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Zicke, Zacke, tot

Karin Schneiders dritter Fall

von Ingrid Werner (Autor:in)
340 Seiten

Zusammenfassung

Heilpraktikerin Karin Schneider glaubt nie und nimmer, dass sich ihre zugegebenermaßen durchgeknallte Patientin umbringen wollte. Schon bald findet sie ein Motiv für den Mord sowie mehrere Verdächtige, die sie zwischen Achterbahn, Schießbude und Bierzelt befragt. Hilfe bekommt sie vom Luftballonverkäufer Max und dem gutaussehenden Brauereibesitzer Georg, der ihr gehörig den Kopf verdreht. Gerade als sie glaubt, auf der richtigen Spur zu sein, geschieht der nächste Mord. Kann sich Karin auf die Mörderjagd konzentrieren oder übersieht sie vor lauter Verliebtheit das Wichtigste? Zicke, zacke, tot: Der dritte Fall für Karin Schneider bietet bayrisch rustikales Volksfestvergnügen und feinsten Humor. „Ich bin keine Privatdetektivin!“, schreie ich und lasse mich fallen. Aber die beiden Frauen sind kräftig, sie ziehen mich einfach wieder auf die Füße. „Der Dreckskerl“, sagt Frau Ilzdorfer. „Na, dann geben wir ihr was zu berichten.“ Ein locker leichter Lesespaß, nicht nur für Rottaler Feuilleton der Passauer Neue Presse zu Karpfhamer Katz Achtung Neuauflage! Dieses Buch ist unter dem Titel Karpfhamer Katz schon im Emons Verlag erschienen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Ingrid Werner

Zicke, Zacke, tot

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1. – Donnerstag

 

»Mörder! Alles Mörder!« Direkt hinter uns poltert es und die Bremsen eines Autos quietschen.

Wir springen zur Seite und drücken uns an die Hausmauer. Eine gute Entscheidung. Keine Sekunde danach rumpelt ein hellblauer VW-Käfer mit den Vorderreifen auf den Bürgersteig und stoppt knapp neben unseren Füßen. Der Motor stirbt ab, ein derber Fluch dringt aus dem offenen Fenster. Dann wird die Tür aufgerissen und die Reitmeier Rosi stürmt heraus. Ihre graubraunen Haare stehen wirr vom Kopf ab und sie zerrt einen länglichen Gegenstand hinter sich her.

»Mörder«, schreit sie wieder und stürzt auf uns zu.

Meine Freundin Isabell, obwohl einen Kopf größer als ich, schiebt sich hinter mich. Sie umklammert meinen Oberarm. »Du meine Güte«, flüstert sie.

Rosi bleibt schnaufend vor uns stehen, zieht das Ding in die Höhe und schwingt es vor meinem Gesicht hin und her.

»Schau's dir an, Karin«, ruft sie, und ihre Stimme überschlägt sich. »Der Zauner hat die Mimi umbracht.«

Mein Blick gleitet von ihren rotfleckigen Wangen hinüber zu ihrer schwieligen Faust und hinunter auf das Ding. Mein Gott! An einem auffallend kurzen Schwanz baumelt eine getigerte Katze. Ich schlucke. Das arme Tier ist offensichtlich tot. Ein Stück seiner rosa Zunge ragt aus dem Maul, und auf einen seiner Augäpfel setzt sich gerade eine Fliege. Mich schüttelt es.

Hinter mir haucht Isabell: »Oh, die arme Katze. Was ist denn passiert?«

»Der Zauner war's«, giftet die Reitmeierin. »Ich hab's ja schon immer gesagt. Der Zauner bringt noch meine Katzen um. Und jetzt ist es geschehen. Ich war auf der Polizei. Hab dem Grieshuber die Mimi hingehalten und gesagt, dass der Zauner wieder seinen Dreck auf meinen Grund geschmissen hat, und sie hat's aufgefressen, das elende Viech. Aber der hat nur den Kopf geschüttelt. Immer nur den Kopf geschüttelt. So ein sturer Hammel, ein sturer.« Ihre Stimme bebt vor Zorn.

Ich streiche meine Locken aus der Stirn und seufze. »Rosi«, fange ich an, aber ich komme nicht weit.

»Der Zauner war's«, ruft sie über unsere Köpfe hinweg und hält die Katze hoch.

Ich drehe mich um. Ein älteres Ehepaar ist in einiger Entfernung stehen geblieben und sieht unsicher zu uns herüber. Ich kenne sie nicht. Wahrscheinlich Kurgäste aus dem nahen Bad Griesbach, die sich den historischen Platz von Kirchmünster anschauen wollen. Er ist ja auch pittoresk, unser Kirchplatz, mit den bunten Fassaden der Stadthäuser und den gewaltigen Kastanienbäumen. Im Moment jedoch haben sie dafür keinen Blick. Auf der anderen Seite kommen ebenfalls Leute heran und stecken ihre Köpfe zusammen. Wir haben gute Chancen, zum heutigen Tagesgespräch zu werden.

Zu allem Überfluss ist auch noch der Schulbus im Begriff, die Haltestelle anzufahren. Gleich wird es hier von Kindern wimmeln, die schreiend die tote Katze entdecken.

»Rosi«, wiederhole ich energischer als zuvor. »Es ist wirklich furchtbar, was mit der Mimi passiert ist.« Ohne die Reitmeier Rosi aus den Augen zu lassen, nehme ich die Bücher, die ich gekauft habe, aus der Plastiktüte und drücke sie Isabell in die Hand.

»Ganz schrecklich«, fahre ich fort. »Aber vom Rumschreien wird sie nicht wieder lebendig. Willst du sie nicht besser beerdigen?« Ich schüttle die Tüte auf und halte sie unter die Katze. »Die Mimi würde bestimmt lieber unter dem Holunderbusch liegen, als hier in der Sonne herumgezogen zu werden. Meinst du nicht?«

Ich stülpe die Tüte von unten über den toten Körper und nicke der Rosi auffordernd zu. Mit wildem Blick fixiert sie mein Gesicht. Ich bemühe mich, sie anzulächeln und freundliche Entschlossenheit auszustrahlen. So stehen wir uns eine Weile gegenüber. Ich höre das Zischen der sich öffnenden Bustüren, verstärke mein Lächeln und habe Glück. Tränen glitzern in ihren Augen und die Katze plumpst in den Beutel.

»Gut.« Erleichtert nehme ich die Tasche in die eine Hand, fasse Rosi am Ellbogen und drehe sie Richtung Auto. Ich schöpfe bereits Hoffnung, dass ich die unselige Situation schnell und glimpflich beenden kann. Aber ich habe Rosi unterschätzt. So schnell gibt sie nicht auf.

Sie wischt meine Hand von ihrem Arm und packt stattdessen meine Schultern. »Karin. Du kennst doch die ganze Geschicht. Der Zauner, der Mistkrippi, traktiert mich jedes Jahr. Es nimmt einfach kein End.«

»Rosi«, versuche ich, sie zu unterbrechen. Es bleibt bei dem Versuch.

»Und du wirst seh'n, jetzt beim Karpfhamer geht's auch wieder los mit der Stehlerei.« Sie beugt sich näher zu mir herüber und reißt ihre Augen auf. »Er hat eine ganze Bande, und er ist der Chef. Handtaschen«, zischt sie und nickt. »Glaub's mir. Handtaschen.«

In gebührendem Abstand verfolgen die Passanten das Geschehen. Sie tuscheln. Die Worte »Zauner« und »Handtaschendieb« spitzen aus dem Gemurmel heraus. Wenn die Rosi nicht aufpasst, hat sie gleich noch eine Anzeige wegen übler Nachrede am Hals. Wäre ja nicht die erste.

Ich neige mich zu ihr und sage leise: »Rosi, du bist jetzt aufgebracht. Sag nichts Unüberlegtes.« Ich hebe abwehrend die Hände, weil sie schon wieder den Mund öffnet, und spreche schnell weiter. »Es ist eine schwere Zeit für dich. Das Volksfest macht dir zu schaffen, erst der Aufbau, dann die vielen Leute.«

»Und dieser Krach!«, plärrt sie. »Den ganzen Tag und die ganze Nacht.«

Ich lege meine Hand auf ihren Arm. »Ja, ich weiß. Vielleicht solltest du mal wieder zu mir kommen. Dann üben wir zusammen autogenes Training. Zur Beruhigung.« Zwar habe ich dazu überhaupt keine Lust – ich erinnere mich mit Grausen daran, wie sie damals fast meinen Entspannungskurs mit ihrem Mitteilungsbedürfnis hätte platzen lassen – aber ich halte es für meine Pflicht, es ihr anzubieten. Schließlich bin ich Psychotherapeutin geworden, um den Menschen zu helfen.

Rosi beutelt sich jedoch wie ein Hund. »Ich brauch kein autogenes Training«, ruft sie. »Ich bin ganz ruhig. Aber helfen könnst mir schon. Du ...«, dabei pikt sie mir mit dem Zeigefinger in den Brustkorb, »du hast doch schon so viel aufgeklärt. Die ganzen Morde und das andere Zeug. Spionier dem Zauner hinterher. Du find'st bestimmt was. Dann kommt er ins Gefängnis und ich hab endlich mei Ruh.«

Ich bin sprachlos.

»Na, was sagst? Das wär doch was für dich. Ha?«

Langsam lasse ich die Luft aus meinen Backen entweichen. Ideen hat die! Den Zahn muss ich ihr allerdings gleich ziehen. Ich lasse mich nicht für ihre Spinnereien einspannen!

»Nein, Rosi, das mache ich nicht.« Ich sehe sie ernst an. »Der Zauner ist ein unbescholtener Bürger. Er kann nichts dafür, dass er auf dem Karpfhamer sein Festzelt genau neben deinem Hof stehen hat. Lass du ihn endlich in Ruhe, dann hast selber auch deine Ruh.« Klare Worte können nicht schaden.

»Pah, dann mach halt nichts. Du wirst schon noch sehen, dass ich recht hab.« Damit reißt sie mir die Tüte aus der Hand und läuft zu ihrem Auto. Der Motor heult auf, das Getriebe knirscht, dann holpert der alte Käfer vom Bürgersteig, drängelt sich in den Verkehr und rast davon.

Ich atme auf. Die Leute lachen und gehen weiter. Ein gutaussehender Mann mit grauen Schläfen lächelt mir zu und hält den Daumen nach oben. Ja, ich bin seiner Meinung. Ich habe mich prima geschlagen.

»Was war denn das?« Isabell tritt neben mich und wirft ihre langen, dunklen Haare nach hinten.

»Das war Rosi«, antworte ich.

Das ältere Ehepaar kommt langsam näher. Die Frau hat sich bei ihrem Mann untergehakt und macht immer noch einen ängstlichen Eindruck.

»Sagen Sie«, spricht er mich an, »sollten wir nicht lieber die Polizei rufen? Diese Frau war ja nicht ganz bei Sinnen.«

»Nicht nötig«, ich winke ab. Das fehlt mir gerade noch, mich mit dem Grieshuber wegen der Reitmeierin herumschlagen zu müssen. Ich setze mein treuherziges Gesicht auf. »Wir haben nur für ein Stück geprobt. Laienschauspielgruppe, wissen Sie.«

»Ah so.« Die beiden nicken. Nun taut auch die Frau auf. »Das ist ja interessant«, meint sie. »Wie heißt das Stück denn?«

»Die Karpfhamer Katz«, sage ich und kann mir ein Grinsen nicht verkneifen.

»Ein kurioser Name. Wird es denn bald aufgeführt?« Offenbar sind die beiden kulturbeflissen.

Ich wiege meinen Kopf hin und her. »Das steht noch nicht fest. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt im Rottal.« Schnell nehme ich Isabell bei der Hand und ziehe sie über die Straße zur Kirche hinüber.

Als wir außer Hörweite sind, bleibt meine Freundin stehen. »Karin, sag mal, den beiden hast du jetzt aber einen Bären aufgebunden, oder?«

Ich lache. »Natürlich. Was denkst denn du?«

Sie sieht mich tadelnd an und schüttelt den Kopf. »Aber wie kannst du darüber nur deine Witze machen? Die arme Katze. Es ist doch schlimm, wenn jemand Katzen vergiftet.«

»Natürlich. Aber ich glaube nicht, dass sie vergiftet worden ist. Die Reitmeier Rosi hat mindestens dreizehn Katzen, und da kann es schon vorkommen, dass eine stirbt.«

»Dreizehn Katzen?«, wiederholt Isabell.

Ich nicke. »Du kennst die Rosi nicht. Sie ist etwas sonderbar.«

»Na, das hab ich auch gerade gemerkt«, meint Isabell.

»Ja, die Rosi spinnt halt ein bisschen. Das eben war ein schönes Beispiel. Eigentlich darf ich nicht darüber reden, aber nur so viel: Vor zwei Jahren ungefähr war Rosi bei mir in Behandlung. Wegen ihrer Nervosität, wie sie sich ausgedrückt hat. Obwohl sie in Rente ist, seit Langem erwerbsunfähig, wenn ich das richtig im Kopf habe, war sie im Dauerstress. Und wie wir gerade gesehen haben, ist sie das zumindest um das Karpfhamer herum immer noch. Ich hab die Behandlung damals beendet. Sie war die anstrengendste Klientin, die ich jemals hatte. In jeder Sitzung ist sie über einen ihrer Bekannten hergezogen. Sie wusste über jeden etwas Schlechtes. Irgendwann hab ich ihr keine Termine mehr gegeben. Für ihre Tratscherei musste sie sich jemanden anderen suchen.«

Ich zeige Richtung Trachtengeschäft, das in der Volksfestzeit der Einkaufsmagnet in Kirchmünster ist. Die Leute geben sich quasi gegenseitig die Türklinke in die Hand. Tracht ist in und ein absolutes Muss für einen zünftigen Festbesuch. »Komm, lass uns jetzt endlich zu den Münchhamers gehen und dir ein Dirndl kaufen. Du sollst anständig angezogen sein fürs Karpfhamer.« Ich eile voran.

»Okay. Aber meinst du nicht, dass die Katze -«

»Nein, meine ich nicht. Jetzt komm. Vergiss es einfach.«

 

***

 

Die Glocke bimmelt, als ich die Tür des Geschäftes aufdrücke.

»Ja, Frau Schneider«, begrüßt mich sofort Vroni Münchhamer, und ihre Schwester Hilde winkt uns aus den Tiefen des Ladens zu. Die beiden sind Anfang sechzig und mit Leib und Seele Trachtenschneiderinnen. Sie haben den Laden von ihrer Mutter übernommen und nach einer Zeit der Dürre, in der nur sehr traditionsbewusste Frauen an hohen Festtagen im Dirndl gingen, floriert nun das Geschäft. Selbst ich habe mich von der wiederauflebenden Trachtenbegeisterung anstecken lassen und letztes Jahr mein erstes Dirndl seit Langem bei ihnen erworben. Als Kind in München hatte ich mal eins, doch in späteren Jahren wäre es mir nicht im Traum eingefallen, so etwas auch nur in meinen Kleiderschrank zu hängen. Aber was soll ich sagen? Ich fühle mich wohl darin. Man ist einfach gut angezogen. Letzte Woche habe ich dann noch ein zweites gekauft. Und jetzt schleppe ich meine Freundin hier herein. Damit zähle ich mich zu den Stammkundinnen.

Beide Münchhamerinnen sind beschäftigt. Hilde zupft bei einer Frau mit blonder Hochsteckfrisur und auffallend großem Mund am Saum einer lila Kreation herum. Die grasgrüne Schürze finde ich mehr als gewagt dazu. Auf den ersten Blick macht die Frau einen zu steifen Eindruck, als dass so ein Hingucker überhaupt in Frage käme.

Vroni schlichtet ein Rottaler Dirndl mit rotem Mieder und hellblauer Schürze in eine große Papiertasche und geleitet die Kundin zu Tür. Dann dreht sie sich zu uns um. »Wie schön, dass Sie vorbeischauen, Frau Schneider. Haben Sie in Ihrem Schrank noch ein Platzerl für ein drittes G'wand gefunden?«

Ich winke ab. »Nein, nein. Heuer nicht mehr. Vielleicht nächstes Jahr. Aber ich hab Ihnen hier meine Freundin Isabell Chiara mitgebracht. Die braucht dringend eins.«

»Ah, die Frau Chiara, grüß Sie Gott.« Vroni Münchhamer schüttelt Isabell die Hand. »Sie sind die Künstlerin, die im Schloss ein Atelier hat, gell?«

Isabell nickt. »Ja, im KUSS. Aber ich bin dort Gott sei Dank nicht allein. Ich hab sehr nette Kollegen.«

»Was heißt jetzt KUSS gleich wieder?«, fragt Vroni.

»Kunst im Schloss«, antworten wir gleichzeitig und lachen.

»Ja, freilich, Kunst im Schloss. Sehr schön. Und was kann ich jetzt für Sie tun?«

Meine Freundin lässt ihren Blick über die Kleiderstangen gleiten, an denen Dirndl an Dirndl hängen. In allen Farben und Größen. In kurz oder lang. Daneben passende Strickwesten oder auch die Lederhose für die Dame. Isabell schaut Frau Münchhamer unschlüssig an.

»Haben Sie etwas in Orange?«, fragt sie.

»Orange?« Sollte dieses Ansinnen Erstaunen bei der Trachtenexpertin ausgelöst haben, so merkt man es ihr nicht an.

»Ja, oder in Gelb«, ergänzt Isabell.

»Aber natürlich haben wir auch etwas in diesen Farben. Ich nehme an, Größe achtunddreißig.« Die Verkäuferin lässt einen professionellen Blick über Isabells Figur fliegen und zieht dann ein Kleid in sattem Gelbton hervor, an dem eine gelb-orangefarbene Schürze flattert.

»Wow«, entfährt es Isabell. Sie liebt bunt. Das kann man auch an ihren Bildern ablesen. Meistens malt sie großformatige Sonnen, von denen eine in meiner Praxis hängt und positive Energie ausstrahlt.

»Die Kabinen sind dort hinten, wenn Sie es anprobieren möchten.« Frau Münchhamer weist in den hinteren Teil des Ladens, und Isabell verschwindet hinter dem Vorhang.

Die blonde Frau hat das lilafarbene Kleid gegen ein vornehmes Modell in Dunkelblau vertauscht, das eindeutig besser zu ihrem Typ passt. Finde ich zumindest. Irgendwoher kenne ich sie. Dieser Gegensatz von leidenschaftlich vollen Lippen und offensichtlicher Zugeknöpftheit ist mir schon früher aufgefallen. Aber ich komme im Moment nicht darauf.

»Vorhin hatte die Reitmeierin wieder ihren Auftritt.« Frau Münchhamer grinst mich verschmitzt an. Ich wundere mich, woher sie das denn schon wieder weiß. Dann sehe ich jedoch aus ihrem Schaufenster und verstehe. Von hier aus hat man einen prima Blick auf die gegenüberliegende Seite des Kirchplatzes, an der vor ein paar Minuten ein alter Käfer nicht vorschriftsmäßig geparkt hat.

