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Die Asche bleibt

von H.C. Scherf (Autor:in)
188 Seiten
Reihe: Die Liebig/Momsen-Reihe, Band 3

Zusammenfassung

»Das Feuer reinigt und lässt nur Asche zurück – Doch das abgrundtief Böse hat es auch für sich entdeckt« Während die tapferen Einsatzkräfte der Feuerwache ihr Leben aufs Spiel setzen, um Menschen vor dem Tod zu bewahren, lebt ein Psychopath seine kranken Leidenschaften aus, folgt dem Trieb, unvorstellbar grausam töten zu müssen. Immer mehr verdichtet sich der Verdacht, dass dieser Wahnsinnige nicht nur medizinische Grundkenntnisse besitzen muss. Nein – es könnte ein Feuerteufel sein, der sogar aus dem engeren Umfeld der Feuerwehr kommt. Jeder ist plötzlich verdächtig. Ein Psychokampf beginnt und gefährdet Freundschaften. Das Ermittlerduo Liebig und Momsen steht vor dem bisher rätselhaftesten Fall, der sie selbst in tödliche Gefahr bringt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Die Asche bleibt

 

 

Von H.C. Scherf

 

 

Thriller

1

Das schrille Klingeln an der Tür ließ Ansgar Löffler aus seinen Gedanken hochfahren. Er schaffte es gerade eben, an die Tür zu kommen, bevor Kevin ihm zuvorkam. Es war nicht das erste Mal, dass sich jemand von der Hausverwaltung bei ihm meldete, der die Wasseruhren kontrollieren wollte. Ansgar Löffler legte die Hand auf Kevins Haar, drängte ihn zurück, als der neugierig den Kopf vorstreckte.

»Gehen Sie bitte durch. Sie wollten doch erst später kommen, habe ich Ihrem Anruf entnommen. Die Wasseruhren finden Sie in der Küche und im Bad. Sie habe ich aber noch nie gesehen. Sind Sie neu dabei?«

»Ich habe erst vor vier Tagen den Job bekommen und muss mich bei den Mietern bekanntmachen. Holger Horch ist mein Name. Sie werden sich sicher an meinen Anruf erinnern. Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Herr Löffler.«

Erfreut über die Höflichkeit des Besuchers ergriff Ansgar die ausgestreckte Hand.

»Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten. Den habe ich gerade erst aufgesetzt? Milch und Zucker?«

»Bitte keine Umstände, Herr Löffler. Sie sind zwar für heute der letzte Kunde, aber ich will Ihnen auf keinen Fall zur Last fallen.«

Der Hausherr wies dem freundlichen Mitarbeiter den Weg zur Küche, die zwar einfach möbliert war, in der er sich jedoch eine gemütliche Ecke zum Essen eingerichtet hatte. Kevin hatte jegliches Interesse an dem Besuch verloren, als er feststellte, dass bei diesem nichts zu holen war. Er trollte sich wieder zurück in sein Kinderzimmer. Die beiden Männer saßen über ihren dampfenden Kaffeetassen und plauderten über dieses und jenes. Nebenbei erfuhr Holger Horch, dass sein Gastgeber schon das Weihnachtsgeschenk für den neunjährigen Kevin eingekauft hatte. Vorsichtig blickte Löffler in die Diele, um sich zu vergewissern, dass der Kleine wirklich in seinem Zimmer spielte. Die unverkennbare TV-Stimme von Inspektor Gadget überzeugte ihn, dass der Junge vor der Flimmerkiste saß. Freudig erregt, als würde er sein eigenes Geschenk auspacken, kramte Löffler die Suppenteller im Küchenschrank beiseite und erfasste einen großen Umschlag, den er feierlich auf den Tisch legte.

»Das habe ich für uns zwei zusammengespart, Herr Horch. Seit ich den Unfall in der Firma hatte und meine Frau uns sitzen ließ, habe ich es nicht mehr so dicke. Aber der Junge hat diesen Wunsch schon so lange. Jetzt endlich kann ich ihm den erfüllen. Das war eine elende Sparerei, darf ich Ihnen sagen.«

Gespannt starrte Horch auf den Umschlag, auf dem er undeutlich den Schriftzug Disney zu erkennen glaubte.

»Na, da bin ich aber gespannt. Was ist es denn?«

Endlich zog Löffler den Inhalt heraus und präsentierte zwei Eintrittskarten für das Disneyland in Paris.

»Wir fahren ein ganzes Wochenende dorthin und wohnen in einem Blockhaus auf der Davy Crockett Ranch. Ich kann gar nicht sagen, wer von uns beiden sich mehr darüber freut. Der Junge wird Augen machen, weil er das schon längst abgeschrieben hat.«

Löffler schaute erwartungsvoll in das Gesicht seines Besuchers. Es irritierte ihn einen Moment, als er auf zusammengepresste Lippen und in ausdruckslose, fast hassvolle Augen blickte.

»Was ist mit Ihnen, Herr Horch? Habe ich etwas Falsches gesagt? Habe ich Sie beleidigt? Wenn es so ist, tut es mir leid.«

Löffler steckte gedankenverloren die Unterlagen zurück in den Umschlag und versteckte wieder alles sorgfältig hinter dem Geschirr. In dem Moment, als er die Schranktür geschlossen hatte, breitete sich der Schmerz in seinem Körper aus. Das spitze Messer drang tief in seinen Rücken und bohrte sich in die linke Herzkammer. Während er nach Luft rang und der Herzschlag auszusetzen drohte, spürte er deutlich, dass das Messer wieder herausgezogen wurde und ein weiteres Mal seinen Rücken durchbohrte. Diesmal glitt die Klinge tief in die Wirbelsäule und suchte ihren Weg daran vorbei in die um Luft ringende Lunge. Eine kräftige Hand presste sich in den Nacken und stieß den Kopf Löfflers durch die Butzenscheiben des Oberschrankes. Eine Sprosse der Verglasung bohrte sich unterhalb des Kinns in die Mundhöhle und hielt den nur noch zuckenden Körper fast aufrecht stehend in dieser Position.

Horch zog die Klinge des Stiletts erschreckend langsam aus der Wirbelsäule des Familienvaters und leckte genießerisch das Blut ab. Ebenso langsam griff er um den Körper des Sterbenden an dessen Gürtelschnalle und öffnete sie. Die Hose glitt zu Boden und zeigte das zum großen Teil entblößte Hinterteil, das lediglich noch von einem Slip bedeckt wurde. Die Klinge durchtrennte den Stoff mit Leichtigkeit und ließ ihn zu Boden fallen. Auf Horchs Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet. Die fiebrig glänzenden Augen ließen jegliche Menschlichkeit vermissen, die Hände tasteten nach dem eigenen Hosengürtel. Ein Aufschrei im Kücheneingang ließ den Mörder zusammenfahren. Kevins Blick wechselte zwischen dem toten Vater, der wie ein Sack und mit teilweise entblößtem Hinterteil am Küchenschrank hing und dem erigierten Glied des Besuchers. Ihm blieb jedoch keine Zeit, das Geschehen einzuordnen. Zu hart war der Faustschlag, der ihn in der Magengrube traf. Mit verdrehten Augen sank das Kind auf den Boden.

2

Längst hatte sich der dichte Rauch über die Dächer der Nachbarhäuser verteilt, aus denen die Bewohner in wilder Flucht ins Freie strömten. Die vom böigen Wind vorangetriebenen Schwaden reflektierten gespenstisch das blaue Licht der vier Einsatzfahrzeuge der Feuerwehr, die schon wenige Minuten nach Eingang des Notrufs eingetroffen waren. In der Ferne kündigte das Martinshorn an, dass sich weitere Fahrzeuge auf dem Weg zum Brandort befanden. Mittlerweile war auch der letzte Mann aus den vorgefahrenen Fahrzeugen ausgestiegen, um die weitere Vorgehensweise im Team zu besprechen. Ein Hilfeleistungslöschfahrzeug und ein Drehleiterwagen waren direkt vor dem Haus platziert worden, aus dessen Fenster in der dritten Etage bereits Flammen loderten, die unbarmherzig an den darüberliegenden Fensterlaibungen leckten. In angemessener Entfernung parkte das Auto des Einsatzleiters, unmittelbar daneben der Rettungswagen. Jeden Augenblick erwartete man den Notarzt, der direkt vom nahe gelegenen Krankenhaus zum Einsatzort gefahren kam.

Der Einsatzleiter gab den Männern des Angriffstrupps Befehle, die im Lärm fast völlig untergingen. Diese Männer waren allerdings geschult genug, um die Lage augenblicklich richtig einschätzen zu können. Die umherstehenden Gaffer, die sich partout nicht den Anordnungen der Einsatzkräfte unterordnen wollten und die Smartphones zückten, verfolgten die Vorbereitungen der Männer. Jeder von ihnen war zwischenzeitlich mit Atemgerät ausgestattet und hantierte an den Schlauchrollen, verschraubte Verlängerungen, als der Schrei von der Seite alle Helfer erstarren ließ.

»Da ist noch einer drin! Da ganz links hinter dem Fenster habe ich einen Kopf gesehen. Ein Kind ... da ist noch ein Kind in der Wohnung!«

Die Frau, die aus dem Fenster des gegenüberliegenden Hauses genau das schrie, was ein Feuerwehrmann absolut nicht hören wollte, wedelte aufgeregt mit den Armen. Alle Augen richteten sich auf das angegebene Fenster, an dessen Scheibe nur noch die kleine Hand zu erkennen war, die jetzt erschreckend langsam herunterrutschte.

