denen ich keine Nacht ruhig durchgeschlafen habe. Du musstest aufpassen, dass du nicht die falsche Zahncreme benutzt hast, weil die dich dann abgestochen hätten. Ich musste lernen, so zu denken, so zu werden wie die. Nur die Starken überstehen diese Hölle ohne Schaden. Obwohl ... das ist eigentlich gelogen. Keine von uns ist ohne Schaden da rausgekommen. Wenn du nur ein paar Monate kriegst, kannst du von Glück sagen, wenn man dich mit einem leichten Fall zusammenlegt. Ich habe dort Wahnsinnige erlebt. Und glaube mal bloß nicht, dass der Frauenknast weniger brutal ist als der Männerbereich. Genau das Gegenteil ist der Fall. Frauen sind in Gefangenschaft wie wilde Tiere.«

Hier machte Daniela eine Pause und Peter Liebig meinte, ein kurzes Schluchzen vernommen zu haben. Er kannte diese Geschichten, die man sich erzählte, zur Genüge und hatte sich schon oft mit Kollegen angelegt, die ihre Witze darüber machten. Vor allem fanden sie den Umstand belustigend, dass es dort zu sexuellen Übergriffen kam. Zotige Witze über die Lesbenweiber waren an der Tagesordnung.

»Ich glaube Ihnen, Daniela. Ich habe oft davon gehört. Aber jetzt mal etwas anderes. Könnte es sein, dass wir uns von früher kennen? Kann es sein, dass ich damals sogar Ihren Fall bearbeitet habe? Da ging es doch um Totschlag, wenn ich mich nicht irre. Sie sollen Ihren Schwager erschlagen haben.«

»Ja, Liebig, da haben Sie recht. Sie haben mich damals in den Knast gebracht. Aber glauben Sie jetzt nicht, dass ich Ihnen das nachtrage. Ich habe diesem Mistkerl tatsächlich den Schädel eingeschlagen. Es tut mir nur leid um die schöne Vase, die kaputtging. Diese Sau hat es verdient. Und wissen Sie was? Das würde ich immer wieder in dieser Situation tun. Für meine Familie bin ich aber eine dreckige Mörderin, wie Sie ja eindrucksvoll mitbekamen. Ich wurde ausgestoßen aus der Gemeinschaft, jede Hilfe wird mir verwehrt. Scheiße, Scheiße.«

Mit den letzten Worten flossen die Tränen über ihre Wangen, die sie mit einer wilden Bewegung fortwischte, als wären sie eine Schande. Liebig musste zugeben, dass ihm im Augenblick die passenden Worte fehlten. Sein Schweigen beruhigte Daniela für den Moment sogar. Schließlich nahm er die Unterhaltung wieder auf.

»Wenn ich mich recht erinnere, hat Ihr Schwager ... wie hieß dieser Wahnsinnige noch mal?«

»Manfred Howald!«

»Richtig, dieser Manfred ... der hat Ihre Schwester doch mehrfach ohnmächtig geprügelt und auf den Strich geschickt. Liege ich da richtig?«

»Genau so war das. Und dem hat es eine sadistische Freude bereitet, wenn Lea sich vor Schmerzen auf dem Boden wand und um Gnade winselte.«

»Warum hat sie ihn nie angezeigt? Wir hätten den wegsperren können.«

Fast mitleidig betrachtete Daniela den großen Mann, der vor ihr saß, doch immer mehr Sympathien einheimste.

