Lade Inhalt...

Die Rache bleibt

von H.C. Scherf (Autor:in)
206 Seiten
Reihe: Die Liebig/Momsen-Reihe, Band 4

Zusammenfassung

Das Ziel ist Rache - das Ergebnis ist Selbstzerstörung Niemand kann zu diesem Zeitpunkt erahnen, welche Opfer ein Rachefeldzug noch fordert, als man die erste schrecklich zugerichtete Leiche findet. Die Frau wurde hingerichtet von einem Täter, der damit eine blutige Spur durch die Strafverfolgungsbehörden ankündigt. Dass er keine Spuren hinterlässt und sein Motiv Rätsel aufgibt, macht es dem bekannten Ermittlerteam um Peter Liebig und Rita Momsen nicht einfacher. Seine Todesliste arbeitet der Killer unerbittlich ab. Das Grauen findet seine Fortsetzung, obwohl sich Puzzlestücke zusammenfügen. Der Tod jedoch hat die sympathischen Kripobeamten längst eingeplant.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Die Rache bleibt

 

 

Von H.C. Scherf

 

 

Thriller

1

Der cremefarbene Ford Taunus kam mit quietschenden Bremsen in der Einfahrt der im viktorianischen Stil gebauten Villa zum Stehen und zündete noch zweimal nach. Der Rechtsmediziner Dr. Ralf Schiller strich noch ein letztes Mal über das Lenkrad, so als wollte er sich dafür bedanken, dass der Oldtimer wieder einmal durchgehalten und ihn wohlbehalten nach Hause gefahren hatte. Ein gemeiner Schmerz in der Lendenwirbelmuskulatur durchfuhr den Mediziner, als er sich zur Rückbank umdrehen wollte, um den bunten Blumenstrauß zu greifen, den er seiner geliebten Maria zum heutigen Geburtstag mitgebracht hatte. Die vielen Kunden, die er heute auf den Seziertischen untersuchen musste, hatten ihn der Gelegenheit beraubt, die Blumen in einem richtigen Blumenladen zu kaufen. Ihm war nur der Shop an der Tanke geblieben. Nun hoffte er inständig, dass es Maria nicht auffallen würde. Schließlich würde sie sicherlich von den Gästen abgelenkt, die zu dem feierlichen Anlass das Haus besetzt hielten.

Die ebenfalls quietschende Autotür, die sich nur schwer schließen ließ, erinnerte Schiller lautstark daran, dass er die Scharniere schon vor Wochen ölen wollte. Seufzend setzte er auch dieses Vorhaben einmal mehr auf die To-do-Liste, die er lediglich in Gedanken führte. Sein gedrungener Körper straffte sich, als er den Haustürschlüssel wieder aus dem Schließzylinder zog und er sich auf das Stimmengewirr vieler Gäste vorbereitete. Nur zögernd ließ er die Tür ins Schloss fallen, lauschte in die unerwartete Stille des Hauses. Kein Geschnatter, keine Musik – dafür aber gespenstische Ruhe und ungewohnte Düsternis. Ein schmaler, kaum wahrnehmbarer Lichtstrahl drängte aus dem Schlafzimmer in die Diele und schaffte in Schiller, ohne dass er es sich erklären konnte, Unbehagen. Er befreite sich von seinem Kamelhaarmantel, warf ihn gedankenverloren über den Garderobenhaken. Die jetzt leicht zitternden Finger umfassten immer noch den Blumenstrauß, den er fast wie eine Waffe vor sich hertrug. Seine Augen waren auf den Türschlitz gerichtet, während er mit dem Taschentuch in der anderen Hand erste Schweißperlen von der hohen Stirn wischte. Sie hatten sich bereits über die gesamte Glatze ausgebreitet. Kurz vor der schweren Schlafzimmertür, die den Charme der Fünfzigerjahre versprühte, blieb er noch ein letztes Mal unentschlossen stehen.

»Maria? Bist du da drin? Sag doch was, Liebes.«

Nichts. Keine Antwort. Etwas Unerklärliches hielt ihn noch einen Moment zurück. Mit den Fingerspitzen drückte er dann doch das Türblatt Zentimeter für Zentimeter nach innen und blieb wie angewurzelt stehen. Die Hand mit den Blumen öffnete sich, trennte sich vom Grün der Pflanzen, die kurzen Beine des leicht übergewichtigen Mediziners versagten den weiteren Dienst. Ein fast stummer Schrei verließ seine Kehle, bevor er auf den Boden sank.

2

Die mit Efeu überwucherte Vorderfront der Schiller-Villa hatte ihre majestätische Ausstrahlung durch die flackernden Lichter der Einsatzfahrzeuge verloren. Nun wirkte sie gespenstisch. Die ansonsten ruhige Straße hatte die Beschaulichkeit eingebüßt, in der sie normalerweise um diese späte Stunde strahlte. Mindestens zehn Fahrzeuge von Polizei und Rettungsdiensten waren vorgefahren und lockten die Nachbarn vor ihre Türen. Da noch nichts an Informationen floss, kursierten bereits die wildesten Gerüchte.

Hauptkommissar Peter Liebig saß dem älteren Mann gegenüber, der ihm in den letzten Jahren zum Freund geworden war. Nichts war mehr zu spüren von der Fröhlichkeit, die ihre früheren Begegnungen immer auszeichnete. Vor Liebig saß ein gebrochener Mann, der beide Hände vor das Gesicht geschlagen hielt und hemmungslos weinte. Auch Kommissarin Momsen, die Liebig wie selbstverständlich gefolgt war und immer einen flotten Spruch auf den Lippen hatte, sah hilflos auf die gebeugt dasitzende Gestalt, unfähig, ein Wort des Trostes zu sprechen. Schließlich drängte sie sich wieder in das Schlafzimmer, in dem sie ein weiteres Mal auf das Grauen starrte, das ein Wahnsinniger hinterlassen hatte.

Während sie die Kollegen der Spurensicherung beobachtete, die in ihren weißen Schutzanzügen wie Schneemänner wirkten und vorsichtig jeden Millimeter des Raumes nach Hinweisen absuchten, bemerkte sie nicht die Gestalt, die wortlos neben ihr auftauchte. Erst als Liebig seine Gedanken mit erstickter Stimme offenbarte, sah sie ihm ins Gesicht.

»Habe ich Ihnen nicht prophezeit, dass das niemals aufhören wird? Wer tut nur so was? Diese Frau hat niemandem jemals ein Leid zugefügt. Sie sammelte schon seit Jahren Geld für eine Organisation, die sich um ehemalige Strafgefangene kümmert. Sie wollte diesen Menschen bei der Eingliederung helfen. Nun ist sie womöglich selbst Opfer einer solchen Bestie geworden. Rita, das ist selbst mir zu viel. Würde mir das Tier jetzt über den Weg laufen, wüsste ich nicht, was ich täte.«

Rita blieb eine Antwort schuldig, die an jedem anderen Tag gefolgt wäre. Heute aber blieb ihr nur ein zustimmendes Nicken. Da sich ihre Augen erneut mit Wasser füllten, sah sie das, was der Täter von dieser Frau übrig gelassen hatte, relativ verschwommen. Immer wieder blieb ihr Blick an dem hängen, was die Bestie mit dem Blut des Opfers an die Wand gemalt hatte.

Das ist erst der Anfang. Ihr habt meine Familie zerstört – jetzt werde ich mich an denen rächen, die Schuld daran tragen. Ich bin die Rache und komme über euch.

Endlich fand Rita die Sprache wieder.

»Denken Sie das Gleiche wie ich, Chef? Müssen wir jetzt in alten Akten wühlen, um den Täter zu finden?«

Auch Liebig las die Zeilen immer wieder und wieder, bis er auf die Frage einging.

»Wissen Sie, was das bedeutet? Dr. Schiller hat hunderte Körper aufgeschnitten, hat ebenso viele Gutachten erstellt. Der Täter wollte eigentlich ihn treffen. Ich denke, dass er in Schiller den zu finden glaubt, der maßgeblich dafür verantwortlich ist, dass ein Familienmitglied oder sogar er selbst verurteilt wurde. Nur so kann ich mir derzeit das Motiv erklären. Wir werden im Umfeld derer suchen müssen, bei denen durch ein Gutachten Schillers jemand verurteilt wurde.«

»Und mehr lesen Sie aus dieser Nachricht nicht heraus, Chef?«, hakte Rita an dieser Stelle ein, »Wollen Sie die Wahrheit nicht erkennen? Der Täter schreibt doch deutlich, dass er sich an denen rächen wird ...«

»Ja, ich kann lesen, Momsen«, schrie er Rita lauter entgegen, als es wohl geplant war. »Sie wollen mir sicher erklären, dass ich mich ebenfalls in Gefahr befinde, weil ich schon viele Jahre mit dem Mann zusammenarbeite. War es das, was Sie denken? Scheiß drauf. Morddrohungen erhalte ich eben häufiger als Liebesbriefe. Daran gewöhnt man sich. Doch das hier ...«, Liebig zeigte mit der ausgestreckten Hand auf Maria Schiller, »... nehme ich wirklich persönlich. Sie war eine Freundin, eine echte Freundin.«

Als Liebig gehen wollte, stieß er mit dem Mann zusammen, der seinen ersten Schock scheinbar überwunden hatte. Ralf Schiller schob den großen Mann beiseite, der ihm noch soeben seine Freundschaft bestätigt hatte. Langsam bewegte er sich mit zusammengekniffenen Lippen auf das Bett zu. Seiner ansonsten ausdruckslosen Miene war nicht zu entnehmen, was er augenblicklich dachte. Noch einmal las er die Zeilen, bevor er die im Blut schwimmende Hand seiner Frau vom Laken hob und zärtlich gegen seine Wange drückte. Rita glaubte, einen tiefen Seufzer vernommen zu haben, bevor der leidende Mann die Innenfläche der Hand küsste und vorsichtig wieder in die alte Position legte. Alle Anwesenden schluckten, als sie in das jetzt blutverschmierte Gesicht des Rechtsmediziners blickten. Der jedoch machte sich an die Arbeit, die für ihn die wahre Hölle bedeuten musste. Niemand bemerkte das Eintreten des Kriminalrates Rösner, den man aus dem Bett geholt hatte. Fest legte der eine Hand auf Liebigs Schulter und zog ihn aus dem Raum.

»Was ist hier genau passiert, Liebig? Wieso lassen Sie Schiller selbst die Untersuchung durchführen? Das verstößt klar gegen jede Vorschrift.«

Liebigs Körper versteifte sich für einen kurzen Augenblick. Schnell fand er allerdings seine Fassung wieder zurück und wandte sich an Rösner.