»Na ja.« Ich zucke mit den Schultern. »Sie hat's halt auch schwer, so direkt neben der Festwiese. Mir würde es auch nicht gefallen, wenn Hunderttausende an meinem Garten vorbeilaufen und mir beim Rasenmähen zuschauen.«

»Die spinnt, das ist alles«, kommentiert die blonde Frau mit einem strengen Zug um den Mund. Ohne eine Erwiderung abzuwarten, dreht sie sich zum Spiegel zurück.

»Aha.« Mehr fällt mir dazu nicht ein.

»Kennen Sie sich?«, fragt Frau Münchhamer. »Das ist Frau Ilzdorfer. Frau Schneider.« Mit gedämpfter Stimme sagt sie: »Ihrem Mann gehört die Ilzdorf-Brauerei.« Und ich kann hören, wie im selben Moment Hilde Münchhamer zu Frau Ilzdorfer flüstert: »Sie hat doch die Morde aufgeklärt.«

Jetzt fällt mir auch wieder ein, warum sie mir bekannt vorkommt. Ich gehe ein paar Schritte in ihre Richtung und sage: »Wir kennen uns vom Elternabend, nicht wahr? Unsere Kinder gehen in dieselbe Klasse, in die 9b. Meine Tochter heißt Susanne und Sie haben einen Sohn, den ...« Ich überlege, ob Susa schon mal seinen Namen erwähnt hat. Wohl nicht.

»Stefan«, spricht sie in den Spiegel.

»Genau. Den Stefan.« Von einem Stefan hat Susa sicherlich noch nie etwas erzählt. Dann muss er zu den nicht so angesagten Jungs gehören. Egal. »Wie geht's ihm denn in Chemie? Versteht er was? Meine Tochter tut sich ja damit ein bisschen schwer, und der Lehrer, der Meier, muss auch nicht so gut sein.«

Wenn ich dachte, auf diese Weise mit der Frau Ilzdorfer ins Gespräch zu kommen, habe ich mich geirrt. Sie dreht sich noch nicht einmal zu mir um, sondern spricht wieder in den Spiegel, und ihr Gesicht drückt keinesfalls freundliche Anteilnahme aus. In dezidiertem Tonfall erklärt sie: »Der Stefan ist sehr gut in der Schule.« Dann verschwindet sie in der Umkleidekabine. So ein arrogantes Weib!

Aber ich habe nicht viel Zeit, mich länger über sie aufzuregen, denn in diesem Moment gleitet der Vorhang der anderen Kabine zur Seite und der Raum erstrahlt in Gelb-Orange. Isabell tanzt auf uns zu.

»Ich fühle mich wundervoll«, flötet sie und dreht sich im Kreis. Einer Sonnenblume gleich wirbelt sie über den Teppich. »Ganz phantastisch.«

»Hab ich dir ja gesagt.« Ich bin froh, dass ich insistiert und recht behalten habe. Ein Dirndl hat was! Die Farbe ist zwar gewöhnungsbedürftig, aber wenn das der Preis dafür ist, dass sie ordentlich ausgestattet mit mir aufs Karpfhamer geht, muss ich eben ein Auge zudrücken. Mit nur einem Auge ist der Farbschock auch nicht mehr ganz so extrem.

»Toll siehst du aus«, sage ich, und Frau Münchhamer fällt sofort ein: »Sie können das tragen. Da sieht man sofort, dass Sie Künstlerin sind. Sie werden allen die Schau stehlen, Frau Chiara.«

Isabell bewundert sich im Spiegel und fasst spielerisch ihre Haare nach oben zusammen. Frau Hilde hat Frau Ilzdorfer verabschiedet und gesellt sich zu uns. Sie schlägt begeistert die Hände vor ihrem Mieder aneinander. »Sehr kleidsam, Frau Chiara, und ja, eine Hochsteckfrisur, vielleicht geflochten, und hier, darf ich«, sie beugt sich vor und zupft an Isabells Haaren, »ein paar kleine Strähnen, perfekt.« Frau Hilde tritt zurück und bestaunt ihr Werk. Ihre Schwester verströmt ebenfalls vollste Zufriedenheit.

»Ich nehm's«, verkündet meine Freundin und erntet rundherum zustimmendes Nicken. »Am liebsten würd ich es ja gleich anlassen. Aber ich muss noch mal ins Atelier.« Sie vollführt zum Abschluss eine Pirouette und schwebt zur Umkleidekabine.

Die beiden Schwestern bestätigen sich gegenseitig noch einmal, wie gut ihre Kundin in einem ihrer Dirndl ausgesehen hat. Dann ist dieses Thema ausgeschöpft.

»Ja«, beginnt Frau Vroni. »Die Frau Ilzdorfer haben Sie also schon gekannt?«

Ich mache eine wegwerfende Geste. »Nur flüchtig. Aus der Schule. Unsere Kinder.« Dort drüben gibt es eine Samtauslage mit Trachtenschmuck, die sollte ich mir genauer ansehen.

»Kennen Sie dann den Herrn Ilzdorfer auch?«, fragt Hilde Münchhamer. »Eine Augenweide.« Sie kichert und ihre Schwester stimmt ein. »Und Georg heißt er. Sozusagen der George Clooney vom Rottal.« Die beiden verstecken ihr Giggeln hinter der Hand.

»Tatsächlich?« Für dieses Thema kann ich mich erwärmen.

»Ja, aber das ist für die Frau bestimmt nicht einfach. So ein Bild von einem Mann weckt natürlich bei den anderen Frauen Begehrlichkeiten.«

»Begehrlichkeiten?« Ich frage mich gerade, ob die beiden Schwestern überhaupt verheiratet sind. Ein Herr Münchhamer ist mir jedoch nicht bekannt.

»Genau.« Sie kichern wieder. Frau Vroni macht ein ernstes Gesicht und beugt sich näher zu mir. Ihre Nasenspitze leuchtet. »Man sagt, er hätte was mit der eigenen Haushälterin.«

»Ein junges hübsches Ding«, fügt ihre Schwester hinzu. »Aus der Großstadt.«

Ich verkneife mir ein Grinsen. Diese verruchte Großstadt. Der bin ich auch nur mit knapper Not entronnen. Ohne Frage, ich amüsiere mich.

»Mit der eigenen Haushälterin? Das ist frech. Und, ist die Frau über die Eskapaden ihres Mannes informiert?«

Die beiden weichen zurück. »Oh, das wissen wir nicht.«

Isabell tritt mit dem bayerischen Traum in Gelb über dem Arm aus der Kabine. »Nehmen Sie auch Kreditkarte?«

»Aber natürlich.« Die beiden Münchhamerinnen schalten sofort wieder auf Geschäftsfrau um.

Draußen vor der Tür hänge ich mich bei Isabell ein. »Na, bist du froh, dass ich dich quasi zu deinem Glück gezwungen habe?«

Sie drückt meinen Arm. »Natürlich, Karin, du hattest recht. Wie immer.« Wir gehen ein paar Schritte.

»Da drin erfährt man ja allerhand über seine Mitmenschen«, meint Isabell und nickt mit dem Kopf zurück in Richtung Trachtengeschäft. »Ich hab mit dem Umziehen extra getrödelt, damit ich die Geschichte nicht unterbreche.«

»Gut gemacht«, lobe ich sie. »Ich möchte allerdings nicht wissen, was sie dem Nächsten über uns so alles erzählen.«

Wir umrunden die Pfarrkirche und streben der Tiefgarage zu, in der ich meinen alten Kangoo abgestellt habe. Da bleibt meine Freundin unvermittelt stehen. »Kommt eigentlich Martin am Wochenende?«

Mit dieser Frage bringt Isabell eine gewisse Schwermut in diesen heiteren Vormittag. Denn meinen Mann sehe ich nur noch selten. Vor ein paar Monaten hat er einen Chefarztposten in München-Großhadern angenommen und beehrt seine Familie nur noch gelegentlich am Wochenende. Ich bin zur grünen Witwe geworden. Alleinerziehend mit drei Kindern, Linus, Susa und Vicky, denn Lilli, die untreue Tomate, hat der Provinz auch den Rücken gekehrt. Ihr ist es schon lange zu fad gewesen. Jetzt geht sie in Schwabing ins Gymnasium und macht ihre Geschwister mit ihren Geschichten vom Großstadtleben neidisch. Daran wird sich so schnell nichts ändern, denn Susa ist mir mit ihren fünfzehn Jahren noch zu jung, um tagsüber unbeaufsichtigt in München herumzulaufen, und Vicky ist eh erst zwölf. Aber Linus hat daran zu knapsen. Eigentlich wäre er mit seiner Zwillingsschwester, die nur noch die Ferien bei uns verbringt, mitgegangen. Aber im letzten Jahr ist Anna in sein Leben getreten, und ohne seine Freundin geht er im Moment nirgendwo hin. Das heißt, er bleibt mir noch eine Weile erhalten, denn Anna bekäme man höchstwahrscheinlich nur tot aus Niederbayern heraus. Mir soll es recht sein.

»Nein«, antworte ich. »Martin hat an diesem Wochenende eine Tagung in Berlin. Außerdem war er noch nie ein Fan vom Karpfhamer Volksfest.« Ich zucke mit den Schultern. »Egal. Uns beiden Hübschen wird schon nicht langweilig werden.«

Auch damit sollte ich recht behalten.

 

***

 

Kaum bin ich zu Hause angekommen, klingelt das Telefon. Gleichzeitig springt mir Runa zur Begrüßung freudig wedelnd entgegen. Ich tätschle meiner Hündin, einem Retriever-Mix, den Kopf, gehe zum Apparat und nehme ab.

»Karin, hier ist Claudia. Claudia Schlagl«, tönt es mir aus dem Hörer entgegen. Ich krame in meinem Gedächtnis und finde eine Übereinstimmung mit einer Bekannten aus dem Gartenbauverein. Ja, dieser Institution bin ich vor einigen Jahren gleich nach unserem Umzug von München nach Niederbayern beigetreten. Denn nirgendwo lernt man schneller Leute kennen als in Vereinen. Und da ich mit Blumen mehr anfangen kann als mit Gewehren oder auch mit Kegeln, war der Gartenbauverein meine erste Wahl.

»Claudia, grüß dich. Lang nicht mehr gesehen.« Was konnte die bloß von mir wollen?

»Ja, stimmt, ist schon eine Weile her.« Sie zieht die Nase hoch. »Aber ich hab deine Karriere in der Zeitung fleißig mitverfolgt.«

»Welche Karriere?« Ich runzele die Stirn. Auch wenn Claudia das nicht sehen kann, hängt der Zweifel wohl in meiner Stimme. Denn die paar Hansl, die in meine psychotherapeutische Heilpraktiker-Praxis kommen, kann man unmöglich eine Karriere nennen.

»Na, deine Erfolge als Ermittlerin«, trompetet sie in mein Ohr.

Ich schweige. Gerade heute habe ich wieder die Erfahrung gemacht, dass dieses Entree zu nichts Gutem führt.

Claudia schnieft. »Das war wirklich unglaublich, wie du dem Landrat draufgekommen bist. Oder die Sache mit der Pflegerin im Altenheim. Wer hätte das gedacht?«

Okay. Ich habe verstanden. »Danke, Claudia. Kann ich etwas für dich tun?« Ich gehe mit dem Mobilteil des Telefons in die Küche und gieße mir einen Orangensaft ein. Ich habe so das Gefühl, dass ich eine Stärkung gut gebrauchen kann.

»Wenn du mich so direkt fragst, Karin, da fällt mir schon etwas ein.« Ich höre, wie sie sich verhalten in ihr Taschentuch schnäuzt. »Ich bin krank, Karin. Nichts Ernstes. Gottlob. Eine verspätete Sommergrippe. Frau Dr. Brockkamp meinte, ich soll mich ein paar Tage ins Bett legen und Salbeitee trinken.« Sie niest. Explosionsartig. Leider habe ich nicht schnell genug reagiert. Na ja. Ich halte den Hörer ans andere Ohr. »Nun kann ich meine Dahlien nicht hochstecken. Und mein Gemüsegarten … Die Bohnen wuchern, ich sage dir.« Sie seufzt.

»Ich soll deinen Garten machen?« Nun bin ich wirklich verdutzt.

»Nein, natürlich nicht, Karin.« Ihr Lachen geht in ein Husten über. Als der Anfall vorüber ist, fährt sie fort: »Heute beginnt doch das Karpfhamer. Und mein Mann, der Franz, nimmt sich die ganzen sechs Tage frei. Er geht so gerne hin.« Ihr Taschentuch schrabbt über die Sprechmuschel. »Ich hab ihn damals auch am Karpfhamer kennengelernt. Im Motodrom. Ja. Das ist auch schon wieder fünfzehn Jahre her.« Sie stockt. Die Erinnerungen haben sie überwältigt.

Dann räuspert sie sich. »Auf jeden Fall war ich bisher immer dabei, auf dem Karpfhamer. Jeden einzelnen Tag. Und ich hab es gerne gemacht, Karin, das musst du mir glauben. Aber heuer«, ihre Stimme bekommt einen weinerlichen Unterton, »bin ich krank. Zu krank fürs Motodrom.« Sie schnaubt laut in ihr Tuch. Es dauert eine Weile, bis sich Claudia wieder gefasst hat. »Und deshalb«, sie hickst, »deshalb hab ich an dich gedacht, liebe Karin.«

»An mich?« Mir schwant Böses. Ich nehme noch einen Schluck Orangensaft.

»Ja, an dich.« Ihre Stimme hört sich nun erstaunlicherweise fester an. »Du hast doch Erfahrung in verdeckten Ermittlungen.«

Darauf fällt mir so schnell nichts ein.

»Deshalb ist es für dich doch ein Klacks, auf meinen Franz ein wenig aufzupassen.«

»Was?« Ich stelle mein Glas mit lautem Knall auf die Küchentheke.

Claudia hustet wieder. »Bitte, Karin. Du hast doch bestimmt auch in der PNP gelesen, dass sich die Scheidungsrate nach dem Karpfhamer um dreißig Prozent erhöht. Und ich will nicht zu den dreißig Prozent gehören.«

Sie schluchzt, und ich schnaufe. Wie komme ich aus dieser Nummer heraus? Ratlos reibe ich mir am Kinn.

»Claudia ...«, beginne ich.

»Bitte!«

»Mensch, Claudia, wie soll ich ihn denn überhaupt finden unter all den Leuten? Schließlich sprechen wir von knapp fünfhundertausend Menschen in sechs Tagen, also überschlägig achtzigtausend pro Tag.«

»Das ist ganz einfach. Du weißt doch, wie er aussieht.« Sie macht eine Pause.

»Nun, ja … Ich glaube schon.« Ich habe ihn mal beim Obstbaumschneidekurs auf der gemeindeeigenen Streuobstwiese gesehen. Vor Jahren. Ein etwas dicklicher Vierzigjähriger mit schütterem braunem Haar. Typ Versicherungsvertreter. Wenn ich mich recht erinnere, arbeitet er irgendwo in einem Büro. Ob Claudia wirklich so besorgt sein muss um ihn, würde ich bezweifeln. Aber, bitte, eventuell irre ich mich auch und er ist der reinste Casanova.

»Gut.« Der Punkt ist für Claudia damit abgehakt. »Franz geht immer am Donnerstag zum Anstich ins Zaunerzelt. Da kannst du ihn gar nicht verpassen.« Sie ist zuversichtlich.

»Claudia, ich weiß nicht …«

»Oh bitte. Wenigstens heute Abend, Karin. Ich zahle dir auch gern eine, wie sagt man dazu, eine Aufwandsentschädigung.«

»Nein, das kommt ja gar nicht in Frage.« Engagieren lass ich mich auf keinen Fall von ihr. Wer weiß, was ihr noch alles einfallen würde.

»Ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll«, jammert Claudia und putzt sich geräuschvoll die Nase.

Ich seufze. Ich streiche mir über die Stirn. Ich seufze erneut. Dann gebe ich mir einen Ruck. »Na gut. Ich bin heute eh beim Anstich, falls ich deinen Franz sehen sollte, dann ...“ So genau weiß ich auch nicht, was ich dann machen werde. Aber sie scheint damit zufrieden.

„Super, Karin, danke dir! Du bekommst auch einen Fexer von meiner bayerischen Feige.«

»Na prima!« Was tut man nicht alles für einen Feigen-Ableger, noch dazu einen bayerischen. Nein, Quatsch. Aber ich bin ein von Grund auf gutmütiger Mensch und ich hasse es, meinen Mitmenschen eine Bitte abzuschlagen. Da ich vorhin mit Rosi schon so streng war – sein musste –, ist mein Kontingent für den heutigen Tag erschöpft. Ich kann nur hoffen, dass meine Kinder diesen Schwächezustand nicht mitbekommen.

Außerdem wollte ich heute sowieso aufs Fest. Den Anstich lasse ich mir nie entgehen. Endlich hat das Warten ein Ende und das Karpfhamer beginnt. Na, dann kann ich das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden und gleich ein gutes Werk tun. Was soll's?

Claudia triumphiert. Niesend. Und hustend. Wir beenden das Gespräch.

 

***

 

Es ist inzwischen zwölf Uhr. Gerade will ich mich um das Mittagessen kümmern, was, beiläufig erwähnt, nicht meine Lieblingsbeschäftigung ist. Kochen. Notwendige Pflichterfüllung für jede Mutter, die etwas auf sich hält. Schließlich sollen die lieben Kleinen etwas Vernünftiges zu sich nehmen. Aber so zeitaufwändig! Überlegen, einkaufen, kochen, abräumen. Und gerade das Gesunde macht am meisten Arbeit. Gemüse putzen, Salat waschen.

Egal.

Ich komme eh nur dazu, die Kühlschranktür für eine Inspektion zu öffnen, da klingelt es schon wieder. Diesmal an der Haustür. Als niemand schreiend aus dem oberen Stockwerk herunterstürzt, gehe ich an die Tür.

Davor steht ein Junge. Rotblonde Haare, am Scheitel zur Seite gekämmt. Ein schlaksiges Etwas mit einem Skatebord. Die vorstehenden Hüftknochen hindern die Jeans am Hinunterrutschen.

»Ja?« Ein aufmunterndes Lächeln begleitet meine Frage.

»Hey. Ist die Susa da?« Der Bub befindet sich gerade mitten im Stimmbruch. Süß!

»Hm. Ich glaube schon.« Schließlich bin ich erst seit Kurzem wieder zurück. Da kann sich an den häuslichen Verhältnissen seit dem Morgen einiges verändert haben. »Wer möchte das denn wissen?«

»Ich.« Er runzelt die Stirn. Vermutlich hält er mich für ziemlich begriffsstutzig.

»Ah ja, Ich, schön, dich kennenzulernen.« Ich strecke ihm meine Hand entgegen.

