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Der Schmerz bleibt

von H.C. Scherf (Autor:in)
206 Seiten
Reihe: Die Liebig/Momsen-Reihe, Band 5

Zusammenfassung

Nichts ist vergessen – Die Zeit der Vergeltung ist gekommen Die Frauen besitzen alle das gleiche Äußere. Doch das ist nicht das einzig Gemeinsame – sie sterben alle einen grausamen Tod. Der Serienmörder foltert seine Opfer bestialisch, ohne auch nur die geringste Spur zu hinterlassen. Er macht den ersten Fehler, als einem Opfer die Flucht aus dem schrecklichen Kerker gelingt. Doch die Ermittler Rita Momsen und Peter Liebig erleben eine tiefe Enttäuschung, als sie auf die Hilfe des Opfers und erste Spuren setzen. Der geheimnisvolle Mörder bleibt nicht nur weiter ein Phantom, sondern wird selbst für sie zur tödlichen Bedrohung.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Der Schmerz bleibt

 

Band 5 der Liebig/Momsen-Reihe

 

Von H.C. Scherf

 

 

Thriller

1

Bitte, lieber Gott, lass mich endlich sterben.

Sie formte diese Gedanken mit ihren Lippen, während sie den Blick zur Decke dieses modrig riechenden Raumes gerichtet hatte. Über ihr, an der feuchten, von Moos bewachsenen Decke, klebten Armeen von widerlichen Spinnentieren, die nur darauf zu warten schienen, dass sie endlich über Maras totes Fleisch herfallen konnten. Maras irre Gedanken stellten sich bereits vor, wie ihr Körper mit Seide eingehüllt und ihr Blut aus dem Körper gesaugt würde. Einige der kleinen Monster hatten nicht abwarten können, saßen bereits in den tiefen Wunden, die ihr die Bestie in den letzten Wochen zugefügt hatte.

Sie spürte die breiten Sisalgurte an den Armen schon längst nicht mehr, die in ihr Fleisch schnitten und die Blutzirkulation unterbrachen. Mara hatte diesem Umstand sogar etwas Positives abgewinnen können, denn sie ertrug dadurch die Schmerzen besser, die ihr etliche Rattenbisse in den Füßen verursachten. Auch die Kälte, die vor allem nachts tief in ihren fast nackten Körper eindrang, empfand sie längst nicht mehr. Immer und immer wieder richtete sie ihren Blick auf den schmalen Eingang, hinter dem sie wildes Gestrüpp und vergammelnden Müll erkennen konnte, den Anwohner schon vor langer Zeit dort entsorgt hatten. Diese Ruine, unweit des Fulerumer Südwestfriedhofs, war längst in Vergessenheit geraten und für Besucher durch ein Gitter abgesperrt. Ihr Peiniger hatte sich das zunutze gemacht und sie hierher verschleppt. Die Schreie, mit denen sie auf ihr unvorstellbares Leid aufmerksam machen wollte, endeten schon am schmuddeligen Knebel, den ihr dieses Tier in den Mund gestopft hatte. Doch selbst wenn sie hätte frei schreien können, wäre es mehr als fraglich gewesen, ob sie überhaupt von jemandem gehört worden wäre. Bald würde sie genauso tot sein wie dieses Haus. Sie wäre nur noch Geschichte, ein Akteneintrag mehr in einem Polizeibericht. Dabei setzte sie voraus, dass dieser Wahnsinnige jemals gefasst würde. Schließlich trieb er sein Unwesen schon recht lange, was die vielen Körperteile bewiesen, die er schon zuvor geschändet hatte. Mindestens vier bereits mumifizierte Leichen konnte Mara in den Ecken des zumeist dunklen Raumes ausmachen. Dieses Grauen war für sie ein Blick in die eigene Zukunft.

Schwach zog sie an den Handfesseln, die tief in ihr Fleisch schnitten und ihre Arme immer nach oben zogen. Wenn sie die Schmerzen ignorierte, konnte sie sich auf den kalten, feuchten Boden setzen. Allerdings sackte das Blut dann aus den Armen in den Rumpf und machten sie völlig gefühllos. Sie wünschte sich sehnlichst, dass dies auch mit den Wunden geschehen würde, die ihr der Kerl an Unterleib und den Brüsten zugefügt hatte. Die tiefen Schnitte waren längst verschorft, wobei die Schmerzen jedoch blieben. Lediglich die nie endende Kälte dämpften sie ein wenig. Mara hatte aufgehört, die Tage zu zählen, die sie schon hier dem Martyrium des Mörders ausgesetzt war. Sie hatte sogar den Ratten, die sie regelmäßig besuchten, bereits Namen gegeben. Immer wieder baute sich vor ihren Augen die Szenerie auf, wenn das menschliche Ungeheuer sie besuchte. Anfangs hatte sie befürchtet, dass er sie brutal vergewaltigen und anschließend töten würde – eine unerträgliche Vorstellung für eine Sechzehnjährige, die noch wenig Erfahrung in Sachen körperlicher Liebe besaß. Doch dass es so grausam werden würde, hätte sie sich in den schlimmsten Träumen nicht vorstellen können. Dieser Kerl, der sein hübsches Gesicht offen zeigte, war nur bedingt an Maras weiblichen Reizen interessiert. Er beschränkte sich mit beeindruckender Geduld darauf, ihr mit einem scharfen Messer tiefe Wunden zuzufügen. Wenn ihr das Blut über Brust oder Scheide lief, begann er sich mit verklärtem Blick zu entkleiden. Am ersten Tag beschränkte er sich darauf, ihr die gesamte Körperbehaarung abzurasieren, sodass sie absolut haarlos und nackt vor ihm stand. Am nächsten Tag tat er es zum ersten Mal. Sie konnte ihren Würgereiz kaum kontrollieren, als der Mann damit begann, zu masturbieren. Seinen Samen strich er mit einem Lächeln über ihr Gesicht, verteilte ihn dann über den gesamten Körper. Währenddessen war immer dieser Singsang zu hören, der keiner ihr bekannten Melodie folgte. Nur selten sprach er zu ihr. Mara erinnerte sich daran, dass es genau diese angenehme Stimme und das hübsche Aussehen waren, die Schuld daran waren, dass sie ohne Bedenken in sein Auto gestiegen war – ein Fehler, der nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte. Mara sah das Gesicht vor sich, dieses geheimnisvolle Lächeln, als er ihr an der Theke der Diskothek Komplimente machte. Ein Tänzer, wie sie ihn schon lange nicht mehr erleben durfte. An diesem Tag bedauerte sie es, dass keine ihrer Freundinnen Zeit hatte, sie zu begleiten. So gerne hätte sie mit ihrer Eroberung eines weitaus älteren Mannes bei ihnen angegeben. Seine sportlich-elegante Erscheinung war selbst für diesen Nobelschuppen nicht alltäglich. Ihr fiel diese allmählich einsetzende Müdigkeit gar nicht auf. Doch gerne nahm sie das Angebot ihres Begleiters an, sie nach Hause zu fahren. Schon auf dem Beifahrersitz schlief sie friedlich ein. Am Haus ihrer Eltern kam sie niemals an.

Die Geräusche von Schritten rissen sie aus ihren Gedanken. Verzweifelt versuchte sie, sich aufzurichten. Sie stöhnte auf, als die Fesseln wieder tief in ihre Handgelenke einschnitten. Ein Schatten verdunkelte die schmale Öffnung dieser Folterkammer, verdeckte die wenige Sonne, die Mara ein letztes Vorhandensein von Leben da draußen verdeutlichten. Der stumme Schrei blieb in ihrem Knebel stecken, als sie das lange Messer in der Hand des Mannes aufblitzen sah, begleitet von einem perfiden Lächeln.

Oh Gott, hast du mein Bitten nicht gehört?

2

Oberkommissar Klaus Spiekermann schrak hoch, als er den Atem von Kommissarin Rita Momsen an seinem Ohr und den Geruch eines angenehmen Parfüms in der Nase spürte.

»Verdammt, musst du dich immer so anschleichen? Ich habe ein schwaches Herz. Was willst du von mir?«

Noch immer war Ritas Blick auf den Computerbildschirm von Spiekermann gerichtet, der aktuelle Angaben zu einer Vermisstenmeldung betrachtete und mit älteren verglich. Rita biss ein Stück von ihrem Müsliriegel ab und las mit. Irgendwann zeigte sie mit dem Finger auf einen bestimmten Punkt und murmelte.

»Die Mädels scheinen sich fast alle in einer Altersklasse zu befinden, bis auf wenige Ausnahmen. Ja, mein lieber Klaus – das ist ein gefährliches Alter für die Jugendlichen. Ich erwähne das ja nur, da du dich wohl nur noch schwach an diese Zeit erinnern wirst, in der man die Welt erobern will, ohne viel über deren Gefahren zu wissen.«

Ritas Lächeln vertiefte sich, wobei ihr Blick weiter auf dem Bildschirm ruhte. Ihr war das Zucken im Gesicht ihres Kollegen nicht entgangen, der gerade einmal die Mitte vierzig erreicht hatte. Sie konnte es nur schwer unterlassen, ihn des Öfteren daran zu erinnern, dass sie etwa zwanzig Jahre voneinander trennte. Heute schluckte Klaus die Frotzelei, sehr zum Missfallen Ritas, ohne weitere Kommentare. Er sortierte die Vermisstenlisten um und erhielt eine Sammlung von fünf Personen, bei denen die Beschreibungen auffallend genau übereinstimmten. Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, während er das verführerische Parfum Ritas genüsslich einatmete.

»Vor neun Wochen wurde diese – warte einmal – ja, diese Mara Veil von ihren Eltern als vermisst gemeldet. Vor drei Wochen kam die Meldung rein, dass ein weiteres Mädchen vom Tanzabend nicht nach Hause kam. Zufall? Das würde mich schon sehr wundern.« Spiekermann winkte ab, als Rita an dieser Stelle einhaken wollte. »Ich weiß schon, was du mir jetzt sagen willst. Die Mädels hauen manchmal nur für einige Zeit ab, weil sie sich auf dem pubertären Selbstfindungstrip befinden. Klar, kommt das vor. Und sie tauchen auch irgendwann wieder bei Mami auf, weil sie gemerkt haben, dass es mit der Versorgung über Papis Konto auch besser klappte. Doch hier habe ich ein komisches Gefühl, Rita.«

»Gibt es Abschiedsbriefe? Ich meine damit nicht unbedingt die, die einen Suizid ankündigen. Viele beschreiben darin ja nur, dass sie mal eben mit einem absolut tollen Lover unterwegs sind, oder es zuhause einfach scheiße finden. Die sind harmlos. Also – gibt es welche?«

Klaus Spiekermann scrollte durch die Dateien und schüttelte den Kopf.