»Finden Sie nicht, dass Sie gerade über das Ziel hinausschießen? Es dürfte doch sehr verständlich sein, dass er den Mörder seiner Frau unbedingt finden will und dazu seine Fachkenntnisse einsetzt. Außerdem steht er nicht im Polizeidienst. Somit gelten unsere Regeln nicht für ihn.«

Wenn Liebig glaubte, den Kriminalrat damit beeindruckt zu haben, wurde er enttäuscht.

»Liebig, was ist mit Ihnen los? Wo bleibt Ihr Sachverstand? Klar, Schiller ist Angestellter der Klinik, da haben Sie völlig recht mit Ihrer Bemerkung. Doch wir dürfen eine Tatsache nicht außer Acht lassen. Er hat seine Frau gefunden. Er hat uns verständigt. So weit klingt das beeindruckend und ich bin der Letzte, der nicht mit ihm fühlt. Doch wir dürfen eines niemals vergessen. Er könnte – ich wiederhole deutlich – er könnte auch selbst der Täter sein und das Ganze inszeniert haben. Ich weiß, dass es sehr weit hergeholt klingt, doch das Leben hat uns schon so manche Überraschung serviert. Sie wissen so gut wie ich, Liebig, wie oft in unserer Statistik ein Familienangehöriger später als Mörder entlarvt wurde.«

Liebigs Einwandversuch wurde von Rösner mit einer harschen Handbewegung beiseitegewischt.

»Und genau deshalb erwarte ich von Ihnen, dass Sie Schiller vom Tatort fernhalten. Er könnte Spuren entfernen oder zumindest unterschlagen. Ich erwarte von einem Profi wie Ihnen, dass er unverzüglich das Privatleben des Mannes unter die Lupe nimmt. Wahrscheinlich werden wir nichts finden. Doch es gehört zu unserer Pflicht, auch nur das geringste Verdachtsmoment gegenüber Schiller zu durchleuchten. Machen Sie dem Mann sofort klar, dass er den Tatort bis zum Ende der Ermittlungen nicht mehr betreten darf. Ich werde ein anderes Institut, zumindest einen anderen Rechtsmediziner mit der Leichenbeschauung beauftragen. Es tut mir leid, zumal ich weiß, dass Sie befreundet sind.«

Rösner wollte sich schon entfernen, als er sich ein weiteres Mal umdrehte.

»Ach, noch eine Kleinigkeit, Liebig. Sollten Sie mit der Ermittlung in diesem Fall persönliche Probleme, also Skrupel haben, sagen Sie es mir früh genug. Ich kann das sogar gut verstehen. Dann werde ich Spiekermann mit den Ermittlungen beauftragen.«

Rösner ließ einen nachdenklichen Liebig zurück, der sich plötzlich Rita gegenüber sah, die ihn durch ihre Bemerkung wieder in die Realität zurückholte.

»Er hat recht, Chef. Sie selbst haben mir vor gar nicht langer Zeit einen Vortrag darüber gehalten, wie oft der Schuldige in der eigenen Familie gefunden wird. Wir dürfen hier keinen Unterschied machen. Soll ich mit Schiller ...?«

Fast zu schnell kam die Antwort.

»Nein, das mach ich selbst. Hören Sie, Momsen. Haben Sie wieder in meinen Gedanken geschnüffelt oder vielleicht hinter der Tür gelauscht? Ab und zu würde ich gerne ein Eigenleben führen können, ohne die Befürchtung zu haben, dass Sie in meinem Kopf herumwuseln. Sie werden mir unheimlich.«

Noch im Weggehen konnte Liebig die gemurmelte Bemerkung der Kommissarin verstehen: »Vielleicht sollten Sie weniger laut denken, Chef.«

3

Die Beamten von Kripo und Spurensicherung waren längst abgezogen und hatten, nachdem die Tote abtransportiert worden war, das Tatzimmer versiegelt. Stumm saßen sich Peter Liebig und Dr. Schiller im Wohnzimmer gegenüber. Liebig hatte zugestimmt, ein Glas Rotwein mitzutrinken, da er dem Freund seinen ehrlichen Beistand bekunden wollte. Ohne jegliche Regung hatte sich Schiller vor Stunden von ihm aus dem Raum führen lassen, nachdem er ihm die Gründe dafür zusammengefasst hatte. Lediglich der an die Fensterscheiben prasselnde Regen unterbrach diese düstere Stille, die in dem halbdunklen Raum vorherrschte. Nur eine flackernde Kerze verbreitete ein schwaches Licht und warf spukhafte Schatten an die Wände. Liebig schrak aus seinen Gedanken, als Schiller nach einem kurzen Hüsteln das Schweigen brach.

»Sie muss lange gelitten haben.«

Liebig ließ die bedeutsamen Worte sacken, wartete darauf, dass sich Schiller erklärte. Erwartungsvoll sah er ihn an, bis Schiller fortfuhr.

»Haben Sie die vielen Schnitte in ihrem Unterleib gesehen? Die sind ihr bei vollem Bewusstsein zugefügt worden. Die Prellungen im Gesicht zeugen von brutalen Schlägen. Das Jochbein wurde komplett zertrümmert – vermutlich, um etwas aus ihr herauszuprügeln. Dieses Schwein hat sie einfach verbluten lassen, nachdem er ihr die Brüste abgeschnitten hatte. Was treibt einen Menschen dazu, so grausam zu sein? Der Hass muss grenzenlos gewesen sein. Übrigens wurden die Schnitte mit einem Chirurgenskalpell durchgeführt. Die Schnitte sind zwar glatt, aber nicht von geübter Hand geführt. Der Mörder wusste aber genau, wo er schneiden musste, um die Gebärmutter entfernen zu können. Was kann das bedeuten, Liebig? Warum meine Maria und warum gerade dieses Organ?«

Wenn Liebig vermutet hatte, dass dieser Mann zusammenbrechen würde, wurde er in diesem Augenblick enttäuscht. Schiller hatte nichts von seinem analytisch funktionierenden Verstand eingebüßt. Die Tränen waren getrocknet und hatten einem klaren Blick für die Lage Platz eingeräumt. Zumindest dem äußeren Anschein nach war er durch diesen bestialischen Mord an seiner Frau nicht gebrochen. Liebig erinnerte sich daran, als er vor Jahren den geschändeten Leichnam seiner eigenen Frau vorgefunden hatte. Tagelang war er in Selbstmitleid und wilden Mordfantasien versunken, was den Täter betraf. Wieder einmal zeigte sich deutlich, dass es in puncto Reaktion kein übertragbares Klischee gab, das in solchen Fällen anwendbar war. Jeder verarbeitete so ein Drama auf seine eigene Art.

»Ich glaube kaum, dass ich Ihnen dazu eine plausible Erklärung bieten kann. Das Geschehen wirkt im ersten Augenblick sinnfrei. Wir werden dazu Dr. Afarid befragen müssen. Gemeinsam mit ihm müssen wir die Tat und das Geschriebene in einen Zusammenhang bringen. Der Täter oder die Täterin wird sich dabei etwas gedacht haben. Wir wollen hoffen, dass wir das Rätsel lösen können, bevor ein weiterer Mensch das gleiche Schicksal erleidet.«

Schiller unterbrach Liebig mit seiner Frage.

»Sie glauben tatsächlich, dass dieser Wahnsinn noch nicht zu Ende ist? Wir wollen nicht hoffen, dass er sein Werk weiter fortführen kann. Er schrieb ja, dass er sich an denen rächen würde, die Schuld an einem Dilemma tragen, das seine Familie betrifft. Dazu gebraucht er den Plural, was mir Angst einjagt. Er scheint mit den Angehörigen beginnen zu wollen. Haben Sie keine Angst, Liebig? Schließlich haben wir gemeinsam viele hinter Schloss und Riegel gebracht.«

Der Angesprochene schüttelt müde den Kopf.

»Wissen Sie, Schiller. Ich habe damit aufgehört, die Morddrohungen ernst zu nehmen. Wenn die zugetroffen hätten, müssten Sie meinen Tod schon seit zwanzig Jahren betrauern. Bisher hat sie noch keiner wahr gemacht. Und ich erinnere noch mal daran, dass ich keine Angehörigen mehr habe. Wenn es geschieht, soll es eben so sein. Doch ich mache es denen nicht so einfach. Irgendwie bin ich immer unter Spannung und vorbereitet. Soll er kommen – er wird sich wundern. Schiller – darf ich Ihnen eine Frage stellen?«

»Selbstverständlich, Herr Liebig. Fragen Sie.«

»Können Sie sich erklären, warum keine Gäste mehr im Haus waren? Sie sprachen doch davon, dass Maria – ich meine Ihre Frau – heute Geburtstag hatte und sich Besuch eingeladen hatte. Sie trafen um etwa 20:30 Uhr ein. Da feiert man doch eigentlich noch. Ihre Frau war jedoch allein im Haus. Ist es Ihnen möglich, mir die Namen und Adressen der Gäste zu geben?«

Jetzt schien Schiller wirklich hellwach und trank den Rotweinrest in einem Zug aus. Er stand auf und begann eine Wanderung durch das düstere Zimmer, beide Hände in den Hosentaschen. Plötzlich blieb er stehen und sah Liebig an.

»Genau diese Frage geht mir auch schon den ganzen Abend durch den Kopf. Sie werden es mir vielleicht nicht glauben, Liebig, aber Maria machte aus der Gästeliste ein großes Geheimnis. Sie verriet mir weder die Anzahl, noch die Namen der Geladenen. Sie wiederholte nur immer wieder, dass es eine große Überraschung geben würde. Ich bin mir sicher, dass sie sich der traurigen Wahrheit dieser Aussage zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst war. Sie hat sich vielleicht ihren Mörder selbst ins Haus geholt. Ich darf gar nicht darüber nachdenken.«

Liebig ließ ihm einen Augenblick, um diese Tatsache sacken zu lassen. Erst dann schob er eine Frage nach.

»Erinnern Sie sich bitte an das letzte Jahr. Es könnte sein, dass Ihre Frau wieder die gleichen Leute einlud. Wenn wir die befragen, könnte ja klar werden, wer der besondere Gast war und warum die Party schon früh beendet wurde. Bekommen wir das hin?«

Statt einer Antwort kam nur ein stummes Nicken. Liebig verfolgte den kleinen wohlbeleibten Mann, als der sich zum Schrank bewegte und eine Metallschachtel herauskramte. Geduldig nahm er am Tisch sitzend jedes Foto in die Hand, das Schiller ihm mit erklärenden Worten überreichte. Ein bebildertes Protokoll einer intakten Ehe und zum Teil einer lustigen Geburtstagsfeier.