»Machen Sie das doch mal. Zeigen Sie solche Bestien an. In den seltensten Fällen werden die dafür belangt. Warum nicht, werden Sie sich fragen. Weil es schwer zu beweisen ist, dass man von ihnen geschlagen wurde. Und selbst wenn die ein paar Tage weggesperrt werden ... die kommen wieder. Und dann wird es für die Frauen noch viel schlimmer. Aber eines der größten Probleme ist, dass sich die Frauen entweder schämen oder diesen Tieren verfallen sind. Ja, die bescheuerten Weiber kommen von diesen gewalttätigen Bestien einfach nicht mehr los. Das hat mich fertiggemacht, glauben Sie mir. An dem Tag, als er Lea fast zum Krüppel schlug, hat es bei mir klick gemacht und ich habe den Teufel zurück in die Hölle geschickt. Und es tut mir nur um die sieben Jahre leid, die ich im Knast verbringen musste, anstatt dafür das Verdienstkreuz zu erhalten. Jetzt kriege ich sogar noch die Verachtung der Familie und der Öffentlichkeit obendrauf. Absolut geil, kann ich Ihnen sagen.«

Liebig spürte diese tiefe Resignation und innere Aufgabe bei Daniela. Er konnte sich der Argumentation der Frau nicht vollständig entziehen, obwohl auch er zu denen gehörte, die eine grundsätzliche Sühne für Gewalttaten einforderten. Danielas Frage machte ihn hellwach.

»Könnte es sein, dass Sie es sind, dessen Ehefrau damals den Tod bei einem Raubüberfall fand? Im Knast erzählt man sich davon. Ich meine, in diesem Zusammenhang den Namen Liebig gehört zu haben.«

Daniela wollte sich schon für ihre Neugierde entschuldigen, als ihr Besucher leise sprach.

»Ja, Sie haben recht. Ich weiß nicht, ob sogar darin der Grund liegt, warum ich beim Morddezernat geblieben bin. Sie sollen alle büßen, die ohne Not töten. Verstehen Sie mich richtig, Frau Weigel. Dieses Tier, das meine Frau vor zehn Jahren bestialisch umbrachte, hat es nicht im Affekt getan. Er muss Freude dabei empfunden haben. Und ich werde es mir niemals verzeihen können, dass ich nicht bei ihr war, sie nicht davor beschützt habe. Ich musste ja unbedingt an diesem Abend mein Glück im Spielcasino suchen, während meine Frau noch post mortem geschändet wurde. Bitte entschuldigen Sie meinen Gefühlsausbruch, aber es muss immer mal wieder heraus.«

Daniela hatte aufmerksam zugehört, die tief sitzende Wut im Körper dieses Mannes gespürt. Immer noch hing ihr Blick auf den verkrampften Fäusten des Hauptkommissars, als sie antwortete:

»Sie müssen sich für nichts entschuldigen. Ich kann Sie gut verstehen. Auch ich empfand so oft kalte Wut, wenn ich mir anhören musste, wie großkotzig und selbstherrlich Mitgefangene ihre Taten als gerechte Strafe verkaufen wollten. Viele prahlen damit, Menschen getötet zu haben und belügen sich dabei nur selber. Ich wünsche Ihnen, dass man dieses Schwein, das Ihnen die Frau nahm, irgendwann fasst.«

Als würde er aus einem Traum erwachen, wechselte Liebig ohne Übergang das Thema und fragte Daniela:

»Ich meine, Ihnen schon die Frage nach einem Karim gestellt zu haben. Wenn Sie jedoch erst gestern entlassen wurden, dürfte sich das eigentlich erübrigen. Versprechen Sie mir, dass Sie hier nicht sofort ausbüchsen und die Behandlung abwarten? Und wenn Sie Hilfe bei der Entwöhnung benötigen ... ich lasse Ihnen meine Karte hier. Gerne helfe ich Ihnen, indem ich Ihnen Fachleute empfehle.«

Daniela gönnte dem Polizisten einen Blick, der keine klare Antwort enthielt, jedoch Zuversicht vermittelte.