Erstaunlich, wie viele Falten auf so eine Jungenstirn passen. Er gewährt mir ein Händeschütteln. Dann sagt er doch noch: »Stefan.« Wahrscheinlich aus Mitleid.

»Stefan«, wiederhole ich mit für ihn sicherlich nicht nachvollziehbarer Begeisterung. »Ilzdorfer, nehme ich an.« Die Lippen hat er zweifelsfrei von seiner Mutter.

Die Stirn immer noch zerfurcht, nickt er. Langsam tut er mir leid. Ich halte die Haustür auf.

»Warte hier. Ich schau mal nach, ob die Susa da ist, okay?«

»Ist gut.« Er kommt herein und blickt auf Runa, die in den Flur spaziert ist, um den Gast zu begutachten.

»Sie tut nichts.« Mit dieser allseits beliebten Hundebesitzerfloskel überlasse ich ihn seinem Schicksal und steige die Treppe in den ersten Stock empor.

»Susa?« Ich klopfe an ihre Zimmertür und mache ebendiese auf. Meine Tochter liegt, wie es sich für eine Fünfzehnjährige gehört, bei strahlendem Sonnenschein um zwölf Uhr mittags mit herabgelassenen Jalousien im Bett. Aus den Kopfhörern dröhnen Bassklänge, die ihr Trommelfell sicherlich für alle Zeit zerstören werden.

Ich kenne das schon. Mit einem Griff habe ich die Anlage ausgeschaltet und lasse die Jalousien hochfahren. Meine Tochter fährt ebenso hoch. Entrüstet.

»Hey. Was soll das?« Ihre Haare sind verwuschelt und den Pullover hatte sie gestern Abend auch schon an. Offensichtlich hat sie darin geschlafen.

»Guten Morgen, mein Schatz.« Man soll sich als Elternteil ja nicht von der dauerschlechten Laune seiner pubertierenden Sprösslinge anstecken lassen. »Unten wartet Besuch auf dich.«

Ich hebe ein zerknülltes Handtuch vom Boden auf, das noch von gestern hier herumliegt. Inzwischen habe ich es aufgegeben, meiner klugen Tochter die Wirkung von feuchten Gegenständen auf Holzböden zu erklären. Das ist zu schwierig für das Fräulein. In zwei Jahren werde ich einen neuerlichen Vorstoß wagen.

Sie richtet sich auf. Ihre Augen funkeln. »Echt? Wer?« Man merkt, dass sie die Zeit überschlägt, die sie brauchen würde, sich zu duschen, ihre Haare zu waschen und sich ein cooles Outfit herauszusuchen.

»Stefan. Ilzdorfer.«

Susa fällt auf ihr Bett zurück. »Nee, Mama, nee. Nicht dein Ernst.«

Ich höre, dass im Gang eine Tür zuknallt und jemand die Stufen nach unten hüpft. Eindeutig Vicky, mein zwölfjähriger, noch nicht wirklich in der Pubertät angekommener Schatz.

»Doch.« Ich nicke. »Er steht unten mit einem Skatebord und freundet sich mit Runa an.« Ich ziehe ihr die Decke weg. »Los, steh auf. Es wird dir gut tun, ein bisschen raus zu gehen.« Ich öffne ihre Balkontür.

»Hey! Mach die Tür wieder zu!« Wütend reißt Susa mir den Bettzipfel aus der Hand und zieht sich die Decke bis unters Kinn. »Ich gehe bestimmt nicht zu dem Loser runter. Das kannst du vergessen. Nur weil ich gestern im Sapperlot mit ihm geredet hab, braucht er sich nicht einbilden, dass ich was mit ihm mache.«

Ich verschränke meine Arme. »Und warum nicht? Es sind Ferien. Du hast nichts anderes vor. Er scheint nett zu sein.« Dass er hinsichtlich seines Entwicklungsstandes noch etwas gegenüber meiner Tochter aufzuholen hat, muss ich ja nicht zugeben.

»Vergiss es.« Sie zerrt sich die Bettdecke über den Kopf. »Er ist ein Loser und dabei bleibt's.«

»Na dann.« Sanft schließe ich die Tür von außen.

Bin ich jetzt ein erziehungstechnisches Weichei? Kann schon sein. Aber ich kann doch meine Tochter nicht zwingen, einen ungebetenen Gast freudig zu empfangen. Sollte ich? Nein, ich nicht. Tut mir leid.

Gerade möchte sich bei mir dennoch eine Spur schlechten Gewissens bezüglich des verschmähten Jungen einschleichen - ganz umsonst. Denn von unten kommt angeregtes Geplapper. Vicky hat sich Stefans angenommen, und er scheint einstweilen ganz zufrieden zu sein, dass sich die jüngere Schwester von Susa um ihn kümmert. Er sitzt auf unserer Garderobenbank, streichelt Runa und hört Vicky bei einer ihrer unzähligen Pferdegeschichten zu. Anscheinend habe ich gerade die Pointe verpasst, denn die beiden lachen. Dann öffnet Vicky die Haustür, Stefan nimmt sein Skatebord und draußen sind sie. Ohne Mittagessen. Aber man kann als Mutter nicht alles haben.

Die Zeit bis zu meinem Aufbruch Richtung Festwiese verbringe ich mit Haushaltskram. Bei dreieinhalb Kindern – Lilli ist in den Ferien quasi zu Besuch hier – fällt jede Menge Wäsche und Unordnung an. Um fünf begebe ich mich ins Bad und beginne mit meiner Verschönerung. Viel erwarte ich nicht davon, denn auch mit Make-up wird aus einer Fünfundvierzigjährigen keine junge Göttin. Trotzdem bin ich mit dem Ergebnis zufrieden. Dann schlüpfe ich in mein neues Münchhamer-Dirndl, ein dunkelgraues Kleid mit verwaschenen Rosen. Der Vorteil an diesen Dirndln ist, dass sie für Frauen mit Figur gemacht wurden. Das Mieder hält etwaige Ausuferungen in Zaum und das Dekolleté lenkt den Blick des Gegenübers auf ansprechendere Polsterungen. Ideal für mich.

Nach einem Rundgang durchs Haus – alle bis auf Susa sind ausgeflogen, sie telefoniert – schnappe ich mir meine Handtasche, hänge sie probeweise an meinen Arm und mustere mich im Garderobenspiegel. So ganz zufrieden bin ich nicht. Die Tasche ist ein einfaches schwarzes Ding und passt nur suboptimal zu meinem G'wand. Ich sollte morgen einen Abstecher zu den Münchhamer-Schwestern machen und mir ein passenderes Exemplar gönnen. Mal schaun.

 

***

 

An sich ist Karpfham ein kleiner, unscheinbarer Ort mit einer spitztürmigen Kirche, einem Weinkontor und einem Reiterbedarfsgeschäft. Der Lebensmittelladen hat vor ein paar Jahren dichtgemacht, auch die Raiffeisenbank hat ihre Filiale hier geschlossen. Es existiert jedoch noch ein Bäcker, und der Bad Griesbacher Metzger schickt einmal in der Woche einen Verkaufswagen.

Aber jedes Jahr Ende August zur Volksfestzeit schwappt Leben in das Dorf. Die Wiesen der Bauern verwandeln sich in Parkplätze und auf dem Festgrund drängen sich Fahrgeschäfte neben Essensbuden und Zelten. Gleich angrenzend finden die Bauern alles, was für sie von Interesse ist. Die Rottalschau ist die größte landwirtschaftliche Ausstellungsmesse in Süddeutschland.

Als Linus klein war, waren die Traktoren und Schlepperfahrzeuge die wahre Attraktion für ihn. Stundenlang konnte er vor den riesigen Ungetümen stehen, und wenn er gar in einem sitzen durfte, war er tagelang glücklich.

Die Landwirtschaftsmesse war auch der eigentliche Ursprung des Festes. Es ist überliefert, dass dort schon Anfang des neunzehnten Jahrhunderts landwirtschaftliche Preisverleihungen abgehalten wurden, und da das Rottal Pferdeland ist, wahrscheinlich für Pferdezucht und Pferdesport.

Man kann den Niederbayern nicht vorwerfen, dass sie nicht gerne feiern. Denn die anfänglichen drei Tage Volksfest wurden peu à peu zu sechs Tagen ausgeweitet. Von Donnerstag bis Dienstag kann man sich heutzutage vergnügen, informieren und ein paar Mass heben. Und damit Letzteres klappt, gibt's an diesem Abend den Anstich.

Nachdem ich mein Auto auf einer der Parkplatzwiesen losgeworden bin, reihe ich mich in den Besucherstrom zur Festwiese ein. Schon an der Straße dorthin bieten Standl Lebkuchenherzen mit Aufschrift, Socken oder Staubsaugerzubehör an. Die meisten Leute halten sich hier jedoch nicht auf, sondern gehen schnurstracks zum eigentlichen Fest.

Allerdings müssen alle am Hof der Reitmeier Rosi vorbei. Das alte Rottaler Holzhaus mit dem beachtlichen Grund drumherum steht als einziges direkt neben dem Festplatz. Mit seinen kleinen Fenstern und den dunklen Holzschindeln trotzt es dem vergnügten Leben um ihn herum. Und Rosi trotzt mit. Allerdings nicht so stumm wie ihr Haus. Recht lautstark ist sie schon von Weitem zu hören. Ihr Schimpfen übertönt die Geräusche des nahen Festes und schwillt, wenn etwas oder jemand sie besonders aufregt, zu einem hohen Gekeife an. Ich spaziere näher.

Rosi trägt eine grüngemusterte Kittelschürze über T-Shirt und Jeans und wirkt dadurch älter als Mitte fünfzig. Ihre Haltung ist gebeugt, ihre mageren Schultern fallen nach vorne. Sie hält sich am Zaun fest, mustert mit festem Blick die Vorbeigehenden und stößt ihre Verwünschungen aus. Nicht jeder traut sich, sie anzusehen, sondern beeilt sich vorbeizukommen. Wie man auch um einen geifernden Schäferhund einen großen Bogen machen würde.

»Ja, geht's nur, geht's nur und schmeißt eure sauer verdienten Lutscherl zum Fenster raus! Ha, Sepp, meinst nicht, dass dei Frau und deine Kinder das Geld besser brauchen täten als der Wirt?«

Der Angesprochene macht nur eine wegwerfende Handbewegung und schreitet rasch weiter.

»Sepp, lauf zua, sonst wern die Schweinswürschtl kalt.« Rosi lacht auf und hört sich an wie die Hexe aus dem Märchenwald.

»De schaug o!« Sie zeigt mit dem Finger auf zwei junge Mädchen, die sich mit Glitzertops und Hotpants herausgeputzt haben. »Schamt’s ihr euch gar ned? Wenn ich eure Mutter wär, würd ich euch einsperren, in den Hühnerstall, da gehört’s hin. Goah goah goah!« Die Mädchen flüchten.

Ich bin beinahe bei ihr angelangt und lege mir schon zurecht, was ich ihr sagen will. Irgendwie hoffe ich, die richtigen Worte zu finden, um sie zu beruhigen. Wenigstens für kurze Zeit. Damit sie sich und ihren Mitmenschen eine Pause gönnen kann. Ich sehe ihr an, dass sie sich nur noch mit Mühe aufrecht hält. Gewiss steht sie hier schon seit Stunden.

Als ich quer über die Zufahrt zu ihrem Gartentor gehen will, fährt mir ein Auto vor die Füße und zwingt mich, zur Seite zu springen. Zum zweiten Mal an diesem Tag.

»Hey!«, schreie ich auf, aber der Fahrer dieses hässlichen rot-orangenen Monstrums kümmert sich nicht um mich. Er entsteigt mit Mühe seiner tiefgelegten Sardinenbüchse und hastet auf Rosi zu. Das überrascht mich. Was will der Kerl von ihr? Sie herunterputzen, weil sie alle Leute anpöbelt? Ich bleibe hinter seinem Gefährt stehen – »Corvette C4«, entziffere ich den Schriftzug am Heck – und beobachte erst einmal.

Der Mann ist groß, mindestens eins neunzig, und wirkt auf den ersten Blick imposant. Bis man feststellt, dass er keine Muskeln, sondern Fettpolster mit sich herumschleppt. Das zerstört den ersten Eindruck. Obwohl er wie Mitte dreißig aussieht, lichten sich bereits seine Haare. Trotzdem hat er sie mit Gel in die Höhe gestylt. Mich erinnert er ein bisschen an Meat Loaf in jungen Jahren. Allerdings hätte Meat Loaf nie ein giftgrün kariertes Hemd angezogen! Für den Moppel wäre eine dezentere Farbe auch kleidsamer gewesen.

Er wirft mir einen kurzen Blick zu. Seine Augenbrauen strecken sich gen Himmel und geben seinem Gesicht einen erstaunt-besorgten Ausdruck. Wie ich später noch feststellen werde, ist das seine normale Mimik.

»Rosi, meinst nicht, dass für heute genug ist?« Seine Stimme passt zu seiner Figur. Sie ist weich, fast ein bisschen schmalzig.

»Das sagt der Richtige«, fährt sie ihn an. »Der Gruber Hansi, noch so ein Volksfest-Gewinnler. Dass du um diese Zeit überhaupt schon aus dem Bett g'fallen bist?« Rosi sieht demonstrativ zur Kirchturmuhr hinüber, entdeckt dabei mich und wendet sich wieder ab. Offenkundig ist sie mir wegen heute Morgen beleidigt. Na ja.

Der Mann legt seine große Pranke auf Rosis schmächtige Schulter. »Sei doch g'scheit, gib doch einmal einen Frieden. Davon wird's doch nicht besser.«

Rosi reißt seine Hand herunter. »Rühr mich nicht an, Hundskrippi. Was weiß ich, wo du heut Nacht wieder deine Händ gehabt hast.«

»Tante!«, schreit er empört und weicht einen Schritt zurück.

Tante? Der Riesenteddybär ist Rosis Neffe? Ich wusste gar nicht, dass sie Verwandtschaft hat.

»Du willst dir nicht helfen lassen, bittschön, dann lass ich dich.« Er hebt seine Hände in einer resignierenden Geste, stapft zu seiner Corvette zurück und fährt davon.

Ich mache die paar Schritte auf sie zu. »Du bist heute aber liebenswürdig«, sage ich und habe gleich darauf meine Zweifel, ob das der richtige Beginn für eine konstruktive Unterhaltung war.

Anscheinend nicht, denn sie dreht hocherhobenen Hauptes ihre Nase auf die andere Seite und schweigt.

Ich stelle mich mit dem Rücken zum Zaun neben sie, lege meine Ellbogen auf die Holzlatten und blicke auf den Besucherstrom, der an uns vorüberzieht. »Was stört dich denn an den Leuten, Rosi? Die tun dir doch nichts.«

Sie stößt ein Zischen aus.

Mit einer ausholenden Bewegung weise ich auf Fußgänger, Fahrradfahrer und Autos. Mofas knattern vorbei. Von hinten trägt der Schall das Hupen und Klingeln der Fahrgeschäfte zu uns, die Mikrofonstimmen der Schausteller. Es ist wirklich mächtig was los, das muss man zugeben. Aber vielleicht könnte man das alles auch positiv sehen?

»Nimm es doch als Übung, Rosi, als Übung, bei dir zu bleiben.« Ich lege meine Hand auf meinen Bauch. »Atme in deinen Solarplexus und entspanne. Eventuell -«

»Schmeiß deine verdammte Zigaretten nicht in meinen Hof, du Saubär!« Rosi reißt das Gartentor auf, dessen Klinke sicherlich nur aus Versehen in meinen Solarplexus schlägt, und stürmt wie ein losgelassener Kettenhund auf einen jungen Burschen zu. Der ist gemütlich auf dem Bürgersteig entlanggeradelt, den Fußgängern ausgewichen und hat seinen Zigarettenstummel weggeschnipst. Das hätte er nicht machen sollen. Rosi packt ihn am Schlawittl und zieht ihn von seinem Rad herunter. Er stolpert, sein Fahrrad schlingert.

»Hey!« Der Schlacks versucht sich zur Wehr zu setzen, doch Rosi verpasst ihm einen Schlag auf den Hinterkopf.

»Was willst! Wenn i di noch einmal erwisch!« Sie hebt drohend die Hand. »Schau, dass'd weiterkommst, sonst setzt's was!«

Der junge Kerl beeilt sich, auf seinen Sattel zu steigen, und sucht das Weite.

»Frau Reitmeier«, brüllt es von hinten. Wir drehen uns gleichzeitig um.

Ein jüngerer Polizist kommt auf uns zugestürmt. »Nicht gar so gach!«, fordert er. »Sonst kriegen S' auch noch eine Anzeige wegen Körperverletzung. Langt Ihnen die wegen übler Nachrede noch nicht?«

»Der Herr Oberhauptkommissar Riedl«, ruft Rosi und verzieht verächtlich ihren Mund.

»Polizeimeister, wenn ich bitten darf«, sagt der Beamte.

Sie ignoriert seinen Einwurf. »Machen S' lieber was dagegen, dass die alle nicht immer ihren Dreck auf meinen Grund und Boden schmeißen.«

»Ach geh, keiner tut was«, wiegelt der Polizist ab.

»Und das grad war nichts? Und der Zauner? Der vergiftet meine Katzen!«

»Reitmeierin«, beginnt der Beamte, doch Rosi ist noch nicht fertig.

»Aber mir glaubt ja keiner. Immer nur ›Reitmeierin, Reitmeierin‹. Ich kann's nimmer hören.« Für eine Sekunde hält sie sich die Ohren zu, dann fuchtelt sie mit ihrem Finger heftig vor unseren Nasen herum. »Irgendwann ertrag ich's nimmer und dann bring ich mich um. Dann werd's schon sehen, was ihr von eurem Wegschaun habt's.«

Rosi wirft uns einen waidwunden Blick zu, rennt in ihr Haus und schlägt die Tür hinter sich zu.

»Rosi!«, rufe ich ihr hinterher, erschrocken über ihren Ausbruch.

Der Polizist ist keineswegs beunruhigt. »Lassen Sie's«, meint er. »Die kriegt sich schon wieder ein.« Damit tippt er an seine Schirmmütze und strebt dem Volksfest zu.

Ich blicke zur Haustür, die fest verschlossen bleibt. Das hab ich ja noch nie von ihr gehört. Der Polizist offenkundig schon.

Verhalten folge ich ihm. Aller Voraussicht nach ist es tatsächlich das Beste, Rosi jetzt allein zu lassen. Wenigstens steht sie nicht mehr am Zaun.

Mit jedem Schritt in Richtung Volksfest kehrt meine Vorfreude zurück. Und als ich die bunten Bänder sehe, die am grünen Kranz über dem »Grüß Gott«-Schild des Eingangs flattern, geht mir das Herz auf. Dahinter ragt das Riesenrad aus der Zeltstadt des Volksfestes empor. Diese einfache Stahlkonstruktion finde ich anrührend, denn sie erinnert mich an meine Kindheit.