»Heiner, Ralf ... ihr zwei geht vor. Klaus, Roland und Martin rücken mit dem zweiten Schlauch nach. Ich will das Kind! Habt ihr mich verstanden? Ich will das Kind gesund hier unten haben! Den Notarztwagen durchlassen, Leute! Verdammt, macht doch endlich Platz für den Arzt!«

Einsatzleiter Hans Wotan wirkte rein äußerlich gefasst, doch jeder, der diesen Riesenkerl näher kannte, wusste, dass eine Explosion kurz bevorstand. Ihn brachte diese Unsitte der Zuschauer, ganz nah an den Gefahrenort heranrücken zu wollen, zum Rasen. Mit wenigen Schritten war er bei einem leicht angetrunken wirkenden Mann, der sich immer wieder die schlabbrige Jogginghose hochzerrte, während er mit dem Telefon das Fenster filmte, hinter dem das Kind vermutet wurde.

»Was soll diese Scheiße? Verschwinde hinter der Absperrung und lass meine Leute arbeiten. Die riskieren ihr Leben für euch und ihr habt nichts anderes im Kopf, als das alles zu filmen. Verschwinde hier, wir brauchen Platz zum Arbeiten!«

»Pack mich bloß nicht noch einmal an, du Penner. Ich hau dich sonst was in die Fresse. Wir leben hier in einem freien Land. Da kann ich tun und lassen, was ich will. Und wenn du mein Telefon kaputtmachst, kannste was erleben. Dann löhnst du das von deine Kohle.«

Heiner Kaske erlebte diese Szene nicht zum ersten Mal und winkte einen Polizeibeamten heran, der die Situation sofort erfasste und den immer noch herumschreienden Mann zurückdrängte, bevor Hans Wotan aus der Haut fuhr und etwas tat, was er später bereuen würde. Kopfschüttelnd drehte der sich wieder seinen Kameraden zu. Hans Wotan fasste Harald Schneider an der Schulter und fragte: »Sind die beiden drin? Haben die schon einen Lagebericht gegeben? Trupp zwei sichert jetzt das Treppenhaus. Ihr bekämpft ebenfalls den Brandherd und geht von unten vor. Trupp drei will ich mit dem Schlauch auf der Drehleiter sehen. Wo bleibt das Wasser, Leute?«

Schneider wies mit dem ausgestreckten Arm auf eine Stelle, die sich in etwa fünfzehn Metern Entfernung befand. Dort diskutierte ein Autofahrer mit den Einsatzkräften, die den Schlauch an der Stelle verlegen wollten, an dem sein protziger SUV geparkt stand.

»Dieser Hirni bedroht die Kollegen, weil sie ihm einen Kratzer ans Auto gemacht haben sollen. Ich habe die Polizisten schon hingeschickt, damit das Arschloch endlich die Karre wegfährt.«

Wotan drehte sich in die angegebene Richtung und stöhnte.

»Ich lass den Wahnsinnigen abschleppen. Notfalls sollen die Kollegen den Schlauch über die Protzkiste führen. Wir brauchen Wasser ... sofort. Die vierte Etage haben wir sonst ebenfalls verloren. Tretet dem Mistkerl in die Eier und dreht endlich den Hydranten auf! Da müssten doch noch mehr sein. Sucht die und holt endlich das Wasser für die Drehleiter.«

Hans Wotan stürmte nach seiner letzten Anordnung zum Einsatzleitwagen und presste das Sprechfunkgerät an die Lippen.

»Heiner, Ralf, bitte melden. Seid ihr schon an der Wohnung? Verstärkung kommt gleich. Schafft ihr es zum Kind?«

Ungeduldig wartete er auf die befreiende Antwort der Kameraden, hörte jedoch nur ein Rauschen, bis endlich Heiner Kaskes Stimme erklang, die von schwerem Atmen begleitet wurde.

»Wir haben die Tür aufgebrochen und sind in der Diele. Die beiden vorderen Räume stehen in hellen Flammen, sie breiten sich seitlich und nach oben aus. Wir müssen erst löschen. Da die Fenster offen stehen, zieht mächtig Sauerstoff nach. Wir versuchen dann zum hinteren Raum durchzukommen, in dem wir das Kind vermuten. Sieht nicht gut aus. Massig Rauch. Aber wir gehen gleich vor. Wo bleibt der zweite Schlauch, verflucht?«

»Kommt, Heiner, kommt. Da müssten schon die Leute von Trupp zwei hinter euch sein. Findet das Kind. Aber passt auf euch auf, verdammt. Ich will euch alle gesund wieder hier unten sehen. Achtung ... Wasser kommt!«

Heiner Kaske legte dem vor ihm knienden Ralf Schöller die Hand auf die Schulter, um zu zeigen, dass er direkt hinter ihm war. Beide konnten bereits die sengende Hitze durch die Schutzkleidung spüren, sahen kaum die Hand vor den Augen. Dennoch richteten sie den Wasserstrahl gegen die Flammen und verfluchten gleichzeitig den entstehenden Wasserdampf, der ihnen jegliche Sicht auf die Tür nahm, die sie unbedingt und schnellstmöglich erreichen mussten. Als hinter ihnen die Kameraden mit dem zweiten Schlauch eintrafen, bereiteten sie sich darauf vor, weiter in die Diele einzudringen. Sie glaubten, dass bereits Stunden vergangen waren, als sie endlich vor der Tür am Ende des Flurs standen. Beide Männer richteten ihren Blick auf den Türschlitz am Boden. Ralf schüttelte den Kopf, was so viel zu bedeuten schien, dass dort noch keine Lichtreflexe von möglichen Brandherden zu erkennen waren. Er wies jedoch mit sorgenvollem Blick auf den Raum gegenüber, in dem immer noch offene Flammen loderten und das Zimmer mit Rauchgasen füllten.

Unendlich langsam legte sich Ralfs Hand auf die Türklinke und drückte sie vorsichtig herunter. Sie wussten beide nicht, was sie dahinter erwartete. Vorsichtshalber knieten sie sich seitlich neben die Türöffnung, bevor sie die Tür endgültig aufstießen. Fauchend zischten über ihnen Rauchlanzen aus der Diele in das Zimmer, fraßen dort begierig den vorhandenen Sauerstoff. Die beiden Männer warfen sich auf den Boden und krochen an der Wand entlang Richtung Fenster. Nur noch schemenhaft war der schmale Körper des Kindes direkt davor zu erkennen. Die Beine verschwanden hinter dem Kinderbett. Heiner erreichte den Jungen als erster und überprüfte die Atmung, bevor er ihm die Fluchthaube über den Kopf stülpte.

»Er atmet. Ralf, er atmet noch. Jetzt bleibt nur noch ein Weg für uns. Wir müssen durchs Fenster, verdammt. Nach hinten haben wir keine Chance mehr. Die Diele brennt wieder. Wer macht es?«

Ralfs erhobener Daumen signalisierte dem Partner, dass er das Risiko eingehen würde.

»Hallo Einsatzleitung. Wir haben den Jungen. Er lebt noch. Der muss sofort in die Klinik. Zurück können wir nicht, da die Diele wieder brennt. Wir brauchen den Korb direkt unterhalb des letzten Fensters. Die Kollegen sollen sich abducken. Wir werden jetzt öffnen. Es besteht die Gefahr eines Flashovers. Sobald die Feuerlanze draußen ist, steigen wir mit dem Kind raus. Haut Wasser rein, so viel ihr habt. Nehmt zuerst den Jungen, danach kommen wir. Alles klar?«

Hans Wotan schluckte erleichtert, wusste jedoch, wie groß das Risiko trotzdem für die Eingeschlossenen war, wenn das Feuer da drin frischen Sauerstoff erhielt.

»Wir machen das so, Leute. Ich informier die Kollegen sofort. Also in fünfzehn Sekunden ab jetzt. Sie sind direkt unter euch. Viel Glück.«

Die Augenpaare der Männer, die von dem Vorhaben wussten, richteten sich besorgt auf das besagte Fenster, aus dem in wenigen Augenblicken drei Menschen steigen sollten. Genau diese Männer waren darauf vorbereitet, dass das unbarmherzige Feuer seine gierigen Krallen nach neuen Opfern ausstrecken würde. Eine behandschuhte Hand tastete von innen nach dem Fenstergriff, wurde bereits vom flackernden Feuer im Raum beleuchtet. Dann geschah es. Der Fensterflügel öffnete sich nur einige Zentimeter, als eine gewaltige Feuerwalze nach außen drängte und sofort an der Hauswand hochleckte. Die Flammen füllten die gesamte Fensteröffnung und schienen das ganze dahinterliegende Zimmer in ihrer Gewalt zu haben. Die meisten Zuschauer rissen die Hände vor das Gesicht und wichen instinktiv zurück. Ein kollektiver Schrei war zu hören. Die Kameraden der Feuerwehr starrten weiter hinauf. Einige flüsterten vor sich hin: »Los Heiner, Ralf ... bewegt den Arsch. Kommt endlich da raus.«

Es schien endlos zu dauern, bis sich die Flammen etwas zurückzogen und die untere Hälfte des Fensters freigaben. Ein kräftiger Wasserstrahl drängte die Flammen zurück. Ein erneuter Aufschrei ging durch die Zuschauer, als eine Person zu erkennen war, die einen kleinen Leib, der in einen Feuerwehrmantel gewickelt war, auf den Händen trug und in das Freie hielt. Ein dahinter auftauchender Mann versuchte, die Flammen auszuschlagen, die immer wieder den Pullover des Kameraden erfassten. Ein Kollege im Rettungskorb übernahm sofort das Kind und kletterte die Stufen hinunter. Währenddessen richtete der zweite Mann im Korb den Schlauch erneut in das lichterloh brennende Zimmer. Immer wieder schob Ralf nach, als Heiner versuchte, seinen angesengten Körper über die Fensterbrüstung zu hieven. Die Männer im Korb hielten vor Schreck den Atem an, als sie mit ansehen mussten, wie Heiner gegen die Fensterbrüstung fiel und sich die Atemmaske für einen Moment vom Gesicht löste. Es war lediglich ein einziger Atemzug, der ihm die giftigen Rauchgase in die Lunge presste. Danach schloss sich seine Atemschutzmaske wieder fest auf sein Gesicht. Minuten später hatte auch Ralf es geschafft und stand neben Heiner.