7

Lange bevor Liebig die Bar betrat, verharrte er auf der anderen Straßenseite und beobachtete den Eingang. Hier traf sich der Abschaum der Gesellschaft, um sich über die Möglichkeiten auszutauschen, wie man den notgeilen Spießbürgern das Geld aus der Tasche ziehen konnte. In den Hinterzimmern dieser Etablissements wurden Pläne geschmiedet, Menschen wie Ware verkauft und gehehlt. Die Ritze befand sich in dem Rotlichtviertel, das ein braver Bürger, wenn immer es möglich war, mied. Entschlossen wechselte Liebig auf die andere Seite und öffnete die Tür, schob die schweren Vorhänge zur Seite. Ihm schlug ein typisches Gemisch aus billigem Parfüm, Tabak und Alkohol entgegen. Niemand hielt sich hier an das Rauchverbot. Hintergrundmusik verbreitete eine düstere Stimmung.

An der Theke lümmelten nur drei Männer und zwei Frauen herum, die sich in dem Augenblick, als Liebig durch die Tür trat, über einen Schmuddelwitz amüsierten. Ein Gast, der komplett in schwarzes Leder gekleidet war, betrachtete genüsslich sein vermeintlich attraktives Äußeres in dem breiten Spiegel, der sich über die gesamte Länge der Rückwand vor den Flaschenregalen erstreckte. Mit den Handflächen drückte er sich das gegelte Haar in Form. Keiner von ihnen nahm Notiz von dem großen Mann, der sich am Ende des Tresens auf den Hocker schwang und hoffnungsvoll darauf wartete, dass ihn jemand nach seinen Wünschen fragte. Schließlich bequemte sich eine wohlproportionierte Schwarzhaarige, deren Locken weit über die fleischigen Schultern fielen, sich auf den Weg zu machen. Sie stützte ihre Ellbogen auf der Thekenfläche ab, sodass Liebig einen prüfenden Blick in das Dekolleté werfen konnte, das mehr freiließ, als es verdeckte.

»Und?«

»Tja, ich entnehme Ihrer ausschweifenden Fragerei, dass Sie sicherlich von mir wissen möchten, was ich trinke. Okay, ich nehme ein alkoholfreies Pils.«

»Haben wir hier nicht, Bulle. Bei uns werden nur härtere Sachen ausgeschenkt. Also, was soll ich bringen?«

Liebigs Gesicht überzog nun ein breites Grinsen, als er die Hand der schnodderigen Bedienung fest umfasste. Er zog die Dame näher heran und senkte die Stimme so weit, dass nur noch sie das verstehen konnte, was er ihr ins Ohr zischte.

»Hör mir bitte zu, Lady. Ich möchte in weniger als einer Minute eine Flasche mit alkoholfreiem Pils vor mir stehen haben. Sollte dir das nicht gelingen, wird sich dein Chef sehr darüber freuen, dass innerhalb kürzester Zeit etliche Leute vom Gesundheitsamt hier auftauchen und jeden Winkel dieses Etablissements unter die Lupe nehmen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie was finden werden, um den Laden für längere Zeit schließen zu lassen. Und jetzt darfst du zwei Dinge für mich tun. Ich möchte das bestellte Bier und außerdem will ich wissen, wo ich Karim finde. Haben wir uns verstanden?«

Aus den Augenwinkeln bemerkte Liebig, dass sich zwei Männer vom Tresen lösten und einige Schritte auf ihn zumachten.

»Alles klar, Reni? Macht der Kerl Probleme?«

»Nein, nein. Es ist alles gut. Wir haben uns nur unterhalten. Ihr müsst ja nicht alles mitkriegen.«

Reni schaffte es tatsächlich in fünfzig Sekunden, das Bier zu besorgen. Als sie es vor dem Hauptkommissar abstellte und sich wieder verziehen wollte, hielt sie ein Ausruf zurück.

»Was ist mit Karim? Du wirst dich doch wohl an meine Frage erinnern, oder?«

»Ich kenne keinen Mann, der sich Karim nennt.«

Die Gespräche an der Theke verstummten augenblicklich. Eine bedrohliche Stille erfüllte den großen Raum. Nur die leisen Stimmen von Jane Birkin und Serge Gainsbourg, die je t´aime durch die Lautsprecher hauchten, verklangen im Hintergrund. Innerhalb kürzester Zeit hatten sich die beiden Männer von vorher vor Peter Liebig aufgebaut, sahen ihn feindselig an.