4

Joels Geduld wurde an diesem Nachmittag auf die Probe gestellt. Der Film Der Fuchs und das Mädchen zog sich für sein Gefühl unnötig in die Länge und langweilte den hyperaktiven Spross der Familie Melchior. Ausbaden musste das ein älterer Tanklastzug, an dem er herumhantierte und Stück für Stück in Einzelteile zerlegte. Das Klingeln an der Tür kam ihm gerade recht. Einem Torpedo gleich schoss er aus dem Sessel und tobte in die Diele. Hinter der Milchglasscheibe der Haustür zeichnete sich die Kontur einer großen Person ab. Sekunden, bevor ihn Mutter Sybilles Stopp erreichen konnte, riss er die Tür auf. Seine leuchtenden Augen erfassten einen dunkelblauen Overall, in dem ein großer schwarzbärtiger Mann steckte, der erschrocken einen Schritt zurücktrat. Schützend hob der die lederne Werkzeugtasche vor die Brust und atmete scheinbar erleichtert auf, als er den kleinen Lausbuben erkannte.

»Oh Gott, hast du mir einen Schrecken eingejagt. Ich wusste gar nicht, wie streng dieses Haus bewacht wird. Bei einem solch gefährlichen Kämpfer könnt ihr euch ja einen Wachhund sparen. Was hast du mit dem Tankwagen vor? Willst du mich damit erschlagen?«

Völlig überrascht wechselte Joels Blick vom Gesicht des jetzt lachenden Mannes zum Spielzeug, das er immer noch in der Hand hielt. Jetzt überzog auch sein Kindergesicht ein Lachen. Schon fast verlegen versteckte er das Auto hinter seinem Rücken.

»Wer ist da, Joel? Mit wem sprichst du?«, erklang die Stimme von Sybille Melchior durch den langen Flur, dem neben einer verspiegelten Garderobe viele Blumenbilder einen freundlichen Eindruck verliehen. Sie wischte sich die feuchten Hände an der Schürze ab und kam näher.

»Kann ich Ihnen helfen? Wollen Sie wirklich zu uns? Wir haben keinen Handwerker bestellt.«

Mittlerweile hatte der sportlich wirkende und grinsende Mann die freie Hand auf Joels Haar gelegt. Sybille musste ebenfalls lachen, als der Mann scherzhaft zu ihr sprach.

»Da haben Sie aber einen sehr aufgeweckten Jungen – der gefällt mir. Ich wollte, meiner wäre auch so. Der rekelt sich den ganzen Tag auf der Couch und zieht sich Soaps rein. Von dem höre ich nur Gemaule, weil der sich nicht richtig beschäftigen kann. Ach, entschuldigen Sie bitte. Ich habe mich noch nicht vorgestellt.«

Der Mann zerrte umständlich am Reißverschluss seines Overalls und zog eine eingeschweißte Karte heraus, auf dem das Logo der Stadtwerke erkennbar war.

»Mein Name ist Greiner, Edwin Greiner. Ich weiß, dass wir erst für die kommende Woche angemeldet waren, aber wir sind schneller vorangekommen, als wir glaubten. Es wäre schön, wenn ich schon heute die Wasseruhren kontrollieren dürfte. Sollten Sie allerdings keine Zeit ...«

Sybille Melchior unterbrach ihn.

»Herr Greiner, so heißen Sie doch, oder? Ich weiß nichts davon, dass die Wasseruhren schon wieder kontrolliert werden sollen. War da nicht erst im letzten Jahr jemand bei uns?«

Ein weiterer Zettel erschien in Greiners Hand, auf dem er mit dem Finger auf eine Reihe von Namen zeigte.

»Ich habe Sie auf meiner Liste. Und außerdem müssten Sie eine Nachricht mit der Post erhalten haben. Wir gehen diese Geräte neuerdings jährlich durch und erneuern die erst dann, wenn wirklich eine Ungenauigkeit oder ein Schaden erkennbar ist. Das spart uns allen unnötige Kosten und Ressourcen. Sie verstehen sicherlich, Frau Melchior. Ich komme aber gerne in den nächsten Tagen wieder, wenn es Ihnen jetzt nicht passt.«

Greiner machte Anstalten zu verschwinden.

»Nein, nein, kommen Sie rein. Ob heute oder nächste Woche ist doch egal. Wenn Sie schon einmal hier sind, dann erledigen wir das auch eben. Eine Uhr ist in der Küche, die andere im Keller.«

Joel warf sich albernd lachend gegen die Wand, krümmte sich zusammen, als der Fremde ihm aus Spaß die Faust gegen die schmale Brust drückte. Dann lief er kichernd davon, um seinem neuen Freund den Eingang zum Keller zu zeigen.

»Lass es gut sein, Joel. Der Mann muss seine Arbeit erledigen und hat sicher keine Zeit, mit dir zu spielen. Geh in dein Zimmer und räum die Legosteine zurück in die Kiste. Du weißt genau, dass Papa deine Unordnung nicht leiden kann. Also los – ab mit dir. Ich begleite Herrn Greiner nach unten. Wenn ich wieder raufkomme, will ich Ordnung im Zimmer vorfinden.«

Joels großer Freund zuckte bedauernd mit den Schultern und sah dem Knirps hinterher, der betrübt den Kopf hängen ließ. Greiner ließ Frau Melchior den Vortritt und folgte ihr die lange Treppe hinab in den verwinkelten Keller. Kurz bevor sie den dunklen Flur erreichten, hörte Sybille hinter sich die Frage: »Kann es sein, dass ich den Namen Melchior schon einmal bei Gericht gehört habe? Ist Ihr Mann dort tätig?«

Als Sybille anhielt und sich umsah, lief Greiner fast auf sie auf, konnte jedoch noch im letzten Moment stoppen.

»Da haben Sie recht, Herr Greiner. Mein Mann ist dort schon sehr lange als Staatsanwalt tätig. Sie werden doch wohl nicht ihm gegenüber auf der Anklagebank gesessen haben?«

Ein Lächeln überzog Sybilles Gesicht, als sie diese scherzhaft gemeinte Bemerkung machte. Dieses Lächeln vermisste sie allerdings bei ihrem Besucher, dessen Gesicht plötzlich eine Härte zeigte, die ihr einen Schauer über den Rücken trieb. Sie wich instinktiv einen Schritt zurück, da sie ein Signal spürte, das sich immer dann meldete, wenn sie glaubte, sich in Gefahr zu befinden. Dass sie sich auch diesmal nicht irrte, bewiesen die Schmerzen, die urplötzlich aus der Bauchgegend aufstiegen und sich bis in die tiefsten Bereiche ihres Gehirns zogen. Ungläubig wechselte ihr Blick vom kalten Gesicht des Besuchers auf ihren Unterleib, aus dem immer noch der Griff des Stiletts ragte, das er ihr oberhalb der Scham hineingestoßen und hochgerissen hatte. Sie war nicht in der Lage, die austretenden Därme und den Blutschwall aufzuhalten, die jetzt durch den stark blutenden Schnitt austraten. Ihr Körper befand sich in einer Starre, die sie einfach gefangen hielt. Sie spürte, wie die Beine jegliche Kraft verloren. Sie drohte, hinzufallen, was zwei starke Arme verhinderten, die sie auffingen. Auch im Kellergang hatte der Hausherr mit etlichen Wandhaken die Möglichkeit geschaffen, Bekleidung aufzuhängen. Einer dieser massiven Haken bohrte sich zwischen Sybilles Wirbelsäule und dem rechten Schulterblatt, als Greiner sie wie eine Puppe anhob und dagegen warf. Nur ein schwaches Stöhnen entfuhr ihrem Mund. Unausgesprochene Fragen standen in ihren Augen, als Greiner genüsslich sein Werk betrachtete und aus einer Seitentasche seines Overalls einen schmalen Malerpinsel holte. Tief tauchte er diesen in Sybilles große Wunde und zog ihn wieder heraus, vom Schmatzen des Blutes begleitet. So, dass Sybille es lesen konnte, schrieb er die Worte an die gegenüberliegende Kellerwand. Sybille spürte plötzlich, wie ihr Kreislauf zusammenbrechen wollte, konnte die Ohnmacht nicht weiter hinauszögern, bevor Greiner von seinem Werk zurücktrat.

Niemand bemerkte den Handwerker, der pfeifend das Melchior-Haus verließ und auf sein Fahrrad stieg. Seinen Overall, den er unter dem Arm geklemmt hielt, stopfte er in die Satteltasche. Die eintretende Dämmerung verschluckte den Mörder wie einen Dämon, der zurück in seine Hölle radelte.

5

»Wo ist der Junge?«, wollte Rita von dem Beamten wissen, der den Eingang zum Haus der Melchiors bewachte. Er betrachtete nur kurz den Dienstausweis der jungen Frau und wies schweigend auf einen Raum, der am Ende des Flures lag. Liebig war schon im Kellergang verschwunden, der die Tote beherbergen sollte. Vorsichtig näherte sich Rita Momsen dem kleinen Lockenkopf, der sich neben der riesigen Wohnlandschaft auf dem Teppich zusammengerollt hatte. Eine Polizistin strich ihm über den Rücken und sprach beruhigend auf ihn ein. Als sie zu Rita hochsah, zuckte sie mit den Schultern, was wohl signalisieren sollte, dass sie bisher nicht zu dem Kind durchdringen konnte. Rita signalisierte ihr, dass sie nun deren Rolle übernehmen wollte. Sie wartete ab, bis die Beamtin den Raum verlassen hatte. Der Kleine weinte still in sich hinein. Rita griff nach dem flauschigen, fast kindgroßen Teddy, der auf dem Rücken zwischen zwei Kissen liegend mit den schwarzen Knopfaugen gegen die Zimmerdecke starrte. Sie setzte ihn neben den Jungen auf den Teppich und stupste mit dessen Nase gegen die Schulter des Kindes. Ohne aufzublicken, umfasste der Junge den Spielkameraden mit einer schnellen Armbewegung und drückte ihn fest an den Körper.

»Wie heißt dein Freund denn?«, versuchte Rita, eine Unterhaltung in Gang zu setzen. Nichts geschah. Nur das Weinen setzte für einen kurzen Moment aus. Als Rita schon nicht mehr mit einer Antwort rechnete, kam zögerlich die Antwort: »Bienchen.«

»Wow, das ist aber ein schöner Name für den süßen Teddy«, reagierte Rita, dankbar dafür, dass der Kleine überhaupt eine Regung zeigte.

»Das ist ein Mädchen«, folgte die Richtigstellung aus Richtung des Kindes.