»Geht es? Schaffst du es nach unten, oder soll ich dich anseilen? Verdammt, du siehst richtig Scheiße aus. Mit den Brandblasen auf dem Rücken wirst du aber heute Abend einen unruhigen Schlaf haben. Komm, wir hauen ab hier. Die Kollegen wollen schließlich auch noch was zu tun haben. Ich für meinen Teil brauche jetzt eine kurze Pause.«

3

»Und was meint der Brandursachenermittler dazu? Gibt es Hinweise auf Brandstiftung? Wenn Sie mir sagen, Schiller, dass der Tote aus der Küche mit großer Wahrscheinlichkeit schon tot war, bevor es brannte, liegt Brandstiftung doch auf der Hand. Da wollte dann jemand Spuren beseitigen und das Ganze nach normalen Unfall aussehen lassen. Ich komm gleich ins Institut.«

Peter Liebig, Hauptkommissar im Morddezernat, legte den Hörer nachdenklich auf und strich sich über die stoppeligen Haare. Er spürte die prüfenden Blicke seiner ehemaligen Praktikantin Rita Momsen auf sich ruhen. Sie hatte vor einigen Tagen endlich ihre Prüfungsergebnisse der Polizeihochschule erhalten und konnte damit sicher sein, in den gehobenen Polizeidienst übernommen zu werden. Hauptkommissar Liebig hatte ein wenig Kontakte spielen lassen, um sie in seine Abteilung zu bekommen. Kriminalrat Rösner hatte diesen Antrag mit allen Kräften unterstützt.

»Was ist mit der Leiche aus der Kronenstraße? Mord? Was hat Dr. Schiller gefunden?«

Liebig wunderte sich schon längst nicht mehr über Momsens Neugierde. Es gab Tage, da bereitete ihm die Vermutung sogar Unbehagen, dass diese junge Frau seine Gedanken lesen könnte. In etlichen Fällen schon hatte sie mit ihrer genialen Kombinationsgabe vortreffliche Hinweise zur Lösung schwieriger Fälle liefern können.

»Bisher wissen wir nur, dass die Person männlich ist und mit großer Wahrscheinlichkeit schon tot war, als der Brand sich ausbreitete. Schiller hat Stichwunden im oberen Rückenbereich gefunden. Er wird dazu mehr sagen können, wenn wir zu ihm rüberkommen. Wollen Sie sich das antun und mitkommen?«

Statt einer Antwort beobachtete Liebig, wie sich Rita Momsen ihre kurze rote Lederjacke überwarf und ihn auffordernd ansah.

»Können wir? Ich bin so weit.«

 

Dr. Schiller sah nur kurz von seiner Arbeit auf, als das ungleiche Paar die Pendeltür zum Sezierraum aufstieß. Ihn amüsierte es immer wieder aufs Neue, wenn der fast zwei Meter große Mann neben der eher zarten und wesentlich kleineren Frau erschien. Insgeheim wartete er darauf, dass Liebig endlich wieder ins Leben zurückfinden würde, nachdem der Mörder seiner Frau dingfest gemacht und außer Gefecht gesetzt werden konnte. Natürlich trennten diese beiden Menschen fast siebzehn Jahre, doch sie passten nach Schillers Meinung einfach sehr gut zusammen. Es war auch unübersehbar, dass Momsen ihren Chef vergötterte. Schiller unterbrach diese Gedanken und deutete eine leichte Verbeugung an. Er hob seine blutverschmierten Hände, die er mit Latexhandschuhen schützte.

»Ach, das tut meinen alten Augen immer wieder gut, wenn ich Sie an der Seite dieses Haudegens erblicke. Rita, Sie sind ein wahrer Sonnenschein, ich ...«

Hauptkommissar Liebig unterbrach den Redefluss des Mediziners.

»Hören Sie, Dr. Schiller, können wir dieses Gesülze als ständige Einleitung heute mal überspringen und zum eigentlichen Anlass unseres Besuches kommen? Ich muss doch irgendwann mal mit Ihrer Frau sprechen. Weiß die eigentlich, welchen Schwerenöter sie vor etwa fünfundvierzig Jahren geheiratet hat? Hätten Sie auch etwas Ihrer kostbaren Zeit dafür übrig, uns über die Brandleiche aufzuklären?«

Ralf Schiller entfernte die Handschuhe und hakte sich bei Rita Momsen unter, zwinkerte ihr schelmisch zu und zog sie zu einem Tisch, auf dem etwas völlig Verkohltes, Menschenähnliches lag.

»Was genau möchten Sie denn wissen, meine Schöne?«

Die Stimme hinter ihm ließ ihn sofort wieder sachlich werden.

»Genug gelacht, mein lieber Herr Doktor. Geben Sie mir was in die Hand, damit ich meinen Job erledigen kann.«

Tatsächlich wurde Ralf Schiller wieder ernst und stellte sich auf die gegenüberliegende Seite des Seziertisches.

»Tut mir leid, Herrschaften, das sieht nicht besonders appetitlich aus, was von dem Herrn übrig blieb. Wenn Sie sich auf den Rücken konzentrieren, können Sie hier und hier Lücken in der Haut erkennen. Das allein muss nichts bedeuten. Doch direkt darunter konnte ich Verletzungen verschiedener Rippen ausmachen, die durch einen spitzen, besser gesagt scharfen Gegenstand, etwa ein Messer, ausgeführt wurden. Der Mann wurde definitiv durch drei Stiche in den Rücken getötet.«

Schiller wies auf drei sehr schmale Öffnungen in der verkohlten Haut und reichte Liebig eine Lupe. Während dieser näher an den Leichnam herantrat, fuhr der Mediziner fort.

»Diese These wird von der Tatsache untermauert, dass ich weder im Kehlkopf, in der Lunge noch im Verdauungstrakt Rauch- oder Schwelgase vorfand, die der Tote beim Ersticken ansonsten aspiriert hätte. Die Hitzeeinwirkung muss enorm gewesen sein, da sich der gesamte Körper zusammengezogen hatte und in der Fechterstellung verblieb. Die gesamte Unterhaut ist mit Plasma infiltriert.«

Dr. Schiller lenkte den Blick seiner Besucher auf den Kopf des Toten, wobei sein Finger die Schädeldecke berührte.

»Hier erkennen Sie die häufig auftretenden Hitzeschusslöcher. Wir nennen die so, da es durch die enorme Erhitzung des Schädels zu schusslochartigen Aufplatzungen mit Hirnaustritt kommt. Typisch ist auch die grauweißliche Färbung, die immer nach längerer diffuser Hitzeeinwirkung auftritt.«

Schiller stoppte, als er die Hand Liebigs auf seinem Arm spürte. Sein Blick wechselte zwischen dem besorgt wirkenden Gesicht des Hauptkommissars und dem schneeweißen von Rita Momsen. Mit zwei Schritten war er bei der jetzt schwankenden Frau.

»Setzen Sie sich dort hinten an den Tisch. Nehmen Sie sich etwas Wasser aus der Flasche. Um Gottes willen, Sie fallen mir ja gleich aus den Schuhen, Frau Momsen. Kommen Sie mit.«

Rita lehnte das Wasserglas ab und presste die Hand vor den Mund. Besorgt standen die beiden Männer vor ihr und überlegten, wie sie der jungen Kollegin im Augenblick helfen könnten.

»Ist gut ... alles wird gut. Nur einen kleinen Augenblick, dann bin ich wieder fit. Machen Sie nur weiter. Ich höre Ihnen zu.«

»Na schön, Sie sagen Bescheid, wenn Sie Hilfe brauchen. Nun wieder zu Ihnen, Herr Liebig. Wie Sie unschwer erkennen können, gab es eine umfangreiche Verkohlung, die aber bei diesem Hitzewert, der in der Wohnung vorgeherrscht haben musste, nicht ungewöhnlich ist. Was mir noch bei einer Gaschromatografie auffiel, war das Vorhandensein von möglichen Brandbeschleunigern an den Beinen. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass hier mit Ethanol nachgeholfen wurde. Doch dazu wird Ihnen der Brandsachverständige später sicher mehr sagen können. Ansonsten kann ich neben der besagten Fechterstellung nur noch auf die Physiognomie hinweisen. Sie sehen, dass die Zunge durch die enorme Hitzeentwicklung und damit verbundene Verengung des Halsumfanges aus dem geöffneten Mund herausgepresst wurde.«

Vom Tisch her erreichte die Männer Ritas Frage.

»Doktor Schiller, was muss ich mir eigentlich unter dieser von Ihnen erwähnten Fechterstellung vorstellen, ich meine damit: Wie entsteht die überhaupt? So liegt doch niemand, bevor er tot ist.«

»Sie scheinen ja wieder fit zu sein, Frau Momsen. Also, wie Sie erkennen können, sind Arme und Beine angewinkelt und vom Körper abduziert. Die Ursache für diese Position, die man übrigens auch Boxerstellung nennt, ist die Verkürzung der Muskulatur und der Sehnen durch Eiweißgerinnung. Weiter möchte ich jetzt nicht ausführen, da wir dann in Fachlatein übergehen müssten. Das verwirrt Sie nur. Ihrer beider Aufgabe besteht darin, denjenigen zu finden, der für den Tod dieses Mannes verantwortlich ist. Da bin ich dann raus.«

Liebig ging noch ein letztes Mal um den Tisch herum und betrachtete die Leiche. Schiller hielt ihn am Arm zurück.

»Etwas habe ich noch vergessen, Liebig. Das mag vielleicht völlig unbedeutend sein, aber ... es ist schon seltsam.«

Mittlerweile stand auch Momsen wieder neben ihrem Chef. Beide starrten den Mediziner verständnislos an, warteten auf eine Fortsetzung.

»Was denn nun? Sie wollten doch was erzählen.«

Liebig wirkte jetzt ungehalten.