In München bin ich als kleines Kind mit meiner Mutter oft auf die Wiesn gegangen. Natürlich gab es dort auch ein Riesenrad. Staunend stand ich davor und dachte, es müsse wie fliegen sein. Wunderbar hoch oben über der Stadt zu schweben und den Vögeln ins Gesicht zu sehen.

Irgendwann konnte ich meine Mutter überreden, eine Eintrittskarte zu kaufen und mit mir in solch eine glitzernde Gondel zu steigen. Aber damit war der Zauber vorbei. Wimmernd kauerte ich am Boden der Kabine und heulte. Ich hatte eine Heidenangst dort oben. Das war das letzte Mal, dass ich in so ein Gefährt eingestiegen bin.

Trotzdem bewahre ich in einer kleinen Kammer meines Herzens das Riesenrad als wertvolle Erinnerung an meine Mutter auf. Und dieses Gefühl steigt sacht in mir auf, wenn ich aufs Karpfhamer zugehe und die Gondeln im Wind schaukeln sehe.

Noch weiter hinten spießen die Türme von neuen Fahrgeschäften die weißen Wolken im bayrisch-blauen Himmel auf. Aber damit verbinde ich nichts Positives. Nie im Leben würde ich mit so etwas fahren!

Gleich nach dem Eingang lockt ein Stand mit gebrannten Mandeln, und es ist Tradition, dort eine Tüte zu kaufen. Früher bettelten meine Kinder auch um Zuckerwatte, aber die gab es später. Hier und heute gönne ich mir meine Mandeln und stecke eine in den Mund. Die erste schmeckt immer am besten. Dieser Zimt, der sich um die Geschmacksknospen schmiegt! Diese Zuckerhülle, die einem mit ihrer Knackigkeit vorspiegelt, gesund zu sein.

Ich genieße meine tausend Kalorien und bummle dem Zaunerzelt zu. Dort ist heuer der Anstich. Dieses Privileg wird gerecht zwischen den einzelnen Festwirten verteilt. In jedem Jahr hat ein anderer die Ehre, das erste Fass anzustechen. Und danach die Freibier-G'sichter auszuhalten. Ja, Anstich bedeutet Freibier.

In den Budengassen geht es geschäftig zu. Die Leute schieben sich aneinander vorbei. Aber das Nette am Karpfhamer Fest ist, dass man immer und überall jemanden trifft, den man kennt. Und so laufe ich quasi in den Herrn Biedersteiner hinein. Er wohnt seit ein paar Jahren in Bad Griesbach und hat mich schon öfter mit wichtigen Informationen versorgt. Kennengelernt habe ich ihn im Wald. Er drehte mit seinem Jack-Russell-Terrier Hasso zur gleichen Zeit seine Runden wie ich mit Runa. Und wenn sich die Hunde verstehen, kommen auch die Menschen zusammen.

Herr Biedersteiner ist ein hochgewachsener Mann mit klaren Gesichtszügen. Er hat glatt nach hinten gekämmte weiße Haare und hält sich betont gerade. Das gibt ihm ein vornehmes Aussehen. Obwohl er schon gut über siebzig Jahre alt sein müsste, ist er sehr agil und immer unterwegs. Im Moment amüsiert er sich vor einem Wettstand. Blecherne Kamelreiter kämpfen um den ersten Platz.

»Ah, Frau Schneider, Sie auch hier. Und so fesch im Dirndl. Alle Achtung!« Er hebt anerkennend seine Augenbrauen und wendet sich wieder dem Rennen zu. »Ist das nicht köstlich? Diese Vorrichtung kenne ich noch aus meiner Jugend!« Die Nummer drei geht gerade knapp vor der blauen Vier ins Ziel. »Sind Sie auch auf dem Weg zum Anstich?«

»Ja, wollen Sie mich begleiten? Oder sind Sie mit Frau Lindner verabredet?« Ich will keinen Unfrieden zwischen ihn und seine Freundin bringen.

»Ich begleite Sie gerne.« Er bietet mir seinen Arm und ich hake mich unter. »Trude wird später zu uns stoßen. Ich konnte nicht absehen, bis wann ich es schaffen würde. Ich war gestern in Frankfurt auf einem Treffen des Anwaltsvereins, und dann besuchte ich noch einen früheren Kollegen. Er ist auf Insolvenzrecht spezialisiert und hat von Jahr zu Jahr mehr zu tun. Das können Sie sich sicherlich vorstellen. Bei der heutigen Wirtschaftslage.« Er schüttelt den Kopf. »Immer, wenn ich wieder Einblick in die momentane Arbeitssituation bekomme, verspüre ich doch Erleichterung, dass ich mich damit nicht mehr auseinandersetzen muss. Aber lassen wir diese schweren Themen. Wir haben uns ja schon länger nicht mehr auf einem Spaziergang getroffen. Wie geht es denn Runa?«

Hundehalter können immer über ihre Lieblinge sprechen, und so bummeln wir in angeregter Unterhaltung durch die Gassen. Nebenbei lasse ich meinen Blick über die anderen Festbesucher gleiten. Irgendwo hier muss sich auch Franz, der Mann meiner besorgten Bekannten Claudia, herumtreiben. Ich bezweifele, dass er mir tatsächlich über den Weg laufen wird, aber ich will mir zumindest Mühe geben. Damit ich ihr morgen guten Gewissens erzählen kann, dass es leider nicht geklappt hat.

»Da sind wir ja schon.« Herr Biedersteiner weist auf das Bierzelt vor uns. Tannengrün und Girlanden mit weißblauen Rauten schmücken den Eingang. Darüber steht in großen, geschwungenen Buchstaben der Name des Wirts: »Zauner«. Aus dem Inneren schwillt uns Blasmusik entgegen. Je näher wir kommen, desto enger wird es. Es scheinen alle Besucher des Volksfestes einen Platz im Zelt bekommen zu wollen. Wir drücken und werden gedrückt. Schräg vor uns nutzt ein Mann das Gedränge dazu, seiner Freundin in den Hintern zu kneifen. Sie macht einen kleinen Hupferer und quietscht: »Aber Franzi!«

Franzi? Da horche ich auf. Sollte der allzu kecke Typ der Franz sein? Leider sehe ich ihn nur von der Seite. Die Größe könnte allerdings stimmen. Er ist ungefähr zehn Zentimeter größer als ich, und wenn ich mich richtig erinnere, ist Claudias Franz auch kein Riese. Haarfarbe und -fülle passen ebenfalls. Aber die Figur? Soweit ich es in der Enge beurteilen kann, ist der Körper dieses Franzis durchtrainiert, sein Gesicht braungebrannt und kantig. Er sieht nicht im Mindesten nach Schreibtischhengst aus.

Ein Hengst ist er möglicherweise schon, zumindest hält er sich für einen. Er presst seine Begleiterin an sich und flüstert ihr etwas ins Ohr, das ihr wieder ein Aufquietschen entlockt. Das lässt ihn zufrieden grinsen. Aus dem Augenwinkel hat er wohl mitbekommen, dass ich ihn mustere, denn er dreht seinen Kopf zu mir nach hinten und zwinkert mir zu.

Mein Gott, der hält sich ja für unwiderstehlich. Vielleicht ist er es ja doch? Es kann nichts schaden, in seiner Nähe zu bleiben. Auch wenn ich die Rasierwasserwolke, die ihn umgibt, widerlich finde. Nicht mein Duft. Und schon gar nicht in der Menge.

Ich dirigiere Herrn Biedersteiner unauffällig zu dem Biertisch, an dem sich Franzi mit seiner Eroberung niedergelassen hat. Kaum dass er sich breitbeinig auf die Holzbank gesetzt hat, schreit er schon nach der Bedienung.

Wir bekommen am Tisch hinter ihnen noch einen Platz. So kann ich ihn problemlos im Auge behalten. Auch wir bestellen etwas zu essen. Ich entscheide mich für einen Rottaler Käse. Das ist die richtige Grundlage für das Bier, das später verteilt wird.

Gleich geht es los. Der Bürgermeister steht gerade von seinem Tisch auf, an dem die üblichen Honoratioren sitzen. Natürlich der Landrat, der hier ansässige MdL, ein Staatssekretär und der Vorsitzende des Festvereins. Unser Stadtoberhaupt bekommt eine grüne Schürze umgebunden und steigt auf die Bühne. Die Musiker hören zu spielen auf. Nach ein paar launigen Worten stellt er sich vor das große Holzfass und haut mit einem großen hölzernen Stößel den Hahn hinein. Die Leute zählen mit und werden von Schlag zu Schlag lauter. Nach vier Schlägen ist das Werk vollbracht. Das Bier spritzt, es erklingt das traditionelle »O'zapft is« und man spendet begeistert Beifall. Das Fest kann beginnen.

Ein Blick zu Franz hinüber informiert mich, dass er währenddessen nicht untätig geblieben ist. Er sitzt fast auf seiner Bekanntschaft und hat nicht nur seine Augen in ihrem Ausschnitt, sondern auch seine Finger.

Noch versucht sie, ihn scherzhaft davon abzubringen, ihren Busen zu begrapschen, aber ich merke es ihr an, dass ihre Geduld bald vorüber sein wird. Wahrscheinlich überlegt sie, wie es sich entwickeln wird, wenn der Casanova erst eine Mass intus hat.

Scheibenkleister! Er hat schon wieder spitzgekriegt, dass ich ihn beobachte. Und was macht er? Er zwinkert keck. Ganz klar. Seine Einheitswaffe, um Frauen zu erlegen. Gütiger Himmel!

Dann werde ich abgelenkt, denn mit den ersten überschäumenden Bierkrügen kommt auch Frau Lindner, die Freundin von Herrn Biedersteiner. Wir rücken und sie setzt sich zu uns. Nach der Begrüßung entspannt sich sofort ein Gespräch zwischen uns. Ich mag sie und habe sie schon länger nicht mehr gesehen.

Plötzlich höre ich ein Klatschen. So laut, dass es sogar den Lärm im Bierzelt übertönt.

Gleich darauf: »Jetzt langt's! Ich geh! Lass mich durch!«, und die Bekanntschaft vom Franz will ihn nicht länger kennen.

Da sitzt er nun mit seiner roten Backe und ist sich bewusst, dass alle im näheren Umkreis seine Niederlage mitbekommen haben und so tun, als ob sie ihn nicht anstarren würden.

Er macht das einzig Richtige in dieser Situation. Er hebt seinen Bierkrug und nimmt einen langen Schluck. So lange, bis die Leute sich wieder von ihm abwenden und mit etwas anderem beschäftigen.

Nur ich schaue ihn immer noch an und überlege, wie ich ihn weiter beschatten soll, wenn er jetzt aufsteht und weggeht. Ich habe keine Lust, die Unterhaltung mit meinen beiden Begleitern zu beenden, nur um einem Schürzenjäger hinterherzujagen.

Aber was passiert? Genau. Franz bemerkt natürlich, dass ich ihn schon wieder nicht aus den Augen lasse, und nimmt das als Einladung. Er prostet mir mit seinem leeren Bierkrug zu, grinst, steht auf und kommt an unseren Tisch.

»Na, schöne Frau, so alleine hier?« Von oben herab bedenkt er mich mit einem gönnerhaften – ja, was? – Zwinkern. Ich könnte schreien. Aber dann sage ich mir: Wenn er mit dir zusammen ist, kann er keine andere Frau anbaggern und ich muss ihm nicht hinterherlaufen. Einfacher geht's nicht. Ein Lächeln erscheint auf meinem Gesicht und unter dem Tisch streife ich heimlich meinen Ehering ab. Wenn schon undercover, dann richtig.

Meine freundliche Miene ist ihm Antwort genug. Er nötigt mein Gegenüber zu rutschen und lässt sich nieder. Zwar spüre ich, dass sich Herr Biedersteiner und Frau Lindner darüber wundern, aber ich ignoriere es. Bei Gelegenheit werde ich sie über meinen Inkognito-Auftrag aufklären. Aber das hat Zeit.

Ich stelle Herrn Biedersteiner, den ehemaligen Rechtsanwalt, als Staatsanwalt a. D. vor, was meinen Bekannten erneut überraschte Blicke entlockt. Aber ich denke, dass sich Franz in Gesellschaft eines Staatsanwaltes bestimmt besser benehmen wird. Darüber hinaus wähle ich als Abwehrtaktik das intensive Ausfragen. Das fällt mir zugegebenermaßen nicht schwer.

Schnell bekomme ich heraus, dass es sich tatsächlich um »meinen« Franz handelt. Der Name Schlagl ist nicht so geläufig hier in der Gegend, außerdem arbeitet er in einem Büro. Er ist »der wichtige Mann«, wie er sich ausdrückt, bei der Ilzdorf-Brauerei. Über ihn laufen alle Aufträge und Bestellungen. Damit sieht es im Moment allerdings nicht so rosig aus, verrät er mir gleich im Vertrauen und beugt sich dabei näher zu mir herüber. Dass sein Blick in meinen Ausschnitt wandert, ist wahrscheinlich nur Zufall.

»Das ist ja interessant«, hauche ich und klimpere mit den Wimpern. Langsam macht mir dieses Spiel Spaß.

Franz zieht seine Brieftasche heraus und sucht etwas. »Jetzt hab ich nur die Visitenkarten von der Brauerei dabei, so ein Mist«, meint er. »Aber das geht auch.« Er zückt einen Kugelschreiber. »Wenn'st mal eine spezielle Bestellung hast, Karin, für ein Festerl oder so, ruf mich an.« Er kritzelt seine Handynummer auf eine freie Fläche und schiebt mir die Karte mit einem Augenzwinkern rüber. »Oder wenn ich sonst was für dich tun kann.«

Der hält sich für ein Geschenk an die Frauen. Meine Herren! Ich mag solche Typen ja gar nicht, aber ich will unserer kurzen Bekanntschaft nicht gleich am Anfang den Todesstoß versetzen. Also bedanke ich mich sparsam, stecke die Karte in mein Portemonnaie und stelle die Handtasche wieder neben mich auf die Bank.

Und weiter geht es mit der Selbstdarstellung. »Ja, und seit Neuestem laufen Chinesen in unserem Betrieb herum. Das macht natürlich alle nervös. Wer weiß, ob die uns nicht übernehmen wollen.« Er schiebt die aufgekrempelten Ärmel seines Hemdes tatkräftig nach oben. »Aber selbst die Chinesen werden einen guten Mann erkennen, wenn sie ihn vor sich haben.« Er verzieht den Mund. »Ich hab da gar keine Bedenken. Mir passiert nichts.«

In diesem Augenblick legt sich eine Hand auf seine Schulter. Eine sehr gepflegte, aber dennoch männlich wirkende Hand. Schlanke, kräftige Finger mit perfekten Nägeln.

Ich lasse meinen Blick nach oben gleiten. Dabei muss ich meinen Kopf in den Nacken legen. Dieser Mensch ist stattlich zu nennen. Keine Frage.

Überrascht stelle ich fest, dass es der gutaussehende Mann ist, der mir heute Vormittag am Kirchplatz den erhobenen Daumen gezeigt hat. Und von der Nähe aus betrachtet sieht er noch besser aus. Die lederne Kniebundhose sitzt wie angegossen an seinem Körper, das weiße Trachtenhemd unterstreicht seine dezente Bräune, die dunklen Haare mit den aparten grauen Strähnen sind perfekt geschnitten. Als er lächelt, spinnen sich feine Falten um seine dunkelbraunen Augen.

»Grüß Sie Gott, Schlagl. Auch beim Anstich? Freilich, Sie sind ja immer an vorderster Front. Wie im Betrieb.« Er schlägt ihm auf die Schulter. »Und noch dazu in so charmanter Begleitung.« Er streckt mir seine Hand hin. Sie ist trocken und kühl. »Darf ich mich vorstellen: Georg Ilzdorfer.«

Oh, der George Clooney. Da hätte ich aber auch von allein draufkommen können.

»Angenehm. Karin Schneider.« Unter seinem Blick kriecht eine wohlige Wärme aus meinem Dekolleté und schleicht den Hals hinauf.

»Sie haben sich heute gut geschlagen, Frau Schneider. Die Reitmeier Rosi kann manchmal schon recht anstrengend sein.« Er hat meine Hand immer noch nicht losgelassen. Meine Handflächen pulsieren. Nun legt er auch noch seine zweite darauf. Ich bemühe mich um Gelassenheit.

»Sagen Sie, sind Sie etwa die Karin Schneider, die die Morde aufgedeckt hat?« Er neigt seinen Kopf zur Seite, und es sieht nicht im Geringsten affig aus. Wirklich!

Nun hat sich die Röte bis in meine Wangen vorgearbeitet. Ich spüre es ganz deutlich. Was soll ich darauf sagen? Ich nicke und schweige.

»Meine Hochachtung, Frau Schneider. Wirklich bewundernswert.« Er sieht mir tief in die Augen. Seine schimmern golden. Fast kann ich mich nicht auf seine Worte konzentrieren. Aber das wäre sehr schade. Denn: »Entschuldigen Sie, dass ich Sie nicht gleich erkannt habe, aber so ein Zeitungsfoto kann Ihrer wahren Schönheit nicht gerecht werden.«

Und das hört sich überhaupt nicht schmalzig an. Überhaupt nicht. Ich schwöre!

»Bei ihrer kriminalistischen Ader müssten Sie auch Waffen interessieren. Ich habe einen Revolver aus den Vierzigern bei mir zu Hause. Bei einer Versteigerung in den USA habe ich ihn vor Jahren«, er lacht auf, »nein, eher Jahrzehnten erworben. Angeblich soll er Al Capone gehört haben. Wenn Sie Lust haben, kommen Sie doch mal vorbei. Ich zeige ihn Ihnen gerne.«

Nach diesen Worten entlässt er meine Hand in die Freiheit und ich beginne wieder zu atmen. Nur am Rande bekomme ich mit, dass sich Georg Ilzdorfer verabschiedet, dem Mann hinter mir zur Begrüßung auf den Rücken klopft, sich zu ihm hinabbeugt und ein paar Worte spricht. Dann kehrt er zu seinem Tisch drei Reihen von uns entfernt zurück. Ich bin mit Abkühlen beschäftigt.

Franz richtet seinen Kragen und meint: »Das war der Chef.«

Ja, das war ein Chef. Eindeutig. Ich spähe zu ihm hinüber. Er sitzt neben seiner Frau, deren Bekanntschaft ich ja heute bei den Münchhamers aufs Herzlichste erneuert habe. Diese Bissgurk´n hat so einen Mann! Wie hat die denn das geschafft? Umgeben sind die beiden tatsächlich von Chinesen. Fünf Stück, die für mich alle ziemlich ähnlich ausschauen.

Ilzdorfer ist ein guter Gastgeber, denn seine chinesischen Gäste lächeln unentwegt und manchmal lachen sie sogar laut. Unter Umständen trägt das Festbier auch das Seine dazu bei.