»Es gibt mir viel zu viele Übereinstimmungen. Das macht mich stutzig. Da werden sich ja bestimmt nicht alle Mädels im Alter zwischen fünfzehn und achtzehn, mit auffallend blonden und langen Haaren verabredet haben, im Abstand von etwa sechs Wochen von zuhause zu verduften. Oder täusche ich mich da? Warte mal. Ich hole mir die Bilder alle zusammen auf den Schirm.«

Während Klaus auf die Tastatur einhämmerte, schob sich Rita den Rest ihres Riegels zwischen die Lippen. Gespannt starrten sie auf die Bildergalerie, die sich Stück für Stück vor ihnen aufbaute.

»Wow. Das könnten ja fast Klone sein«, entfuhr es ihr, »die Ähnlichkeit ist ja frappierend. Geschwister sind das zumindest nicht. Vielleicht hat sich der Vater nicht ganz an sein Treuegelöbnis gehalten und ...«

»Kannst du nicht einmal dein loses Mundwerk im Zaum halten? Männer sind von Natur aus eigentlich äußerst monogame Wesen. Ihr Frauen sorgt ständig mit euren Verführungskünsten dafür, dass sie die Vorzüge ihrer Ehepartner vorübergehend vergessen. Ihr seid es, die die größte Schwäche von uns ausnutzen.«

Keiner von beiden hatte bemerkt, dass sich Hauptkommissar Peter Liebig genähert und die letzte Bemerkung mitbekommen hatte. Allerdings entging Spiekermann nicht, dass Liebigs Hand – wie zufällig – auf Ritas Schulter lag. Trotzdem verblieb eine kurzzeitige Unsicherheit bei den beiden.

»Was ist denn so interessant an diesen Vermissten? Ach so, ich sehe schon. Die Ähnlichkeit. Das ist in der Tat recht ungewöhnlich. Und von denen ist bisher noch keine wieder aufgetaucht? Seht ihr irgendwelche Ansatzpunkte, um mögliche Ermittlungen in Gang setzen zu können?«

Rita trat einen Schritt zurück und berührte dabei mehr zufällig den Arm ihres Vorgesetzten.

»Darf ich vorschlagen, dass wir beide, also Klaus und ich, einmal die Eltern aufsuchen, um dort mehr ins Detail zu gehen? Gibt es Beziehungen der Familien untereinander? Kennen sich die Mädchen? Gehen sie auf die gleiche Schule, besuchen sie vielleicht die gleichen Kneipen oder Jugendheime? Da gibt es sicher einen Riesenfragenkatalog. Ich finde zumindest, dass es ein Ansatz wäre. Du selbst hast uns ja beigebracht, dass der Täter, so es einen gibt, in den meisten Fällen im Familien- oder Freundeskreis zu finden ist. Also schauen wir uns das einmal an und vergleichen die Beziehungen zueinander. Wäre das in deinem Sinne, Herr Hauptkommissar?«

Für Liebig war es wie eine Befreiung, dass er seine Beziehung zu Rita ab sofort nicht mehr verheimlichen musste. Das betraf zumindest die Personen, die zu seinem engeren Team zählten. Kriminalrat Rösner tappte scheinbar immer noch im Dunkeln, was Liebig nicht unbedingt bedauerte. Die Gefahr bestand immerhin, dass man sie beide trennte, also in verschiedene Dezernate versetzte. Der Vorteil lag allerdings darin, dass er sich um Rita nicht so viel Sorgen machen musste, wenn sie zum Beispiel in ein Dezernat für leichtere bis mittlere Kriminalität versetzt würde. Der Kontakt zu Mord und Totschlag birgt immer wieder hohes Gefahrenpotenzial. Dazu hatten beide in der relativ kurzen Zeit der Zusammenarbeit schon reichlich Erfahrung sammeln dürfen.

»Gut, das machen wir so. Über wie viele Mädchen sprechen wir bisher?«, wollte Liebig noch wissen und beugte sich Richtung Bildschirm. Spiekermann antwortete ihm.

»Bisher sprechen wir von diesen fünf Mädchen. Ich hoffe nur, dass man hier nicht dem Gesetz der Serie folgt und der zeitliche Abstand beibehalten wird. Dann wäre in den kommenden Tagen die nächste fällig. Lasst uns an die Arbeit gehen. Den letzten Fall von Suizid bei diesem Ralf Feltau habe ich Ihnen auf den Tisch gelegt. Dabei scheint es wirklich keine Fremdeinwirkung gegeben zu haben. Das ist in meinen Augen abgeschlossen. Können wir, Rita?«

3

Das Café in Kettwig war nur spärlich besucht. Helga Körner schaute mehr gelangweilt aus dem Fenster, um die vorbeieilenden Passanten zu beobachten. Sie versuchten, teilweise mit hochgehaltenen Schirmen, sich vor dem peitschenden Regen zu schützen. Immer wieder schlugen einige Schirme um, was Helga ein Lächeln auf das Gesicht zauberte, das jedoch Mitleid und Verständnis ausdrücken sollte. Sie hatte während des Einkaufens bereits Ähnliches erleben müssen. Nachdem sie die beiden Taschen neben dem Tisch abgestellt hatte, rieb sie noch einmal ihre klammen Hände und sah zur Kellnerin hoch, die mehr lustlos nach ihren Wünschen fragte und sich scheinbar enttäuscht wieder zur Theke entfernte. Ihr schien die Bestellung eines schnöden Kaffees nicht motivierend genug, um Freundlichkeit an den Tag zu legen. Helga sollte es egal sein. Ihr würde das hoffentlich heiße Getränk guttun.

Sie legte ihre Finger um die Tasse und genoss die Wärme, die von dort weiter in die Arme floss. Ihre Gedanken bewegten sich um den unnötigen Streit mit Reinhard, den sie selbst wegen einer Lappalie lostrat. Eigentlich war Reinhard ein herzensguter Mensch, der eher nachgab, als sich zu streiten. Doch diesmal hatte sie ihm eine Szene gemacht – alles nur, weil er seine Stiefel direkt vor der Haustür platziert hatte und sie darüber gestolpert war. Seine Entschuldigung hatte sie ignoriert und an ihm den Ärger abreagiert, den sie wegen des angebrannten Brotes aus dem Backautomaten in sich hineingefressen hatte. Jetzt erinnerte sie sich an seine Traurigkeit, als er das Haus verließ, um ohne Abschiedskuss zur Arbeit zu fahren. Es war das erste Mal in ihrer Ehe, dass dies geschah. Sie hatten sich versprochen, niemals einen Streit ungeklärt zu lassen. Heute Abend würde er sicher mit Blumen auftauchen, um die Wogen zu glätten, die sie selbst verursacht hatte. Ein etwas frivoles Lächeln umspielte Helgas Mund, als sie sich ausmalte, auf welche Art sie das wieder gutmachen würde. Da mochte ihr schon das Passende einfallen. Sie schrak zusammen, als sie die Berührung an ihrem linken Fuß spürte. Im gleichen Augenblick bemerkte sie die Bewegung neben sich und blickte in die blauesten Augen, die sie jemals zu sehen bekam.

»Entschuldigung, wenn ich Sie erschreckt haben sollte, aber Ihre Tasche war umgekippt. Ich habe sie nur ...«

»Danke«, war alles, was Helga in diesem Augenblick über die Lippen brachte. Zu sehr war sie damit beschäftigt, diesen hilfsbereiten Mann zu analysieren. Immer wieder erwischte sie sich dabei, Menschen in Schubladen stecken zu wollen, zumindest, was das Äußere betraf. Dieser Mann passte definitiv in die Brad Pitt-Kategorie. Dieser Blick, diese Gesichtsform, die Ausstrahlung – alles passte haargenau.

»Es tut mir leid – ich scheine Sie wirklich gestört zu haben. Darf ich das mit einem weiteren Kaffee oder einem Kuchenstück ausgleichen? Da könnte man hier wunderbar aus dem Vollen schöpfen. Es war nicht meine Absicht, Sie zu ...«

Statt einer Antwort hob Helga nur abwehrend beide Hände und damit irrtümlich an, dass sie wohl keine Unterhaltung wünschte. Die passenden Worte fand sie nicht auf Anhieb. Erst als sich der junge Mann mit federnden Schritten wortlos entfernen wollte, stammelte sie die ersten Worte.

»Es ... es ist wirklich ... bitte entschuldigen Sie, aber ich war gerade völlig in Gedanken. Warten Sie bitte.«

Helga drehte sich mit der Absicht zur Seite, ihre Verlegenheitsröte vor dem Fremden zu verbergen, was allerdings nur das Gegenteil bewirkte. Am Liebsten wäre sie vor Scham im Boden versunken.

Verdammt – ich benehme mich wie ein pubertierender Teenager, der zum ersten Mal von dem Traumprinzen zum Tanz aufgefordert wird.

Unbeholfen zeigte sie auf den Stuhl neben sich und hätte sich im gleichen Augenblick dafür ohrfeigen können.

Was tue ich gerade? Ich bin eine glücklich verheiratete Frau, die sich gerade von einem gut aussehenden Fremden zum Kaffee einladen lässt. Wenn mich jemand dabei sieht und es Reinhard erzählt?

Ihre Röte verstärkte sich ein weiteres Mal, als sie die Hand des Mannes auf ihrer spürte.

»Was habe ich gerade angerichtet. Sie sind ja völlig durcheinander. Ich werde mich wieder an meinen Tisch setzen und Sie allein lassen. Den Kaffee bestelle ich Ihnen trotzdem.«

Als Helga bemerkte, dass es dem Mann ernst mit dieser Absicht war, reagierte sie wieder völlig unbewusst, obwohl ihr jede Silbe sofort auf der Zunge brannte.

»Bleiben Sie bitte – es ist nichts. Zumindest nichts, was Sie betrifft. Ich war nur sehr tief in Gedanken. Ich heiße Körner, Helga Körner. Und Sie?«

Habe ich das wirklich gerade gesagt? Habe ich dem Mann ohne Aufforderung meinen Namen verraten? Was ist bloß mit dir los, Helga?

»Wenn wir gerade bei der Vorstellung sind – ich heiße Leonhard Freitag. Meine Freunde nennen mich einfach Leon. Wenn Sie möchten, können Sie mich einfach ...«

»Nein, nein, lassen wir es bitte bei dem Sie. Wir kennen uns ja nicht einmal fünf Minuten. Verzeihen Sie bitte, aber in diesem Punkt pflege ich altmodische Prinzipien. Nehmen Sie mir das bitte nicht übel. Aber den Kaffee können wir trotzdem bestellen. Meiner ist sowieso leer. Aber den bezahle ich selber, schließlich haben Sie mir geholfen. Keine Widerrede, Herr Freitag.«

Um das zu untermauern, zeigte sie ihrem Gegenüber die offene Handfläche und einen strengen Blick. Der wiederum verlor seine Schärfe, als Helga in diese lachenden Augen mit dem so ungewöhnlichen Blau sah.