»Aha, dann hast du ja schon eine Freundin. Jemanden zum Kuscheln und Reden zu haben ist immer gut. Ich habe zu Hause auch ein Kuscheltier, einen Panda. Den habe ich seit ich ungefähr so alt wie du war. Der hat schon fast kein Fell mehr, so sehr habe ich den immer geknuddelt. Ist aber nicht schlimm. Ich habe den trotzdem noch genauso lieb wie damals. Dem erzähl ich immer, was so am Tag passiert ist. Dann geht es mir sofort wieder besser. Machst du das mit Bienchen auch so?«

Erfreut beobachtete Rita Momsen, dass der Junge nickte. Immer noch hatte er das Gesicht abgewendet und hielt seinen Teddy umklammert. Rita hielt an ihrer Taktik fest.

»Dann solltest du ihr vielleicht jetzt berichten, was du heute so alles erlebt hast. Sie wartet bestimmt schon darauf, weil er sieht, dass du sehr traurig bist. Sie will bestimmt wissen, warum du vorhin so eilig zu den Nachbarn gelaufen bist. Bienchen hätte bestimmt lieber mit dir gespielt.«

Wieder trat eine lange Pause ein, in der das Kind zu überlegen schien, ob es wirklich darüber berichten sollte. Erst als Rita nach seinem Namen fragte, kamen stockend die ersten Worte.

»Ich heiße Joel. Aber das weiß Bienchen doch schon.«

»Da bin ich mir sicher, aber nun weiß ich es auch und finde, dass es ein toller Name für einen so tapferen Jungen ist. Warum bist du denn nun zu den Nachbarn gelaufen? Willst du das uns beiden verraten? Bienchen ist schon ebenso gespannt wie ich.«

Rita verstand die ersten Worte nicht. Sie setzte sich deshalb direkt neben dem Kind auf den Teppich und legte ihren Arm um die beiden Gestalten. Nun konnte sie jedes Wort deutlich hören, das der Junge, immer wieder zwischendurch schluchzend, von sich gab.

»Ich hatte Angst, weil er Mama so schlimm wehgetan hatte. Sie konnte nicht mehr mit mir reden. Mama hat mich immer nur angesehen, als ich sie fragte, warum sie so sehr blutete. Er hat sie einfach an die Wand gehängt. Das ist so gemein. Das tut Mama doch bestimmt weh.«

Wieder erfasste ein Weinkrampf den Jungen und schüttelte ihn durch. Fest umklammerte Rita das Kind und den Teddy, presste beide an sich. Verzweifelt suchte sie nach Worten, die dem Kind jetzt etwas Trost spenden konnten. Spontan begann sie damit, Heinz Rühmanns berühmtes Gutenachtlied LaLeLu zu summen, was sofort eine positive Reaktion bei dem Kleinen hervorrief. Das Zittern des Körpers war kaum noch feststellbar und er hörte aufmerksam zu. Erst als Rita das Summen einstellte und ihre Frage »Hat sie dir was sagen können?« folgte, sprach er weiter.

»Mama konnte nicht sprechen. Sie hatte schlimme Schmerzen. Und da war das viele Blut, das aus ihr herauslief. Ich hatte solche Angst, dass ich zu Tante Helena lief. Die passt manchmal auf mich auf, wenn Mama und Papa irgendwohin müssen. Und dann waren da plötzlich so viele Polizisten.«

»Das hast du ganz toll gemacht – genau richtig. Aber du hast mir gerade erzählt, dass er deiner Mama so sehr weh getan hat. Wen meintest du damit? War hier ein Mann im Haus? War das jemand, den du kennst, oder war es ein Fremder? Hast du ihn überhaupt gesehen? Das ist ganz wichtig, mein tapferer Joel.«

Statt einer Antwort auf die Frage, hob Joel plötzlich den Lockenkopf und wollte stattdessen wissen: »Wird Mama wieder gesund, wieder so richtig gesund? Sie hatte so schreckliche Schmerzen?«

»Das kann ich dir jetzt nicht so genau beantworten, mein Schatz. Da sind schon ganz viele Helfer bei ihr, die alles versuchen werden. Ich denke schon. Doch ich möchte gerne den Mann kennenlernen, der deiner Mama das angetan hat. So was tut man nicht. Du hast ihn doch gesehen, oder? Wie sah der aus? Groß, klein, dünn, dick, viele Haare, oder Glatze? Wir wollen den suchen, weil er für das, was er deiner Mama angetan hat, büßen soll. Du hilfst mir, den zu fangen. Du kennst das doch aus den Detektivgeschichten von Die drei Fragezeichen, oder? Wir beide werden den Mann sicher finden. Ich denke, dass Bienchen uns auch noch helfen wird. Wir brauchen einen so starken Verbündeten.«

Allmählich erhielt Joels Gesicht wieder eine halbwegs gesunde Farbe und er wischte sich mit dem Ärmel seines Pullovers die restlichen Tränen aus den rot geweinten Augen.

»Der war ganz schön groß. Und einen schwarzen Bart hatte er auch – so einer, der um den Mund herum wächst.«

»Das ist aber sehr gut beobachtet, mein Freund«, lobte Rita den kleinen Kerl, der jetzt Feuer gefangen hatte und einen Augenblick von der Tragik des Geschehens abgelenkt schien. »Jetzt aber weiter. Wir sind ganz nah dran an dem Burschen. Hat der einen Namen genannt, an den du dich erinnerst?«

»Der wollte auf die Uhr sehen, unten im Keller ... und der hatte einen blauen Anzug an, so einen mit Hosenträgern. Warte mal. Ich glaube, der hat mit Mama gesprochen und seinen Namen genannt. Leimer oder Keiner ... nein, ich hab`s ... er hieß Greiner. Genau. Greiner war sein Name.«

Rita stockte einen Moment, als Joel den Namen nannte, schrieb jedoch alles in einen kleinen Notizblock.

»Ich bin baff. Du bist ja mindestens so cool wie dieser Kalle Blomqvist.«

»Wer ist das, dieser Blomwist, oder wie der heißt?«

Rita musste beinahe lachen, als sie in die fragenden Augen des Kleinen blickte.

»Ach, dieser Kalle Blomqvist ist ein berühmter Kinderdetektiv, der zu meiner Zeit auf Verbrecherjagd ging. Ich vergaß, dass du den ja kaum kennen kannst. Du solltest, wenn du groß bist, unbedingt zur Polizei gehen. Du würdest dort berühmt werden.«

Die Stimme vom Eingang des Zimmers riss Rita und ihren neuen Freund aus dem Gespräch.

»Joel, Gott sei Dank. Dir ist nichts passiert. Komm her, mein Kleiner.«

Joel befreite sich aus Ritas Armen und sprang auf. Mit einem Jubelschrei stürmte er an Momsen vorbei hin zu dem großgewachsenen, schlanken Mann, der den Jungen sofort in die Arme riss und fest umschlang. Lange hielt er ihn an die Brust gedrückt, wiederholte immer wieder die Worte: »Mein Gott, danke, dass du wenigstens ihn verschont hast. Danke.«

6

»Ja, ja, Liebig, Sie können Schiller wieder ins Boot holen. Ich kann mir nur schlecht vorstellen, dass er in seiner jetzigen Gemütslage überhaupt für klare Analysen zu gebrauchen sein wird. Klären Sie mich aber vorher über den Stand der Dinge auf.«

Kriminalrat Rösner setzte sich an das Kopfende des Tisches und wartete geduldig auf den Bericht des Hauptkommissars. Auch die Kommissare Rita Momsen und Klaus Spiekermann waren zugegen, die diesen Fall gemeinsam bearbeiteten.

»Ich denke, dass es unstrittig ist, dass diese beiden Morde unmittelbar zusammenhängen.« Liebig wartete eine Antwort nicht ab und fuhr fort. »Wir werden eine Soko in der alten Zusammensetzung bilden, sofern Herr Rösner dem zustimmt.«

Statt einer Bestätigung folgte ein Nicken des Angesprochenen. Liebig fuhr fort.

»Es wird Sie alle nicht überraschen, wenn ich Ihnen mitteile, dass wir vonseiten des Oberstaatsanwaltes jede Rückendeckung und Hilfe zugesichert bekamen. Sobald Hauptkommissar Reinder und einige andere Kollegen ins Team gekommen sind, werden wir damit beginnen, alle Fälle durchzuackern, in denen sowohl Schiller als Gutachter oder Rechtsmediziner als auch Staatsanwalt Melchior für die Anklage involviert waren. Da muss es einfach Zusammenhänge geben, die uns hoffentlich ein Muster erkennen lassen. Ich befürchte, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass jemand eine Todesliste abarbeitet. Wir müssen schnellstmöglich den Auslöser finden, um weitere Morde in unserem Umfeld zu verhindern. Damit meine ich das gesamte Feld der Strafverfolgung, wobei ich selbst einen Gefängnisdirektor und seine Schließer nicht ausschließen werde.«

Spiekermann sah von seinen Notizen auf und bemerkte: »Für mich ist bezeichnend, dass der Täter bisher nur die weiblichen Angehörigen tötete und ihren Uterus entfernte. Ein anwesendes Kind jedoch verschonte er. Er musste doch damit rechnen, dass man seine Personenbeschreibung erhält. Wir haben alle gelernt, dass die Ursachen für solche Taten häufig weit zurück in der Kindheit zu suchen sind. In diesem Fall möchte ich da meine Zweifel anmelden. Dass sich der Täter auf Angehörige der Strafverfolgungsbehörden stürzt, lässt für mein Dafürhalten den Schluss zu, dass jemand sich von unserer Seite her ungerecht behandelt fühlen könnte. Ich denke da an ein Fehlurteil oder eine falsche Diagnose.«

Rösner hakte da ein und ergänzte: »Sicherlich wird sich der eine oder andere an den Fall Schlesig erinnern, bei dem die Ehefrau des überführten Mörders den Staatsanwalt erstach – und das direkt nach dem Urteilsspruch, noch auf der Treppe des Gerichtsgebäudes. So weit hergeholt finde ich deshalb die Vermutung des Kollegen Spiekermann nicht. Lasst uns also schwerpunktmäßig in den vergangenen Fällen suchen. Nehmt euch besonders die Umstände vor, die zur Verurteilung führten. Interessant sind sicher die Urteile, die sich auf reine Indizien stützten.«

Rita ergänzte: »Ich werde mir die Personen einmal genauer betrachten, die den Namen Greiner führen, obwohl ich fest davon überzeugt bin, dass sich der Täter den Namen willkürlich zugelegt hat. Aber man darf ja auch mal Glück haben.«