Eben stellt eine sehr blonde Bedienung eine frische Runde auf dem Tisch ab. Dabei wackelt sie mit ihrem schmalen Hintern, den nur die Falten des Dirndls etwas aufpolstern, und schäkert mit Ilzdorfer. Kein Wunder, so wie der Mann aussieht. Sie legt sogar ihre Hand auf seinen Oberarm und beugt sich so weit nach vorne, dass er sicherlich einen guten Einblick in ihr Dekolleté hat. Seine Frau beachtet dieses Spielchen gar nicht, sondern sieht demonstrativ in die andere Richtung. Die beste Vorgehensweise in solch einer Situation. Die aufdringliche Bedienung bleibt lange am Tisch stehen, kichert über etwas, was Ilzdorfer zu ihr sagt, und wiegt ihre Hüften hin und her. Als dann aber die Rufe nach Bier an den Nebentischen immer lauter werden, verabschiedet sie sich unwillig.

»I kimm ja scho!«, schreit sie und eilt davon. Ilzdorfer wendet sich wieder seinen Begleitern zu.

Am Rand der Gruppe sitzt eine junge, hübsche Frau. Kurze hennagefärbte Strubbelhaare und ein zartes Elfengesicht. Ob das die Haushälterin ist? Mit der Ilzdorfer ein Verhältnis hat? Eifersucht flammt in mir auf. So schnell geht das bei mir. Karin, komm runter!, denke ich mir. Bis heute wusstest du überhaupt nichts von seiner Existenz. Es ist nicht dein Problem, wenn er seine Frau mit dieser Elfe betrügt.

Sie lächelt quer über den Tisch zu ihm hinüber und sieht dabei einfach bezaubernd aus. Ein Brennen sticht in meinen Magen. So hinreißend kann man nur mit dreißig noch sein – ich also in diesem Leben nicht mehr. Ich schlucke den bitteren Geschmack dieser Erkenntnis hinunter.

Langsam werde ich gewahr, dass Franz mit mir redet. Ich lenke meine Aufmerksamkeit resigniert auf ihn.

»Gleich gibt's Ärger, hab ich gesagt.« Franz beißt seine Kiefer aufeinander, dass die Muskeln an seinen Schläfen hervorspringen.

»Wie bitte?« Von was redet der Mann?

Franz weist mit dem Kopf schräg hinter mich. »Da, der Zauner Michael.«

Ich will mich umdrehen, werde aber im selben Moment heftig nach vorne gestoßen. Au, tut das weh! Frau Lindner beugt sich zu mir und legt beschützend ihren Arm um meine Schultern.

Gleichzeitig schreit der Typ hinter mir. Ängstlich drehe ich mich um. Ein kleiner bulliger Mann schraubt sich aus der Bank und steht mit geballten Fäusten da. Den quadratischen Schädel hat er wie zum Angriff gesenkt. Sein Ziel ist der Benedikt Venus, einer der größten Pferdebauern hier in der Gegend. Er organisiert das Rottaler Rodeo, das dieses Jahr zum ersten Mal stattfindet. Ich kenne ihn, denn Vicky, meine Jüngste, nimmt bei seinem Sohn Tim Reitunterricht. Eigentlich ein besonnener Mann. Ich finde es seltsam, dass er in eine Streiterei verwickelt ist.

Der andere brüllt jetzt. Ich verstehe kein Wort von dem, was er da von sich gibt. Sein Niederbayrisch ist von Alkohol und Wut zerfressen. Da muss ich passen. Venus murmelt beschwichtigende Worte, aber das scheint den anderen nur noch mehr zu reizen. Ich habe Angst, dass jeden Moment eine Schlägerei losbricht. Die flüchtige Überlegung, ob Franz mir dann beistehen würde, streift mein Bewusstsein. Da hab ich meine Zweifel. Eher schon Herr Biedersteiner.

Nun drängt sich jemand zwischen die beiden und redet auf den Bullen ein. Den kenne ich auch! Max Huber, ein gutgebauter Mittdreißiger, der immer braun gebrannt ist, seit er Bademeister im Freibad geworden ist. Er war mir eine große Hilfe, um den früheren Landrat zur Strecke zu bringen. Ich sage es ja, auf dem Karpfhamer trifft man alle!

»Dieser Zauner macht nur Schwierigkeiten«, mischt sich Franz in meine Gedanken ein. Er spricht hinter vorgehaltener Hand, damit der Stier ihn nicht hört. »Immer besoffen. Seine Frau kann einem leidtun.«

»Seine Frau?«, flüstere ich zurück. Wie kann man mit so einem überhaupt noch verheiratet sein?

»Ja, die Bedienung, die danebensteht. Das ist seine Frau. Vielleicht hat der Venus zu lange mit ihr geredet. Oder ihr zu viel Trinkgeld gegeben. Was weiß ich!«

Die Bedienung, ein dünnes Weiblein, beobachtet mit eingezogenem Kopf, wie sich ihr Mann gebärdet. Ihre abgearbeiteten Hände hat sie vor dem Bauch gefaltet, so als ob sie beten würde. Ihr Mund bewegt sich unablässig, ohne dass ein Ton zu hören ist.

Das überrascht nicht, denn dieser Zauner brüllt immer mehr. Max redet auf ihn ein, Venus macht abwiegelnde Gesten. Aber es hilft alles nichts. Das Gesicht des Mannes sehe ich nicht, aber sein Hals hat inzwischen eine ungesunde rote Farbe und er selbst zittert so stark, als ob er jeden Augenblick explodieren würde. Vielleicht sollte ich vorsichtig aufstehen und mich aus der Gefahrenzone bringen?

Da eilt ein Mann vom Ausschank herbei. Eine grüne Schürze umspannt seinen gewaltigen Bauch, den er wippend vor sich herträgt. Energisch streicht er sich über seinen schwarzen Schnurrbart, bevor er die Bedienung zur Seite schiebt, damit er näher heran kann. So muss ein Wirt aussehen, denke ich mir.

»Ist das der Zauner-Wirt?«, frage ich Franz.

»Freilich, was hast du gedacht? Der ist der Einzige, der seinen Bruder zur Räson bringen kann.«

Seinen Bruder? Na klar. Der Zauner Michael ist natürlich mit dem Zauner-Wirt verwandt. Logisch.

Der Wirt stellt sich nahe vor seinen Bruder, legt eine Hand auf seine Schulter und redet leise auf ihn ein.

Ich beobachte, wie der Michael unter den Worten seines Bruders kleiner wird. Fast so, als würde er schmelzen. Bald ist vom rasenden Stier nichts mehr übrig geblieben, kraftlos sinkt er auf seinen Platz zurück.

Der Wirt nimmt einer vorbeieilenden Bedienung eine Mass ab und stellt sie seinem Bruder hin. Ein letztes Schulterklopfen, dann schickt der Wirt seine Schwägerin mit einer Kopfbewegung wieder an die Arbeit. Mit den Händen in deren Rücken führt er Venus und Max freundlich ratschend weg. Die beiden setzen sich auf die andere Seite des Zeltes. Ich sehe, wie der Wirt auch sie mit zwei Mass versorgt und sich mit einem Nicken verabschiedet.

»Na, das war ja knapp«, meint Herr Biedersteiner. »Ich hoffe, dass er jetzt ruhig bleibt.« Er wirft einen misstrauischen Blick auf den Störenfried. Auch ich vergewissere mich, dass hinter mir alles friedlich ist. Michael Zauner hängt über seinem Bierkrug und rührt sich nicht. Na gut.

»Ist der immer so?«, wispere ich.

Franz zieht eine Grimasse. »Oft. Ab und zu gibt ihm der Ilzdorfer einen Job bei uns, aber das macht auch mehr Arbeit, als dass es etwas bringt.« Er zuckt mit den Schultern. Franz ist mit dem Thema durch. Er tippt mich am Arm an. »Was ich dich noch fragen wollte ...«

Ich wedle mit der Hand. »Gleich. Ich will nur schnell mal wohin.« Da die Gefahr nun vorbei ist, macht sich ein natürliches Bedürfnis drängend bemerkbar. Schließlich habe ich meine Mass fast schon geleert. Ich stemme mich hoch und muss mich kurz am Tisch festhalten. Hui, ich bin echt nichts gewöhnt!

Darauf bedacht, gerade zu gehen, stolziere ich den Gang zwischen den Tischen entlang. Mit jedem Meter wird es besser. Ich atme tief durch und orientiere mich. Da ist das Schild, das zum stillen Örtchen weist. Und darunter steht der Zauner-Wirt, die Arme verschränkt, und überblickt sein Reich.

»Das haben Sie ja prima hingekriegt.« Ich kann es mir nicht verkneifen, ihn anzusprechen. Und mit ein bisschen Alkohol im Blut klappt es gleich noch mal so gut. Nebenbei registriere ich, dass seine tief schwarzen Haare bestimmt gefärbt sind.

Der Wirt beugt sich zu mir herüber. »Wie bitte?«

Ich zeige zu seinem Bruder. »Na, dass Sie eine Schlägerei verhindert haben. Ich hatte schon die größten Befürchtungen.«

Zauner winkt ab. »Das war nichts. Der Michi reagiert nur manchmal über. Das gibt sich schnell wieder.«

»Dann ist es ja gut«, meine ich und sehe Richtung Ausgang. Draußen ist es schon dunkel, aber die Lichter des Festes erhellen alles, auch die nähere Umgebung. Rosis Haus, das hinter ihrer großen Wiese zu erkennen ist, wird ebenfalls angestrahlt. Ich bilde mir ein, sie an ihrem Zaun stehen zu sehen. Schon wieder. Diese Frau!

»Da drüben haben Sie ja den nächsten Problemfall.« Ich weise mit der Hand Richtung Rosis Haus.

Der Wirt runzelt die Stirn. »Was meinen S'?«

»Na, die Reitmeier Rosi. Die wettert doch seit Jahren gegen das Fest und speziell gegen Sie.«

Zauner lacht auf. »Geh, die Rosi. Das interessiert doch keinen. Was kann die schon sagen? Dass ich Bier pantsche? Oder dass meine Bedienungen Drogen in den Kartoffelsalat mischen?« Er ist sichtlich amüsiert.

»Nein, aber, dass Sie Rosis Katzen vergiften und einen Handtaschendiebesring organisiert haben.« Ich merke selber, wie hirnrissig es sich anhört, wenn man es ausspricht. Trotzdem würde ich an seiner Stelle nicht so entspannt reagieren, wenn mir jemand solch einen Blödsinn nachsagt.

Doch auch das kann die gute Laune vom Zauner nicht verderben. Er zeigt in die Runde. Das Zelt ist bis auf den letzten Platz besetzt. »Das sieht nicht so aus, als ob sich einer um ihr Gerede scheren würde, ha? Ich kenn die Rosi schon seit der Kindheit. Wir waren zusammen in der Grundschul. Die war immer schon anders als die anderen. Und mit dem Alter werden die Weiberleut nicht einfacher.« Er tätschelt süffisant lächelnd meinen Arm und lässt mich stehen.

Okay. Dann nicht. Dann kümmere ich mich jetzt um meine eigenen Angelegenheiten. Und zwar schleunigst.

 

***

 

Als ich zu unserem Tisch zurückkehre, sehe ich, dass der Zauner Michael verschwunden ist. Sehr gut. An seiner Stelle sitzen zwei junge Mädels in knallbunten Dirndln, beide mit ihren Handys in der Hand.

Die Musik im Zelt ist inzwischen noch lauter geworden. Ich lasse mich neben Frau Lindner nieder und versuche, das Gesprächsthema meiner drei Bekannten aufzuschnappen. Ah ja. Das Rottaler Rodeo. Die Neuheit auf dem Karpfhamer dieses Jahr. Sie rätseln, ob es tatsächlich stattfinden wird. Da kann ich ihnen weiterhelfen.

»Ja, wird es«, werfe ich einfach in die Diskussion und habe damit ihre Aufmerksamkeit. »Die Vicky geht am Samstagvormittag auf den Venushof und hilft beim Herrichten und bei der sonstigen Stallarbeit, die sonst liegenbleiben würde.« So ein bisschen stolz bin ich schon auf meine Tochter. »Und um fünfzehn Uhr, nach dem Zehnerzug, ist dann die Vorführung. Bin schon gespannt.«

»Wieso gibt es plötzlich ein Rodeo auf dem Karpfhamer?«, fragt Frau Lindner. »Das ist doch was Amerikanisches, oder nicht?«

Ich möchte gerade zu einer Erklärung ansetzen, aber Franz kommt mir zuvor.

»Da weiß ich Bescheid«, schmettert er und wirft sich in Positur. »Der Benedikt organisiert das, weil er selber ein halber Amerikaner ist.« Er lacht über die erstaunten Gesichter seiner Zuhörer.

»Der Venus war als junger Mann ein Jahr in Texas«, schiebe ich ein. Diese Effekthascherei vom Franz stört mich.

»Und da hat er nicht nur Rodeos, sondern auch seine Frau kennengelernt«, drängelt sich Franz wieder vor. »In Vegas hat der die Mary dann geheiratet und sie ist mit ihm nach Niederbayern gekommen. Weil sie hier einen Reiterhof fürs Westernreiten aufbauen wollten. War ein bisserl schwer am Anfang, weil sie ja kein Deutsch gekonnt hat. Und erst recht kein Bayrisch. Aber dann ist der Tim auf die Welt gekommen und alles war paletti, haben wir gedacht. War aber nicht so. Sie hat solches Heimweh gekriegt, die Mary, dass sie wieder zurück ist nach Texas. Der Bene hat sie nicht aufgehalten. Nur den Tim wollte er nicht hergeben, und so hat er den Westernstall und seinen Sohn allein aufgezogen.«

Frau Lindner und Herr Biedersteiner haben ihm aufmerksam zugehört. »Und warum macht er heuer ein Rodeo auf dem Karpfhamer?«, nimmt Frau Lindner ihre Ausgangsfrage wieder auf.

»Mei, es hat einige Zeit gedauert, bis die Zuständigen einverstanden waren«, meint Franz. »Der Benedikt hat immer gesagt, wenn es schon einen Stier von Pocking‹ gibt, muss der auch auf dem Karpfhamer zu sehen sein.«

Da die beiden seinen Witz nicht verstanden haben, springe ich bei. »›Der Stier von Pocking‹ ist ein Buch vom Wugg Retzer. Einem Journalisten von der Süddeutschen. Es ist eine Anthologie mit niederbayerischen Geschichten. Sozusagen ein Klassiker. Und ein Wirtshaus hieß auch so, aber das wird der Franz nicht gemeint haben.«

»Dann reitet der Herr Venus also auf einem Stier?«, fasst Herr Biedersteiner unsere ausschweifenden Erklärungen zusammen.

»Genau«, sagen wir beide wie aus einem Mund.

»Aber das ist erst der Anfang«, füge ich an. »Wenn das Rodeo gut ankommt, wird es nächstes Jahr ausgeweitet. Dann wird auch ein Kalb eingefangen und –«

»Das breakaway calf roping“, trumpft der Franz mit dem Fachbegriff auf, allerdings in einem Englisch mit markantem bayerischen Akzent.

»Ja, richtig.« Ich frage mich, woher er dieses Insiderwissen hat. Mich hat Vicky seit Wochen damit zugetextet. »Und zum Abschluss soll ein Rettungsrennen ausgetragen werden.« Neugierig schaue ich zu ihm hinüber, ob jetzt auch wieder der amerikanische Ausdruck kommt, und werde nicht enttäuscht.

„Das rescue race.“

Ich nicke. »Ein Cowgirl reitet zu seinem Cowboy und er muss aufspringen. Das Paar, das am schnellsten ist, hat gewonnen. Aber das ist noch Zukunftsmusik. Da gibt es dann auch eine Ausschreibung und die Leute können sich anmelden. Die Vicky träumt davon, nächstes Jahr mitzumachen.«

»Das ist ja interessant«, meint Herr Biedersteiner. »Dann sollten wir uns das übermorgen nicht entgehen lassen, nicht wahr, Trude?«

»Auf keinen Fall, Bernhard«, stimmt sie ihm zu. Sie nimmt seine Hand und drückt sie. Ist es nicht wunderbar, wenn man auch noch im fortgeschrittenen Alter die Liebe finden kann? Da springt sofort meine sentimentale Seite an.

»Wer ist eigentlich Vicky?«, fragt Franz und klingt, wenn ich es in diesem Trubel richtig einschätzen kann, ein wenig misstrauisch. Nun heißt es aufpassen, wenn meine Tarnung nicht auffliegen soll.

»Woher kennst du dich eigentlich so unglaublich gut im Rodeo aus?«, versuche ich ihn mit einer Schmeichelei abzulenken.

»Ach, ich kenn den Venus schon ewig. Wir schafkopfen immer am Donnerstag im Lebzelter. Und wer ist jetzt die Vicky?«

Ich tue so, als ob ich ihn nicht gehört hätte, und fische stattdessen nach meiner Tasche, die von der Bank gerutscht sein muss.

»Wollen wir hier mal raus?«, frage ich und verschwinde mit meinem Kopf halb unter dem Tisch. Irgendwo hier muss sie doch sein! Ich ertaste ein kaltes Schweinswürschtel und eine Serviette, aber keine Handtasche. Das gibt's doch nicht!

»Suchen Sie etwas, Frau Schneider?« Herr Biedersteiner hat mich beobachtet.

Ich stehe auf. »Meine Handtasche. Die muss mir von der Bank gefallen sein.« Wieder tauche ich ab. Als sich auch noch Herr Biedersteiner, Frau Lindner und Franz erheben und mir beim Suchen helfen, wir die Nachbartische abklappern und die Bedienungen fragen, ist irgendwann klar: Die Tasche ist weg. Gestohlen!

Ich schlage mir die Hand vor den Mund. Mein Gott! Was da alles drin war! Mein Geldbeutel mit Bank-, Kredit- und Krankenkassenkarte, mein Personalausweis, mein Handy, mein Autoschlüssel, mein Haustürschlüssel. Von diversem Kleinkram nicht zu reden.

So ein Megamist!

»Da müssen Sie zur Polizei, liebe Frau Schneider«, rät mir Herr Biedersteiner. Ich starre ihn an und erinnere mich augenblicklich an die anderen Gelegenheiten, bei denen er mir diesen Satz gesagt hat. Und immer ist es ein sinnloser Rat gewesen, weil die Polizei nicht helfen konnte. Oder wollte.

Aber es hat keinen Sinn, sich dagegen zu sträuben. Wenn ich wenigstens eine klitzekleine Chance haben möchte, meine Habseligkeiten wiederzubekommen, muss ich Anzeige erstatten.

»Okay. Ich gehe. Hier ist doch irgendwo auch eine Station auf dem Festgelände, oder?«

»Ja, direkt beim Eingang. Sollen wir Sie begleiten?« Frau Lindner sieht mich besorgt an.