»Es war der Unterschied in der Haut. Folgendes: Bei einer Verbrennung verschmilzt das Gewebe der Textilien mit dem der menschlichen Haut. Das ist auch am Torso klar nachweisbar. Doch ab der Hüfte fehlt diese Vermischung. Das könnte eigentlich nur bedeuten ...«

»... dass der Mann untenrum nackt war. Das meinten Sie doch wohl, Herr Doktor, oder?«, unterbrach Rita Momsen.

»Das ist nur zum Teil richtig, junge Frau«, fuhr Schiller fort, »Ab den Waden gab es wieder das bekannte Muster. Es wurde auch eine Gürtelschnalle gefunden. Der Mann stand folglich mit ... mit runtergelassener Hose in seiner Küche. Wer macht denn so was?«

Jetzt war es Liebig, der sich einmischte.

»Ich weiß, dass es sich unwahrscheinlich anhört. Aber könnte es eventuell so gewesen sein, dass sich der Vater an dem Jungen ... Sie wissen sicherlich, was ich meine? Und der hat in seiner Not zugestochen. Nun will er die Leiche beseitigen und es wie einen Wohnungsbrand aussehen lassen. Er hat dabei die Rauchgase unterschätzt und es einfach nicht mehr nach draußen geschafft.«

Blicke des Entsetzens lagen auf Liebig. Abwehrend hob er die Hände.

»Ich weiß selber, dass es sehr weit hergeholt ist, aber immerhin erklärt es die Unversehrtheit des Jungen, wenn wir einmal von der Rauchgasvergiftung absehen.«

Schiller griff sich an das Kinn und wiegte den Kopf hin und her.

»Interessante Theorie, Liebig, doch für mich im Augenblick noch recht unwahrscheinlich, da sich die Stiche im Rücken befinden. Der Junge müsste dann ja hinter dem Vater gestanden haben, denn anders ist das kaum möglich zu bewerkstelligen. Lassen Sie mich zwei Dinge noch tun, bevor wir endgültig abschließen. Ich muss noch die Einstichkanäle vermessen, um die Stoßrichtung festlegen zu können. Außerdem sollte der Junge eventuell Verletzungen aufweisen, die von einem Kampf oder früheren Vergewaltigungen herrühren. Verdammt ... das wäre aber harter Tobak, Herrschaften. Ich melde mich, wenn ich Näheres weiß.«

4

Fast hätte sich Roland Moschus den heißen Kaffee über die Hand geschüttet, als die Tür zur Gemeinschaftsküche aufgestoßen wurde. Sie schlug gegen den Stopper und wieder zurück, sodass Ralf einen Zusammenstoß nur mit Mühe verhindern konnte.

»Was ist denn mit dir los? Spinnst du jetzt völlig?«, entfuhr es Roland, der sich ein Blatt von einer Küchenrolle abriss und die Kaffeereste vom Handrücken abtupfte.

»Lass mich in Ruhe. Du scheinst mal wieder nichts mitbekommen zu haben. Denkst du noch an gestern? Der Brand in der Kronenstraße? Ich habe mir mit Heiner den Arsch aufgerissen, um das Kind zu retten. Gerade kam die Nachricht, dass der Kleine es nicht geschafft hat. Kevin hieß der Junge. Der war gerade mal neun ... neun Lenze alt. Das muss man sich vorstellen. Das Kind hat noch nichts von dieser Welt gesehen und stirbt so früh an Kohlenmonoxidvergiftung. Heiner wollte dem Kleinen noch von seinem Sauerstoff geben, was ich aber nicht zuließ, da er sich selbst gefährdet hätte. Der Junge atmete noch selbstständig. Jetzt liegt Heiner doch im Krankenhaus mit der Maske über der Nase.

Zu Hause darf ich von dem toten Jungen nichts erzählen. Abigail wird dann wieder einen Heulkrampf bekommen. Unser Volker war genauso alt, als er den Unfall hatte. Aber sie wird es trotzdem aus der Zeitung erfahren. Dann kann ich wieder den Seelentröster spielen.«

Ralf setzte sich und hatte Mühe, seine Gefühle zurückzuhalten.

»Das mit Heiner habe ich mitbekommen. Ich denke, der wird schon wieder. Aber um den Jungen tut es mir leid«, ergänzte Roland und hielt Ralf seine Kaffeetasse hin. Der griff gedankenverloren zu, trank einen Schluck davon und spuckte den gesüßten Kaffee in die Spüle.

»Wie kann man eine derartige Brühe trinken?«

Ralf gab die Tasse zurück und fuhr fort: »Du sagst das so einfach, dass es schon wieder wird. Jeder von uns weiß doch genau, dass die Folgen einer Rauchvergiftung noch Monate später zu Komplikationen führen können. Was mich aber zusätzlich sauer macht, ist die schon bewiesene Tatsache, dass es sich um Brandstiftung handelt. Ein Mann vom Morddezernat war beim Alten und hat sich den Einsatz haarklein erklären lassen. Jetzt wird die gesamte Nachbarschaft in der Straße befragt. Die Kripo soll bei dem Mann, den wir in der Asche gefunden haben, Messerstiche gefunden haben. Dem hat jemand von hinten in den Rücken gestochen und dann wohl die Bude abgefackelt. Das muss man sich mal durch den Kopf gehen lassen. Da legt einer den Kerl um, zündet auch noch die Wohnung an und lässt das Kind mit verbrennen.«

Roland hörte seinem Freund fassungslos zu und trank in kleinen Schlucken.

»Ist es denn sicher, dass es Brandstiftung war? Und es ist ja noch nicht bewiesen, dass der Mörder von dem Kind wusste. Kann auch Zufall sein. Da sollten wir vorsichtig sein mit den Mutmaßungen und Vorverurteilungen.«

Nach und nach trudelten die anderen Kameraden ein und versammelten sich im Gemeinschaftsraum, wo man sich über den Tag austauschte. Heute war es auf eine besonders bedrückende Art still. Selbst die lustigsten Vögel unter ihnen, die jeder Situation etwas Spaßiges abgewinnen konnten, nahmen ihr Pausenbrot schweigend zu sich. Ralf unterbrach die Stille und fragte in die Runde: »War schon einer von euch bei Heiner im Krankenhaus? Ich finde, dass wir nach ihm sehen sollten. Wer von euch hat Lust, morgen Vormittag nach der Schicht mit mir hinzugehen? Ich wollte ... ich meine damit Abigail ... ihm ein paar Reibeplätzchen backen. Die isst der Rabauke doch immer so gerne. Den Krankenhausfraß kann er sich dann sparen. Also, wer kommt mit?«

Etliche Finger schnellten in die Höhe, was die Atmosphäre etwas auflockerte. Ralf suchte sich zwei Kameraden aus, zu denen auch Roland gehörte.

 

»Das ist aber nett von euch, Jungs. Haut euch irgendwo hin, Stühle könnt ihr euch aus dem Besucherraum holen. Die Vorstellung beginnt in etwa zehn Minuten.«

Heiners Stimme war unter der Atemmaske kaum zu vernehmen. Doch die eintretenden Männer verstanden das meiste davon.

»Na, wenigstens hast du deinen Humor nicht verloren, du Held«, meinte Roland, »dein Gesicht lacht uns aus jeder Zeitung entgegen. Die gesamte Presse feiert dich als tapferen Helden des Tages. Du wirst ja wohl schon erfahren haben, dass es der Kleine nicht geschafft hat. Ich denke aber, dass du dir das schon gedacht hast. Der hat zu viel von den Gasen eingeatmet.«

Heiner schloss für einen Augenblick die Augen, drehte den Kopf zum Fenster und schwieg. Nur sein Schlucken zeigte den Besuchern, dass ihm dieser Umstand sehr zu schaffen machte. Als er die Augen wieder öffnete, tupfte er sie sich mit einer Serviette trocken.

»Die wollen mich noch einige Tage zur Beobachtung hierbehalten. Die Blutwerte sind zwar besser, als anfangs vermutet wurde, doch das habe ich nur dem Umstand zu verdanken, dass ich nicht sehr lange ohne Maske im Rauch war. Scheinbar waren auch keine besonders gefährlichen Stoffe in dem Zimmer verbrannt worden. Erstaunlich wenig Cyanid konnte nachgewiesen werden. Die hatten wohl kaum Teppiche verlegt. Na, ja, ich darf ja auch mal Glück haben.«

Seine Aufmerksamkeit wurde auf eine Schüssel gelenkt, die Ralf von der Folie befreite. Als der den Deckel öffnete, weiteten sich Heiners Augen.

»Seid ihr verrückt? Wie soll ich die Reibekuchen denn essen, wo ich die Maske nur kurz absetzen darf? Das ist moderne Folter, verdammt. Hat Abigail die gebraten? Ach Scheiß drauf, irgendwie werde ich das schon schaffen. Stell mir die Schüssel in das Nachtschränkchen. Die Schwestern müssen davon ja nichts wissen. Ich danke euch, Jungs. Bestellt Abigail liebe Grüße von mir.«

Roland war es, der Heiner mit der Realität konfrontierte.

»Hast du davon gehört, dass wir einen Toten in der Küche gefunden haben? Der Mann soll ermordet worden sein, meint jedenfalls die Rechtsmedizin. Die Kripo geht von Brandstiftung aus. Mir wird jedes Mal schlecht, wenn ich mir vorstelle, dass es Wahnsinnige gibt, die bei solchen Taten den Tod vieler Menschen in Kauf nehmen. Wie schnell hätte es auch dich erwischen können, wie man sieht. Mein Vater sagte schon immer, dass es doch bessere Jobs für mich gäbe, wo ich auch mehr Kohle machen würde. Er hat nie so richtig verstanden, warum ich ausgerechnet Feuerwehrmann werden wollte. Der hatte für mich so was wie Steuerberater oder einen Schreibtischjob bei der Bank geplant.«

»Wäre vielleicht sogar besser für uns alle gewesen. Dann hätten wir einen gehabt, den wir anpumpen können«, warf Ralf ein, was zu allgemeinem Gelächter führte. Besorgt blickten alle auf Heiner, der unter der Maske einen Hustenanfall bekam. Undeutlich waren seine Worte trotz der Behinderung zu vernehmen: »Hört auf mit der Scheiße ... ich kann nicht ... ich ... kann nicht lachen!«

In der Tür tauchte das Gesicht einer Schwester auf, die durch das allgemeine Gelächter aufmerksam geworden war.