»Bevor wir uns an die Arbeit machen, möchte ich feststellen, dass der Vater selbst komplett raus ist aus der Verdächtigtenliste, da er zum Zeitpunkt der Tat noch in einem Meeting beim Oberstaatsanwalt saß. Dort konnten wir ihn auch später erreichen. Trotzdem gehen wir auch seine Privatsphäre durch, um vollends ausschließen zu können, dass er jemanden beauftragt hat. Sie wissen – Eheleben, Erbfolge, Streitereien in letzter Zeit, Konten und Vermögensverhältnisse. Zum Schluss weise ich noch mal auf diese Inschrift hin, die uns der Täter wieder einmal auf der Wand hinterlassen hat. Die Botschaft, dass es sich um Nummer zwei in seiner Racheliste handelt, habe ich verstanden. Eine Nummer drei darf es nicht geben. Lasst uns das Biest jagen, bevor einer von uns das nächste Opfer wird. Ich wünsche ...«

Die Tür des Besprechungsraumes flog so schnell auf, dass sie heftig vor die Wand stieß und das Ermittlerteam aufschrecken ließ. In der Türöffnung tauchte eine hochgewachsene, schlanke Gestalt auf, die sich mit großen Schritten dem Tisch näherte. Als Liebig den Staatsanwalt Melchior erkannte, nahm er die Hand wieder von der Waffe, an deren Griff er aus einem antrainierten Reflex heraus gefasst hatte. Seinem Gesicht war die Verärgerung anzusehen. Melchior, dessen ungewöhnlich ungepflegt erscheinenden Haare in die Stirn hingen, stemmte beide Hände auf die Tischkante und starrte mit funkelnden Augen auf Rita.

»Da sind Sie ja, junge Frau. Genau Sie wollte ich mir einmal genauer ansehen. Wir sind uns ja schon in meinem Haus begegnet, wo Sie meinen Sohn einem Verhör unterzogen haben. Was glauben Sie eigentlich, was Sie da getan haben? Das Kind stand unter Schock und hätte von einer psychologisch geschulten Fachkraft betreut werden müssen. Nein, Sie kamen nicht auf die Idee. Sie mussten ja Miss Marple spielen und den kleinen Kerl in die Mangel nehmen. Das Kind – verdammt noch mal – stand unter Schock, Sie verrücktes Weib. Der hat Augenblicke zuvor im Keller seine sterbende Mutter ansehen müssen. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass es geschehen ist.«

Die Faust, die jetzt auf die Tischplatte donnerte, ließ Staatsanwalt Melchior und alle Anwesenden auf der Stelle aufschrecken. Alle Augen richteten sich auf Kriminalrat Rösner, dessen rundlicher Körper nun am Kopfende aufrecht stand. Der Stuhl kippte nach hinten und unterbrach die entstandene Stille.

»Was erlauben Sie sich, Herr Staatsanwalt? Wir alle bedauern Ihren Verlust und empfinden tiefe Trauer, doch es ist unsere Pflicht, alles Nötige zu unternehmen, um den Täter dingfest zu machen. Ich selbst war vor Ort, lieber Herr Melchior, als sich diese Frau hier rührend um das Wohlergehen Ihres Sohnes bemühte. Glauben Sie wirklich, dass wir bei jedem Einsatz einen Psychologen im Kofferraum mitführen? Da sollten Sie einmal Ihren Beamtenhintern vom Stuhl nehmen und mit den tapferen Menschen rausfahren. Das sind die, die das Elend als Erste sehen müssen. Sie, geehrter Herr Staatsanwalt, erfahren von dem Schmutz der Gesellschaft erst dann, wenn Sie am sauberen Schreibtisch die Akten durchsehen.

Zum ersten Mal betrifft es Ihre eigene Familie und schon drehen Sie durch. Ich bin der Letzte, der Ihre Gefühle nicht einordnen kann, aber verlieren Sie bitte nicht den Blick für das, was getan werden muss. Ihr Sohn befindet sich meines Wissens nach doch in guten Händen, oder wurde ich diesbezüglich falsch informiert?«

Melchior schien seinen Ärger über die Unterbrechung überwunden zu haben, als er seine Hände tief in die Taschen seines wohl sündhaft teuren Anzuges steckte und mit einem zynischen Lächeln auf dem Gesicht auf Rösner zukam.

»Mein lieber Herr Rösner. Sie scheinen vergessen zu haben, wer den Kopf für Ihre Abteilung hinhalten muss. Ihr Ton, den Sie mir gegenüber anschlagen, gefällt mir überhaupt nicht. Ich erwarte umgehend Ihre Entschuldigung, da wir uns ansonsten an höherer Stelle wiedersehen werden.«

Rösner sah mit seinen eins siebenundsechzig furchtlos zu dem wesentlich größeren Staatsanwalt hoch. Bei ihm war keine Furcht erkennbar, als er dem Vorgesetzten erwiderte: »Ich würde vorschlagen, dass wir das sofort bei Oberstaatsanwalt Kraft erledigen. Er hat mir und meinen Leuten absolut freie Hand gegeben. Anweisungen erhalte ich ausschließlich von ihm. Haben Sie nun verstanden, was das bedeutet? Sie sind raus – raus aus der Ermittlung. Und das hat einen recht simplen Grund. Sie sind in der Sache befangen und gehören – bitte verzeihen Sie meine Direktheit – zum erweiterten Kreis der Verdächtigen. Eigentlich könnten Sie, wo Sie einmal hier sind, auch Ihre Aussage zum Tattag machen.«

Rita, die unmittelbar neben Rösner saß, musste den Blick auf die Tischplatte richten, damit der Staatsanwalt ihr Grinsen nicht entdecken konnte. Liebig ging es nicht anders, der ihr ein Augenzwinkern gönnte. Alle warteten darauf, dass Melchior entweder den offenstehenden Mund wieder schloss oder komplett aus der Haut fuhr. Erstaunt verfolgten alle, wie sich Melchior einen Stuhl heranzog und sich neben Rösner setzte.

»Das haben Sie doch gerade nicht wirklich gesagt, Rösner? Ich gehöre zum Kreis der Verdächtigen? Ich bin der Vater von dem Zwerg. Ich soll dem die Mutter genommen haben? Sie sind völlig verrückt.«

Rösner legte dem schockierten Mann eine Hand auf den Arm und setzte sich wieder. Jeder spürte, wie explosiv die Situation nun war und wie konzentriert Rösner bemüht war, eine völlige Eskalation zu vermeiden.

»Hören Sie, Herr Melchior. Nehmen Sie das, was ich gesagt habe, nicht so wörtlich. Aber die Lage erfordert ein Handeln, das Sie aus den Ermittlungen erst einmal heraushält. Ich sage das nicht gerne. Aber erinnern Sie sich noch an den Fall Rauscher, als sich herausstellte, dass ausgerechnet ein Studienkollege von Ihnen im Bochumer Prozess Beweismittel verschwinden ließ, um seinen Bruder zu schützen? Das hat die gesamte Gerichtsbarkeit infrage gestellt. Wenn ich es für nötig erachte, werde ich Sie selbstverständlich auf dem Laufenden halten. Seien Sie versichert, dass wir alles versuchen werden, um Sie und den Rest Ihrer Familie zu schützen. Ich werde sogar Personenschutz für Sie beantragen, da wir befürchten müssen, dass Sie das eigentliche Ziel gewesen sein könnten.«

Jetzt konnte jeder im Raum das aufkeimende Entsetzen in den Augen des Staatsanwaltes erkennen. Liebig lenkte die Aufmerksamkeit auf sich.

»Herr Staatsanwalt. Alles deutet darauf hin, dass der Täter einen perfiden Plan verfolgt. Erst will er Rache für etwas üben, das wir noch nicht kennen. Er will einen bestimmten Personenkreis in Angst und Schrecken versetzen, indem er die Angehörigen tötet. Bisher betrifft das die Ehefrauen. Keiner von uns weiß, wer zum engen Kreis gehört und was er im zweiten Gang anstellt. Dass er heute Ihren Sohn verschonte, muss nicht bedeuten, dass das für alle Ewigkeit Geltung besitzt. Solange wir nicht mehr wissen, ist mit dem Schlimmsten zu rechnen. Wir werden Sie beide unter einen besonderen Schutz stellen müssen, so wie es auch mit Dr. Schiller geschieht. Niemand weiß, wo er oder sie als Nächstes zuschlagen werden. Lassen Sie uns deshalb unsere Arbeit tun. Bitte.«

Rita machte Anstalten, zu ihrer Aktion Stellung zu beziehen, was Melchior schon im Ansatz erkannte. Er streckte ihr die offene Handfläche entgegen, was sie zum Schweigen brachte. Unendlich langsam erhob sich ein Mann, der den Eindruck hinterließ, einen Kampf verloren und das akzeptiert zu haben. Was er noch sagen wollte, schluckte er wie eine Kröte hinunter. Müde schleppte er sich zum Ausgang und zog leise die Tür hinter sich zu. Zurück ließ er vier nachdenklich dasitzende Menschen.

7

»Wäre es nicht besser, wir würden ein Stadion anmieten? Dann haben wir ausreichend Platz für den ganzen Papierkram. Ich lass mich ins Drogendezernat versetzen, damit ich dem Irrsinn hier entgehe.«

Spiekermann schob sich an den drei hochbepackten Beistelltischen vorbei, um an seinen Schreibtisch zu gelangen, auf dem er jedoch ebenfalls stapelweise Akten vorfand. Sein Gemotze fand neues Futter.

»Sagt bloß, dass das alles mit Fällen zusammenhängt, in die Melchior und Schiller zusammen involviert waren. Leute, wir leben im digitalen Zeitalter, in dem man Daten abgleichen kann, ohne tonnenweise Papier zu durchforsten.«

Sechs Augenpaare richteten sich auf den Nörgler. Hauptkommissar Reinder war es, der es auf den Punkt brachte.

»Hör zu Spiekermann. Dieser Scheiß macht keinem von uns Spaß, doch denk mal nach, bevor du die Stimmung völlig in den Keller treibst. Als Dr. Schiller den ersten Bericht schrieb, wurde der noch in Steinplatten gemeißelt und du warst nicht einmal geplant. Der erste Schritt in die Moderne erlebte der gute Mann, als Gutenberg die bewegliche Letter erfand. Muss ich noch deutlicher werden? Jetzt siehst du erst mal, wie gut wir es bei den heutigen Fällen haben – außer, wir müssen in der Vergangenheit recherchieren. Wir waren schon fleißig und haben die Fälle in verschiedene Kategorien sortiert, damit unser stellvertretender Dezernatsleiter weniger Arbeit hat. Wir müssen doch nur vierhundertdreizehn Fälle aufarbeiten. Also stell dich nicht so an und hau rein.«

Rita, die Spiekermann direkt gegenübersaß, versteckte sich hinter einem Papierstapel, um den Kollegen mit ihrem Grinsen nicht noch weiter zu provozieren. Über das Papier hinweg streckte sie ihm lediglich die Hand entgegen, um Spiekermann einen Teebeutel zu reichen.