»Ich möchte mich nicht mit Ihnen streiten, wo wir uns gerade erst kennengelernt haben. Sie sind bestimmt verheiratet und haben zwei süße Kinder.«

Erstaunt blickte Helga auf und entdeckte plötzlich tief in ihrem Inneren ein gewisses Misstrauen. Diese Frage war ihr doch zum Gesprächsauftakt etwas zu intim. Unsicherheit machte sich in ihr breit und sie suchte nach einer Möglichkeit, sich zum Sortieren ihrer Gedanken zurückziehen zu können. Statt einer Antwort präsentierte Helga der Brad Pitt-Kopie eine Gegenfrage.

»Würden Sie mich für einen Augenblick entschuldigen. Ich möchte nur eben zur Toilette. Der Kaffee ist ja noch nicht da.«

Sie spürte die Blicke des Fremden in ihrem Rücken brennen, was ihren Gang verunsicherte. Als sie endlich die Toilettentür hinter sich schloss, lehnte sie sich dagegen und versuchte, Atmung und ihre Gedanken wieder in den Griff zu bekommen.

Was ist mit dir los? Das ist doch nur eine zufällige Begegnung mit einem Fremden. Jetzt interpretiere bloß nichts hinein, was es gar nicht geben darf. Du gehst jetzt da raus und schickst den verdammten Kerl zurück in die Wüste.

Leonhard erhob sich wie ein Gentleman, als Helga wieder am Tisch erschien und den Mund zu einer Klärung der Situation öffnete. Seine Worte unterbrachen ihre Absicht, zerstörten all ihre guten Vorsätze mit diesen Sätzen.

»Ich muss mich ein weiteres Mal bei Ihnen entschuldigen. Es war sehr ungehörig von mir, Sie nach Ihrem Familienstand zu fragen. Es geht mich auch nichts an. Was sollen Sie jetzt von mir denken? Ich werde meinen Kaffee austrinken und Sie wieder mit Ihren Gedanken allein lassen, wobei ich hoffe, dass es gute Gedanken waren. Lassen Sie uns mit Kaffee anstoßen und alles vergessen. Das musste wie eine billige Anmache auf Sie wirken, was wirklich nicht in meiner Absicht lag. Aber es war mir trotzdem ein Vergnügen, einige Worte mit einer wunderschönen Frau wechseln zu dürfen.«

Was läuft hier gerade ab? Kopiert dieser verdammt gut aussehende Kerl eine Filmszene oder ist der wirklich so galant? Ich werde aber darauf nicht hereinfallen.

Wieder bekam sie keine Gelegenheit, das Gespräch weiter zu führen. Der Schwindel trat nur für einen Moment auf, irritierte Helga jedoch augenblicklich. Als sie die aufkeimende Müdigkeit spürte, vernahm sie die Worte des Mannes bereits wie durch einen schwachen Nebel.

»Ist Ihnen nicht gut? Soll ich einen Arzt rufen? Kommen Sie, sagen Sie mir, wo Sie wohnen und ich fahre Sie schnell nach Hause. Ich bezahle schon einmal und werde mir dann Ihre Taschen schnappen. Die Kellnerin ist gerade nicht da. Dann lege ich das Geld auf den Tisch. Lassen Sie sich helfen.«

Helga nahm dankend die Hand des Mannes und ließ sich nach draußen führen. Nachdem Leonhard die hintere Tür für sie geöffnet und ihr auf den Rücksitz geholfen hatte, konnte sie nicht einmal sagen, in welchen Wagentyp sie eingestiegen war. Das Auto war schwarz und groß. Nur das blieb ihr im Gedächtnis haften. Kaum war der Wagen losgefahren, sank sie auf die Rückbank und schlief augenblicklich ein.

4

Das Haus der Familie Kaiser unterschied sich von den nebenstehenden Reihenhäusern angenehm dadurch, dass es einen blumenüberfüllten Vorgarten besaß, was Rita Momsen einen anerkennenden Pfiff entlockte. Sie stellte sich vor, wie fleißige Bienen und andere Insekten in der warmen Jahreszeit dieses Paradies umschwärmten. Rita bemerkte gar nicht, wie Klaus Spiekermann ungeduldig mit den Füßen im Kies scharrte. Seine Frotzelei ließ sie allerdings aufhorchen.

»Wenn du mal groß bist und jemand um deine Hand anhält, kannst du dir bestimmt auch so ein schönes Heim gestalten. Doch bis dahin ...«

Beide wurden von dem hässlichen Geräusch unterbrochen, das die Haustür verursachte, die von einer Frau geöffnet wurde, die gleichzeitig ihre feuchten Hände an einer Schürze abtrocknete. Klaus rieb sich über die Gänsehaut, die sich immer dann bildete, wenn Steinchen über Fliesen gerieben wurden.

»Kann ich Ihnen helfen, oder möchten Sie sich nur diese Blumenpracht ansehen?«

Rita wechselte sofort in den Analysemodus. Sie betrachtete die Frau, die etwa Mitte vierzig sein durfte und mit ihren kurz geschnittenen, braunen Haaren und dem etwas traurigen Blick wenig Selbstbewusstsein ausstrahlte. Ihre Ansprache zeugte jedoch davon, dass man sich darin irren konnte. Rita zückte ihren Dienstausweis und stellte sich und ihren Partner vor. Im gleichen Augenblick veränderte sich der Ausdruck im Gesicht von Irma Kaiser. Sie schwankte plötzlich und tastete haltsuchend nach der Türfüllung. Klaus Spiekermann sprang vor und fasste nach dem Arm der überraschten Frau. Noch während er sie stützte, kamen die Worte über deren Lippen.

»Haben Sie ... ich meine, wurde Katrin endlich gefunden? Wo ist sie? Kann ich sie sehen? Jetzt sprechen Sie doch endlich mit mir. Ist sie ... ist sie tot?«

Rita und Klaus wechselten nur einen kurzen Blick, bevor er Frau Kaiser zurück in den Hausflur führte. Seine Worte schienen durch sie hindurchzugehen, da sie keinerlei Reaktion zeigte.

»Wir können Ihnen noch nichts Neues über Ihre Tochter berichten, Frau Kaiser. Dennoch hätten wir ein paar Fragen an Sie, um die Ermittlungen vorantreiben zu können. Dürfen wir ...?«

»Aber natürlich. Wie unhöflich von mir. Bitte entschuldigen Sie. Kommen Sie rein.«

Während Frau Kaiser ihnen das angebotene Glas Wasser aus der Küche holte, hatten die Polizisten Gelegenheit, sich ein Bild von der Wohnatmosphäre zu schaffen. Die Inneneinrichtung des Wohnzimmers unterschied sich bestimmt nur in wenigen Details von Abermillionen anderen Einrichtungen in deutschen Wohnungen. Sie befanden sich im Umfeld einer Nullachtfünfzehn-Familie, die sehnsüchtig auf eine Nachricht über den Verbleib ihrer einzigen Tochter wartete. Familie war vielleicht etwas weit gegriffen, da Irma Kaiser, wenn man den Unterlagen Glauben schenken durfte, kurz vor Verschwinden der Tochter, von ihrem Mann verlassen worden war. Sie stand diesem Problem nun allein gegenüber. Dieser Irrtum klärte sich Sekunden später auf, als die Haustür aufgeschlossen wurde und ein breitschultriger Mann mit fragendem Blick vor ihnen stand. Irma Kaiser erhob sich und hakte sich bei dem Rotschopf unter.

»Die Herrschaften sind von der Polizei und möchten mir ein paar Fragen zu Katrin stellen. Setz dich doch zu uns, Fredi. Das ist Oberkommissar Spiekermann und die junge Dame ist, so glaube ich, Kommissarin Momsen. Das ist mein ... na ja, mein neuer Partner Fredi Scheidig.«

»Was gibt es denn noch zu fragen?«, entfuhr es dem bärengroßen Mann, statt einer Begrüßung. »Ihr habt doch schon vor Monaten die Bude hier auseinandergenommen. Findet das Mädchen endlich und lasst die arme Frau nicht länger im Ungewissen. Habt ihr überhaupt schon mit der Suche angefangen, oder ist euch das durchgegangen? Also, was gibt es noch?«

Klaus Spiekermann ahnte schon, wie spontan Rita aufgrund fehlender Erfahrung reagieren würde. Er hielt sie deshalb an ihrem Arm zurück und verhinderte damit unbedachte Reaktionen. Statt ihr ergriff er das Wort.

»Ich kann mich nicht daran erinnern, dass Sie damals, als Katrin verschwand, schon hier eine Rolle spielten, doch werden wir uns zu gegebener Zeit auch mit Ihnen und Ihren Fragen beschäftigen. Jetzt möchten wir jedoch ausschließlich mit der Mutter sprechen. Ich hoffe, ich habe mich für Sie verständlich genug ausgedrückt. Und nun zu Ihnen, Frau Kaiser.«

Weder Rita noch Klaus Spiekermann hatten ernsthaft damit gerechnet, dass Scheidig das kommentarlos hinnehmen würde. Umso erstaunter waren sie, als sich der Riesenkerl umdrehte und im Nebenraum verschwand. Sein Gesicht bestand jedoch aus vielen Fragezeichen, so als hätte er nicht recht verstanden, was gerade passiert war. Rita wandte sich an die Mutter.

»Als wir die Akte zu Katrins Verschwinden anlegten, war alles noch frisch und wir gingen davon aus, dass Ihre Tochter eventuell nur ausgerissen war. Darin liegen die Gründe, warum nicht sofort sämtliche Suchinstrumente in Bewegung gesetzt werden. Außerdem bestand damals, genau wie heute, keinerlei Anlass, an ein Gewaltverbrechen oder eine Entführung zu glauben. Nun haben sich aber Anhaltspunkte ergeben, die uns zwingen, der Sache noch intensiver nachzugehen. Dürfen wir Ihnen einige Fotos zeigen? Sie könnten uns sagen, ob Sie eine dieser Personen erkennen.«

Spiekermann legte vorsichtig die Fotos der vier anderen Mädchen auf den Tisch, ohne Frau Kaiser und ihre Reaktion aus den Augen zu verlieren. Das Erstaunen überraschte die beiden Beamten in keiner Weise. Zu ähnlich waren sich die Gesichter. Mit zitternden Händen griff Irma Kaiser zum ersten Bild, um mit der anderen Hand das zweite anzuheben. Ihre mehr geflüsterten Worte drückten die Überraschung aus, die sie in diesem Augenblick überwältigte.

»Katrin. Das ist nicht Katrin. Nein, woher haben Sie diese Bilder? Was ist mit den Mädchen geschehen? Wieso zeigen Sie mir das? Sie sehen nur aus wie Katrin, aber es sind andere ... Katrin hat hier ein Muttermal. Genau hier.«

Frau Kaiser zeigte auf einen Punkt am Hals. Sie wiederholte die Frage.