»Meine Herren, bitte nehmen Sie Rücksicht auf den Zustand des Patienten. Ansonsten muss ich Sie bitten ...«

Roland stand auf und legte den Arm um die leicht übergewichtige Frau mit dem ernsten Gesicht.

»Schwester, es tut uns sehr leid. Aber der Patient hat gerade eben einen Schmuddelwitz zum Besten gegeben, den wir noch nicht kannten. Wir werden ihn darauf hinweisen, dass er sich in einem humorbedrohenden Zustand befindet und zur Ernsthaftigkeit zurückkehren soll.«

Schwester Marianne befreite sich aus den Armen des großen Mannes und winkte ebenfalls lachend ab, bevor sie wieder in den langen Fluren der Station verschwand.

5

Peter Liebig fuhr seinen Dienstcomputer hoch und fluchte zum wiederholten Mal darüber, wie lange dieses System brauchte, um betriebsbereit zu sein. Rita Momsen saß bereits an ihrem Schreibtisch, hob nur kurz die Hand zum Gruß. Liebig drängte sich der Verdacht auf, dass diese Frau sogar ihre Nächte hier verbrachte und keinen Gedanken an sonstige Freizeitvergnügungen verschwendete. Schließlich zeigte sich die Startseite, sodass Liebig seine Nachrichten abrufen konnte. Eine, die noch am späten Abend eingetroffen war, fiel ihm sofort ins Auge. Ein weiterer unermüdlicher Nachtarbeiter versorgte ihn mit aktuellen Ergebnissen – Dr. Schiller. Der Inhalt der Nachricht ließ Liebigs Geister sofort lebendig werden.

Konnte Sie am Abend telefonisch nicht mehr erreichen. Deshalb die Nachricht vorab: Habe mir den Jungen einmal vorgenommen. Sie wissen, diesen Kevin Löffler. Todesursache definitiv Rauchgasvergiftung. Das steht unumstößlich fest. Aber ich fand im Bauchbereich Gewebeveränderungen, besser gesagt, Zerreißungen tieferer Strukturen. Als ich der Sache nachging, fand ich sogar Blutungen im und um den Magenbereich. Das weist klar darauf hin, dass es zu einer Kohäsion der Hautoberfläche kam. Der Junge erhielt kurz vor seinem Tod mindestens einen kräftigen Schlag oder einen Tritt in die Magengrube. Näheres kann ich Ihnen telefonisch mitteilen. Bin aber erst ab Mittag in der Klinik. Habe was Privates zu erledigen.

»Scheiße!«

Rita Momsen hob den Kopf und wunderte sich über den kurzen, aber aussagekräftigen Kommentar ihres Chefs.

»Was ist passiert, Chef? Schlechte Nachrichten?«

»Kann man wohl sagen. Schiller schreibt gerade, dass der kleine Löffler zwar an einer Rauchgasvergiftung starb, er aber auch Schlagverletzungen im Bauchbereich hatte.«

Momsen erhob sich und setzte sich vor Liebigs Schreibtisch.

»Und? Was schließen wir daraus? Der Vater wird ihn doch wohl nicht verprügelt haben, bevor die Bude brannte. Oder?«

Lange sah er auf den Bildschirm, bevor er sich wieder an die Frage seiner Kollegin erinnerte.

»Das kann ohne Weiteres sein. Sie erinnern sich, dass wir den Mann mit heruntergelassener Hose fanden. Nur einmal rein hypothetisch, Momsen. Es könnte doch sein, dass der Vater seinen Sohn für gewisse Bedürfnisse missbrauchte. Ich meine damit, dass er oralen Sex von ihm erwartete. An diesem Tag weigerte sich der arme Junge jedoch, was zu einer heftigen Reaktion des Vaters geführt hat. Er schlug oder er trat den Kleinen in die Magengrube. Der Junge schaffte es noch, in sein Zimmer zu flüchten, bevor ... ja, was dann geschah, liegt für mich bis jetzt in völliger Dunkelheit. Ob es einen fremden Brandstifter gab oder der Vater sich selber anzündete, bleibt noch fraglich.«

Was äußerst selten geschah, beobachtete Liebig dennoch mit einer gewissen Belustigung: Ritas Mund stand offen, ohne dass sie ein Wort von sich gab. Mehrere Sekunden hielt dieser Zustand an, bevor ihre erste Reaktion kam.

»Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ein Vater seinen Sohn verprügelt, nur weil er sich weigert, den Penis ... Verdammt, ich kann es nicht einmal aussprechen, geschweige denn mir das vorstellen. Das macht kein wirklicher Vater.«

»Momsen, Sie müssen noch viel lernen in Ihrem neuen Beruf. Vergessen Sie bitte für einen Augenblick Ihre saubere Kinderstube und konzentrieren sich auf das tiefverwurzelte Böse in uns allen. Lösen Sie sich von dem Gedanken, dass alle Eltern absolut fürsorglich mit ihren Schutzbefohlenen umgehen. Sie werden noch oft erleben müssen, wozu Menschen wirklich fähig sind, was ihre Kinder betrifft. Der Oralsex ist zwar schon schlimm genug, wenn er sich auf Kinder bezieht, doch da gibt es weitaus abscheulichere Vergehen mit den armen Würmern. Bei Gelegenheit werde ich Ihnen mal Geschichten erzählen, die ich miterleben musste. Schauen Sie einmal in die Akten von Sittlichkeitsverbrechern, denen wir den Missbrauch von Kindern nachweisen konnten. Ich garantiere, dass Ihnen dabei speiübel wird.«

Momsen ließ den Teebeutel sprachlos in die Tasse zurückgleiten, die sie mit an Liebigs Schreibtisch genommen hatte. Sie fühlte sich sichtlich unwohl, weil ihr Chef sie anscheinend für naiv hielt. Erleichtert vernahm sie die folgenden Worte.

»Ich kann gut verstehen, dass Sie das schockiert, Momsen. Schließlich fangen Sie erst damit an, sich mit den Unzulänglichkeiten der menschlichen Rasse zu beschäftigen. Das, was wir Menschen sehr oft mit unseren Kindern anstellen, würde ein Tier niemals mit seinen Jungen tun. Nun kommen Sie mir nur nicht damit, dass das in Ihrem Elternhaus nicht denkbar gewesen wäre. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch bei dem, was ich Ihnen sage. Doch es gibt auch Eltern, die diese angeborene Naivität der Kinder für ihre Zwecke ausnutzen. Wenn meine Eltern so was mit mir machen, kann es nichts Verbotenes sein – schließlich sind es Mama und Papa. Erst im Erwachsenenalter kommen diese Erlebnisse aus dem Unterbewusstsein an die Oberfläche. Bis dahin schützt sie die Natur vor der Erkenntnis. Bitte lassen Sie uns über etwas anderes reden. Wir haben einen Fall, der einer Klärung bedarf. Kommen Sie später mit zu Schiller? Ich möchte dem Schwerenöter doch durch Ihre Anwesenheit den Tag versüßen.«

»Eifersüchtig? – Oh, Verzeihung. Das ist mir nur so rausgerutscht, Chef. Vergessen Sie`s bitte.«

Längst hatte Rita den warnenden Blick Liebigs bemerkt und schob die Entschuldigung schnell hinterher. Sie beeilte sich, wieder an ihre Arbeit zu gehen, bevor es zu einer unfruchtbaren Diskussion kommen konnte. Der eintretende Klaus Spiekermann, Stellvertreter Liebigs, befreite Rita von der Furcht, dieses Thema ausdiskutieren zu müssen.

»Wir haben einen Mord in der Havelstraße. Man hat einen Mann gefunden, den jemand auf der Parkbank angezündet haben muss. Fahren wir zusammen, oder soll ich vorfahren?«

Liebig schoss hoch, schaffte es jedoch nicht, vor Rita Momsen an der Tür zu stehen. Spiekermann suchte routiniert unter Einsatz des Martinshorns den schnellsten Weg durch den Berufsverkehr.

6

»Verdammt kalt heute Nacht. Da friert man sich ja den Arsch ab.«

Der große Fremde, der sich neben Rüdiger Machnit auf die Parkbank gesetzt hatte, lächelte, während er die Thermoskanne hochhielt und den heruntergekommenen Mann ansprach. Rüdiger knurrte nur zustimmend und hielt die Augen gierig auf die Kanne gerichtet. Einen kleinen Schluck heißen Kaffee konnte er bei diesem Sauwetter sehr gut gebrauchen. Wieder schüttelte der Fremde den Behälter und reichte Rüdiger das Gefäß rüber. Mit zitternden, aber auch schmutzigen Fingern griff er danach und goss das dampfende Getränk randvoll in den Becher, mit dem die Kanne verschraubt war. Schweigend sah Holger Horch auf den Mann, der den belebenden Kaffee in kleinen Schlucken trank. Rüdiger Machnit stoppte einen Moment, als ihm der Geruch von Bratenfleisch in die Nase stieg. Dafür verantwortlich war die reichlich mit Wurst belegte Brotscheibe, die ihm plötzlich unter die Nase gehalten wurde.