»Klaus, ich habe einen für dich aufgehoben. Den Beruhigungstee haben schon alle probiert. Der hilft wirklich. Da kannst du die anderen fragen. Heißes Wasser findest du in der ...«

Selbst Peter Liebig stimmte in das allgemeine Gelächter ein, als Spiekermann Rita den Beutel aus der Hand riss und gegen die Fensterscheibe warf.

»Jetzt kommen Sie mal wieder runter, Kollege. Die Arbeit ist äußerst wichtig. Ich wiederhole noch einmal für alle. Ich erwarte eine Liste mit Namen, die neben Schiller und Melchior in den Ermittlungsakten vorkommen. Erst der Abgleich könnte Hinweise auf weitere Personen der Todesliste geben. Und denken Sie daran, dass jeder von uns dazugehören könnte – auch Sie, Kollege Spiekermann. Das wollen wir nicht vergessen.

Die Tabelle hat die Kollegin Momsen in die digitale Fallakte eingefügt. Jeder kann darauf zugreifen und sie ergänzen. Besonders wichtig ist für mein Empfinden auch die Beschreibung des jeweiligen Deliktes. Behalten Sie im Hinterkopf, dass der Täter oder die Täterin die Gebärmutter entfernt. Das macht der nicht nur, weil er eine Vorliebe für den Uterus hegt. Für mich steckt darin eine tiefe Bedeutung. Also los, Herrschaften. Die Zeit arbeitet gegen uns.«

Rita meldete sich zu Wort, indem sie an den Tisch des Chefs trat und ihm etwas zuflüsterte. Kurz darauf tönte Liebigs Stimme ein weiteres Mal durch den Raum.

»Bevor ich es vergesse: Die Kollegin Momsen wird sich routinemäßig parallel um die Verhältnisse innerhalb der bisher betroffenen Familien kümmern. Ich möchte an dieser Stelle keinen Verdacht hinsichtlich der Angehörigen in den Fällen Schiller und Melchior in den Raum stellen. Aber es wäre kein Einzelfall, wo wir den Täter im familiären Umfeld fänden.«

Ein weiteres Mal wendete sich Rita an Liebig.

»Bekomme ich die Genehmigung zur Konteneinsicht von Staatsanwalt Melchior und Schiller vom Oberstaatsanwalt, oder benötige ich dazu eine hochrichterliche Entscheidung? Melchior selbst werde ich dazu wohl kaum fragen können.«

»Verdammt, das habe ich völlig vergessen«, antwortete Liebig, während er in einem Papierstapel wühlte, »Die Papiere habe ich schon hier. Sie können unbesorgt nachfragen. Selbst die Testamente sind einzusehen. Die Genehmigungen beinhalten gleichzeitig die Einsichtmöglichkeit in die Konten der getöteten Partner. Sorry, Rita, ich glaube, ich bin langsam zu alt für diesen Scheiß.«

Für einen kurzen Augenblick gefror sein Lächeln ein, als Rita wieder einmal glaubte, einen flotten Spruch ablassen zu müssen.

»Befinden Sie sich nicht sowieso schon in dem Alter, wo man über eine vorzeitige Ruhestandsregelung nachdenken könnte? Dann würde Spiekermann nachrücken und ich hätte gute Chancen auf eine Stellvertreterstelle.«

Peter Liebig hatte es längst aufgegeben, jedes Wort dieser kessen Person auf die Waagschale zu legen. Rita befand sich bereits mit eingezogenen Schultern auf dem Weg zu ihrem Schreibtisch, so als erwartete sie jeden Moment, dass ihr Chef wieder einen Gegenstand nach ihr werfen könnte. Stattdessen verfolgte sie die Stimme des Chefs.

»Es ist möglich, dass sich Ihr Wunsch schneller erfüllt, als uns allen lieb ist. Keiner von uns weiß, wer als Nächster auf der Todesliste steht.«

Die eintretende Stille im Raum nutzte Liebig, um endlich das Zimmer Richtung Toilette zu verlassen. Erst als er im Toilettenspiegel über seine stoppeligen Haare fuhr und nachdenklich sein Gesicht betrachtete, wurde er sich der Tragweite dieser Bemerkung bewusst. Wie nah er der Wahrheit kam, konnte er an diesem Tag nicht ahnen.

8

Dr. Ludwig blickte voller Stolz auf seine Fingerkuppen, die nun keine gelben Nikotinablagerungen mehr zeigten. Vor etwa acht Wochen hatte er das Rauchen aufgegeben, das er seit der Schulzeit mit einem gewissen Hochgenuss gepflegt hatte. Erst die Geburt der Enkeltochter Sarah gab ihm den letzten Impuls, damit endgültig aufzuhören. Auf der Bank neben ihm nervte ihn das laute Schwatzen zweier Frauen, die sich gleichzeitig eine Zigarette nach der anderen zwischen die Lippen schoben. Angewidert vom lästigen Rauch rutschte er an das andere Ende der Bank, die man wahrscheinlich speziell für wartende Ehemänner dort aufgestellt hatte, während die Gattinnen wichtige Einkäufe tätigten. Erika hielt sich bereits über eine halbe Stunde in der Boutique auf, obwohl sie sich bereits auf eine rote Bluse festgelegt hatte, die im Schaufenster lag. Allmählich wuchs die Ungeduld in ihm. Mit einem Blick in den Kinderwagen überzeugte er sich davon, dass die kleine Sarah immer noch schlief, dabei genüsslich an ihrem Nucki saugte. Dr. Ludwig atmete erleichtert auf, als er Erika ins Freie treten sah. Die angestrebte Bluse verteilte sich scheinbar auf drei Einkaufstüten, was dem erfahrenen Richter am Essener Landgericht ein Schmunzeln abrang. Es waren diese kleinen Freuden, die er sich und Erika gönnte, nachdem sie beide wegen Erkrankungen diese weiten Reisen nicht mehr durchführen konnten. Erika kam strahlend auf ihn zu und drehte sich einmal lachend um die eigene Achse, bevor sie die Tüten unter dem Kinderwagen in einem Korb verstaute. Keiner von beiden bemerkte die fiebrigen Blicke, die jede ihrer Bewegungen verfolgten. Die Lippen des Beobachters glichen einem Strich, als er den Zündschlüssel drehte.

»Ich konnte einfach nicht widerstehen, als ich diesen herrlichen Rock sah, der so vortrefflich zum Pullover passte. Und diese Hose, Schatz – ich zeige sie dir, wenn wir zu Hause sind.«

Erika hielt inne, als sie in die fragenden Augen ihres Gatten blickte.

»Und die Bluse?«

»Ach, weißt du, Erich, die stand mir nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe«, beeilte sich Erika zu erklären. »Komm, lass uns noch drüben beim Metzger den bestellten Rehbraten für heute Abend abholen. Dann müssten wir durch sein mit den Einkäufen. Heute werden wir unsere Kinder mal verwöhnen. Du wirst bestimmt wieder ein tolles Essen zaubern. Kommst du?«

Die Ampel an der Rüttenscheider Straße zeigte bereits seit mehreren Sekunden Grün für die Fußgänger, was Erika Ludwig unbedingt ausnutzen wollte. Während sie ihren Gatten zum Folgen aufforderte, betrat sie den Zebrastreifen, ohne auf den abbiegenden Verkehr zu achten. Der dunkelgraue Golf, der trotz Rot die Kreuzung mit hohem Tempo überquerte, erwischte sie in Hüfthöhe und schleuderte sie in einem hohen Bogen zurück auf den Bürgersteig. Dr. Ludwig blieb keine Zeit, den Kinderwagen zurückzuziehen, bevor Erika mit aller Kraft dagegen stieß. Erste Schreie des Entsetzens holten ihn wieder zurück in die Realität. Eine Lähmung hatte seinen Körper gepackt. Seine Augen erfassten mit anhaltender Starre das Geschehen. Ohne es richtig einzuordnen, verfolgte er das Bemühen zweier junger Männer, die kleine Sarah aufzuheben und auf dem großen Kissen zu platzieren, das ebenfalls aus dem Kinderwagen herausgeschleudert worden war. Er erkannte die Platzwunde am Kopf des Kindes, war jedoch nicht in der Lage, auch nur eine Bewegung zu machen. Erst ein Schlag ins Gesicht holte ihn zurück in das schreckliche Geschehen. Eine kleine dickliche Frau, die ihre Einkaufstüte abgestellt hatte, stand laut schreiend vor ihm und holte bereits zum zweiten Schlag aus.

»... Sie zu sich, verdammt. Das Kind muss versorgt werden. Ruft doch um Gottes willen die Polizei. Der Wagen muss verfolgt werden und ein Rettungsfahrzeug soll kommen. Ich habe kein Telefon. Und bei Ihnen muss ich mich entschuldigen. Ich wusste nicht, wie ich Sie sonst wieder herholen könnte. Ist das Ihre Frau?«

Dr. Ludwig winkte ab als Zeichen dafür, dass er die Entschuldigung angenommen hatte. Sein Blick wechselte von Sarah, die nun laut schrie, zu Erika, die in einer abstrakt wirkenden Körperhaltung neben dem umgekippten Kinderwagen lag. Um sie herum breitete sich rasend schnell eine Blutlache aus, deren Anblick Erich Ludwigs Puls in die Höhe trieb. Er stürzte nach vorne und kniete neben dem Menschen, den er über alles in seinem Leben liebte.

»Erika, komm, bitte sag doch was. Der Arzt wird gleich da sein. Alles wird wieder gut, Liebste – alles wird wieder gut.«

Einen verzweifelten Schrei ausstoßend riss er die Frau hoch, deren Augen starr und ausdruckslos in den Himmel gerichtet waren. Niemand wagte es, die beiden Menschen zu trennen. Eine Menschentraube hatte sich um den Unglücksort gebildet. Viele Menschen mussten den Blick abwenden, da ihnen die Tränen in die Augen traten. Die meisten Gespräche waren verstummt oder wurden nur noch flüsternd geführt. Die Stimme einer Frau ließ Dr. Ludwig den Blick heben. Aus tränengefüllten Augen sah er in das Gesicht einer jungen Frau, die ihn an der Schulter berührte.