»Diese Mädchen ... sind die auch? Sind die tot? Nein, nein, das ist nicht meine Katrin. Sie lebt, hören Sie, sie lebt noch und wird bald wieder zurückkommen. Das weiß ich genau. Katrin würde niemals ...«

»Es ist gut, Frau Kaiser. Alles ist gut. Beruhigen Sie sich. Diese Mädchen sind nicht tot. Sie werden aber ebenfalls vermisst. Deshalb möchten wir Sie fragen, ob Sie die Jugendlichen schon irgendwann gesehen haben. Dass sie Ihrer Tochter so verdammt ähnlich sehen, kann, muss aber kein Zufall sein. Verstehen Sie, warum wir das fragen? Wir glauben einfach nicht an Zufälle.«

Die unangenehme Stimme aus dem Hintergrund unterbrach das Gespräch zwischen Irma Kaiser und Rita.

»Was soll das Gequatsche von die sind nicht tot? Sie würden doch Ihre Zeit nicht vergeuden, wenn sie sicher wären, dass die noch leben. Sagen Sie der armen Frau doch endlich, was los ist. Wir brauchen Gewissheit, damit die Scheiße endlich ein Ende hat. Dieses Hin und her geht mir gewaltig auf den Sack. Man kann ja mit der Frau kein vernünftiges Wort mehr reden, ohne dass die anfängt zu flennen.«

Verzweifelt versuchte Klaus Spiekermann erneut, Rita zurückzuhalten, die aufgesprungen war und deren Augen funkelten. Gefährlich leise kamen ihre Worte, wobei ihr anzusehen war, wie sie sich dabei gewaltig zurückhalten musste.

»Es ist immer wieder eine Freude, solchen Menschen zu begegnen, die nicht einmal in der Lage sind, das Wort Empathie zu buchstabieren. Als Gott menschliche Anteilnahme unter den Neugeborenen verteilte, steckte Ihr Kopf wohl bereits in der Kloschüssel. Und da wird er wohl noch gewesen sein, als diese arme Frau Sie kennenlernte. Wie groß muss das Elend jemanden treffen, um sich mit Menschen wie Sie zusammenzutun? Und bevor Sie jetzt weiter Müll reden, Herr Scheidig, will ich Ihnen Folgendes sagen: Ihre Meinung steht im Augenblick nicht zur Debatte. Sollten wir Fragen an Sie haben, werden wir Sie gerne ins Präsidium bestellen. Und jetzt lassen Sie uns hier weitermachen, damit wir unseren Job erledigen können. So ist doch Ihr werter Name, oder?«

Spiekermanns Gesicht zeigte eine auffällige Blässe und Anspannung. Er war bereit, sich jederzeit zwischen Rita und dem Riesenkerl zu werfen, der seine Kritikerin mit ungläubigem Blick anstarrte. Bevor dieser eine Reaktion zeigen konnte, fasste ihn Irma Kaiser am Arm und führte ihn wie einen kleinen Jungen aus dem Zimmer. Die beiden Beamten hörten kurzzeitig eine heftige Diskussion, bevor die Frau des Hauses wieder mit hochrotem Kopf erschien. Rita, die den vorwurfsvollen Blick Spiekermanns bereits bemerkt hatte, ging auf Frau Kaiser zu.

»Es tut mir leid, Frau Kaiser, dass ich gerade so ...«

»Nein, nein, Frau Momsen – ich muss mich für die Bemerkungen meines Partners bei Ihnen entschuldigen. Sie tun nur Ihre Pflicht und müssen sich dafür nicht auch noch beschimpfen lassen. Setzen wir uns wieder. Er wird sich wieder beruhigen. Und – Sie haben ja recht. Ich verstehe seine Wut auch nicht, denn eigentlich ist er ein friedliebender und fürsorglicher Mensch. Es ist sein Temperament und der Alkohol. Wo waren wir stehen geblieben?«

Auch Rita hatte sich wieder beruhigt und neben ihrem Partner Platz genommen. Klaus Spiekermann vermied jeglichen Blickkontakt zu ihr, um nicht zu zeigen, wie ihn Ritas Statement begeistert hatte. Nicht gerade ladylike, aber auf den Punkt gebracht. Er übernahm die Fortführung der Befragung.

»Sie wollten uns sagen, ob Sie eines dieser Mädchen kennen. Wir müssen jeder Spur nachgehen, um den Aufenthaltsort herauszufinden. Genau wie bei Ihrer Tochter, verschwanden diese Jugendlichen ohne jede Ankündigung. Wir wissen bereits, dass sie auf verschiedenen Schulen waren und die Wohnorte recht weit auseinanderliegen. Gemeinsamkeiten, mit Ausnahme des Aussehens, sind bisher unbekannt. Denken Sie bitte nach. Jede Kleinigkeit kann dabei wichtig sein.«

Immer wieder griff Frau Kaiser nach den vor ihr liegenden Fotos, wischte ab und zu einige Tränen fort, die sich unaufhaltsam aus ihren Augenwinkeln stahlen. Diese Frau hatte die Hoffnung noch längst nicht aufgegeben, ihr Kind eines Tages wieder in den Armen halten zu können. Rita holte sie aus den trüben Gedanken.

»Bitte entschuldigen Sie die etwas intime Frage, die ich Ihnen stelle. Aber würden Sie uns den Grund verraten, warum Sie damals, so kurz vor dem Verschwinden Ihrer Tochter, von Ihrem Mann verlassen wurden? Hat er auf irgendeine Art reagiert, als er davon erfuhr, oder weiß er gar nichts davon?«

Sehr zögernd legte Irma Kaiser das letzte Bild wieder zurück und schien zu überlegen, ob sie überhaupt darauf antworten wollte. Als Rita schon längst die Hoffnung auf eine solche aufgegeben hatte und das Thema wechseln wollte, kamen die leise gesprochenen Worte der Frau. Ihr Blick war in die Ferne gerichtet, als sie über diesen Augenblick berichtete, der ihr den Traum einer ewig geglaubten Liebe zerstörte.

»Er hat es mir im Bett gebeichtet, nachdem wir miteinander geschlafen hatten. Ja, Sie hören richtig. Er hat mich erst geliebt, um mir dann die Wahrheit ins Gesicht zu schleudern. Er kam auch an diesem Abend von seiner Geliebten, mit der er schon seit Monaten ein Verhältnis hatte. Er muss noch den Geruch dieser Frau am Körper gehabt haben, was mir jedoch nicht aufgefallen war. Er nahm sich einfach eine Zigarette aus der Schachtel und ging auf den Balkon. Von dort aus gestand er mir, dass er eine andere Frau liebte und zu ihr ziehen würde. Er hat es so laut gesagt, dass sogar Katrin, die nebenan schlief, alles mitbekam. Sie war es, die ihn zur Rede stellte – nicht ich. Ich konnte kein Wort herausbringen. Katrin hat ihn geohrfeigt – sie schlug ihren Vater ins Gesicht und spuckte ihn sogar an. Er hat es hingenommen und seine Sachen gepackt, bevor ich ihn zurückhalten konnte.«

»Wollten Sie das denn wirklich? Ich meine, ihn zurückhalten.«

Lange überlegte Frau Kaiser, um schließlich in Tränen auszubrechen. Erstaunlich selbstsicher gab sie die Antwort.

»Ja, Frau Momsen, ich hätte trotzdem gewollt, dass er bleibt. Ich weiß, das klingt verrückt, aber ich liebte ihn immer noch und hätte es ihm sogar irgendwann verzeihen können. Katrin konnte mich nicht verstehen und hat ständig auf mich eingeredet, dass ich froh sein sollte, diesen Mistkerl loszuwerden. Sie verstand einfach nicht, wozu Liebe fähig war. Zwei Tage danach verschwand sie dann.«

Die jetzt entstandene Stille im Raum empfand Spiekermann als unangenehm. Er sah hier einen Ansatzpunkt, die Befragung voranzutreiben.

»Es tut uns leid, was geschehen ist, Frau Kaiser. Ich möchte das Wort Zufall nicht zu sehr strapazieren, aber dieser zeitliche Zusammenhang zwischen Ihrer Trennung und dem Verschwinden von Katrin ist zumindest auffällig zu nennen. Wissen Sie, wo sich Ihr Ex-Mann derzeit aufhält? Haben Sie seine aktuelle Adresse? Ich bin mir sicher, dass die Kollegen schon damals dieser Möglichkeit nachgingen, doch möchten wir nochmals prüfen, ob sich Ihre Tochter vielleicht ...«

Der Widerspruch kam schon fast zu schnell nach Spiekermanns Empfinden.

»Auf keinen Fall ist Katrin bei ihm. Sie hasste ihn dafür, was er mir oder besser uns angetan hatte. Ich müsste seine Adresse in den Unterlagen haben, denn er musste ja Unterhalt für Katrin zahlen. Ich habe damals idiotischerweise darauf verzichtet und werde nun jeden Tag daran erinnert, wenn die Miete fällig wird. Hätte ich Fredi nicht, müsste ich hier ausziehen. Warten Sie, ich hole die Unterlagen. Ich glaube, er lebt in einem Nest in der Nähe von Winterberg.«

5

Der Kopf drohte ihr zu zerspringen, so sehr quälte Helga der Kopfschmerz. Ihre Hände, die mit relativ kurzen Sisalstricken einzeln an Haken in der Wand gefesselt waren, erlaubten ihr jedoch, die Schläfen zu massieren. Die Kälte, die ihren Körper ebenfalls fest im Griff hatte, ließ jede ihrer Bewegungen zur Qual werden.

Wo bin ich? Was ist passiert?

Obwohl sie die Augen weit geöffnet hielt, konnte sie absolut nichts um sich herum erkennen. Die bedrohliche Dunkelheit hüllte die Umgebung vollkommen ein, in der sie sich befand. Es musste ein geschlossener, unmöblierter Raum sein, da jedes Geräusch, das sie verursachte, ein schwaches Echo hervorrief. Übelkeit breitete sich in ihrem Inneren bei jedem Atemzug aus, weil sich unter diesen Modergestank auch ein penetranter Verwesungsgeruch mischte. Immer wieder zuckte sie zusammen, wenn sich irgendein Tier über ihre nackten Arme bewegte und dort verharrte. Das Fiepen erinnerte sie mit beängstigender Intensität an die Laute, die Ratten verursachten. Überall um sie herum waren diese Laute hörbar. Im Geiste stellte sie sich vor, dass Heerscharen dieser ekligen Nager um ihre Beine herumsprangen. Hin und wieder spürte sie deren Barthaare an den Füßen. Wild trat sie umher, ohne wirklich erkennen zu können, was sie dabei traf. Nur das erschreckte Quieken sagte ihr, dass es eines der Viecher gewesen sein musste.

Was riecht hier nur so schlimm? Das kann nur Aas sein, das dieses Rattengetier in das Gemäuer geschleppt hat. Ich will hier raus.