»Willst du? Ich kann nicht mehr. Meine Frau hat mir heute Morgen wieder viel zu viel eingepackt. Aber wegschmeißen will ich die Schnitte auch nicht. Hau rein, mein Freund. Du siehst danach aus, als hättest du schon lange nichts mehr zwischen die Zähne bekommen.«

Fast hätte Rüdiger den Kaffee verschüttet, dermaßen schnell griff er nach dem herrlichen Geschenk, das ihm der Kerl neben ihm machen wollte. Es war wirklich die erste richtige Mahlzeit nach mehr als vier Tagen. Entsprechend gierig biss er hinein. Dankbar richtete er seinen Blick auf den edlen Spender. Dass er Sekunden später in einen tiefen Schlaf versank, spürte er nicht einmal. Das Ketamin, welches dem Essen beigemischt war, nahm Rüdiger nicht wahr. Niemand bemerkte, wie der verwahrloste Typ gegen den neben ihm sitzenden Mann sank, der sich nach möglichen Zeugen umsah. Schließlich schob er sein Opfer zur Seite und drückte auf den Entriegelungsknopf seines Autoschlüssels. Nur wenige Meter entfernt leuchteten die Warnblinker eines schwarzen Lieferfahrzeugs auf. Horch schob die Schiebetür weit auf und sicherte ein letztes Mal die Lage, bevor er den schlafenden Rüdiger wie einen Sack Kartoffeln auf die Ladefläche warf. Das Auto verschwand unauffällig in der frühabendlichen Dämmerung.

 

Vorsichtig öffnete er die Augen, nahm jedoch nur vage Bewegungen in seinem näheren Umfeld wahr. Rüdigers Kopf schmerzte, als hätte er einen fürchterlichen Kater. Das Gefühl war ihm sicherlich nicht fremd, doch konnte er sich nicht daran erinnern, in der letzten Zeit Alkohol konsumiert zu haben. Mit Bestimmtheit konnte er jedoch sagen, dass er klassische Musik hörte. Obwohl sein Wissen in diesem Bereich nicht groß war, meinte er dennoch, den Gefangenenchor herausgehört zu haben. Jemand summte die Melodie mit. Endlich raffte Rüdiger all seine Konzentration zusammen und öffnete die Augenlider vollständig.

Der Mann, der ihm noch vor kurzer Zeit Kaffee und ein Brot spendiert hatte, wippte mit geschlossenen Augen in einem hölzernen Schaukelstuhl, dirigierte dabei mit beiden Händen zum Takt der Musik, die von irgendwoher zu kommen schien. Irritierend war für Rüdiger der Umstand, dass er selbst bewegungsunfähig innerhalb eines Metallrahmens verschnürt worden war und dass der Fremde nur einen auffällig rosagefärbten Morgenmantel trug. Als er sich weiter im Raum umsah, verschlug ihm die aufkeimende Angst den Atem. Fein säuberlich aufgereiht lagen auf einem schmalen Tisch diverse Werkzeuge, deren Anblick alleine ihm schon den Angstschweiß aus allen Poren trieb.

Wo bin ich hier? Was hat der Irre mit mir vor?

Rüdigers Verstand drohte auszusetzen, als er sich ausmalte, wozu jemand Skalpelle, Riesenpinzetten und Knochensägen benötigte. Die inmitten liegende Akkubohrmaschine sorgte dafür, dass sich sein Puls bis an die Grenze des Erträglichen beschleunigte. Heftig zerrte er an den Ketten, die eng um seine Handgelenke und Füße gelegt waren. Das verursachte allerdings nur unnötige Geräusche und Verletzungen. Rüdiger schrak zusammen und erstarrte, als er bemerkte, dass der Fremde die Augen ruckartig öffnete. Ihre Blicke trafen aufeinander. Trotz der Schweißausbrüche fror Rüdiger plötzlich unter dem eisigen Blick des Mannes, der sich als Horch vorgestellt hatte. Seine leise gesprochenen Worte durchschnitten die Stille.

»Das ist Kunst, du Banause. Du hast mir den gesamten Genuss versaut. Du hättest dafür eine Strafe verdient. Aber ich will heute einmal gnädig sein und dir, ganz im Gegenteil, Freude bereiten. Ist dir aufgefallen, dass ich deinen Körper gereinigt habe? Nein – das hast du heruntergekommenes Subjekt nicht einmal bemerkt. Ich habe dich Zentimeter für Zentimeter gewaschen. Pfui Teufel ... das war einfach eklig.«

Erst jetzt registrierte Rüdiger tatsächlich den Geruch von Seife, der ihm mittlerweile fremd geworden war. Dem Umstand konnte er allerdings nicht die entsprechende Bedeutung zuordnen. Von Angst fast gelähmt wartete er auf das weitere Geschehen, denn Horch erhob sich nun aus seinem Stuhl, kam näher. Mit der Spitze des Zeigefingers fuhr er langsam, fast genießerisch über die Arme, den Bauch und über die Oberschenkel des Opfers. Rüdiger durchlief ein seltsames, fast wohliges Gefühl. Ein Zittern durchfuhr seinen Unterleib und führte zu einer ungewollten Erektion.

»Siehst du, mein Freund ... du besitzt die Reflexe eines wahren Mannes. Das gefällt mir. Es gefällt mir sogar außerordentlich gut. Der Anfang ist doch sehr vielversprechend. Wir zwei werden bestimmt viel Freude miteinander haben.«

Nachdem Horch ihm die Worte ins Ohr geflüstert und ihm zärtlich ins Läppchen gebissen hatte, glitt er wie eine Katze davon. Der rosafarbene Bademantel fiel von seinen Schultern und breitete sich auf dem Boden aus. Wie eine Diva schritt Horch darüber hinweg und drehte sich einmal um die Achse. Rüdiger konnte den drahtigen und muskulösen Körper seines Peinigers bewundern. Als wäre er mitten in einer Tanzperformance, fuhr sich Horch mit den Fingern durch das Haar und streckte die Arme anschließend zur Zimmerdecke. Die letzten Töne des Gefangenchors verklangen und Nabucco war erst einmal Vergangenheit. Als wäre es das Signal für Horch gewesen, glitt er schlangenartig heran und bewegte sich mehrfach um Rüdiger herum, der nicht in der Lage war, auch nur einen Finger zu rühren. Zu sehr lähmte ihn der Gedanke daran, was der Wahnsinnige mit ihm anstellen mochte. Sein Atem ging flach und stoßweise. Nur die Augen verfolgten die Bewegungen des Mannes, bis er hinter ihm verschwand. Nichts geschah. Nur Stille umfing den wartenden Rüdiger.

Wie ein Blitz durchfuhr ihn die Tatsache, dass sich das Gestänge, in dem er gefangen war, auf unheimliche Art veränderte. Es kippte um wenige Grad nach vorne und Zugseile sorgten dafür, dass Rüdigers Beine gespreizt wurden. Etwas Kaltes floss über seinen Hintern, das er sehr schnell als Gleitcreme ausmachte. Sein unmenschlicher Schrei verhallte ungehört in dem schallisolierten Kellerraum.

7

Die Havelstraße begrenzte einen kleinen Park, in dem die Hundeliebhaber gerne in den Abendstunden ihre Tiere Gassi führten. Nun war von der Beschaulichkeit dieses Ortes und der Ruhe nichts mehr übrig. Die Polizei hatte beide Enden der kurzen Straße für den Durchgangsverkehr gesperrt. Ein letzter Löschwagen der Feuerwehr war noch vor Ort und rollte einen Schlauch zusammen. Die drei Kripoleute entdeckten den Einsatzleiter der Polizei und steuerten auf David Koller zu.

»Wow, ihr seid aber schnell hier. Den Mann haben die Männer ja gerade erst gelöscht. Wollen wir?«

Koller bewegte sich mit schnellen Schritten auf eine Parkbank zu, von deren Sitzfläche immer noch Rauch aufstieg. Der Geruch von verbranntem Menschenfleisch stieg unangenehm in die Nase der ankommenden Beamten. Rita riss spontan den Unterarm vor das Gesicht und drehte sich ab. Liebig und Spiekermann näherten sich dem Fundort von der windabgewandten Seite und umgingen so diesen fürchterlichen Gestank. Rita stellte sich hinter die beiden Männer und lugte neugierig an ihnen vorbei auf das, was einmal ein Mensch gewesen sein musste.

»Das ist ja ... unmenschlich. Wer macht denn so was?«

Rita konnte die Worte nicht zurückhalten und wendete sich wieder ab.

Liebig ignorierte die Frage und trat näher heran. Ein Befehl hinter ihm ließ ihn zurückschnellen: »Nichts anfassen, Liebig. Da muss erst das geschulte Auge eines Mediziners ran.«

Dr. Schiller legte Liebig lächelnd die Hand auf die Schulter und beugte sich über die Leiche.

»Sieht mir nicht mehr ganz vollständig aus, obwohl schon ein Teil völlig verbrannt ist. Wo sind Arme und Beine?«

Erst jetzt fiel dem Hauptkommissar ebenfalls auf, was der Mediziner auf Anhieb bemerkt hatte. Nur der Torso mit Kopf lag vor ihnen, wobei das Gesicht wie mahnend zum Himmel gerichtet war. So als wollte der Tote Gott im Todeskampf anflehen. Schiller fuhr fort, während Liebig an den Überresten eine genauere Beschauung vornahm.

»Riechen Sie das, Liebig?«

»Wenn Sie das Ethanol meinen, dann ja. Da wollte wieder einmal jemand Spuren verwischen, indem er oder sie das Opfer verbrannte. Täusche ich mich, oder ist die Leiche in besserem Zustand als dieser Löffler aus der Kronenstraße? Sehen Sie mal ... da am Halsansatz. Könnte das nicht eine Tätowierung sein? Ich würde sagen, dass das ein Name ist. Nor kann ich erkennen. Womöglich heißt das Nora oder Norbert.«

Schiller sah sich den Hals genauer an und nickte zustimmend.