»Was willst du von Karim? Bist du ein Bulle oder ein Freund von ihm? Wir mögen es überhaupt nicht, wenn hier herumgeschnüffelt wird.«

»Jetzt bleibt mal locker, Jungs. Ich will eurem Karim nicht an die Wäsche. Ich habe nur ein paar Fragen an ihn. Keine Panik.«

Während Liebig das sagte, lag wie durch Zauberhand plötzlich sein Dienstausweis in seiner Hand, den er den beiden Typen nah vor die Augen hielt. Augenblicklich war deren Unsicherheit spürbar, zumal sich Liebig zur vollen Größe aufgerichtet hatte. Die Männer wechselten einen Blick und wollten sich wortlos entfernen. Liebigs Worte holten sie ein.

»Ihr kennt also Karim. Warum soll ich nicht wissen, wo ich ihn finden kann? Natürlich könnte ich ein Fahndungsfoto rausgeben und ihn offiziell suchen lassen. Aber das wird bestimmt nicht nötig sein, wenn ihr mir vorher sagt, wo ich ihn finde. Ich will ihn wirklich nur was fragen, nichts, worüber er sich Sorgen machen muss. Es geht lediglich um Lea.«

»Was ist mit Lea? Was hat die mit den Bullen zu tun?«

Liebigs Grinsen verstärkte sich.

»Ach nee, Lea kennt ihr also. Kommt, raus damit ... wo ist Karim?«

»Was willst du Penner von mir?«

Peter Liebig hatte nicht bemerkt, dass sich hinter ihm die Tür öffnete und ein Berg von Mann die Ritze betrat. Liebig musste sich beherrschen, nicht herumzufahren, sondern ruhig nach seiner Bierflasche zu greifen. Er nahm sogar noch einen Schluck, bevor er in das brutale Gesicht des Zuhälters blickte, das sich nun nur wenige Zentimeter neben seinem befand.

»Der Bulle hat nach dir ...«

Karim winkte nur schwach, was einen der Männer von der Theke sofort verstummen ließ.

»Dein Freund hat recht. Ich suche nach einem Karim. Mir scheint, ich habe ihn gefunden. Können wir uns ungestört am Tisch unterhalten, oder müssen wir das im Präsidium tun?«

Wieder war es nur eine knappe Kopfbewegung des muskelbepackten Mannes, die für Liebig ein Ja bedeutete. Bewaffnet mit seiner Bierflasche folgte er Karim zu einem Tisch in der Ecke. Ohne dass er bestellt hatte, stellte ihm Reni eine Cola hin und verschwand schnell wieder. Liebig hatte die Gelegenheit genutzt, den Mann einzuschätzen. Neben sich sah er einen kurzhaarigen, stiernackigen Mann, wahrscheinlich türkischer oder armenischer Abstammung, dessen zu Schlitzen fast geschlossene Augen jede Bewegung in seinem Umfeld aufnahmen. Peter Liebig kannte diesen Typ Mann zur Genüge, und wusste, dass ein falsches Wort eine Katastrophe auslösen konnte. Vorsichtig tastete er sich vor.

»Wir beide kennen uns noch nicht. Ich bin beim Morddezernat. Ich ermittele derzeit in einem Fall, der auch dich betreffen kann. Es geht um Lea Howald.«

Kaum hatte er den Namen der Frau genannt, erreichte er die ungeteilte Aufmerksamkeit seines Tischnachbarn. Alle an der Theke beobachteten ihren Tisch unentwegt und tuschelten miteinander.

»Was hat das Morddezernat mit Lea zu tun? Die ist gestern nicht zur Arbeit gekommen. Zu Hause geht keiner ans Telefon. Eigentlich wollte ich gleich noch nach ihr sehen. Raus damit. Ist ihr was passiert? Hat die etwa ein Freier ...?«

»Nun mal langsam, Karim. Wann hast du Lea zum letzten Mal gesehen? Und wo warst du in der Nacht von Freitag auf Samstag?«

Karim rückte etwas von Liebig ab und schien zu überlegen.