In den kleinen Pausen, in denen das Fiepen verstummte, konnte sie ein Rauschen vernehmen, als ob der Wind durch Bäume oder Gebüsch trieb. Dieser Raum musste eine offene Tür oder zumindest eine Fensteröffnung haben. Wenn sie jetzt schrie, müsste sie doch zu hören sein. Irgendwer würde sie hier rausholen. Erst in dem Augenblick, als sie zum Schreien ansetzte, erinnerte sie sich daran, dass ein breites Tuch über den Mund gespannt und am Hinterkopf verknotet worden war. So sehr sie auch zerrte und mit der Zunge davor stieß – nichts veränderte sich an der Lage des Knebels. Da war sie plötzlich, diese aufsteigende Panik, diese Klaustrophobie, die sie immer dann empfand, wenn sie auch nur vermutete, in einem kleinen Raum eingesperrt zu sein. Der Schweiß schoss ihr aus allen Poren, ließ den Körper erstarren und verstärkte kurz darauf die Kälte. Der Puls schlug wie wild und das Herz drohte aus der Brust zu springen.

Nein, nicht jetzt, Helga. Du bist stark und es wird jemand kommen, um dich zu befreien. Ganz ruhig. Du musst dich beruhigen. Die Dunkelheit allein kann dir nichts antun.

Schon vor Jahren hatte sie innerhalb einer Selbsthilfegruppe gelernt, weitestgehend dagegen ankämpfen zu können. Auch ihre Angst vor Hühnern, diese verdammte Alektorophobie, hatte sie so gut wie überwunden. Doch war sie seitdem nie wieder in eine solche Situation gebracht worden. Das hier war etwas ganz anderes. Das hatte sie nicht trainiert – es war die Hölle. Weit riss sie die Augen in der Hoffnung auf, die Düsternis durchdringen und Einzelheiten erkennen zu können. Da war sie, diese Tür, durch die ab und zu ein Hauch von frischem Sauerstoff hereingetragen wurde. Draußen war nur tiefe Nacht. Und doch sehnte sie sich wie nie zuvor danach, in diese Welt da draußen entfliehen zu dürfen. Immer wieder zerrte sie an den Fesseln, was ihr jedoch nur weitere Schmerzen bereitete.

Oh Gott. Das ist keine Realität, es ist nur ein Traum, aus dem ich gleich erwachen werde. Reinhard, komm bitte – weck mich auf. Wir werden gleich beim Frühstück herzhaft darüber lachen, wenn ich dir davon erzähle. Ein beschissener, böser Albtraum.

Die sie umgebende Stille wurde von einem neuen Geräusch unterbrochen. Schritte. Ja, es waren deutlich Schritte zu hören. Da näherte sich jemand. Man würde sie endlich befreien, sie wieder nach Hause bringen in die Wärme und Geborgenheit der Wohnung. Nun verstummten die Geräusche. Helga hatte das Gefühl, als würde jemand in ihrer Nähe warten, sie anstarren. Indem sie den Atem anhielt, versuchte sie dessen Position zu orten. Der große Schatten eines Menschen verdeckte den Eingang und nahm den letzten Rest von Licht, von vermeintlicher Freiheit. Helga erschrak, als sich der Schatten in den Raum bewegte und wahrscheinlich auf eine Ratte trat, die nicht rechtzeitig flüchten konnte. Ihr gequälter Schrei fuhr Helga durch alle Glieder und entrang ihr ein Stöhnen. Der Fremde befand sich nun direkt vor ihr. Sie spürte seinen Atem, roch dieses Parfum, das sie schon kannte, das sie sogar im ersten Moment als angenehm empfunden hatte.

War das tatsächlich dieser Leonhard, dieser Kerl aus dem Café? Das war einfach nicht möglich. Sie musste sich irren.

Die Stimme nah an ihrem Ohr nahm ihr die Ungewissheit. Dieser Samt in der Stimme gehörte ihm – unverkennbar.

»Ich wusste, dass wir uns noch näher kennenlernen würden, meine Schönheit. Doch ich kann etwas an dir riechen, mein Schatz. Deine Angst – du hast Angst vor mir. Ich will es vor dir nicht verheimlichen. Ich liebe diesen Duft, er ist unbezahlbar aufregend. Nicht das teuerste Parfum der Welt ersetzt den Geruch von Angst. Man behauptet, dass nur Tiere in der Lage wären, das zu erkennen. Ein Irrtum. Ich kann es über viele Meter Entfernung wahrnehmen.«

Alles um sie herum wurde von der Panik überdeckt. Helga roch nicht mehr diesen Hauch von Verwesung, vernahm auch nicht mehr das Fiepen der Ratten, spürte nicht das Krabbeln der Spinnen. Sie lauschte nur dieser hypnotischen Stimme des Fremden, der sich als Leonhard Freitag vorgestellt hatte. Sie zuckte angewidert zurück, als sie die nasse Zunge an ihrem Ohr fühlte. Mit einer wilden Bewegung drehte sie den Kopf weg, schloss in der Verzweiflung die Augen. Und doch überzog ein wohliger Schauer ihren Körper. Wieder war sie da, diese Stimme, der sie sich nicht entziehen konnte.

»Oh ja, du willst mir zeigen, dass du dich nicht so ohne Weiteres einem Fremden hingibst. Ich habe bei dir nichts anderes erwartet. Genau deshalb habe ich gerade dich auserwählt. Du darfst – nein, du sollst mich sogar hassen, mich zurückweisen. Würdest du es nicht tun, wärst du schon längst tot. Du bist keine von diesen Huren, die ihre Körper verkaufen, die ohne Ehre leben. Du bist für mich eine Göttin, verstehst du?«

Immer wieder versuchte Helga, ihre Abscheu in Worte zu fassen. Der Knebel verhinderte dies. Nur undeutliche Laute drangen durch den Stofffetzen. In ihrer Wut trat sie nach dem Kerl, der ihr diese unvorstellbare Angst einjagte. Ein kurzer Schmerzensschrei verriet Helga, dass sie ihn an einer empfindlichen Stelle getroffen haben musste. Pfeifend verlies die Luft seinen Mund, bevor er ihr die Faust brutal in den Bauch rammte.

»Ich will das nicht, verstehst du? Ich möchte dir das nicht antun müssen, weil du nicht wie die anderen bist, die ich bisher hatte. Tu das nie wieder, meine Madonna. Es würde mir leidtun, dir Manieren beibringen zu müssen. Wünsche es dir nicht, all das mitmachen zu müssen, was die Mädchen vor dir erlitten haben. Sie waren verdorben und haben die Qualen verdient. Du bist anders – du bist rein. Hör mir zu. Ich werde dir diesen Knebel abnehmen, damit wir sprechen können. Wirst du brav sein und nicht schreien? Nicke einfach, wenn du es versprichst.«

Helga fragte sich, wie es dieser Leonhard in der absoluten Dunkelheit sehen wollte, dennoch deutete sie ein schwaches Nicken an. Gierig sog sie die frische Luft durch den Mund ein, als sie die Lippen wieder frei bewegen konnte. Dabei fiel ihr wieder dieses unwiderstehliche Parfum auf, das sie noch nie zuvor bei einem anderen Mann gerochen hatte. Wortlos standen sie sich gegenüber. Jeder schien darauf zu warten, dass der andere das erste Wort sprach. Tausend Gedanken irrten durch Helgas Kopf. Sie konnte nicht einschätzen, was passieren würde, wenn sie jetzt schrie.

Bringt er mich um? Schlägt er mich beim ersten Ton? Habe ich überhaupt eine Chance, dass mich jemand hört?

Obwohl sie nicht abschätzen konnte, wie weit er sich zuvor von ihr entfernt aufgehalten hatte, stand er jetzt direkt vor ihr, berührte sie sogar mit seinem Körper. An ihrem Oberschenkel spürte sie etwas Hartes. Schlagartig war sich Helga dessen bewusst, dass es sein erigierter Penis sein musste, der den Erregungszustand verdeutlichte. Sie konnte den animalischen Schrei nicht zurückhalten, der in dem kleinen Raum mit einem dumpfen Echo zurückhallte. Leonards starke Hand legte sich augenblicklich über ihren Mund und erstickte jeden weiteren Laut. Der wäre sowieso nicht möglich gewesen, da der Hieb in den Unterleib ihr jegliche Luft nahm. Der schmutzige Knebel legte sich wieder fest zwischen Helgas Lippen.

6

»So richtig ergiebig war das ja heute nicht unbedingt bei den drei Familien. Ich befürchte, dass auch die restlichen Befragungen wenig ergeben werden. Eines dürfte allerdings klar sein: Es scheint keine erkennbare Verbindung zwischen den vermissten Personen oder den Angehörigen zu bestehen. Allerdings sollten wir nicht außer Acht lassen, dass sie allesamt aus den direkt umliegenden Städten stammen.«

In der Stimme von Klaus Spiekermann schwang leichte Resignation mit, als er das Resümee des vergangenen Tages am morgendlichen Besprechungstisch darstellte. Rita hielt sich noch mit ihrer Einschätzung zurück, wühlte in Unterlagen. Schließlich erhob sie sich weiterhin schweigend und betrachtete die Stadtkarte, die sie zuvor an der Wand befestigt hatte. Peter Liebig verfolgte alles wortlos und wartete auf eine Erklärung, die prompt folgte.

»Für mich steht fest, dass diese Ähnlichkeit zwischen den vermissten Mädchen kein Zufall sein kann. Dass die Wohnorte teilweise bis zu dreißig Kilometer auseinanderliegen, ist für mich kein Indiz dafür, dass wir es mit unterschiedlichen Fällen zu tun haben.«

»Willst du damit sagen, dass wir uns nicht mit Ausreißerinnen beschäftigen?«, wandte Liebig ein. »Du scheinst davon überzeugt zu sein, dass es sich um Gewaltverbrechen handelt. Bedenken wir, wie mäßig die Hinweise derzeit noch sind, ist das eine gewagte Theorie. Allerdings kann sich wohl keiner von uns der Vermutung völlig entziehen. Im Umkehrschluss würde das bedeuten, dass wir hier über einen Serientäter reden, der nach einem Muster entführt. Ich möchte an dieser Stelle noch nicht den Begriff Töten ins Spiel bringen.«

Ohne sich umzudrehen, kommentierte Rita Momsen die Bemerkung ihres Vorgesetzten mit bedrückender Klarheit.