»Norbert, tatsächlich ... da steht Norbert. Das dürfte Ihnen möglicherweise helfen, den Namen des Opfers schneller herauszufinden. Ich weiß, es klingt jetzt ein wenig seltsam, aber wir haben Glück gehabt, dass man den Mann so schnell fand. Der kann noch nicht allzu lange gebrannt haben. Die Feuerwehr war wohl sehr schnell zur Stelle. Sicher sind einige Körperpartien komplett verbrannt, aber ein Großteil blieb erhalten. Da werde ich bestimmt was Brauchbares für Sie herauskitzeln.«

Rita schob sich näher heran und sah fasziniert auf die Bein- und Armstumpen, die der Täter am Körper seines Opfers belassen hatte. Angewidert verzog sie das Gesicht, bevor sie Schiller ansprach.

»Die Arme und Beine sind aber sehr sauber abgetrennt worden. Äußerst glatte Schnitte, was wohl auf einen Profi mit medizinischer Ausbildung hinweisen dürfte. Warum trennt man die Glieder ab und verbrennt nur den Torso? Das verstehe ich nicht.«

Liebig und Schiller wechselten einen Blick, bevor Schiller den Part übernahm, die junge Kollegin aufzuklären.

»So ungewöhnlich ist das eigentlich gar nicht. Ein Grund mag sein, dass man das Opfer dadurch identifizieren könnte. Diese Psychopathen ticken anders als wir. Häufig behalten sie aber auch Teile ihrer Opfer sozusagen als Trophäen. Da sind schon Menschen festgenommen worden, die besaßen ganze Sammlungen an Körperteilen. Ab und zu konservieren sie die Teile mit Formalin oder Ethanol und legen die in Gläser. Das macht aber wenig Sinn bei großen Gliedmaßen. Hin und wieder besitzen die Wahnsinnigen große Kühltruhen, in denen sie die Körperteile schockgefrieren ... sozusagen für später.«

Rita hatte aufmerksam zugehört und sah von einem zum anderen.

»Für später? Was meinen Sie damit?«

Nun schaltete sich Liebig dazwischen und klärte Rita auf: »Mit später meint Dr. Schiller, dass diese Bestien ab und zu auch das Fleisch ihrer Opfer essen. Sie kennen das doch bestimmt aus Dokumentationen über Urvölker. Die aßen die Körper anderer Krieger, weil sie daran glaubten, dass dadurch deren Kraft auf sie überging. So ähnlich müssen Sie sich die kranken Gedanken dieser Mörder vorstellen. Ich habe von einem Serienkiller aus Boston gelesen, der die Organe seiner Opfer mit glasklarem Gießharz umhüllte, um sich die Teile anschließend ins Regal zu stellen. Den Besuchern stellte er sie als Innereien von gejagten Tieren dar. Ja, bis eines Tages eine Frau ihren neuen Freund, einen Arzt, mitbrachte. Der hat dann den Stein ins Rollen gebracht und später stellte sich heraus, dass diese Bestie mindestens vierundzwanzig Menschen getötet haben musste.«

Schiller unterbrach die Unterhaltung der beiden Ermittler.

»Ich störe Sie ungern bei dem Aufklärungsunterricht, aber kann ich den Leichnam nun abtransportieren lassen? Sind Sie so weit durch?«

»Oh, natürlich, Doktorchen. Ich kümmer mich noch mit der netten Kollegin um die Befragung von möglichen Zeugen und der Feuerwehrleute. Sie werden mir morgen bestimmt schon was berichten können. Sehe ich das richtig?«

Schiller wollte noch etwas erwidern, blickte aber nur noch auf den breiten Rücken des Hauptkommissars, der seine Assistentin vor sich her auf eine Gruppe von Feuerwehrleuten zuschob. Er grinste schelmisch und murmelte etwas Unverständliches vor sich hin. Schließlich winkte er einen Beamten herbei.

»Kann mir jemand von euch verraten, wie die Meldung über den Brand zur Leitstelle kam? Mein Name ist übrigens Peter Liebig, Hauptkommissar vom Morddezernat, und das ist meine Kollegin Kommissarin Rita Momsen.«

Die drei Männer, die sich noch über den Einsatz unterhielten, betrachteten die Ankömmlinge freundlich und traten auseinander.

»Mein Name ist Wotan. Der Anruf soll um 9:30 Uhr eingegangen sein. Wir waren um 9:38 Uhr vor Ort und fanden den Mann lichterloh brennend auf der Parkbank. Der Brand war schnell gelöscht, weil der Kollege Schneider eine Decke über den Mann legen konnte, die den Flammen den Sauerstoff nahm. Der Rest war schnell erledigt. Aber Sie werden sicherlich schon bemerkt haben, dass hier ein Brandbeschleuniger zum Einsatz kam. Fünf Minuten später hätten Sie von dem Opfer nur noch Asche vorgefunden. Der Anruf kam von einer Frau, die dort oben in der zweiten Etage wohnen müsste. Moment – ich habe den Namen aufgeschrieben. Sie heißt Köthing.«

»Gute Arbeit, meine Herren. Meine Hochachtung wegen der tollen Reaktion. Wir werden uns mal die Frau vornehmen. Vielleicht hat sie ja was gesehen. Euch noch einen möglichst ruhigen Dienst, Männer. Und danke.«

Liebig schüttelte jedem Einzelnen die Hand und richtete den Blick auf den gegenüberliegenden Häuserblock. Er sah das Gesicht einer Frau hinter der Gardine verschwinden.

 

Frau Köthings Kopf erschien in dem Türspalt. Sie musterte die Besucher eingehend von oben bis unten. Ihr Blick blieb an Liebigs Dienstausweis hängen, bevor sie den Eingang zur Wohnung freigab.

»Kommen Sie rein. Ich habe Sie schon erwartet. Stören Sie sich bitte nicht an dem Durcheinander und an meiner Frisur. Ich saß beim Frühstück, als ich aus dem Fenster sah. Eigentlich wollte ich nur nach dem Wagen von meinem Ex sehen. Der sollte mir heute Morgen die Scheidungsvereinbarung vorlegen. So viel zum Thema sollte. Der Scheißkerl hat sich mal wieder nicht blicken lassen.«

Rita unterbrach die redselige Frau, bevor auch noch die Gründe der Trennung zur Sprache kamen.

»Als Sie aus dem Fenster schauten – was genau sahen Sie? Haben Sie nur Flammen gesehen, oder gab es da Fahrzeuge oder Personen ...?«

»Da war dieser Kerl.«

Nun war es wieder Liebig, der den Ball aufnahm.

»Da war ein Kerl? Was meinen Sie damit? War er bei der Brandstelle und konnten Sie ihn gut erkennen? Kommen Sie, Frau Köthing, lassen Sie sich nicht jedes Wort aus der Nase ziehen. Könnten Sie die Person beschreiben?«

Den beiden Ermittlern kam es vor, als würde Frau Köthing es längst bereut haben, überhaupt etwas gesagt zu haben. Sie knetete ihre Hände und stammelte unverständliche Sätze.

»Ich habe da einen Mann, einen großen Mann gesehen. Aber der hat mir nie das Gesicht zugewendet. Er trug eine Mütze – so eine, wie sie die jungen Leute heutzutage tragen – einfach eine Wollmütze. Als er mich am Fenster bemerkte, lief er zu seinem Auto und verschwand. Er war einfach nur groß. Mehr weiß ich nicht, Herr Hauptkommissar. Wirklich nicht.«

Liebig ließ nicht locker und forschte weiter.

»Was tat der Mann da an der Bank? Bitte, Frau Köthing. Das ist sehr wichtig.«

»Der hat da etwas Schweres hingelegt und plötzlich schoss diese Stichflamme hoch. Danach ist er weggelaufen. Glauben Sie mir doch bitte.«

»Was war das für ein Auto«, wollte Rita wissen und legte beruhigend ihre Hand auf den Arm von Frau Köthing.

»Schwarz – ja schwarz war der. Ich kenne die Fahrzeugtypen nicht. Das war so ein Auto, das die Firmen zum Ausliefern benutzen. Aber da war kein Firmenschild drauf. Da bin ich mir ganz sicher. Mehr weiß ich wirklich nicht, weil ich sofort die Feuerwehr angerufen habe. Gehen Sie jetzt bitte. Mein Ex kann jeden Augenblick kommen. Wenn der Sie hier sieht, wird der wieder stinksauer, und dann kann ich das ausbaden.«

Liebig spürte, dass im Augenblick nicht mehr aus der Frau herauszuholen war. Er zog eine Visitenkarte aus der Jackentasche und reichte sie der zitternden Frau.

»Bitte, Frau Köthing. Sollte Ihnen noch etwas einfallen zu dem Mann, egal was, rufen Sie mich bitte sofort an ... Tag und Nacht. Haben Sie mich verstanden? Wir gehen jetzt und hoffen, dass das mit Ihrem Mann gut abläuft.«

Vor der Haustür atmete Liebig noch einmal kräftig durch.

»Na, wenigstens haben wir eine Vorstellung vom Wagentyp, und der Kerl soll groß sein. Entschuldigung, wenn ich das so frei raus sage. Immer wieder kotzt mich das an, wenn ich aus diesen Häusern komme und mitnehmen muss, wie beschissen und erbärmlich die Ehen oft ablaufen. Ich dagegen habe meine Frau wirklich geliebt und sie musste einem dieser dreckigen Psychopathen zum Opfer fallen. Ist das gerecht? Kann das Gottes Wille gewesen sein? Ach, lassen Sie nur, Rita, ich will darauf keine Antwort. Kommen Sie, es gibt viel zu tun.«

8

»Das glaube ich einfach nicht, Schiller. Dann hätten wir es ja unter Umständen mit dem gleichen Täter zu tun. Was ist in Essen los? Gibt es in dieser Stadt ein Nest, in dem Massenmörder gezüchtet werden? Und die sind alle gleichzeitig geschlüpft. Rita, anziehen! Wir müssen rüber zur Rechtsmedizin. Es gibt Neuigkeiten. Lassen Sie Spiekermann einen Zettel da, wo wir sind.«

Liebig legte den Hörer wieder auf die Gabel und erhob sich lustlos. Gerade als die beiden das Büro verlassen wollten, liefen sie Kriminalrat Rösner in die Arme, der zu seinem besten Ermittler hochsah. Immerhin überragte der Hauptkommissar ihn um mindestens eineinhalb Köpfe. Rösners Fistelstimme hatte jede Festigkeit verloren, als er stotterte: »Mensch, Liebig. Geht das auch etwas langsamer? Ich wollte Sie gerade aufsuchen, um zu erfahren, was es mit der Leiche im Park auf sich hat. Das ganze Präsidium spricht schon darüber. Also?«

Die Ungeduld war Liebig unschwer anzusehen, als er seinen Vorgesetzten mit sanfter Gewalt zur Seite schob und dem im Weggehen zurief: »Herr Rösner. Bitte seien Sie mir nicht böse, wenn ich den Bericht erst später nachreichen muss, aber wir müssen dringend zu Schiller. Er hat ganz wichtige Fakten zum Fall. Bis gleich also. Ich melde mich bei Ihnen, sobald wir zurück sind.«

Liebig schob die unentschlossene Rita zum Aufzug und grinste.