Ich schüttele den Kopf. »Nein, nein. Das schaff ich schon allein.« Ich reiche ihnen die Hand. »Wir laufen uns hier bestimmt noch mal über den Weg. Spätestens übermorgen beim Rodeo. Franz, servus, war nett.« Ich wende mich zum Gehen. Um ihn kann ich mich jetzt wirklich nicht mehr kümmern.

»Warte.« Franz springt auf und drückt mir zwei Abschiedsbusserl auf die Backen. »Denk an meine Nummer auf der Visitenkarte. Falls du unsere Bekanntschaft vertiefen willst«, sagt er – und zwinkert mir zu.

Innerlich aufstöhnend tätschle ich seine Schulter und gehe.

 

***

 

Jetzt ist mir doch tatsächlich meine Handtasche gestohlen worden! Das darf doch gar nicht wahr sein. Aber wir haben alles abgesucht. Die ist weg. Futsch. Ich hätte besser auf sie aufpassen müssen. Sie am Arm lassen. Oder mich draufsetzen. Hab ich sie auf dem Klo dabeigehabt? Ich überlege angestrengt. Nein. Ich glaube nicht. Wie konnte ich nur so dumm sein!

Ich zwänge mich durch die Bierzeltbesucher und weiche Bedienungen aus, die mit vollbeladenen Tabletts durch die Gänge sausen. Das Gedränge macht mich aggressiv. Ich habe es eilig! Kurz vor dem Ausgang des Zeltes versperrt mir ein gewaltiger Bauch in Grün den Weg. Der Zauner-Wirt.

»Pardon.« Er tritt zur Seite und macht mir Platz. Dann erkennt er mich. »Gehen S' schon?«

Der kommt mir gerade recht. »Ich wäre gerne länger geblieben«, sage ich und stemme meine Hände in die Seite. »Dann wurde mir allerdings meine Handtasche gestohlen. Hier. In Ihrem Zelt.« Meine Augen verengen sich zu Schlitzen. »Genau wie Rosi gesagt hat.«

»So ein Pech«, antwortet er geschäftsmäßig. Er zeigt mit seinem dicken Daumen nach hinten. Und da steht er doch in der Tat wieder unter einem passenden Schild: »Für Diebstähle wird nicht gehaftet.«

 

***

 

Auf der Polizeistation ist ein Mordsauflauf. Ein G'schmackl aus Schweiß und Bierausdünstungen wabert durch den Raum. In einer Ecke liegt eine junge Frau auf einer Trage. Sie ist sehr blass im Gesicht. Sanitäter kommen herein, nehmen die Bahre auf und tragen sie hinaus. Dafür liefern Sicherheitskräfte zwei eindeutig stark angetrunkene Burschen an. Die werden zu den drei anderen Besoffenen, die vor sich hin rülpsen, auf eine Bank gesetzt. Einer von ihnen gibt gerade sein Bier wieder von sich. Das ist das Startzeichen für die anderen. Ich halte die Luft an und schaue woandershin.

Eine dunkelhaarige Frau redet auf einen Beamten ein. Wie sollte es anders sein? Sie vermisst ebenfalls ihre Handtasche.

»Entschuldigen Sie«, mische ich mich in ihre Schilderung ein. »Mir ist auch die Tasche gestohlen worden. Im Zauner-Zelt. Waren Sie auch im Zauner-Zelt?«

Vielleicht hat Rosi doch recht und der Zauner betreibt einen organisierten Handtaschendiebstahl!

Sie sieht mich verwirrt an. »Nein, ich saß in der Sternsteinhof-Hüttn.« Dann dreht sie sich wieder zu dem Polizisten um.

Es dauert eine Weile, bis jemand für mich Zeit hat. Der junge Beamte, den ich an Rosis Gartenzaun kennengelernt habe, nimmt meine Anzeige auf. Polizeimeister Riedl. Ob ich was beobachtet hätte?

Darüber habe ich auch schon die ganze Zeit nachgedacht. »Na, der Zauner Michael saß hinter mir«, tue ich das Ergebnis meiner Überlegungen kund.

»Ja, und?« Er sieht mich mit leicht vorstehenden Augen an. Die sind schon auffällig. Er sollte sich mal die Schilddrüse untersuchen lassen.

Ich zögere. Manchmal muss man auch was riskieren. »Na ja, man erzählt sich, dass der Zauner einen Handtaschendiebesring in seinem Zelt aufgezogen hätte, und der Bruder könnte der Handlanger sein.« Jetzt ist es heraus.

Der Polizist schaut mich verblüfft an.

Vielleicht war es gut, dass ich es gesagt habe. Manchmal sieht man ja das Naheliegende erst, wenn einen ein anderer darauf hingewiesen hat.

Er fängt jedoch zu lachen an.

Ich schnaufe.

Er hört gar nicht mehr auf damit. Erbost schaue ich ihm beim Lachen zu.

Endlich beruhigt er sich wieder. »Frau, äh …« Der Beamte sieht auf das Blatt vor ihm. »Frau Schneider, meinen Sie nicht, dass es für einen Wirt sehr ungünstig wär, in seinem eigenen Zelt kriminelle Handlungen zu begehen, noch dazu durch seinen eigenen Bruder?« Seine Augen batzeln noch ein bisschen weiter raus.

Ich verziehe meinen Mund. Dann halt nicht.

»Solche Banden, wie Sie sie im Sinn haben, kommen meist aus Tschechien oder Polen. Die fallen einen Tag über das Fest her, klauen wie die Raben und verschwinden dann wieder.« Seinen mitleidigen Blick, der an mir klebt wie Kaugummi, kann er sich sparen. Ich bin nicht so minderbemittelt, wie er womöglich gerade denkt.

Er ist mit seiner Rede allerdings noch nicht fertig. »Und wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf: Lassen Sie solche Verdächtigungen. So ein Tatbestand der üblen Nachrede ist schnell erfüllt. Das sag ich der Reitmeier Rosi auch immer, wenn sie alle zwei Tage aufs Revier kommt und den Zauner anzeigen will.«

»Ist ja gut. Ich wollte ja nur zur Aufklärung beitragen.« Beleidigt reiße ich die Bestätigung meiner Anzeige an mich und stapfe aus dem Polizeigebäude.

 

***

 

Und mein Glück hält an. Kaum bin ich draußen, spüre ich die ersten Regentropfen auf meinem Kopf.

Eigentlich wollte ich noch mal ins Zelt schauen, ob wir doch was übersehen haben. Ich wende mich in Richtung Zauner-Zelt, da donnert es und – platsch – klatscht eine ganze Ladung Wasser vom Himmel runter. Von jetzt auf gleich schüttet es wie aus Eimern und ich bin innerhalb von Sekunden tropfnass. Die Leute um mich herum rennen zu ihren Autos. Das würde ich jetzt auch gerne gemachen, aber ich habe ja keinen Autoschlüssel mehr.

Schon bilden sich die ersten Pfützen. Das geht hier schnell. Der Boden ist hart, da läuft das Wasser nicht ab. Vor einigen Jahren hat es so viel in so kurzer Zeit geregnet, dass die Parkplatzwiesen unter Wasser standen und die Autos teilweise absoffen. War ein nettes Foto in der Zeitung – wenn es einen nicht selber betroffen hat.

Meine Frisur, die mich heute Nachmittag eine halbe Stunde vor dem Spiegel gekostet hat, löst sich auf und nasse Strähnen gleiten über meine Stirn, um sich vor meinen Augen zu ringeln. Ich wische sie ärgerlich fort. Himmelherrgott, das darf doch alles nicht wahr sein!

Unschlüssig drehe ich mich im Kreis. Was soll ich machen? In einem Zelt Zuflucht suchen? Aber das ist, so nass wie ich inzwischen bin, auch umsonst. Ob hier jemand herumläuft, der mich mitnehmen kann? Ich blicke in die Gesichter der Menschen, die eilig an mir vorbeihasten. Die Frauen, die ihre Handtaschen noch haben, halten sie als Regenschutz über den Kopf. Niemand, den ich kenne. Ich drehe mich weiter und überdenke meine Möglichkeiten. Der Taxistand ist verwaist. Natürlich sind alle Taxis bereits weg. Da hätte ich schneller sein müssen. Mensch! Warum ich?

Ungestüm stapfe ich mit dem Fuß auf, um mich aus meinem Selbstmitleid zu befreien. Klappt auch ganz gut, denn mein Absatz bricht ab und ich bin stante pede wütend. Ich hebe ihn auf und schmeiße ihn mit aller Kraft in die Regenwand.

Das bedeutet also, nach Hause zu humpeln. Das Gewitter kracht über mir. Blitze erleuchten den Regen. Es fehlt nur noch, dass mich einer davon erschlägt. Ich ziehe den Kopf zwischen die Schultern und verschränke meine Arme vor der Brust. Ich hasse Gewitter. Außerdem wird mir langsam kalt. Ich habe fünf Kilometer Fußmarsch vor mir und sollte mich auf den Weg machen, wenn ich heute noch zu Hause ankommen will. Jetzt ist es halb elf.

Holprig geht es voran. Als ich mich Rosis Haus nähere, denke ich, ich sehe nicht recht. Da steht tatsächlich dieses Weib noch am Gartenzaun. Was macht sie da?

Ich hinke auf sie zu. Der Regen fließt über mein Gesicht und platscht auf den Weg. Trotzdem, ich bin mir nicht sicher, aber ja, Rosi redet. Steht an ihrem verdammten Zaun, hält den Kopf starr geradeaus und brabbelt vor sich hin. Ist sie jetzt komplett verrückt geworden?

»Rosi?« Ich habe sie fast erreicht. Sie reagiert nicht. Was sie sagt, kann ich nicht verstehen. Ich bleibe direkt neben ihr stehen und stupse sie in den Arm. »Rosi? Hey!«

»Mimi, Blessi, Peterl, Bazi, Schwarza, Striezi, Loisl, Graua, Burli, Kopferl, Tratschn, Oide, Wuide, Kloane, Tiga, Sockn, Bussal, Engerl ...« Diese Namen wiederholt sie ohne Unterlass.

»Rosi. Du musst reingehen. Es regnet«, versuche ich sie zu erreichen. Keine Chance.

Mit sanfter Gewalt löse ich ihre Finger von den Zaunlatten. Sie sind eiskalt. Ich schiebe Rosi vom Gartentor weg, öffne es und gehe hinein. Steif steht sie da und murmelt die Namen ihrer Katzen. Ich nehme sie bei den Oberarmen und führe sie zu ihrem Haus.

Neben der Haustür wächst ein eindrucksvoller Holunderbusch. Er ist bestimmt schon sehr alt, denn die Stämme sind enorm dick und die Krone reicht bis zum ersten Stock.

Unter dem Busch ragen kleine Holzkreuze aus der Erde. Die letzten Ruhestätten ihrer Katzen. Sie hat mir damals in den Gesprächsterminen erzählt, dass sie ihre Lieblinge unter dem Hollerbusch begräbt. Dort sind sie immer bei ihr. Im Laufe der Jahre ist eine beachtliche Anzahl zusammengekommen. Das frische Grab von Mimi liegt fast neben dem Fußweg zum Gartentor. Es gibt noch kein Kreuz mit Namen. Daneben ist dem Anschein nach ein uraltes, denn das Holz ist bereits ziemlich verwittert. Ein Stück entfernt liegt ein Kreuz umgeknickt und ein dunkles Etwas verdeckt es halb. Ich kneife die Augen zusammen. Ist das …? Nein, das kann nicht sein. Ich werde es mir später anschauen. Erst bringe ich mal Rosi ins Bett.

Die Haustür ist nur angelehnt. Ich stoße sie ganz auf und vor uns erscheint ein Stück dunkler Flur. Instinktiv taste ich nach dem Lichtschalter, spüre aber nur ein seltsames Ding unter meinen Fingern. Sie wissen jedoch, was sie damit anfangen sollen, drehen das Mittelteil herum und es wird hell.

Wie eine Aufziehpuppe geht Rosi vor mir her, wendet sich nach rechts und verschwindet in der Küche. Ich folge ihr und mache Licht. Auch hier gibt es diesen altertümlichen Drehschalter, den ich bislang nur aus dem Manufaktumkatalog kannte.

Rosi hantiert bei der niedrigen Anrichte herum, nimmt einer Schlafwandlerin gleich ein Schnapsglas aus dem Küchenbuffet, entkorkt eine Flasche, gießt sich von dem schwarzvioletten Inhalt ein, legt eine Tablette in ihren Mund und trinkt. Dann füllt sie das Glas nochmals und leert es wieder in einem Zug. Den Kopf weit nach hinten gelegt. Ein drittes folgt.

Im Umdrehen stellt Rosi das Glas ab und schlurft an mir vorbei. Ich folge ihr. Mit gleichmäßigen Bewegungen schreitet sie die Holztreppe nach oben und biegt in ihr Schlafzimmer ein. Ein karger Raum mit einem schmalen Bett und einem Schrank. Nur noch schwach klopfen die Regentropfen gegen das winzige Fenster. Das Gewitter verzieht sich. Ich helfe Rosi, sich auszuziehen und das Nachthemd überzustreifen. Still legt sie sich ins Bett und schließt die Augen. »Mei Kopf, mei Kopf«, jammert sie noch, dann ist sie eingeschlafen.

»Gut Nacht, Rosi«, flüstere ich und bekomme keine Antwort mehr. Ich gehe hinaus und lösche das Licht. Dabei sehe ich, dass über dem Lichtschalter ein kleines Weihwasserbecken aus Messing hängt. Ich greife mit zwei Fingern hinein, sie werden nass, und ich bekreuzige mich. Das ist so über mich gekommen. Es kann nicht schaden.

Ich schleiche die Treppe nach unten und beeile mich, aus dem Haus zu kommen. Es ist mir unheimlich. Diese alten Bauernhäuser … Sie haben so viel Leid miterlebt, bestimmt auch Freude, aber irgendwie habe ich das Gefühl, mehr Leid. Das ist in ihr dunkles Holz eingedrungen und das atmen sie – vor allem in der Nacht – wieder aus. Nein, ich will hier raus.

Ich ziehe die Haustür zu und eile zum Gartentor. Halt. Nein. Ich will mir ja noch das Ding unterm Hollerbusch ansehen.

Der Regen hat tatsächlich nachgelassen, eine positive Entwicklung. Ich trete auf die durchweichte Wiese und gehe die paar Schritte zum Busch, beuge mich hinunter und erstarre. Das gibt's doch nicht! Da liegt meine Tasche! Ich reiße sie an mich. Ohne Zweifel. Das ist sie. Wie kommt sie denn dahin?

Hat Rosi sie gestohlen, um den Verdacht auf den Zauner zu lenken? Aber dann hätte sie ja im Zelt sein müssen, und da hätte ich sie bestimmt bemerkt. Hundertprozentig. Außer, na ja, wenn sie in der Zeit gekommen wäre, als ich auf dem Klo war. Allerdings hätten meine Bekannten sie gesehen und mir sicherlich etwas davon gesagt. Nein, dass Rosi etwas damit zu tun hat, ist unwahrscheinlich. Es muss jemand anderes die Tasche geklaut haben. Also doch der Zauner Michael? Polizei hin oder her. Der Riedl ist auch nicht allwissend. Vielleicht hat Rosi was beobachtet. Da muss ich sie gleich morgen ausfragen. Und dem Zauner Michael fühl ich auch noch auf den Zahn.

Ich richte mich auf und öffne die Tasche. Handy, Autoschlüssel, Haustürschlüssel, Geldbeutel, alles da. Unglaublich. Ich durchsuche mein Portemonnaie. Das Geld ist weg. Zweihundert Euro. Autsch. Aber sonst fehlt nichts. Alle Karten stecken in ihren Fächern. Mein Ausweis. Unglaublich!

Ich wandere kopfschüttelnd aus dem Garten. Jetzt muss ich nicht die ganze Strecke nach Kirchmünster mit meinem kaputten Schuh humpeln, sondern kann mit dem Auto zurückfahren. Wie schön. Plötzlich schüttelt es mich durch. Mir ist saukalt. Hoffentlich habe ich mich in den nassen Klamotten nicht verkühlt, dafür bin ich anfällig. Ich sollte schauen, dass ich endlich nach Hause komme.

Auf dem riesigen Parkplatz steht mein Kangoo und wartet auf mich. Die Straßen sind leer. Der Regen hat aufgehört. Flott düse ich Richtung Heimat.

Als ich auf halber Strecke beim Kirchmünsterer See vorbeikomme, reißt die Wolkendecke auf und der Vollmond lugt hervor. Sein Licht spiegelt sich auf der sanft gekräuselten Oberfläche des Wassers. Die Büsche und Bäume am Ufer sind nur als schwarze Umrisse zu erkennen. Ich fahre langsamer und bewundere die Nachtlandschaft. So ein Bild müsste Isabell malen, denke ich mir. Da sehe ich das Auto. Einsam steht ein dunkles BMW-Cabrio am See. Das Dach geschlossen. Da hatte noch jemand Lust auf einen Spaziergang. Oder brauchte ein Liebespaar ein heimliches Versteck?

2. – Freitag

 

Beim Frühstück blättere ich die Passauer Neue Presse durch. Wie erwartet gibt es unter »Bad Griesbach/Kirchmünster/Karpfham« eine ganze Seite mit Fotos und Berichten vom Anstich auf dem Karpfhamer. Der Bürgermeister beim Anzapfen, die Menschenmassen in den Budengassen, ein kleines Mädchen mit einem Delphin-Luftballon. Ha! Wer ist das? Der Max Huber, der gestern versucht hat, den Zauner Michael zu beruhigen, als der sich mit dem Venus angelegt hatte. Ich glaube es nicht! Er steht hinter dem Mädchen, hält das ganze Paket Schnüre der glitzernden Kinderträume in der Hand und schaut lächelnd auf die Kleine. Ist er jetzt unter die Luftballonverkäufer gegangen?

Im Bericht selbst lese ich weiter unten eine Warnung der Polizei. Schon am ersten Tag sei es zu Zwischenfällen mit K.-o.-Tropfen gekommen. Außerdem seien zwei Handtaschen gestohlen worden. Ja, das kann ich bestätigen. Die Polizei rät zur vermehrten Achtsamkeit. Soll ich denen sagen, dass meine Tasche wieder aufgetaucht ist? Nein, erst mal muss ich mit der Rosi reden.

Die Küchentür fliegt auf und Vicky kommt herein. Wie immer ist sie das Erste der Kinder, das in den Ferien aus dem Bett springt. Je älter sie werden, desto länger schlafen sie. Linus muss ich manchmal um halb eins zum Mittagessen aus dem Bett stauben.

Aber meine Jüngste gehört noch zu den Frühaufstehern.

»Hey, Mama. Wie war's gestern?«, fragt sie und holt sich den Toast aus dem Kühlschrank.

Ich gebe ihr einen kurzen, kindgerechten Abriss. Sie ist an den richtigen Stellen entrüstet, lacht aber auch bei der Vorstellung, wie ich mit einem abgebrochenen Absatz durch Karpfham gehumpelt bin. Noch kommen die Emotionen ungefiltert aus ihr heraus.