»Ich persönlich gehe trotzdem davon aus. Dass wir bisher noch keine Leiche der Mädchen fanden, muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass sie nicht getötet und irgendwo verscharrt worden sind. Das Verschwinden der ersten liegt mir einfach zu weit zurück. Der Täter, oder die Täterin wird sich bestimmt kein Menschenlager angelegt haben. Das wäre einfach untypisch und unklug für einen Psychopathen. Allein schon die Unterbringung und Versorgung wäre schwierig und eventuell auffällig für die Nachbarschaft.«

»Du siehst diese Tatsachen sehr pragmatisch«, bemerkte Spiekermann. »Manchmal fürchte ich mich etwas vor dir. Du denkst wie einer von denen. Aber, nicht dass wir uns falsch verstehen – an deiner Beurteilung der Lage ist was dran. Gut durchdacht.«

Rita begann damit, um die Wohnorte der Vermissten einen Kreis zu ziehen. Anschließend verband sie die Punkte mit Linien. Auf die Stelle, wo sich diese kreuzten, legte sie einen Finger und blickte sich nach den Kollegen um.

»Das wäre rein theoretisch der Punkt, von dem der Täter startet. Ich würde davon ausgehen, dass wir ihn zumindest in Essen suchen müssen, es sei denn, er ist so klug, uns das vorzutäuschen. Fazit für mich und zum jetzigen Zeitpunkt: Wir haben es wahrscheinlich mit einer männlichen Person zu tun, die in unserer Stadt beheimatet ist, sich die Opfer aus den umliegenden Städten sucht und für die es wichtig scheint, dass alle das gleiche Aussehen haben. Richtig?«

Ein recht lautes Ping aus der Richtung seines Schreibtischs ließ Klaus Spiekermann aufhorchen. Rita und Peter Liebig sahen ihm erstaunt nach, als sich der Kollege erhob, zum Arbeitsplatz lief und auf seinen Bildschirm starrte. Er scrollte eine Weile mit der Maus und konnte seine Überraschung nicht verbergen.

»Scheiße. Ich habe es geahnt. Leute, wir haben Fall sechs. Kommt mal her. Das müsst ihr euch ansehen. Ich gebe zu, dass die gesuchte Helga Körner ein paar Tage älter ist, als die anderen fünf – doch seht sie euch an: Blond, langes Haar und das Gesicht. Das gibt es doch nicht. Total gleich. Ich würde fast vorschlagen, alle Frauen im Ruhrpott, die so aussehen, unter Polizeischutz zu stellen. Ich glaube das einfach nicht.«

Längst hatten sich Liebig und Momsen hinter ihm platziert, als Spiekermann die Daten zu Helga Körner auf den Schirm holte.

»Seit gestern Nachmittag durch ihren Ehemann Reinhard Körner als vermisst gemeldet. Sie ist laut einer Nachbarin zum Einkaufen in die Kettwiger City gegangen. Dort verliert sich ihre Spur. Zuletzt gesehen wurde sie in einem SB-Markt. Jetzt haben wir den ersten Fall in Essen. Ich würde empfehlen, dass wir tätig werden, solange die Spuren noch frisch sind.«

Spiekermann sprang auf und eilte zum Garderobenständer, wo er nach seinem Mantel griff. Liebigs Ruf stoppte seinen Eifer.

»Halt, stopp. Lasst mich auch was zum Fall beitragen. Ich übernehme mit Rita die Recherche in Kettwig. Sie alle versuchen in der Zeit, mehr über die Familie herauszufinden. Wohnverhältnisse, Kinder, Verwandtschaft, Schulden, Lebensversicherung, und so weiter – das ganze Programm. Sollte da etwas Wichtiges zutage kommen, bitte sofort anrufen. Komm Rita, wir gehen. Welcher SB-Markt war das, wo man sie zuletzt sah?«

Längst hatte sich Rita die Stadtkarte auf den Bildschirm geholt und markierte mit dem Finger einen Punkt. Peter Liebig nickte stumm und griff nach seiner Jacke, die er wie so oft über die Stuhllehne gelegt hatte. Als er mit Rita an der Tür ankam, um den Raum zu verlassen, holte die beiden die Bemerkung von Spiekermann ein.

»Ich wünsche euch Turteltauben einen angenehmen Tag.«

Liebig befreite sich von Ritas Hand, mit der sie ihn weiterdrängen wollte. Mit vier Schritten hatte er den Kollegen erreicht und beugte sich zu ihm runter.

»Was will uns der werte Kollege damit sagen? Soll das eventuell heißen, wir könnten Privates und Berufliches nicht auseinanderhalten? Geht es jetzt endlich los mit den haltlosen Verdächtigungen?«

Liebig konnte das Lachen kaum hinter der ernsten Maske verbergen, als er Spiekermann spielerisch eine Kopfnuss versetzte. Der hatte die Schultern eng zusammengezogen, da er seine Bemerkung schon bereut hatte, bevor er sie vollends ausgesprochen hatte.

»War doch nur ein Witz, Chef. Ich wollte euch doch nicht unterstellen, dass ihr ...«

»Halten Sie solche Klopper nur zurück, wenn Kriminalrat Rösner im Raum ist«, unterbrach ihn Liebig. »Ich habe das nicht krumm genommen. Ich will es ihm nur selber sagen – irgendwann. Klaro?«

 

Der Parkplatz vor dem SB-Markt war gut gefüllt, sodass Liebig mehrfach kreisen musste, bis er endlich eine freie Parkbox fand. Ihm entging nicht das freche Grinsen, als er es erst beim zweiten Anlauf schaffte, den Passat absolut gerade rückwärts einzuparken.

»Das wird schon, Herr Hauptkommissar. Üben, üben, üben.«

Rita war schon ausgestiegen, bevor Peter Liebig reagieren konnte. Sein vorwurfsvoller Blick, den er Rita über das Wagendach hinweg zuwarf, ersetzte jedes weitere Wort. Dennoch konnte er sich die Bemerkung nicht verkneifen.

»Selbst wenn ich beide Arme geschient bekäme, würdest du nicht das Steuer meines Wagens in die Hand nehmen dürfen. Mich darf man nur dann fahren, wenn ich bewusstlos auf einer Trage im Rückraum liege.«

»Und das wollen wir doch tunlichst vermeiden, mein Held«, warf Rita über die Schulter zurück, während sie einem älteren Pärchen im letzten Augenblick auswich, das mit dem hochbepackten Einkaufswagen direkt auf sie zusteuerte. Kopfschüttelnd über so viel Unachtsamkeit entfernten sie sich schwatzend Richtung Parkplatz. An der Servicetheke erfuhren sie, dass sie den Marktleiter in seinem Büro antreffen würden.

 

»Und Sie sind sich sicher, Herr Marx, dass es keine weiteren Aufnahmen aus einer anderen Perspektive gibt? Sie muss sich doch mindestens zehn bis fünfzehn Minuten im Laden aufgehalten haben, wenn ich mir die Artikel auf dem Band betrachte. Uns geht es darum, ob sie von jemandem begleitet oder zumindest angesprochen wurde.«

Peter Liebig hatte sich mehr von den Videoaufzeichnungen erhofft, die Helga Körner lediglich beim Bezahlen an der Kasse zeigten. Helmut Marx, der sie nach langem Hin und Her endlich die Aufnahmen ohne richterlichen Beschluss einsehen ließ, zuckte nur die Schultern.

»Der Datenschutz, Herr Hauptkommissar. Wir müssen die Aufnahmen spätestens nach zweiundsiebzig Stunden löschen. Wenn kein berechtigter Grund vorliegt, wie Diebstahl oder Vandalismus, geschieht das sogar schon früher. Was soll ich auch sonst mit den Aufnahmen? Dass wir dieses Band noch haben, ist mehr dem Zufall zu verdanken. Heute Abend hätten wir es sicher gelöscht. Kann ich erfahren, warum sie die Frau suchen? Ist sie gefährlich?«

Liebig und Momsen wechselten einen Blick, bevor Rita die ausweichende Antwort gab.

»Gefährlich nicht, Herr Marx, aber zumindest gefährdet. Mehr dürfen wir Ihnen dazu nicht sagen. Datenschutz, Sie verstehen sicher? Außerdem gehört sie zum Teil unserer Ermittlungen in einem anderen Fall. Wir danken Ihnen für die großzügige Hilfe.«

Am Stehtisch in der angeschlossenen Bäckerei setzte Rita ihren Cappuccino wieder ab und blickte sich enttäuscht in dem hektischen Gewusel um.

»Wir sollten die örtliche Presse einschalten. Was meinst du? Klar, hier fällt eine Einzelperson nicht auf, wenn sie nicht gerade das Aussehen von ET hat. Aber es könnte doch sein, dass Helga Körner nach dem Einkaufen noch irgendwo von irgendwem gesehen wurde. Sie ist schließlich auffallend hübsch und könnte sich noch Blumen gekauft oder einen Absacker getrunken haben. Einen Versuch wäre es wert. Die Lokalredaktion von diesem Stadtspiegel-Anzeiger müsste doch in der Nähe sein. Also, Chef – sag was.«

Peter Liebig wunderte sich schon lange nicht mehr über die Geistesblitze seiner jungen, aber auch besten Kollegin. Grinsend ergriff er ihre Hand, küsste diese und zog Rita zum Ausgang.

»Na dann komm endlich, ich kenne die zuständige Redakteurin ganz gut.«

»So, so – ganz gut, sagst du. Wie gut ist ganz gut?«

Wortlos drängte Peter die um einen Kopf kleinere Rita durch das Getümmel der raus- und hereinströmenden Kunden. Eine Antwort blieb er ihr schuldig. Sein Lächeln ließ allerdings jede Möglichkeit offen.

7

Er war gegangen. Dieses Monster hatte sie einfach zurückgelassen, keinen Moment Mitleid gezeigt. Sie musste diese Erniedrigung, diese Schande erst verkraften. Er sollte dafür in der Hölle schmoren. Helgas Gedanken gingen zurück an den Punkt, an dem er sie brutal geschlagen hatte, ihre Qualen begonnen hatten.

Seine Stimme bestand nicht mehr aus diesem sanften Ton, der sie so angenehm berührt hatte. Schlangengleich wirkte das Zischen, mit dem er jeden einzelnen Ton herauspresste. Trotz der Schmerzen spürte sie, wie sich auf ihrer Haut ein Schweißfilm bildete, der ihre tief sitzende Angst deutlich machte. Er schien es zu wittern wie ein Raubtier. Seine Zunge glitt über ihre Schulter, über den Hals, bewegte sich immer schneller, als würde ihr Angstgeruch seine Besessenheit befeuern. Er atmete rasend schnell und krallte eine Hand in Helgas langes Haar, zog ihren Kopf brutal gegen sein Gesicht. Sein heißer, nun unangenehm riechender Atem stieß gegen ihre Wange und hinterließ ein anhaltendes Schaudern.

Wird er mich jetzt töten? Wenn er mich vergewaltigt, will ich danach tot sein. Mit dieser Schande will ich nicht leben müssen. Gott – bitte hilf mir.