»Wenn ihr Bullen so fragt, hat jemand Lea abgemurkst. Und jetzt vermutet ihr sofort, dass einer von uns ... ihr habt sie doch nicht alle. Warum sollte ich die Frau kaltmachen, wenn die mir reichlich Mäuse einbringt? Ihr wisst genau, dass sie bei mir Miete bezahlt. Dann lege ich die Mieze doch nicht um, verdammte Kacke.«

»Ob die bei dir Miete bezahlt, oder sonst wie Kohle abdrückt, ist mir im Augenblick schnuppe. Ich bin nicht von der Sitte. Wo warst du letzte Nacht, als man sie womöglich tötete?«

Die Riesenfaust des Zuhälters donnerte auf die Tischplatte, sodass die Flaschen hochsprangen. Mit wilden Augen starrte Karim auf Liebig.

»Was soll die Scheiße jetzt eigentlich? Wieso sagst du womöglich? Ist die Tussi jetzt kalt oder nicht? Ihr kümmert euch doch von der Mordabteilung nicht um das Weib, wenn die nicht bereits tot ist. Was genau ist passiert? Erst dann verrate ich, wo ich in der Nacht war. Klaro?«

Liebig wusste, dass er so nicht weiterkam. Er musste die Katze aus dem Sack lassen.

»Nun gut. Lea wurde gefunden, als sie auf der Straße vor ihrer Wohnung lag. Zu diesem Zeitpunkt atmete sie noch. Sie starb erst in die Klinik. Sie könnte aus dem Fenster gestürzt sein. Ich sage bewusst, könnte. Gewisse Spuren deuten daraufhin, dass es vorher zu einem Kampf kam. Verstehst du jetzt, warum ich hier bin?«

»Klar verstehe ich das. Bin ja nicht bekloppt. Hat die denn nichts mehr sagen können? Irgendwas? Diese Sau, die ihr das angetan hat, will ich in die Finger kriegen. Dem reiß ich die Eier ab und steck sie ihm ins Maul. Und was mich betrifft, Bulle ... ich war in der Nacht mit einer Menge Freunde in der Spielbank in Hohensyburg. Die ganze Nacht. Willst du Adressen und Telefonnummern?«

»Nein, im Augenblick nicht. Du bist dort ja als Gast eingetragen. Wir brauchen dort nur anrufen. Gibt es irgendeinen Freier in der letzten Zeit, über den Lea gesprochen hat? Ich meine, der sie bedrängt hat?«

Karim wirkte wieder entspannt, als er antwortete.

»Nicht dass ich wüsste. Würde ich so einen Penner kennen, könnte der meine Mädchen bestimmt nicht mehr anfassen. Dem hätte ich die Wichsgriffel abgeschnitten. War`s das für den Augenblick? Ich muss was mit meinen Freunden besprechen.«

Liebig blickte mit Sorge auf die Männergruppe, die sich nun flüsternd an der Theke versammelte. Ein Gefühl sagte ihm, dass sich hier Schlimmes anbahnte.

8

»Das würde ja bedeuten, dass es vor dem Fenstersturz zu einem Kampf zwischen zwei Frauen kam. Sind Sie sich da ganz sicher, dass es Nagellack ist, den Sie in den Halswunden fanden?«

Die Hand, mit der Schiller sich durch den Rauschebart fuhr, blieb augenblicklich in dieser Position hängen. Fast beleidigt richtete sich dessen Blick auf den Hauptkommissar, der die Frage in den Raum stellte, während er den Bericht des Gerichtsmediziners las.