»Hören Sie, mein Herr. Ich bin Ärztin und möchte mir die Verletzte ansehen. Bitte lassen Sie sie los, damit ich nach ihr sehen kann. Vielleicht können wir etwas für sie tun. Und Sie, Herrschaften, treten bitte zurück. Ich brauche Platz.«

Unendlich langsam, als würde er ferngesteuert, löste sich Erich Ludwig von Erika, behielt jedoch ihre Hand in seiner. Mit leichter Gewaltanwendung löste die Ärztin die Hände der beiden voneinander. Eine Passantin legte dem traumatisierten Mann den Arm um die Schultern. Auch sie verfolgte die Bemühungen der Ärztin, die tödlich verletzte Frau wieder zurück ins Leben zu holen. In dem Augenblick, als sie Erika Ludwig die Decke über das Gesicht legte, die sie zuvor aus dem Kinderwagen gezogen hatte, fuhren alle Passanten zusammen. Der verzweifelte Schrei von Dr. Ludwig schallte über die ansonsten belebte Kreuzung, die allerdings jetzt von einer beängstigenden Stille überzogen war.

»N E I N ! Das kann nicht sein. Sie darf mich nicht verlassen.«

Schwach waren die Sirenen herbeieilender Rettungswagen zu hören. Langsam erfüllte wieder normaler Lärm diese wichtige Einkaufsstraße, während Polizei den Unfallort absperrte und die Passanten auseinandertrieb. Rettungssanitäter und ein Notarzt kümmerten sich um die Beteiligten. Polizeibeamte versuchten, Augenzeugen ausfindig zu machen und zurückzuhalten.

 

»Wer? Dr. Ludwig? Wo?«

Liebig warf den Hörer zurück in die Schale und eilte zur Garderobe. »Reinder, Momsen – mitkommen! Wir haben Fall drei.«

Auf dem Bürgersteig hatte sich eine Menschentraube gebildet, auf die die drei Kripoleute zusteuerten. Ein uniformierter Polizist kam ihnen entgegen. Liebig blieb vor ihm stehen.

»Was ist geschehen, Mansfeld? Wo ist die Tote?«

»Das ist sehr mysteriös, Herr Hauptkommissar. Die Ehefrau von Richter Ludwig wurde beim Überqueren der Straße – übrigens bei Grün – von einem Auto erfasst, das bei Rot ungebremst in sie hineinfuhr. Es existieren keinerlei Bremsspuren, die darauf hindeuten könnten, dass der Fahrer noch beabsichtigte, zu bremsen oder auszuweichen. Ein Augenzeuge meinte, dass es nach einer gezielten Aktion aussah, zumal das Täterfahrzeug sogar vor dem Aufprall noch leicht die Richtung änderte und beschleunigte.«

»Hat jemand Fahrzeugtyp oder sogar das Kennzeichen erkennen können?«, fragte Liebig nach.

»Nach übereinstimmenden Aussagen verschiedener Zeugen handelte es sich um einen dunkelgrauen Golf. Das Kennzeichen ist unbekannt. Ein Passant behauptet sogar, dass der Wagen zumindest am Heck keine Kennzeichen besaß. Er meinte aber, eine männliche Person mit hochgezogener Kapuze am Steuer gesehen zu haben. Wir sollten hier von einer klaren Mordabsicht mit anschließender Fahrerflucht ausgehen.«

Polizeihauptmeister Mansfeld begleitete Liebig und Gefolge zu den Zeugen. Jeder der drei Kripoleute nahm sich eine Anzahl Zeugen vor. Das Ergebnis war niederschmetternd. Es gab keinen klaren Hinweis auf Täter und Tatfahrzeug, mit Ausnahme des Fahrzeugtyps. Mansfeld verfolgte lediglich eine Spur, die ein abgebrochenes Blinkerglas und eine Radkappe liefern könnten. Schnell war klar, dass es sich um einen Golf 3 handeln musste, der tausendfach im Kreis Essen unterwegs sein konnte. Noch bevor Liebig mit seinen Leuten am Krankenhaus eintraf, um Dr. Ludwig zu befragen, erreichte sie die Nachricht, dass ein Fahrzeug dieses Typs am Ortsausgang in Kettwig auf einem Acker gefunden worden war. Unfallspuren am Auto wiesen klar darauf hin, dass es sich um das Tatfahrzeug handelte. Es wurde sofort von der Spurensicherung sichergestellt und in die Garage zur näheren Untersuchung gebracht. Schon Minuten später bestätigte sich die Vermutung, dass es sich um ein tags zuvor gestohlenes Fahrzeug handelte und das Blut an der Front mit dem der verstorbenen Frau Ludwig identisch war.

 

Als Liebig vom behandelnden Arzt erfuhr, dass Dr. Ludwig zwar leicht traumatisiert, aber vernehmungsfähig sei, suchte er ihn im Behandlungszimmer auf. Mittlerweile war der Blick des Mannes wieder halbwegs klar. Er sah die Kripoleute der Reihe nach an, bevor er redete.

»Ich sehe, dass sich die richtige Abteilung bereits um diese schändliche Tat kümmert. Das macht mich hoffnungsfroh, dass wir dieses Schwein sehr schnell hinter Gitter sehen werden. Sie haben alle Befugnisse, Ihre Ermittlungen voranzutreiben. Nur, schaffen Sie mir diesen Wahnsinnigen von der Straße. Warum es ausgerechnet meine Frau treffen musste, die keinem Menschen jemals etwas Böses angetan hat, erschließt sich mir noch nicht. Ich hörte bereits, dass es zwei weitere Fälle gab, in denen Angehörige von Strafverfolgern getötet wurden. Könnte es aus Ihrer Sicht sein, dass die Fälle zusammengehören?«

Liebig war anzumerken, dass es ihm schwerfiel, in diesem Augenblick darüber sprechen zu müssen.

»So leid es mir tut, Richter Ludwig, aber davon müssen wir zum jetzigen Zeitpunkt ausgehen. Es bereitet mir Sorge, wie zeitnah diese Taten begangen werden. Es kann alles und nichts bedeuten. Jedoch lässt es die Vermutung zu, dass der Täter oder die Täterin die Todesliste, wie wir sie mittlerweile nennen, in einem gewissen Zeitrahmen abarbeiten will oder sogar muss. Vielleicht bleibt demjenigen nicht die nötige Zeit, um das mit mehr Ruhe bewerkstelligen zu können. Eine schnell voranschreitende Krankheit? Wer weiß? Irgendwas muss ihn antreiben.«

Dr. Ludwig ließ den Gedanken sacken, bemerkte dann ergänzend: »Falls Sie recht haben, Liebig, dürfen wir darauf hoffen, dass er oder sie einen Flüchtigkeitsfehler einbaut, der uns eine Spur liefert. Sie können sich sicher vorstellen, wie wichtig mir dieser Fall ist. Gerade Sie, Liebig, der ebenfalls seine Frau durch einen Mörder verlor, werden mich gut verstehen können. Ich werde jede Aktion von Ihrer Seite decken, darauf können Sie sich verlassen. Mehr muss ich wohl dazu nicht sagen? Jetzt, meine Damen und Herren, muss ich mich verabschieden. Meine Enkelin sollte neben den Eltern auch den Opa an der Seite haben, wenn sie aufwacht. Ich muss nun in die Kinderabteilung. Ihnen wünsche ich eine erfolgreiche Jagd.«

9

Peter Liebig betrat den Sezierraum der Rechtsmedizin, wobei er mit seiner kräftigen Statur die recht zarte Kollegin Momsen verdeckte, die direkt hinter ihm die Tür schloss. Erst als sie aus Liebigs Schatten trat, hellten sich zumindest die Augen von Dr. Schiller trotz seiner andauernden Trauer auf.

»Verdammt, Doktor, Sie sollten sich einige Tage Ruhe gönnen und nicht schon wieder arbeiten. Wir hatten Sie hier gar nicht erwartet.«

Liebig wirkte tatsächlich irritiert, als er den Rechtsmediziner schon wieder mit Skalpell und Knochensäge hantieren sah.

»Glauben Sie wirklich«, entgegnete der Mediziner durch den Mundschutz, »dass ich den Verlust meiner Frau Maria schneller überwinde, wenn ich daheim in Depressionen eintauche? Der Kollege Maaßen hat wahnsinnig viel um die Ohren, sodass ich hier besser aufgehoben bin. Obwohl die meisten Leute hier nicht mit mir quatschen, finde ich bei denen Abwechslung und vor allem Ablenkung. Ach, da kommt der Kollege ja gerade herein. Er wird Ihnen bestimmt einiges zu erklären haben.«

Tatsächlich erschien der große, schlaksige Kerl aus dem Nebenraum, der neben dem kugeligen Schiller Erinnerungen an die ehemaligen Komiker Pat und Patachon aufkommen ließ. Die randlose Brille hatte er sich in die hohe Stirn geschoben. Seine rastlosen Pupillen irrten unruhig umher und verliehen dem jungen Mann das Äußere eines Chamäleons, zumal man den Eindruck erhielt, dass er gleichzeitig in verschiedene Richtungen blicken konnte. Ohne die Besucher zu begrüßen, ergriff er einen Rolltisch, um ihn in das entsprechende Kühlfach zu schieben. Schillers Ruf hielt ihn auf.

»Halt, Maaßen, die Frau muss ich erst noch zunähen. Aber das können Sie ja auch machen. Ich bleibe dann hier bei der Frau Ludwig.«

Nach wie vor schweigend holte sich Reinhold Maaßen Garn und Nadel und begann den geöffneten Brustkorb zu verschließen. Schiller zog das Tuch weiter nach unten, mit dem der Leichnam von Erika Ludwig teilweise abgedeckt war. Nun konnten auch die beiden Kripobeamten erkennen, was der Golf an dem Frauenkörper angerichtet hatte. Vor ihnen lag ein Körper, dem ab der Kniescheibe bis hoch zur Schulterpartie fast jeder Knochen zertrümmert worden war. An vielen Stellen traten Knochenspitzen durch die jetzt blasse Haut. Das Gesicht, das beim Aufprall gegen die Windschutzscheibe geschmettert worden war, hatte sich bis zur Unkenntlichkeit verformt und bestand nur noch aus Hämatomen und Trümmerbrüchen. Schiller stand hinter dem Tisch und beobachtete stumm die Gesichter der beiden Besucher. Schließlich wendete er sich mit seinen Bemerkungen an das sichtlich schockierte Pärchen.