Immer stärker fühlte Helga seine heftigen Bewegungen. Als sie fast den Verstand zu verlieren glaubte, erstarrte sein Körper. Ein Schrei, wie sie ihn nie zuvor gehört hatte, verließ seinen Mund, ging über in ein winselndes Stöhnen. Eine Flüssigkeit lief entlang ihrer Schenkel, tropfte auf den feuchten Boden. Der Ekel übermannte Helga. Nur der Knebel, den er ihr zuvor wieder angelegt hatte, verhinderte, dass sie ihre Gefühle herausschreien konnte. Ein nicht endendes Zittern durchlief ihren Körper und ließ sie bebend zu Boden sinken.

Diese Bestie hatte tatsächlich ihre Angst zum Anlass genommen, sich zu befriedigen. Wie pervers musste ein Mann sein, um in dieser Situation zu masturbieren?

Immer wieder schossen Helga Tränen der Scham in die Augen, liefen über das Gesicht und versickerten in dem Tuch, das ihr dieses perverse Schwein über den Mund gepresst hatte. Sie glaubte, den Samen des Mannes riechen zu können. Ein Mann, der eine sexuelle Erregung erlangte, wenn Menschen ihre Ängste offen zeigten – unvorstellbar. Sie wagte sich kein Bild davon zu machen, welche Maßnahmen dieser Mensch noch bei ihr anwenden würde, um sie immer wieder in den Zustand der Angst zu versetzen. Warum ihr gerade jetzt ein Schwall des Verwesungsgeruchs in die Nase stieg, war wohl mehr Zufall. Doch sorgte er dafür, dass der Kreislauf komplett kollabierte und sie bewusstlos zu Boden sank. Hilflos blieb sie in den Fesseln hängen, die ihr eine normale Schlafposition verwehrten.

Minuten später öffnete Helga die Augen, blinzelte und versuchte, sich daran zu erinnern, was geschehen war. Wie eine Keule schlug die Erkenntnis über ihr zusammen. Erst als sie schrie, wurde ihr bewusst, dass jeder ihrer Töne im Knebel hängen blieb. Resigniert gab sie auf und versuchte, zumindest eine kniende Position zu erreichen. Nun hörte sie es deutlich – jemand atmete vor ihr. In dem Augenblick wusste sie, dass diese Bestie immer noch irgendwo da vorne lauerte. Plötzlich war sie wieder da, diese sanfte Stimme, hatte erneut diesen Ton erreicht, der doch so beruhigend wirken konnte. In diesem Augenblick durchfuhr Helga allerdings nur gewaltige Furcht. Sie wollte das nicht noch einmal erleben müssen, diese Erniedrigung.

»Du warst gut, mein Engel. Du bist besser als alle anderen vor dir. Du musst dir keine Sorgen machen, dass ich dich töte. Wenn es nach mir gehen würde, erhieltest du das ewige Leben. Du bist ab sofort meine Göttin.«

Jedes dieser Worte schlug wie ein Stromschlag bei ihr ein. Dieser Wahnsinnige hatte sie tatsächlich eine Göttin genannt, nachdem er sie mit seinem ekligen Samen besudelt und entehrt hatte.

Wie tief konnte ein Mensch nur sinken, um so etwas tun zu können? Und was war mit den anderen geschehen, von denen er eben sprach? Hatte er sie ... hatte er sie getötet, nachdem sie ihm zu Willen sein mussten? Wie lange würde es dauern, bis er sich auch ihr entledigte, sie für ihn entbehrlich wurde?

Helga versuchte, diese verfluchte Dunkelheit zu durchdringen. Obwohl sich ihre Augen mittlerweile an diese gewöhnt hatten, erkannte sie lediglich schwach einen Schatten in der Richtung, aus der diese Stimme kam. Es kam aus einem inneren, plötzlich aufkeimenden Antrieb heraus, als sie in diese Richtung spuckte. Viel zu spät bemerkte sie, dass dies der Knebel verhinderte und sich ihr Mund mit dem eigenen Speichel füllte. Das leise Kichern machte sie fast wahnsinnig, ließ sie an den Fesseln zerren. Eine Hand berührte sie, löste den Knoten an ihrem Hinterkopf.

»Du wirst sicher Durst haben, mein Engel. Hier, trink das. Du sollst es gut haben bei mir. Keiner wird dir etwas antun können. Ich werde dich stets beschützen, denn du gehörst mir allein.«

Wild riss Helga an den Fesseln, als sie wieder diese Hand an ihrem Hinterkopf und ein Gefäß an ihren Lippen spürte. Die Flüssigkeit lief ihr über das Kinn, als sie sich dagegen wehrte, den Mund zu öffnen. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, was sie von diesem Tier an Getränk zu erwarten hätte. Augenblicklich verstärkte sich der Druck in ihrem Nacken und sie bemerkte die Veränderung bei ihrem Peiniger. Er schnaubte vor Wut, verschloss ihre Nase und presste ihr die Öffnung des Gefäßes brutal zwischen die Zähne. Helga war gezwungen, zu schlucken, wollte sie nicht an der Flüssigkeit ersticken. Schließlich ergab sie sich darin und schluckte das etwas bittere Getränk in kleinen Dosen. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie das sogar erfrischte.

Bevor sie eine Frage an ihren Peiniger stellen konnte, schloss sich der Knoten des Knebels wieder am Hinterkopf und verhinderte jede weitere Aktion. Nur wenige Sekunden dauerte es, bis das Schlafmittel wirkte und Helga in eine Galaxis entführte, die ihr allen Frieden dieser Welt brachte.

8

Die Wohnungen in den Häusern der Ruhrstraße erlaubten den meisten Bewohnern einen fantastischen Blick auf das ruhig dahinfließende Gewässer, das der Straße seinen Namen gab. Zu dieser Jahreszeit sah man nur hin und wieder ein Sportboot, mit dem der Kanuklub trainierte. Ansonsten konnte jeder auf dem Balkon die Ruhe und Beschaulichkeit des Ruhrtals genießen. Rita blieb einen Moment zwischen zwei Wohnblocks stehen und verglich diese Lage mir der ihrer Wohnung im völlig zugebauten Rüttenscheid. Gerne hätte sie diese getauscht, um hier im Grünen abschalten zu dürfen.

»Hallo, Liebig an Momsen. Träumst du wieder von Dingen, die du dir nicht erlauben kannst? Die Mieten hier dürften oberhalb unserer Gehaltsklasse liegen. Vergiss es, mein Engel.«

Begleitet von einem Seufzer kommentierte Rita seine Bemerkung mit den Worten: »Das liefert mir ein treffendes Argument, mich nach einem betuchteren Lover umzusehen. Aber wir sollten einen Schritt nach dem anderen machen. Jetzt besuchen wir erst einmal Reinhold Körner. Der müsste hier in der Mitte wohnen.«

Der Aufzug führte sie in die vierte Etage, nachdem ihnen bereits nach dem ersten Klingeln die Haustür geöffnet wurde. Ein gut aussehender, mittelgroßer Mann in den Vierzigern stand schon in der Tür und reichte Rita zur Begrüßung die Hand. Ihr schoss spontan durch den Kopf, dass eine vernünftige Frau, die nicht völlig erblindet war, einen solchen Mann nicht ohne triftigen Grund verlassen würde. Damit schloss sie ein Durchbrennen von Helga Körner mit einem Nebenbuhler von Anfang an aus. Einen solchen Hauptgewinn verlässt man nicht. Peter Liebig schob Rita mit sanfter Gewalt vorwärts, da sie erstaunlich lange die Hand des Hausherrn festhielt.

»Ich hoffe, dass Sie mit guten Nachrichten kommen. Ich halte diese Ungewissheit nicht allzu lange aus. Gibt es Neuigkeiten von meiner Frau?«

Nachdem sich Rita und Peter Liebig dem Latte macchiato widmeten, den Reinhold Körner ihnen mit einem bestimmt sündhaft teuren Kaffeeautomaten zubereitete, saßen sie sich auf der aus braunem Büffelleder hergestellten Sitzlandschaft gegenüber. Sein Blick war erfüllt von Hoffnung, endlich Positives von seiner vermissten Frau hören zu dürfen. Hauptkommissar Liebig ergriff das Wort.

»Leider haben wir noch keine positiven Nachrichten für Sie. Die Suche läuft allerdings auf Hochtouren, das kann ich Ihnen versprechen. Sie haben auf der Wache, als Sie die Vermisstenanzeige aufgaben, schon gewisse Angaben gemacht. Allerdings habe ich in den Unterlagen erkennen können, dass Sie keinerlei Kenntnisse darüber hatten, wie Ihre Frau gekleidet war. Konnten Sie mittlerweile zu diesem sehr wichtigen Punkt etwas herausfinden?«

An dieser Stelle mischte sich Rita ein.

»Wir konnten zwischenzeitlich herausfinden, wo sich Ihre Frau gestern um ca. elf Uhr befand. Auf einem Video konnte sie im Kassenbereich eines Kettwiger SB-Marktes identifiziert werden. Allerdings wurde diese Aufnahme nur in schwarz-weiß abgespeichert. Deshalb wissen wir nur, dass sie mit einem langen Wollmantel bekleidet war, wobei sie einen dicken Schal mehrfach um den Hals gewickelt hatte. Hilft Ihnen das ein wenig weiter? Können Sie sich daran erinnern, welche Farbe dieser Mantel haben könnte?«

Es vergingen nur wenige Sekunden, bevor Reinhold Körner aufsprang und in den hinteren Räumen verschwunden war. Kurz darauf tauchte er wieder auf und präsentierte einen eleganten, langgeschnittenen Mantel über dem Arm. Rita schüttelte den Kopf und meinte lächelnd.

»Sehr schick, Herr Körner, aber das hilft uns im Augenblick nicht weiter. Ich hatte nicht danach gefragt, was sie nicht anhatte, sondern ...«

»Ich habe Sie schon richtig verstanden, Frau Momsen. Ich zeige Ihnen den Mantel nur, weil Helga den in zwei Farben in einer Londoner Boutique gekauft hat. Der andere fehlt. Folglich würde ich sagen, dass sie den kamelhaarfarbenen Mantel trägt. Und dazu trägt sie immer den schwarzen Wollschal, den ich ihr zum Hochzeitstag geschenkt habe. Ist Ihre Frage damit beantwortet?«

Liebig konnte nur mit Mühe das Grinsen unterdrücken, als er in das Gesicht von Rita sah, das eine Mischung von Bewunderung und peinlichem Unbehagen aufwies. Er ergriff an ihrer Stelle das Wort.

»Das ist perfekt, Herr Körner. Das hilft uns ungemein. Darf ich mir von diesem Mantel ein Foto auf dem Smartphone sichern. Das geht dann an alle Dienststellen. Doch gibt es noch andere Fragen, weswegen wir Sie aufgesucht haben.«

Hier machte Liebig eine kleine Pause und blickte in das Gesicht seines Gegenübers, der sich wieder etwas entspannter in die Garnitur fallen ließ. Rita beschäftigte sich mit dem Fotografieren, wobei sie liebevoll und genießerisch immer wieder über den sicher teuren und edlen Stoff strich.