»Sollten Sie Zweifel an meiner Beurteilung haben, steht es Ihnen selbstverständlich frei, zukünftig Ihre Leichen von einer anderen Stelle begutachten zu lassen. Ich bin mit meinen normalen Arbeiten in der Klinik mehr als ausgelastet und benötige die Aufträge der Staatsanwaltschaft nicht zwingend.«

Liebig wusste im gleichen Augenblick, dass er einen großen Fehler begangen hatte, als er die Expertise des Mediziners anzweifelte. Er spürte sogar die missbilligenden Blicke seiner Praktikantin auf sich ruhen und beeilte sich, die überflüssige Frage zu relativieren.

»Mensch, Schiller. So war das doch nicht gemeint. Sie sind ja plötzlich empfindlicher als ein Rennpferd. Ich habe doch nur laut gedacht. Für mich stellt sich dadurch nur eine völlig neue Situation dar. Bisher ging ich von diesem Karim aus, der seiner Stute vielleicht einen Denkzettel verpassen wollte. Oder es hätte ein Freier gewesen sein können, der von Lea Howald besondere Dienste erwartete.«

»Stute sagten Sie? Wieso nennen Sie diese Frau so abfällig? Ich finde es schon sehr diskriminierend, wenn man eine Frau derartig bezeichnet, besonders, wenn sie bereits tot ist.«

»Jetzt fangen Sie auch noch an, mich zu kritisieren, Rita. Das Wort habe ich nicht erfunden. Das ist eben die Sprache im Milieu. Deshalb müssen Sie mich nicht gleich anblaffen.«

Rita Momsen hakte sich bei Schiller ein, der das sichtlich genoss und triumphierend zu Liebig hinüberblickte. Rita ließ nicht locker.

»Das ist noch lange kein Grund, sich dieser Ganovensprache zu bedienen. Die Frau hat zwar angeschafft, besitzt aber weiterhin das Recht auf Würde. Keiner von uns weiß, wieso sie ihren Körper diesen notgeilen Kerlen zur Verfügung stellte. Vielleicht wurde sie einfach nur gezwungen, oder gefügig gemacht. Ihnen muss ich das doch wohl nicht erklären, oder?«

»Ist es jetzt langsam gut? Da bildet sich wohl ein Komplott, um mir den Tag zu versauen. Das wird euch aber nicht gelingen. Ich lass mich von euch nicht fertigmachen. Zurück zum Bericht, Schiller. Haben Sie schon die DNA bestimmen können? Ich lass die Ergebnisse dann durch die Datenbank laufen.«

Irritiert beobachtete Liebig, wie sich die beiden Widersacher kurz ansahen und sich ein Grinsen auf ihren Gesichtern ausbreitete. Rita löste sich aus Schillers Armbeuge und betrachtete den Bildschirm ihres Rechners.

»Der Abgleich läuft noch, Chef. Aber Moment ... gerade kommt ein Treffer rein. Ach du Scheiße, das gibt es doch nicht.«

Beide Männer trafen fast gleichzeitig am Schreibtisch der jungen Frau ein und betrachteten das Ergebnis der Suche. Für einen Moment trat absolute Stille ein, bevor sich Liebig zum Kleiderständer bewegte und seine Jacke vom Haken fischte.

»Kommen Sie, Rita. Wir müssen uns beeilen!«

 

Ungeduldig warteten beide, bis sich die Öffnung der gläsernen Drehtür zeigte und sie endlich zum Aufzug sprinten konnten. Momsen und Liebig drängten zwei Besucher an der Aufzugtür zur Seite, ignorierten deren Proteste und eilten den Gang entlang zu Zimmer vierhundertachtzehn. Liebigs Stöhnen war nicht zu überhören, als er auf das leere Bett starrte. Die hinter ihnen vorbeieilende Krankenschwester schüttelte nur missbilligend den Kopf, als sie den Fluch des Hauptkommissars vernahm.