»Jetzt versetzen Sie sich einmal in die Lage des Ehemannes, der das live miterleben musste. Von mir will ich jetzt gar nicht reden. Viele vermuten sicher, dass es jemanden nicht schocken kann, der solche Bilder tagtäglich sieht. Doch auch Sie, Liebig, werden sicher bestätigen können, dass es völlig anders wirkt, wenn man die eigenen Angehörigen so sehen muss. Momsen – das ist die Hölle. Dass sich so mancher Verstand von Betroffenen verabschiedet, ist keine Seltenheit. Rachegedanken sind in dieser Situation völlig normal. Es entwickeln sich in diesen Augenblicken Gewaltfantasien, zu denen man vorher niemals fähig gewesen wäre. Habe ich recht, Liebig?«

Der Hauptkommissar blieb die Antwort schuldig. Das Zucken seiner Wangenknochen zeugte davon, dass er die Zähne aufeinanderbiss. Schiller klappte den rechten Brustlappen nach außen und gab den Blick frei auf die inneren Organe der Frau, die immer wieder von Teilen der gebrochenen Rippen durchbohrt worden waren.

»Ich habe aufgehört, die Frakturen aufzulisten. Hier sind nur die Knochen unterhalb des Knies unbeschädigt. Sie hat allerdings nicht leiden müssen. Der Tod trat bereits ein, als sie mit der Stirn aufschlug. Was mich besonders betroffen macht, ist dieser Gesichtsausdruck. Fällt Ihnen nicht auch auf, dass sie selbst im Tod noch lächelt? Sie ist in einem Zustand des Glücks verstorben. Der Mann hat einen großen Verlust erlitten.«

Endlich öffnete auch Liebig den Mund und ging auf Schiller zu.

»Was wollen Sie uns gerade verkaufen? Ihr Mitleid mit dem Ehemann – mit Richter Ludwig? Ja, gut, das tut auch uns sehr leid und wir können das gut nachvollziehen. Doch Sie versuchen gerade, Ihr eigenes Leid herunterzuspielen. Verdammt noch einmal, ich kannte Ihre Frau Maria auch sehr gut. Wir waren alle eng verbunden. Tun Sie jetzt nicht so, als hätten Sie den Verlust längst überwunden. Es schadet nicht, wenn Sie Ihre Trauer offen zeigen. Spielen Sie mir nicht den Harten vor, der alles mal eben so wegsteckt. Vor mir können Sie sich nicht verstecken. Ich weiß, dass Sie zu Hause weinen. Ich kenne Sie schließlich schon viele Jahre. Eigentlich bin ich auch gekommen, um Ihnen zu sagen, dass Sie mich jederzeit anrufen können. Wir können uns gerne gemeinsam besaufen. Das habe ich leider viel zu oft getan, als ... Sie wissen schon. Aber es hat manchmal sogar ein wenig geholfen.«

Der Arzt stützte die Hände auf die Kante des Seziertisches und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. Kaum verständlich kamen die Worte über seine Lippen.

»Danke, Liebig. Ich komme bestimmt darauf zurück – alles zu seiner Zeit.« Plötzlich straffte sich der gedrungene Körper und die Stimme klang wieder fester. »Jetzt werden wir uns aber darauf konzentrieren, dieses Untier in die Finger zu bekommen. Sie haben Ihre Rache bereits erleben dürfen. Ich will hoffen, dass mir diese Bestie bald von Ihnen auf diesen Tisch gelegt wird. Ich will den Satan mit eigenen Händen aus ihm herausschneiden dürfen. Erst dann habe ich meinen Frieden. Glauben Sie mir, dass ich nur noch dafür lebe. Ich habe es Maria versprochen.«

Rita Momsen hatte ergriffen dem Dialog zugehört und bemühte sich, ihre Gefühle zurückzuhalten. Neben ihr standen zwei Männer, denen das Verbrechen das Liebste genommen hatte und sie allein mit der Trauer zurückließ. Sie versuchte erst gar nicht, das nachvollziehen zu können. Jetzt mischte sie sich allerdings ein.

»Wir beide wissen, dass Sie die Untersuchung an Ihrer Frau trotz Verbot selbst durchgeführt haben. Ich glaube, dass auch Herr Liebig kein Problem damit hat. Wir sind davon überzeugt, dass es der Aufklärung mehr dient, als wenn ein unerfahrener Mensch die Obduktion vornimmt.«

Reinhold Maaßen, der in diesem Augenblick eintrat und die letzten Worte mit Sicherheit mitbekommen hatte, reagierte überhaupt nicht. Er stellte sich lediglich mit in die Kitteltaschen gestopften Händen dazu.

»Der Chef hat seine Frau sehr genau untersucht. Ich habe dabei sehr viel gelernt«, ließ er lediglich verlauten.

Schiller klopfte dem langen Schlaks auf die Schulter und sagte: »Lassen Sie es gut sein, Maaßen. Sie machen Ihre Arbeit sehr gut. Doch nun zum Ergebnis.«

Schiller schluckte einmal heftig und griff nach einem Schriftstück, das er in Folie auf dem Tisch liegen hatte.

»Dass der Toten, also Maria, post mortem der Uterus entfernt wurde, ist Ihnen ja bereits bekannt. Der Bauchschnitt wurde ja noch halbwegs professionell durchgeführt – das war es dann aber auch schon. Der Rest ist entweder dilettantisch oder in einer rasenden Wut durchgeführt worden. Die Gebärmutter wurde ihr förmlich brutal herausgerissen. Die angrenzenden Gewebereste bestätigen das eindeutig, genauso wie die fehlenden Nachblutungen. Sie konnten sicher am Tatort erkennen, dass der Täter erhebliche Gewalt auf Marias Gesicht ausgeübt hat. Das ist zuerst wahrscheinlich mit der bloßen Faust, später aber auch mit einem stumpfen Gegenstand ausgeführt worden. Sowohl die Schädelbasis als auch sämtliche Gesichtsknochen wurden zertrümmert. Ich vermute, dass sie dadurch schon vor den restlichen Torturen erlöst wurde und gnädig verstarb.«

Liebig unterbrach den jetzt stockenden Rechtsmediziner.

»Es wurde aber kein Werkzeug im Schlafzimmer gefunden. Der Täter muss also alle Hilfsmittel sorgsam verpackt und mitgenommen haben. Wir sollten trotzdem die gesamte Umgebung danach absuchen lassen. Eine Entsorgung ist immerhin möglich. Außerdem muss derjenige massenhaft Blutspritzer am Körper gehabt haben, so wie es in dem Zimmer aussah. Folglich hat er oder sie sich umgezogen, bevor man das Haus verließ. Derart blutbesudelt würde man doch draußen auffallen. Haben Sie irgendwelche Fremd-DNA gefunden?«

Gespannt beobachtete Rita den traurig wirkenden Mann, dem der Bericht wohl alle Selbstbeherrschung abforderte. Doch sie brauchten diese Auskunft, um auch nur den Hauch einer Chance zur Aufklärung zu erhalten.

»Zuerst habe ich nichts, aber auch gar nichts gefunden. Als ich schon aufgeben wollte, stieß der Kollege Maaßen am oberen Rand des Bauchschnittes auf etwas, was da nicht hingehörte. Dieser etwa einen Millimeter große Krümel erregte seine Aufmerksamkeit – Gott sei Dank, sage ich heute. Nach genauerer Analyse handelt es sich um ein winziges Stück Leder. Wir lassen gerade herausfinden, welches Tier das lieferte und wozu diese Lederart in der Regel verwendet wird. Ich gehe davon aus, dass nicht jede Sorte für jeden Zweck verwendbar ist. Es ist nicht viel, aber es könnte vielleicht sehr wichtig für uns sein. Nun heißt es abwarten.«

Rita hatte Feuer gefangen und notierte fleißig mit. Sie versuchte sogar, eine Erklärung zu liefern.

»Ich könnte mir vorstellen, dass zum Beispiel eine Laufsohle widerstandsfähigeres Leder haben muss, als ein Hosengürtel. Vielleicht haben wir Glück und finden sogar den Hersteller heraus, der das Leder verarbeitet. Möglicherweise hat der Täter Lederhandschuhe getragen. Wenn wir die irgendwo finden, haben wir mit Sicherheit weitere DNA von ihm. Womöglich hat der Täter die blutigen Handschuhe im Umfeld des Tatortes entsorgt. Ich sage Spiekermann Bescheid, damit der von ein paar Einheiten den Stadtteil umkrempeln lässt. Ist das in Ordnung, Chef?«

Rita wartete das stumme Nicken Liebigs wieder einmal nicht ab. Das Telefon verschwand nach dem Anruf bei dem Kollegen mit einem erleichterten Grinsen in der Hosentasche. Schiller reichte dem Hauptkommissar den schriftlichen Bericht über den Tisch.

»Ich vertraue Ihnen beiden. Sie werden es schaffen, mir dieses Biest zumindest vor Gericht zu zerren. Da ich vermute, dass ein solches Monstrum anschließend für unzurechnungsfähig erklärt wird und in der Forensik landet, würde es mir lieber sein, das Schwein tot vor mir liegen zu sehen. Verzeihen Sie mir bitte meine Ehrlichkeit, Frau Momsen, aber ich ...«

Weiter kam Schiller nicht, da ihn ein Weinkrampf schüttelte. Rita ging um den Seziertisch herum und umarmte den Mann lange. Immer wieder flüsterte sie ihm tröstende Worte ins Ohr. Liebig trennte die beiden schließlich vorsichtig und strich dem älteren Freund über den kahl geschorenen Kopf.

10

Lange beobachtete Rita Momsen ihren Vorgesetzten, der mit vor der Brust verschränkten Armen vor dem Fenster seines Büros stand. Er schaute hinaus in den Regen, der den Platz vor dem Präsidium in ein kaltes Grau tauchte. Nichts an ihm verriet, woran er dachte. Lediglich die wenigen Falten auf seiner Stirn bewiesen, dass es keine angenehmen Gedanken sein konnten. Als hätte er bereits damit gerechnet, zeigte er keinerlei Reaktion, als Rita ihn von der Tür aus ansprach.

»So schlimm? Was quält Sie, Chef? So nachdenklich habe ich Sie ja noch nie gesehen.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752144345
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Mai)
Schlagworte
Rache Todesliste Serienmörder Psychopath Strafverfolgung Krimi Ermittler Noir

Autor

  • H.C. Scherf (Autor:in)

Der Autor begann nach Eintritt in den Ruhestand mit dem Schreiben von spannenden Romanen unter seinem Klarnamen Harald Schmidt. Da dieser durch TV bekannte Name falsche Erwartungen beim Leser weckte, übernahm er das Pseudonym H.C. Scherf zum Schreiben etlicher Thriller-Reihen.
Zurück

Titel: Die Rache bleibt