»Was sind das für Handschuhe?« Ich halte ein paar ausgebeulte Dinger in die Höhe, die auf dem Boden neben der Küchentheke gelegen sind.

»Die gehören Stefan. Der macht fei Parcour, das ist voll cool.« Vickys Augen glänzen.

»Parcour?« Was ist das Neumodisches?

»Ach, Mama, das kennst du. Da klettert man durch die Stadt. Also überall hinauf und hinunter, was es da so gibt. Über Geländer, Hausmauern, Aschentonnen. Das ist echt cool. Stefan sagt, er möcht noch beim so einem Profitypen in New York einen Workshop machen. Aber ich find ja, der Stefan kann das jetzt schon super«, schwärmt sie. »Mir bringt er es auch bei, hat er gesagt.«

»Okay …« Ich weiß noch nicht, ob ich damit wirklich einverstanden bin. »Ist das nicht gefährlich?«

»Schmarrn.« Vicky wackelt missbilligend mit dem Kopf. »Auch nicht gefährlicher als Reiten.«

Stimmt, darüber bin ich ebenfalls nicht glücklich. Aber man kann seine Kinder ja nicht in Watte packen.

»Wo wohnt denn der Stefan?«, frage ich.

»In Kirchmünster, Pillhamer Straße siebzehn«, antwortet sie wie aus der Pistole geschossen.

»Dann bring ich ihm die heute vorbei«, sage ich. »Ich muss eh in die Richtung.« Das ist zwar geschwindelt, denn die Ilzdorfers wohnen eben nicht in Karpfham neben der Rosi. Aber ich muss meiner Tochter ja nicht auf die Nase binden, dass ich den Georg Ilzdorfer gerne wiedersehen will.

»Nee, die geb ich ihm, Mama. Wir wollten heute sowieso zusammen aufs Fest.« Vicky greift nach den Handschuhen, aber ich lasse nicht los.

»Passt schon, Vicky, ich fahr ohnehin vorbei.« Ich zerre sie ein Stück zurück.

»Mama, was soll das? Das ist mein Freund!« Sie wird rot. »Also, ich meine, ein Freund. Du weißt schon«, fügt sie ärgerlich hinzu.

»Okay, ich sag dir, warum ich sie unbedingt zurückbringen möchte. Ich muss etwas nachschauen dort.« Jetzt werden meine Ohren heiß. Ich habe es nicht so mit dem Lügen.

»Nachschauen? Was musst du nachschauen?« Vicky kräuselt ihre Nase und ihre Sommersprossen formieren sich zu einem neuen Muster.

»Halt dann ermitteln, wenn du das besser verstehst.« Schön langsam komm ich mir blöd vor, mit meiner Tochter um die alten Handschuhe zu streiten wie zwei räudige Hunde. Aber sie wären der perfekte Vorwand.

»Beim Stefan?« Vicky ist entrüstet. »Was hat er denn gemacht?«

Ich schnaufe ungeduldig. »Er hat nichts gemacht. Auch seine Eltern haben nichts gemacht«, komme ich ihrer nächsten Frage zuvor. »Aber ich muss trotzdem hin.« Damit reiße ich wieder an den Dingern.

»Dann nimm sie halt, Mensch.« Vicky ist eingeschnappt. Ich kann das auch verstehen. Trotzdem ist es nicht zu ändern.

»Danke, mein Schatz!« Ich versuche, ihr ein Bussi zu geben, aber sie dreht ihr Gesicht zur Seite. »Bald kann ich dir erzählen, worum es geht.« Wenn ich es selbst weiß.

»Meinetwegen.« Sie ist Gott sei Dank nicht nachtragend. »Aber dann ist es okay, wenn ich heute Nachmittag mit ihm aufs Karpfhamer geh, gell? Wir wollen den Airport fahren, willst du mit?« Sie grinst. Es ist ein alter Witz, dass ich noch nicht einmal in ein Kettenkarussell einsteige.

»Nein.« Das ist doch eine dieser Mörderstangen, an der wehrlose Menschen in atemberaubender Höhe herumgeschleudert werden. Nie im Leben bringt mich da jemand rein! »Und es ist nicht nett, jemanden wegen seiner Angst auszulachen«, necke ich sie und gebe ihrer Nase einen Stups.

»Es tut mir so leid, Mamilein«, flötet sie. Um im nächsten Augenblick den Kopf schiefzulegen und die Hand auszustrecken. »Krieg ich Geld?«

Ich finde, das ist ein fairer Handel.

 

***

 

Kurz darauf mache ich mich mit meinem ergatterten Eintrittsschlüssel zum Haus vom Georg Ilzdorfer auf. Obwohl Haus arg untertrieben ist, wie ich feststelle, als ich davorstehe. Villa wäre ein passenderer Ausdruck.

Nahe dem Wald am Ende einer ruhigen Sackgasse haben sich die Ilzdorfers einen Prachtbau hingestellt. Walmdach, Erker, bodentiefe Fenster, Doppelgarage. Ein Traum von einem Haus, umgeben von einem gepflegten Garten, besser gesagt Park, mit hohen Bäumen. Vor den Garagen stehen ein weißer Cinquecento und ein anthrazitfarbenes BMW-Cabrio. Ist das etwa das Cabrio vom See?

Auf meinem Weg zum Haus biege ich zum BMW ab, um ihn mir genauer anzusehen. Ein schickes Ding mit so einem kleinen Lenkrad. Auf dem Rücksitz liegt eine feine Strickjacke, die eindeutig nach Frau Ilzdorfer aussieht, und ein Cap mit dem Logo vom Golfclub. Ansonsten ist der Innenraum picobello sauber. Wenn ich da an meinen Kangoo denke!

Von außen hätte der Wagen allerdings eine Wäsche vertragen. Die Reifen und die Karosserie sind schlammverspritzt. Den Dreck könnte er am Kirchmünsterer Weiher nach einem kräftigen Regen abbekommen haben. Der Parkplatz dort ist mehr Schlammwüste als Schotter. Und es gibt bestimmt nicht viele anthrazitfarbene BMW-Cabrios hier in der Gegend, deren Besitzer gerade gestern Abend einen Spaziergang am Wasser genießen wollten. Dann würde ich mal knallhart kombinieren, dass es dieser Flitzer war, den ich am Weiher gesehen habe.

Ich bin noch in meine Überlegungen vertieft, da öffnet sich die Haustür und die Elfe vom Bierzelt wirft mir einen misstrauischen Blick zu.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragt sie und unterzieht mich einer gründlichen Musterung. Sie kann also noch anders als niedlich.

Ich hebe Stefans verbeulte Handschuhe hoch und wedelte damit durch die Luft. »Ich möchte etwas zurückbringen.« Beschwingt trete ich näher. »Ist denn Herr Ilzdorfer zu Hause? Oder seine Frau?«, schiebe ich hinterher.

Die Elfe zieht ihre Lippen zu einer schlechten Kopie eines Lächelns auseinander. »Ich denke nicht, dass diese Dinger Herrn Ilzdorfer gehören. Oder gar seiner Frau.« Weidet sie sich etwa an der aufsteigenden Röte meines Gesichtes? Ich mag sie nicht.

Falsch lächeln kann ich auch. »Natürlich. Sie sind die Haushälterin, nicht wahr?« Ich versuche, die Oberarzt-, nein, inzwischen ja Chefarztgattin hervorzukehren. Aber es glückt mir nicht wirklich, denn ich hasse das.

Die Tür öffnet sich weiter und Frau Ilzdorfer erscheint. Sie hat das Dirndl an, das sie bei den Münchhamers gekauft hat, als ich mit Isabell dort war. Sie sieht darin sehr vornehm aus.

»Kommst du, Tanja?« Dann erblickt sie mich und lässt mir genau dem gleichen Blitzcheck angedeihen, wie ihre Angestellte es schon getan hat.

»Ah, Frau ... ähm.« Sie legt kurz ihre Hand an die blasse Stirn. Sie hat also von gestern auf heute meinen Namen vergessen? Wer's glaubt.

Ich helfe ihr nicht. Warum sollte ich? Wieder halte ich die Handschuhe in die Höhe. Und komme mir inzwischen reichlich doof dabei vor. Warum habe ich nicht Vicky den Vortritt gelassen? Nur wegen meiner pubertären Schwärmerei für Georg. In meinen Gedanken spreche ich seinen Namen Englisch aus. George.

»Die Handschuhe hat Ihr Sohn Stefan gestern bei uns vergessen, und da ich gerade in der Gegend war ...« Ich lasse den Satz unvollendet, trete einen Schritt vor und drücke die Dinger Frau Ilzdorfer in die manikürten Hände.

Wie aufs Stichwort kommt Stefan um die Ecke gerauscht, meint: »Hallo, Frau Schneider«, nimmt seiner Mutter die Handschuhe aus der Hand, zieht sie über, schwingt sich auf das Aschentonnenhäuschen, von dort auf die Garage und ist hinter dem Dach verschwunden.

»Boah. Toll«, entfährt es mir. Körperliche Selbstbeherrschung habe ich schon immer bewundert. Ich kann Vicky absolut verstehen, dass sie Stefan cool findet. Schade, dass Susa nicht ebenso denkt. Sie steht eher auf Ganzkörpertattoos. Ich hoffe, dass das nur eine Phase ist.

Ich sehe wieder zu den beiden Damen. Sie stehen in der Haustür einträchtig nebeneinander.

»Sie gehen aufs Karpfhamer?«, werfe ich Frau Ilzdorfer noch ein bisschen Smalltalk entgegen. Ist bei ihrem Outfit ja nicht schwer zu erraten.

Ihre Hände gleiten an den Seiten der Schürze hinab. Sie hat deutlich erkennbar keine Lust, mir zu antworten.

»Ja. Der Festzug ist immer sehr prächtig.« Sie faltet die Hände und schaut mich gelangweilt an. Diese Tanja verschwindet ohne ein weiteres Wort im Haus.

Ich nicke. »Da haben Sie recht. Überhaupt ist das Karpfhamer ja ein sehr traditionelles und gemütliches Volksfest. Wenn ich da an die Wiesn denke …« Ich mache eine unbestimmte Geste. »Diese Massen, so viele Touristen aus aller Herren Länder. Auf dem Karpfhamer bleiben die Niederbayern größtenteils unter sich, nicht wahr?«

Frau Ilzdorfer schenkt mir keine Reaktion.

»Aber heuer sind auch auf dem Karpfhamer einige Chinesen. Ihr Mann ist mit denen verbandelt?« Ich sehe sie fragend an.

Nichts.

»Hat er gute Geschäftsbeziehungen nach China?«, starte ich einen erneuten Versuch.

Der Blick von Frau Ilzdorfer ist kalt. »Ich habe keine Kenntnis von den Geschäftspraktiken meines Mannes, Frau, äh.« Sie nickt mir zu und schließt die Tür.

Sumpfkuh, denke ich und gehe zu meinem Auto.

 

***

 

Nach diesem überhaupt nicht erfolgreichen Ausflug kehre ich nach Hause zurück. Die Post war inzwischen da und ich leere den Briefkasten. Neben den üblichen unerfreulichen Rechnungen und Werbungen fällt mir ein kleinformatiger Brief in die Hände. Das Kuvert ist schon leicht vergilbt. Keine Briefmarke. Die Adresse mit Schreibmaschine geschrieben. Wer benutzt heutzutage noch eine Schreibmaschine?

Ich klemme mir die restliche Post unter den Arm, gehe zum Haus und fahre mit dem Finger in die Lasche des Umschlags. Neugierig ziehe ich den Briefbogen heraus und falte ihn auseinander. Auch hier Schreibmaschinenschrift.

Ich mag nicht mehr. Mir ist alles zu viel. Und als Unterschrift ist Rosi darunter gekrakelt.

Mehr nicht.

Was soll ich damit anfangen? Ist das etwa ein Abschiedsbrief? Nein. Oder doch? Meine Güte! Gestern war sie wirklich richtig durch den Wind. Nein, das kann nicht sein. Das darf nicht sein!

Ich schließe die Haustür auf, streichele ohne hinzusehen Runa über den Kopf und gehe in die Küche. Die andere Post lasse ich achtlos auf den Tisch fallen und lese noch mal Rosis Brief.

Ich mag nicht mehr. Mir ist alles zu viel. Rosi.

Wie soll man das anders verstehen, als dass sie sich umbringen will? Mist!

Ich eile zum Telefon, ziehe mein Adressbuch aus der Schublade und fliege durch die Seiten bis R. Da. Reitmeier Rosi. Ich tippe ihre Nummer. Es klingelt. Und klingelt. Und klingelt.

Niemand geht ran. Verfluchter Mist! Ich werfe das Mobilteil in die Ladestation.

Dann muss ich zu ihr fahren. Ich packe den Autoschlüssel und renne hinaus.

So schnell war ich noch nie in Karpfham.

Es ist kurz vor elf. Die Parkplätze am Rand des Ortes füllen sich langsam. Die ersten Besucher wandern schon zur Festwiese.

Ich fahre bis zu ihrem Haus, erkenne sofort, dass keine Rosi am Zaun steht, um die Leute zu beschimpfen, biege in ihr Grundstück ein und parke. Erst vor wenigen Stunden habe ich sie verlassen. Die Tür natürlich hinter mir zugezogen. Ich drücke die Klingel. Im Innern schellt es laut.

Kein Mucks ist zu hören. Keine Schritte. Kein Türenschlagen.

Ich klopfe. Und glaube schon selber nicht mehr daran, dass sie an die Tür kommt.

Möglicherweise ist sie im Hof und hört mich nicht. Mit neuer Hoffnung gehe ich um die Ecke in den Innenhof und schaue mich um. Keine Rosi. Auch ihr blauer VW-Käfer ist nirgends zu sehen. Ist sie weggefahren? Das wäre eine schöne Alternative zu einem Selbstmord. Sie lässt den ganzen Zirkus hinter sich, um sich im Bayerischen Wald zu erholen.

Aber Rosi war noch nie im Urlaub. Das hat sie mir damals erzählt. »Für was brauchst du einen Urlaub, wenn du im Rottal wohnst?«, hat sie mich gefragt.

»Weil man ans Meer will. Baden. In der Sonne liegen.« Das war meine Antwort. Aber ich erntete nur verständnislose Blicke von ihr.

Mensch, Rosi! Verrücktes Huhn! Was soll ich nur machen? Ich beiße auf meinen Daumennagel. Zur Verbesserung meiner Konzentration. Vom Karpfhamer kommen die üblichen Geräusche der Fahrgeschäfte, und die bunten Lämpchen blinken allenthalben.

Da ich hier nicht ewig nägelkauend herumstehen kann, entschließe ich mich zu handeln. Ich muss zur Polizei. Mir ist es egal, wenn es falscher Alarm sein sollte. Das ist mir einfach zu heikel.

Ich eile mit großen Schritten über Rosis Wiese, schlüpfe durch den Bretterzaun am anderen Ende und komme hinter dem Zauner-Zelt raus. Von da ist es nur ein kurzes Stück zum Polizeigebäude.

Noch ist dort alles ruhig. Ich steige die Stufen hinauf und platze in die Morgenbesprechung. Vier Beamte sitzen um einen kleinen Tisch und sehen gleichzeitig auf, als ich den Raum betrete. Mein Polizist von gestern ist auch darunter.

»Guten Morgen!« Ich gebe mir ein forsches Auftreten.

Herr Riedl steht auf. »Ihre Handtasche wurde bis jetzt noch nicht abgegeben«, meint er.

»Oh, ja. Stimmt. Die hab ich inzwischen wiedergefunden.« Das war kein guter Einstieg. Der Beamte schaut auch etwas pikiert. »Das wollte ich Ihnen mitteilen. Danke für Ihre Hilfsbereitschaft.« Höflichkeit öffnet ja bekanntlich alle Türen. »Aber eigentlich bin ich wegen etwas anderem hier.« Nervös falte ich den Brief auseinander und halte ihn dem Polizisten hin. »Hier. Ich hab die Befürchtung, dass sich die Reitmeier Rosi etwas angetan hat.«

Der junge Polizist nimmt den Brief, liest ihn und schaut mich ernst an. Er dreht sich um und reicht den Briefbogen an seine Kollegen weiter. Er wird rundherum gegeben. Dann steht ein älterer Beamter auf und kommt näher.

»Sie sind?«, fragt er.

»Karin Schneider. Ich war gestern schon da. Er, also Ihr Kollege, kennt mich.« Ich schlucke. Ich habe nie gerne mit der Polizei zu tun. Da komme ich mir immer so vor, als ob ich etwas verbrochen hätte.

»Und Sie stehen mit der Reitmeier Rosi in welcher Verbindung?«, verhört er mich weiter. Obwohl das technisch gesehen wahrscheinlich gar kein Verhör ist. Ich schwitze trotzdem.

»Sie ist eine Bekannte, also eine frühere Patientin, ich bin Heilpraktikerin für Psychotherapie. Irgendwo muss ich eine Visitenkarte …« Ich will in meiner wieder aufgetauchten Handtasche kramen, aber die habe ich im Auto gelassen. »Nein, ich hab keine dabei. Auf jeden Fall lag das heute in meinem Briefkasten.« Ich zeige auf das Papier in seiner Hand. »Und sie geht nicht ans Telefon oder an die Tür, und ihr Auto ist auch nicht da. Also, vielleicht hat sie sich etwas angetan …«

Die Polizisten schweigen. Der jüngere Beamte blickt den älteren an, wie um sich die Redeerlaubnis einzuholen, und als dieser nickt, wendet er sich an mich.

»Zwei Angler haben heute um circa fünf Uhr morgens die Frau Reitmeier am Kirchmünsterer See angetroffen. Ihr Fahrzeug, ein hellblauer VW-Käfer, befand sich im Wasser. Das Dach und die Fenster ragten noch heraus. Frau Reitmeier stand neben dem Auto und versuchte vergebens einzusteigen. Die Angler verständigten uns. Frau Reitmeier war nicht ansprechbar und wurde auf unsere Veranlassung ins Bezirksklinikum verbracht.«

Ich starre ihn an. »Was?«

Der Polizist sieht mich mit seinen Batzel-Augen an und wiederholt: »Die Frau Reitmeier ist momentan im Bezirksklinikum.« Er hält den Brief in die Höhe. »Vielen Dank für ihre Mithilfe. Dieses Schreiben unterstützt die Einschätzung, dass in diesem Fall ein erfolgloser Selbstmordversuch vorliegt.«

»Ja, okay.« Ich blinzle. »Dann lebt sie also?«

Der Polizist nickt langsam. »Korrekt.«

»Und ist jetzt im Bezirksklinikum?« Wenn ich aufgeregt bin, arbeitet mein Verstand nicht so effektiv.

Er nickt weiter.