»Bitte verstehen Sie meine Fragen nicht falsch, aber wir müssen die immer stellen, wenn jemand in der Familie als vermisst gemeldet wird. Die wurde Ihnen bestimmt schon in der Wache gestellt, doch in dem Augenblick ist man nicht, oder nur selten in der Lage, darauf zu antworten. Kam es früher schon einmal vor, dass Ihre Frau ohne Vorankündigung eine Zeit lang verschwand? Das kann die unterschiedlichsten Gründe haben.«

Reinhold Körner blickte irritiert von einem zum anderen. Letztendlich blieb sein ungläubiger Blick an Liebig hängen, als wären dem in der Zwischenzeit zwei Nasen gewachsen.

»Warum sollte Sie so etwas tun? Das macht doch niemand so einfach. Ich verstehe Sie nicht, Herr Hauptkommissar. Wir lieben uns. Helga weiß genau, dass ich ...«

»Das ist auch nicht böse gemeint, Herr Körner. Ich bin fest davon überzeugt, dass zwischen Ihnen alles stimmt. Manchmal passieren solche Dinge aber auch in den besten Beziehungen und man nimmt alltägliche Bemerkungen plötzlich krumm. Gab es eventuell in der letzten Zeit Streit zwischen Ihnen, den Sie selbst vielleicht nicht so überbewertet haben? Denken Sie bitte nach.«

Nur kurz zeigte Körner den Ansatz, sich gegen diese Bemerkung aufzulehnen, ließ sich jedoch endlos langsam wieder zurückfallen. Er schien angestrengt darüber nachzudenken, ob er sich dazu äußern sollte. Es war Rita, die ihm auf die Sprünge half.

»Worüber haben Sie sich gestern gestritten, bevor Ihre Frau aus dem Haus ging? Es ist wirklich wichtig für unsere Ermittlungen.«

Nun war es Körner, der Rita Momsen erstaunt ansah. Sie ließ es sich nicht anmerken, dass sie es genoss, ins Schwarze getroffen zu haben.

»Woher wissen Sie ...? Es war eigentlich nichts – wirklich nur eine Lappalie.«

»Erzählen Sie uns trotzdem davon. Es wäre sehr nett von Ihnen«, machte ihm Rita Mut.

»Es waren nur diese Stiefel, die ich vor die Haustür gestellt hatte. Ich war mit dem Nachbarn und Harro – das ist sein Hund – am Ruhrufer unterwegs und wollte den Dreck nicht in die Wohnung tragen. Nun gut, ich habe sie mitten in den Weg gestellt und Helga wäre beinahe darüber gestürzt. Sie hatte einen nicht so tollen Tag erwischt, als sie mich deswegen anschrie. Das macht sie sonst nie, wissen Sie. Ich habe mich auch sofort entschuldigt, aber sie konnte sich einfach nicht beruhigen. Zum ersten Mal bin ich im Streit zur Arbeit gefahren. Ich konnte doch nicht wissen, dass Sie genau an diesem Tag ...«

Die beiden Ermittler bemerkten die tiefe Schuld, die Körner sich selbst zuschob, was seine feuchten Augen eindrucksvoll bestätigten. Viele Gedanken liefen durch Liebigs Kopf.

Entweder saßen sie vor einem Mann, den dieser kleine Streit vor dem Verschwinden des Partners zutiefst berührte, oder es handelte sich hier um eine perfekt inszenierte Szene eines guten Schauspielers.

Peter Liebig war zu erfahren, um sich an Ort und Stelle dazu eine endgültige Meinung zu bilden. Er hatte in seiner langen Praxis schon das scheinbar Unmöglichste erleben müssen. Für ihn war jeder Beteiligte solange verdächtig, bis zweifelsfrei seine Unschuld bewiesen war. Das musste Rita noch lernen, die sich neben Körner setzte und ihre Hand beruhigend auf seine Schulter legte.

»Haben Sie danach auch nicht mehr telefoniert? Ich meine nur ... manchmal versucht man doch, den Streit telefonisch beizulegen. Haben Sie?«

»Nein nein.« Körner schrie diese Worte fast verzweifelt in den Raum. »Ich wollte es ja immer wieder, hatte jedoch nicht den Mut. Es war ... diese Situation war so neu für mich. Heute könnte ich mich dafür schlagen. Vielleicht wäre das alles gar nicht passiert, wenn ich es getan hätte.«

Liebig wollte den Mann wieder auf die sachliche Ebene zurückholen und ließ eine weitere Frage folgen, die selbst bei Rita Entsetzen hervorrief.

»Gibt es im Leben Ihrer Frau jemanden, dem sie zugetan war? Ich meine damit, ob es einen Mann gab, von dem Sie wussten?«

Rita, die direkt neben Körner saß, spürte, wie dieser sich augenblicklich versteifte. Erstaunlicherweise explodierte er nicht. Nur seine Gesichtszüge verhärteten sich von einem Moment zum nächsten. Es war ihm anzumerken, wie sehr er sich zusammennahm, seine folgenden Äußerungen gut durchdachte.

»Ich verzeihe Ihnen diese dumme Frage, weil ich glaube, dass Sie die einfach stellen müssen. Das gehört scheinbar zum Job. Dass Sie jedoch in dieser Situation sehr verletzend ist, muss ich Ihnen nicht bestätigen. Das wissen Sie selber, Herr Liebig. Nun zurück zu Ihrem eigentlichen Anliegen. Nein, ich habe keinerlei Kenntnisse über eine ehebrecherische Beziehung, wenn es das ist, was Sie meinen. Ich habe meine Frau nicht getötet. Ich möchte damit Ihrer nächsten Frage bereits die Antwort liefern. Sie wollen bestimmt wissen, wo ich mich gestern aufhielt. Ist es nicht so?«

Ungerührt war Liebig den Worten des Mannes gefolgt. Seine Reaktion konnte Rita nur schwer nachvollziehen.

»Wo waren Sie zwischen neun Uhr morgens und sechzehn Uhr nachmittags, Herr Körner?«

Rita spürte dieses Kribbeln, das die eintretende Stille im Raum bewirkte. Sie starrte auf das Gesicht des Mannes, dem Sie bis hierher größten Respekt entgegengebracht hatte. Nun zweifelte Sie einen Moment an den Gefühlen, die Sie für ihn hegte. Körners belegte Stimme holte sie wieder in die Situation zurück, die sie bislang so noch nie erleben musste.

»Ich befand mich an meinem Arbeitsplatz bei der Firma Colonge in Düsseldorf. Meine Arbeitskollegen werden Ihnen das sicher bestätigen können. Sollten Sie beide keine weiteren Fragen mehr haben, möchte ich Sie höflich darum bitten, mich nun alleine zu lassen. Sie wissen, wo es hinaus geht.«

 

Die Haustür war gerade erst ins Schloss gefallen, als es aus Rita herausplatzte.

»Was in Gottes Namen war das gerade? Hast du wirklich angenommen, dass es bei den beiden da oben in der Ehe kriselt? Warum fragst du so was? Ich komme da nicht mit.«

Peter Liebig nahm die beiden Stufen mit einem langen Schritt und machte sich auf den Weg zum geparkten Auto. Rita hielt ihn am Ärmel seines Mantels zurück. Unwillig nahm er ihre Hand von seinem Arm und wandte sich ihr mit ernster Miene zu.

»Du fragst mich wirklich, was das sollte? Hast du auf der Polizeischule nicht zugehört, als ihr den Bereich Zeugenbefragungen durchgenommen habt? Jeder ist schuldig, oder zumindest als verdächtig einzuordnen, bis der Täter gefasst ist. Ist es so gelehrt worden, oder nicht? Für Gefühlsduselei ist in unserem Job kein Platz. Das wirst du noch lernen. Erinnerst du dich nicht mehr an den Fall von Rainer Kallweit, diesem grandiosen Familienmensch und Serienmörder? Hättest du ihm die Taten zugetraut? Eine von Gefühlen geleitete Ermittlung kann niemals objektiv durchgeführt werden. Wir arbeiten jetzt erst wenige Monate zusammen. Und schon hast du Menschen erleben müssen, denen du niemals solch schlimme Taten zugemutet hättest. Tu jetzt bitte nicht so, als würde ich Körner vorverurteilen. Das arme Schwein tut mir leid, aber ich kann mich auch täuschen. Oder besser gesagt: Er kann uns täuschen. Das vorhin war reine Routine, die du dir übrigens auf schnellstem Wege zu eigen machen solltest. Und jetzt hör damit auf, mir ein schlechtes Gewissen einreden zu wollen. Ich möchte dich darum bitten, deinen Job zu machen, damit wir die Frau schnell finden. Viel Zeit wird ihr der Täter wohl kaum geben.«

Bis beide im Präsidium ankamen, war Schweigen angesagt. Rita arbeitete intensiv an dieser verschluckten Kröte.

9

Endlich hatte sie es geschafft, dieses verdammte Tuch durchzubeißen. Das Unternehmen gestaltete sich insgesamt sehr mühsam, da ihr Kopf zu zerplatzen drohte. Das Schlafmittel hatte zumindest so lange gewirkt, dass sie den Rest der Nacht in einer Traumwelt verbrachte, wobei sie Mühe hatte, sich an Einzelheiten zu erinnern. Wie ein Keulenschlag drang plötzlich in ihr Bewusstsein, was dieses Tier mit ihr angestellt hatte. Jetzt, wo etwas Tageslicht in diesen modrig riechenden Raum fiel, richtete Helga den Blick fast panisch auf ihre Schenkel, auf denen sie immer noch den ekligen Samen des Mannes wusste. Eingetrocknet klebte er knapp über dem Knie, schien sich in die Haut eingebrannt zu haben. Helga würgte die letzten Reste an Essen heraus und verfluchte zum wiederholten Mal die Tatsache, dass sie durch die Fesseln in ihrer Bewegungsfreiheit enorm eingeschränkt war. Zu gerne hätte sie diese Flecken der Schande abgerieben, sie am liebsten aus der Haut herausgeschnitten. Kraftlos und sich in Weinkrämpfen schüttelnd gab sie es auf, die Stellen mit den Händen zu erreichen. Sie rieb die Oberschenkel gegen die Mossflächen der feuchten Wand. Blut rann bereits aus ihren Wunden an den Handgelenken über ihre Arme.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752144352
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Mai)
Schlagworte
Kerker Rache Vergeltung Frauenmörder Psychpath Krimi Ermittler Noir

Autor

  • H.C. Scherf (Autor:in)

Der Autor begann nach Eintritt in den Ruhestand mit dem Schreiben von spannenden Romanen unter seinem Klarnamen Harald Schmidt. Da dieser durch TV bekannte Name falsche Erwartungen beim Leser weckte, übernahm er das Pseudonym H.C. Scherf zum Schreiben etlicher Thriller-Reihen.