»Der nimmt mir das nicht übel. Zumindest nicht lange. Aber Schiller ist mir jetzt wichtiger als dieser Kugelblitz. Der wird schon früh genug davon erfahren. Wo habe ich eigentlich den Wagen abgestellt?«

»Soll ich ihn holen? Sie brauchen eine Pause, Chef.«

Rita drehte sich ab, damit Liebig ihr unverschämtes Grinsen nicht sah. Keiner wusste besser als sie, wie sehr ihr Chef es hasste, wenn er als Beifahrer fungieren musste.

 

»Der Mann wurde wirklich in den Arsch ... Oh, verzeihen Sie, Rita. Ich habe ganz vergessen, dass eine Frau im Raum ist.«

Liebig ging auf seine Assistentin zu und wollte die Hände an ihre Schultern legen. Die wehrte aber mit den Worten ab: »Ich sagte Ihnen bereits, dass ich mit zwei älteren Brüdern aufgewachsen bin. Ich lebe doch nicht hinter dem Mond. Wenn ich das richtig verstehe, dann wurde das Opfer vor seinem Tod von dem Täter anal sexuell missbraucht. Wir haben es also mit einem Homosexuellen zu tun. Richtig?«

»Besser hätte ich es auch nicht ausdrücken können«, meldete sich nun Schiller, den die Diskussion zu amüsieren schien.

»Ich sagte ja schon, dass der Mann nicht so stark angekokelt wurde, dass ich nicht damit arbeiten könnte. Ich habe also Sperma im Darm gefunden, das ich erst analysieren muss. Liegt schon im Labor. Aber es geht weiter, Herrschaften. Das dicke Ende kommt noch.«

Hier legte Schiller eine Kunstpause ein, bis er merkte, wie die Ungeduld in Liebig wuchs und der kurz vor einem Anfall war.

»Wie wir wissen, ist der Verbrennungstod eine Kombination von Kohlenmonoxidvergiftung, Schocktod und Kollaps. Wenn es denn so gewesen wäre, dass der Leichnam lediglich verbrannt werden sollte, würde ich Sie nicht hierherbestellt haben. Jetzt kommt erst das Beste – der Mann muss noch gelebt haben, als man ihn anzündete.«

Jetzt machte sich nicht nur in Ritas Gesicht Entsetzen breit. Auch Liebig schluckte.

»Was bringt Sie denn darauf? Dem Kerl wurden doch sämtliche Glieder amputiert. Der kann doch nicht mehr ...«

Schiller hob beide Hände und stoppte den Hauptkommissar damit.

»Das muss ich zugeben, habe ich auch zum ersten Mal auf meinem Tisch. Der Mörder muss die Gliedmaßen sehr schnell, also mit einem glatten Schnitt vom Körper getrennt haben. Ich vermute eine Handkreissäge. Dann hat er die Wunden, damit sein Opfer nicht ausblutet, sofort mit Flüssigharz abgedichtet. Ich will das mal so einfach ausdrücken. Das hat der bei allen Gliedern so gemacht und das ... hören Sie bitte genau zu ... bei vollem Bewusstsein.«

Das Knarren war unüberhörbar, als sich Rita in den Stuhl fallen ließ. Trotzdem stellte sie die Frage: »Wie kommen Sie darauf, dass er bei vollem Bewusstsein war?«

»Ich habe in seinem Körper keine Spur eines Narkotikums feststellen können. Allerdings war noch Ketamin schwach nachweisbar, das man in K.-o.-Tropfen mischt. Das nimmt aber nicht die Schmerzen bei einer Operation. Sie werden sich jetzt fragen, woher ich weiß, dass der Mann beim Brand noch lebte. Ganz einfach.

Ich fand eine wässrige Durchtränkung der einzelnen Schichten der Luftröhrenäste sowie eine Verengung des Lumens der Bronchien durch starke Fältelung der Schleimhaut. Kurz – Rauchgase sind in die Lunge eingedrungen, was nur geschieht, wenn der Mensch noch atmet. Das hat dem Mann den Rest gegeben. Jetzt Sie, Herrschaften.«

Die eintretende Stille im Raum war greifbar. Ritas Gesichtsfarbe wirkte ungesund, als sie ihre Gefühle ausdrückte.

»Wie krank und hasserfüllt muss jemand sein, einen Menschen so lange am Leben zu erhalten, ihn zu foltern und zu quälen, bis er ihn bei lebendigem Leibe verbrennen kann? Für ihn steht neben der sexuellen Befriedigung auch noch die durch das Leiden des Opfers an erster Stelle. Das kann kein Mensch sein.«

Schiller schüttelte den Kopf.

»Doch, doch, liebe Frau Momsen. Das ist ein Mensch. Ganz sicher. Ein Tier wäre zu solchen Perversitäten gar nicht fähig. Da muss der Schöpfer einen nicht so glücklichen Tag erwischt haben, als er dieses Monster schuf. Haben Sie noch Fragen zum Fall? Ansonsten gehe ich wieder an meine Arbeit. Da liegen noch zwei Kunden in der Kühlung.«

 

Rita blieb etwas zurück, was Liebig dazu veranlasste, sich mit ihr auf die Treppenstufen im Eingangsbereich des Instituts zu setzen.

»Ich kann das nicht so einfach verarbeiten, Chef. Ich stelle mir immer wieder vor, wie dieser arme Mann leiden musste. Ich vermute zwar, dass ihm die Schmerzen das Bewusstsein raubten, doch er kommt ja immer wieder zu sich. Und dann geht es weiter ... immer wieder und wieder. Solche Täter haben es einfach nicht verdient zu leben. Da hat es irgendwann im Laufe der Evolution einen schweren Knacks gegeben. Da hat sich parallel zu uns eine Spezies gebildet, die schlimme Mutationen in sich vereint. Ich hoffe, dass wir irgendwann einmal wieder einen normalen Totschlag untersuchen. Ich meine, den aus purer Wut und Leidenschaft heraus.«

Liebig lachte in sich hinein und klopfte Rita auf den Rücken.

»Da kann ich Sie beruhigen, Frau Momsen. Wir werden uns für den Rest unseres beschissenen Lebens weiter mit dem Müll der menschlichen Rasse herumschlagen müssen. Kommen Sie, bevor wir mutlos den ganzen Job hinschmeißen. Wir müssen die Bestie finden und stoppen.«

9

Katharina Moschus, Ehefrau des Feuerwehrmannes, legte beide Arme um den Hals der Freundin, drückte herzlich einen Kuss auf die Wange von Monika Wotan. Hans stimmte es immer glücklich, wenn er die Herzlichkeit zwischen den beiden Frauen spürte. Dieser Kontakt schuf Monika einen gewissen Ausgleich für fehlende Gespräche mit ihm. Es bestand zwischen ihnen ein Abkommen, dass er die Probleme, die sein Beruf bei der Feuerwehr unweigerlich mit sich brachte, von der Familie weitestgehend fernhielt. Nur sehr selten wurde diese Grenze überschritten. Hans drückte Katherina an seine breite Brust und flüsterte ihr zu: »Hast du das Geschenk für den Kleinen früh genug erhalten? Ich dachte mir, dass es sicherer wäre, es direkt zu dir nach Hause schicken zu lassen. Schön verpackt? Dann kann ich es ihm ja selbst geben.«

»Alles wurde nach deinen Wünschen arrangiert. Doch kommt erst einmal herein. Ich hol das Paket. Habe es im Schlafzimmer versteckt. Schnell, bevor die Rotznase mitbekommt, dass ihr schon hier seid. Der hat bereits vor Stunden gejammert: Wann kommt denn endlich Onkel Hans? Bin in zwei Minuten wieder da.«

Katharina verschwand für einen Augenblick, um schon nach einer Minute wieder mit einem Riesenpaket in der Diele zu erscheinen. Die Geräusche des Kindergeburtstags schallten gedämpft bis zum Eingang, sodass Hans es sofort gehört hätte, wenn sich jemand von dort nähern würde. Mit Freude übernahm er das Geschenk und machte sich auf den Weg zur Terrasse. Über den Rand des Paketes konnte er eine Gruppe Kinder ausmachen, die gerade Blindekuh spielten. Als man den neuen Gast erspähte, trat augenblicklich Ruhe ein, bis endlich jemand den entscheidenden Ruf losließ: »Dein Onkel Hans ist da. Das Geschenk kommt. Juhu, auf ihn mit Gebrüll!«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752144321
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Mai)
Schlagworte
Feuerteufel Feuerwehr Serienmörder Psychopath Krimi Ermittler Noir

Autor

  • H.C. Scherf (Autor:in)

Der Autor begann nach Eintritt in den Ruhestand mit dem Schreiben von spannenden Romanen unter seinem Klarnamen Harald Schmidt. Da dieser durch TV bekannte Name falsche Erwartungen beim Leser weckte, übernahm er das Pseudonym H.C. Scherf zum Schreiben etlicher Thriller-Reihen.
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Titel: Die Asche bleibt