»Verdammte Scheiße. Warum habe ich daran aber auch nicht gedacht? Ich hätte einen Wachposten vor die Tür setzen müssen. Jetzt kann ich nur noch die Fahndung rausgeben.«

Er riss sein Smartphone aus der Seitentasche und entdeckte im gleichen Augenblick die davoneilende Schwester.

»Hallo, Schwester. Warten Sie bitte einen Augenblick. Ich möchte Sie etwas fragen.«

Schwester Maria schielte auf den Kripoausweis, bevor sie zum aufgeregt wirkenden Liebig hochsah.

»Wissen Sie zufällig, ob die Patientin aus diesem Zimmer bereits entlassen wurde?«

»Wie kommen Sie darauf, dass sie entlassen wurde? Da liegt doch noch die Kopfhörergarnitur auf dem Tisch. Die hätte sie doch bestimmt am Empfang abgegeben, sonst bekommt sie doch die Gutschrift nicht ausgezahlt. Die wird wohl nur eine Zigarette rauchen, unten in der Raucherecke.«

Rita hatte sich währenddessen ins Zimmer begeben und den Schrank geöffnet. Ihr Kopfschütteln signalisierte Liebig, dass dieser leer war. Er drückte an seinem Telefon die Kurzwahltaste und wartete darauf, dass sich Spiekermann meldete.

»Spiekermann, hören Sie. Geben Sie sofort die Fahndung nach Daniela Weigel raus. Die Beschreibung finden Sie auf meinem Schreibtisch. Es besteht der begründete Verdacht, dass sie ihre Schwester getötet hat, oder zumindest an der Tötung beteiligt war. Wir sind in weniger als einer halben Stunde wieder im Büro.«

 

Liebig wirkte abwesend, als er auf dem Parkplatz des Krankenhauses hinter dem Steuer des Wagens saß und wortlos durch die Frontscheibe starrte. Rita beobachtete ihren Chef von der Seite. Sie ließ ihm Zeit, bevor sie ihre Frage einfach nicht mehr zurückhalten konnte.

»Sie sind sich nicht wirklich sicher, ob die Frau wirklich ihre Schwester getötet hat? Liege ich da richtig? Ich meine, Sie haben sie ja bereits kennengelernt.«

Erstaunt betrachtete Liebig die junge Frau, die wieder einmal in seinen Gedanken las. Tatsächlich kreisten seine Gedanken um ein Motiv, das diese Frau hätte haben können. Sie musste doch damit rechnen, dass gerade sie als Täterin sehr schnell in den Fokus der Ermittler geraten würde.

»Wir müssen zur Wohnung dieser Lea. Ich werde das Gefühl nicht los, dass wir etwas übersehen haben. Ach, übrigens. Lassen Sie das in Zukunft.«

»Was meinen Sie damit, Chef?«

»Ich möchte Sie darum bitten, sich aus meinen Gedanken herauszuhalten. Das macht mich nervös.«

Liebig startete den Motor und ignorierte das Glucksen, das Rita nicht vollständig unterdrücken konnte. Kurze Zeit später parkten sie vor dem Haus, in dem sich Lea Howalds Wohnung befand. Liebig überlegte, auf welchen Knopf er drücken sollte, um ins Haus zu gelangen. Den Schlüssel der Wohnungstür besaß er noch vom letzten Besuch, doch die Haustür stellte noch ein Hindernis dar.

»Darf ich mal vorbei, junger Mann? Die Tasche ist so schwer und ich will aufschließen. Wohin möchten Sie denn, ich kenne Sie gar nicht?«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752144314
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Mai)
Schlagworte
Schuld Frauengefängnis Serienmörder Psychopath Zuhälterei Krimi Ermittler Noir

Autor

  • H.C. Scherf (Autor:in)

Der Autor begann nach Eintritt in den Ruhestand mit dem Schreiben von spannenden Romanen unter seinem Klarnamen Harald Schmidt. Da dieser durch TV bekannte Name falsche Erwartungen beim Leser weckte, übernahm er das Pseudonym H.C. Scherf zum Schreiben etlicher Thriller-Reihen.