»Gut.« Ich schaue in die Runde. Die Polizisten schauen zurück. »Dann geh ich jetzt wieder.« Ich stolpere zur Tür, obwohl da gar nichts zu stolpern ist. »Auf Wiedersehen.«

Draußen verharre ich und nehme mein Gesicht in die Hände. Was ist da nur passiert, nachdem ich sie gestern allein gelassen habe? Ist sie wieder aufgestanden? Aber sie hat doch schon geschlafen, noch ehe ich aus ihrem Zimmer gegangen bin. Ist sie früh aufgewacht und hat dann den Entschluss gefasst, sich umzubringen?

Ich atme langsam aus und schiebe meine Hände über den Mund. Aber warum? Sie war gestern wirklich schlecht beieinander. Ich hätte sie nicht allein lassen dürfen. Ich hätte gestern schon erkennen müssen, dass sie sich in einem Ausnahmezustand befand. Ich hätte sie überreden müssen, in eine Klinik zu gehen. Pfff. Nein, das hätte sie nie gemacht. Ich hätte sie mit zu mir nehmen müssen.

So eine Scheiße! Ich habe auf ganzer Linie versagt. Was bin ich nur für eine grottenschlechte Therapeutin? Erkenne eine Suizidgefährdung nicht, wenn ich sie vor meiner Nase habe. Verzweifelt fahre ich mir durch die Haare.

Nun aber genug mit Selbstmitleid! Dann muss ich ihr wenigstens jetzt zu Hilfe kommen. Rasch setze ich mich in Bewegung und laufe in einen Haufen glitzernder Objekte.

»Oh!« Verwirrt drücke ich gegen die bunten Luftballons und versuche, ihnen zu entkommen.

»Sorry!« Die Ballons steigen in die Höhe und Max Huber kommt dahinter zum Vorschein. »Karin! Wie schön, dich zu sehen.«

»Max!« Ich muss mich erst wieder sammeln. »Schön. Ja. Aber ich muss weiter.«

Vermutlich mache ich einen verstörten Eindruck, denn Max hält mich am Ellbogen zurück und fragt besorgt: »Karin, was ist los?«

»Die Reitmeier Rosi hat versucht, sich umzubringen, und ich bin schuld«, bringe ich stockend hervor.

»Was? Die Rosi ist tot? Und warum bist du schuld?«

»Nein, sie ist nicht tot. Gott sei Dank! Aber sie wollte. Verstehst du. Und ich wusste es. Nein, eigentlich nicht. Aber ich hätte es ahnen können, und jetzt ist sie im Bezirksklinikum.« Vor Scham über mein Versagen kann ich Max nicht in die Augen schauen. Ich blicke zu Boden und sehe, ohne wirklich was zu sehen, meinem Fuß zu, der kleine Steinchen hin und her stößt.

»Karin, Menschenskind!« Max streckt einen Arm nach mir aus und zieht mich an seine Schulter. Die Luftballons schweben über uns. Kurz gebe ich der Schwäche nach und lehne mich gegen ihn. Ich bin so enttäuscht von mir.

Aber es bringt nichts, sich an einer starken Männerbrust zu verstecken. Ich muss handeln. Deshalb rapple ich mich wieder auf und sehe Max verlegen an. So nah sind wir uns noch nie gekommen.

»Danke.« Ich versuche ein Lächeln.

»Gern geschehen.« Max zwinkert mir zu, bei ihm sieht es jedoch nett aus. Er nimmt seine Luftballonschnüre in die andere Hand. »Was hast du jetzt vor?«

Ich atme tief durch. »Ich werde erst mal im Klinikum anrufen. Vielleicht kann ich etwas tun. Mal schaun.«

»Viel Glück.« Max berührt kurz meinen Arm. »Und halt mich auf dem Laufenden!«

»Okay.«

 

***

 

Bald darauf fahre ich ins Klinikum. Ich habe damit gerechnet, dass sie mir am Telefon nichts sagen würden. Als ich jedoch der Stationsleitung meinen Namen nannte und gerade zu einer Erklärung über das Patienten-Therapeuten-Verhältnis zwischen Rosi und mir ansetzten wollte, unterbrach die Schwester mich und meinte, Frau Reitmeier verlange dringend nach mir. Ob ich Zeit hätte, vorbeizukommen. Und schon war ich auf dem Weg.

Ich eile den Gang der Station entlang. Zimmer zwei dreizehn, hat man mir gesagt. Schon bei Zimmernummer zwei zehn höre ich Geschrei und als ich vor Rosis Tür stehe, ist klar, dass die Schreierei von hier kommt. Eine tiefe und eine hohe Männerstimme und – ganz unverkennbar – Rosi. Ich wappne mich und öffne die Tür.

Durch das Fenster scheint die Sonne und lässt die gelben Wände erstrahlen. Helle Holzmöbel und eine Zimmerpflanze verbreiten eine freundliche Atmosphäre. Aber all diese Bemühungen der Klinikverwaltung können nicht gegen die aufgepeitschte Stimmung ankommen, die in diesem Raum herrscht.

Rosi sitzt im Bett und sieht fürchterlich aus. Dunkle Augenringe lenken die Aufmerksamkeit auf den unnatürlichen Glanz ihrer Augen. Die Falten scheinen sich über Nacht noch tiefer in ihr Gesicht gegraben zu haben und ihre Haut hat einen grauen Schimmer. Sie ist frisch geduscht worden, denn ihre Haare liegen ungewohnt gesittet um ihren Kopf und sie hat ein hellgrünes Anstaltshemd an. Sie selbst führt sich allerdings alles andere als gesittet auf. Ungestüm gestikulierend schreit sie die Männer an. Der eine im weißen Kittel und mit ergrautem Vollbart ist ein Arzt. Der andere ihr Neffe, der Gruber Hansi. Heute spannt ein T-Shirt mit röhrendem Hirsch über seinem Bauch.

»Ich bin nicht verrückt. Ich brauch keinen Betreuer.« Sie fuchtelt in Hansis Richtung. »Und schon gar nicht den Gletzn!«

»Tante!«, schreit Hansi auf und seine Stimme hätte einem Eunuchen gehören können, so unpassend hoch war sie für seinen bulligen Körperbau. Seine Augenbrauen steigen ebenfalls in ungeahnte Höhen. Er sieht verletzt und hilflos aus. »Du weißt nicht, was du redest. Ich will dir ja nur helfen.«

Rosis Bett wackelt, so sehr arbeitet sie darin herum. »Ich brauch deine Hilfe nicht. Ich bin gesund.« Sie schlägt die Bettdecke zurück und ist im Begriff aufzustehen. »Und ich geh jetzt heim.«

Da springt der Arzt nach vorne und breitet die Arme aus, um sie zu stoppen. »Frau Reitmeier, Sie können nicht heimgehen. Die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen.« Er bemüht sich, ruhig und autoritär zu sprechen.

Das macht auf Rosi aber keinen Eindruck. »Ich hab keine Untersuchungen nicht bestellt«, bellt sie und versucht, wieder aufzustehen. Das führt zu einer Rangelei mit dem Arzt, der von Hansi unterstützt wird. Beide schaffen es, Rosi im Bett zu halten.

»Sie müssen untersucht werden«, keucht der Doktor, »denn Sie wollten sich umbringen.«

Rosi kreischt: »Schmarrn! Wo sollt ich mich denn umbringen wollen!« Dann schüttelt sie ein übler Husten. Selbst ihre trainierten Stimmbänder sind mit dieser Lautstärke überfordert.

»Entschuldigung …« Ich trete einen Schritt nach vorne. Bis jetzt haben mich die drei noch nicht bemerkt. Umso erstaunter blicken sie mich an.

»Karin!«, krächzt Rosi und streckt mir so erbärmlich hilfesuchend ihre Hände entgegen, dass mir die Brust eng wird.

»Hallo Rosi«, begrüße ich sie und räuspere mir die Ergriffenheit aus dem Hals. Zum Arzt gewandt, stelle ich mich vor. »Ich bin Karin Schneider. Man hat mir mitgeteilt, dass Frau Reitmeier mich dringend zu sehen wünscht.« Bei so vielen Emotionen in mir und um mich herum schalte ich wie von selbst auf sachlich. Außerdem kann es sicherlich nicht schaden, wenn der Arzt mich für eine kompetente Kollegin hält - auch wenn ich selber gerade die größten Zweifel an meinen Fähigkeiten habe.

Der Arzt scheint erleichtert. Er schüttelt meine Hand. »Dr. Krompaß. Schön, dass Sie gekommen sind. Herrn Gruber kennen Sie?«

Ich bedenke Hansi mit einem Nicken und versuche, seinen Gesichtsausdruck zu deuten. Kurz wundere ich mich über den Ärger, den ich in seiner Miene zu lesen meine, aber dann konzentriere ich mich wieder auf den Doktor. Der ist in der Zwischenzeit zu dem kleinen Tisch gegangen und blättert eine schmale Akte auf.

»Frau Reitmeier wurde heute früh am Kirchmünsterer Weiher gefunden. Sie war verwirrt und wollte in ihr Auto einsteigen, das allerdings im Wasser stand und absolut fahruntüchtig war.«

Rosi murmelt vor sich hin. Ich verstehe nichts davon. Deshalb achte ich nicht auf sie, sondern höre weiter dem Arzt zu.

»Die Rettung brachte sie zu uns. Sie hat weder eine Erinnerung an den Vorfall, noch kann sie uns erklären, was sie am See wollte. Wir gehen von einem Suizidversuch bei akuter psychotischer Episode aus. Der Brief, den Sie zur Polizei gebracht haben, unterstützt unsere Meinung. Wir haben ihn per Fax erhalten.« Er hält ein Stück Papier in die Höhe. »Vielen Dank dafür.« Er legt das Fax in die Akte zurück, schließt sie und schiebt sie unter seinen Arm. »Nun stehen wir vor dem Problem, dass wir ihr Medikamente geben müssen. Sie sehen selbst, in welchem Zustand sie sich befindet. Sie weigert sich allerdings strikt, mit uns zusammenzuarbeiten.«

Rosi horcht bei den Worten auf. »Ich brauch keine Medikamente nicht. Ich nehm nur meine eigenen Tabletten. Gell, Karin, die Melissenkapseln hast du mir doch empfohlen?« Sie sieht mich flehend an.

Ich setzte mich zu ihr auf die Bettkante und nehme ihre Hand in meine. Sie ist heiß und verschwitzt. »Ja, Rosi, das hab ich.«

»Deshalb stehe ich kurz davor«, fährt der Arzt unbeirrt fort, »beim Betreuungsgericht anzuregen, Herrn Gruber hier zu ihrem Betreuer zu bestellen. Damit wir mal weiterkommen.« Er sieht missbilligend auf Rosi herab.

»Es ist ja auch nur zu ihrem Besten«, setzt Hansi nach und schaut beifallsheischend zum Doktor.

Bei Hansis Worten hat Rosi zu zappeln angefangen. Ich spüre, wie sie Luft holt, um lauthals zu widersprechen. Schnell drücke ich ihre Hand und sage zu ihr: »Lass mich mal machen, Rosi.« Auch ohne sie anzusehen, merke ich, dass sie ihren Ausbruch kaum bremsen kann. Dann aber doch stillhält. Die Frage ist bloß, wie lange.

»Okay.« Ich stehe auf. »Ich kann Sie sehr gut verstehen, Herr Dr. Krompaß. Vielleicht kann ich helfen. Ich würde mit Frau Reitmeier gerne unter vier Augen reden.«

»Einverstanden. Dann lassen wir Sie für ein paar Minuten allein.« Der Arzt hebt den Arm, um Herrn Gruber aufzufordern, mitzugehen.

»Das ist doch Zeitverschwendung.« Hansi sieht auf seine Armbanduhr, ein klobiges Ding. »Ich hab heute noch was anderes vor. Es ist Karpfhamer. Ich muss meine Bar aufsperren und -«

»Kommen Sie, Herr Gruber.« Dr. Krompaß’ Ton lässt keinen Widerspruch zu. Sichtlich unwillig folgt ihm Hansi aus dem Zimmer und wirft noch einen letzten Blick auf Rosi und mich. Gruselig hart.

 

***

 

Ich seufze, schiebe mir einen Stuhl an Rosis Bett und setze mich so, dass ich ihr ins Gesicht schauen kann.

»Jetzt erzähl!«, fordere ich sie auf.

Rosis Finger fummeln auf der Bettdecke herum. Sie zuckt mit den Schultern und als sie aufblickt, sehe ich, dass ihre Augen voller Tränen stehen.

»Ich kann mich an nichts erinnern«, wispert sie und presst ihre Lippen zu einem festen Strich zusammen.

»Ja, das hab ich mitbekommen. Aber was ist das Letzte, das du noch weißt?«

Sie schüttelt leicht den Kopf und die Tränen beginnen zu laufen. Ich suche in meiner Handtasche nach Taschentüchern, wedle eins auf und gebe es ihr.

»Dankschön«, flüstert sie und betupft Augen, Nase und Mund. Zusammengeknüllt behält sie es in der Hand.

»Es ist grad wieder Karpfhamer«, beginne ich, um ihr zu helfen.

Sie nickt.

»Und da stehst du immer an deinem Zaun und redest mit den Leuten«, beschönige ich die Realität.

»Na ja«, einer ihrer Mundwinkel zuckt, »ich reg mich auf.« Es ist ihr unangenehm, das zugeben zu müssen. Dann richtet sie sich jedoch kerzengerade auf und sagt mit lauter Stimme: »Aber ich hab recht! Die schmeißen nur ihr Geld zum Fenster raus und saufen und huren, und alles vor meiner Nasn!« Sie ist immer lauter geworden. Jetzt fällt sie wieder in sich zusammen.

So kommen wir nicht weiter. Ich überlege und entschließe mich zu einem krassen Vorstoß. »Weißt du, was mit der Mimi passiert ist?«

Rosi reißt ihre Augen auf. Presst ihr Taschentuch an den Mund. Undeutlich murmelt sie: »Die Mimi ist tot.« Dann kann ich zusehen, wie Zorn in ihr hochsteigt. Sie lässt die Hand sinken und setzt aufgebracht hinzu: »Der Zauner hat sie umgebracht. Der Zauner ist überhaupt der Allerschlimmste.«

Sie beugt sich zu mir vor, aber bevor sie wieder in ihre Litanei verfallen kann, komme ich ebenfalls näher, lege meine Hand auf die ihre und frage eindringlich: »Und wo hast du die Mimi begraben?«

»Unterm Hollerbusch.«

»Und unterm Hollerbusch lag auch meine Tasche.« Ich halte sie hoch. »Die ist mir zuvor gestohlen worden.«

»Gestohlen?« Ihre Augen leuchten auf. »Hab ich's nicht gesagt! Du warst im Zauner-Zelt, gell?«

»Ja«, gebe ich zu. »Aber das ist jetzt nicht wichtig. Die Tasche lag unter deinem Busch. Hast du eine Ahnung, wie die dahin gekommen ist?« Ich beobachte sie genau. Aber ich sehe nur Unverständnis.

Dementsprechend ist die Antwort. Rosi zieht die Mundwinkel nach unten und schüttelt den Kopf. »Woher soll ich das wissen?« Dann hat sie eine Idee. Sie blitzt in ihrem Gesicht auf. »Der Zauner. Der hat sie in meinen Hof geschmissen. Damit du meinst, ich war's.« Sie wird wieder lebhaft. »Der Hundskrippi, der elendigliche! Der soll -«

»Rosi, Rosi, Rosi! Nicht schon wieder. Ich hab verstanden, dass du den Zauner in Verdacht hast.« Ich werde ihr nicht verraten, dass ich selbst dessen Bruder Michael noch überprüfen will.

»Der war's auch«, haucht sie theatralisch und zieht ihre Augenbrauen nach oben. Ihre Augen glühen. Sie kommt mir einmal mehr wie die Hexe aus dem Märchen vor. Aber ich gestatte mir nicht, sie unheimlich zu finden. Trotzdem bin ich froh, dass wir nicht nachts in ihrem Holzhaus hocken, sondern hier in der Klinik. Draußen bewegt ein leichter Wind die Blätter der Bäume vor dem Haus und zaubert ein Spiel aus Licht und Schatten. Alles ganz normal.

Rosi rückt nah zu mir her. Ihre Lider sind gerötet und die Pupillen riesengroß. »Karin, ich hab recht. Du wirst das auch noch sehen.«

»Schon gut.« Ich sollte lieber herausbringen, was sie in der Nacht gemacht hat. Der Arzt kommt sicher bald wieder herein. »Vielleicht hast du recht, Rosi. Vielleicht war's der Zauner.« Soll sie ihren Frieden haben. »Aber nun zurück zu dir. Was hast du gemacht, nachdem du die Mimi begraben hast?«

Sofort drückt Rosi das Taschentuch an die Augen. »Mei, die Mimi«, jammert sie.

Ich bin ja so ein Esel! Jetzt habe ich wieder die Heulerei. Ihre andauernden Stimmungssprünge finde ich extrem anstrengend, sind aber sicherlich ihrer psychischen Ausnahmesituation geschuldet. Ich bin eh froh, dass ich wenigstens einigermaßen vernünftig mit ihr reden kann. Im Vergleich zu gestern Abend ist sie direkt normal. Das macht möglicherweise der Wutausbruch von vorhin aus. So starke Emotionen können einen Menschen manchmal aus einem psychotischen Schub herauskatapultieren. Ich muss Geduld mit ihr haben und darf mich nicht so dämlich anstellen. Karin, das kannst du besser! »Ist sonst irgendwas Besonderes gewesen?«

Rosi wischt sich die Tränen von der Backe. »Die Mimi hat auch der Zauner auf dem Gewissen. Immer schmeißt er seinen Dreck zu mir rüber.«

»Ja, das ist schlimm.« Ich werde den Teufel tun und mich noch einmal auf eine Zaunerdiskussion einlassen. »Du bist also am Gartentor gestanden. Ist da jemand Besonderes vorbeigekommen?«

»Die Bruni hat auch schon Durchfall«, klagt Rosi und schnieft.

Was? Ach, noch eine Katze. Ich kneife meine Lippen zusammen. Von draußen höre ich Stimmen. Kehren die beiden schon zurück? Mach endlich, Karin! Die Zeit drängt.

»Weißt du noch, dass ich dich ausgezogen und ins Bett gebracht hab, Rosi?« Schocktherapie.

Wirkt. Rosi starrt mich mit offenem Mund an. Ihre Taschentuchhand hat sie vor ihre Brust geschlagen. So als ob sie noch im Nachhinein ihre Kleider festhalten will.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752144338
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Mai)
Schlagworte
Volksfest kein Polizeikrimi Niederbayern Ermittlerin Bayern Heilpraktikerin verliebt Humor Kirmes

Autor

  • Ingrid Werner (Autor:in)

Ingrid Werner hatte ein bewegtes Berufsleben hinter sich, ehe sie mit dem Schreiben begann. Inzwischen sind schon einige Krimis – lang oder kurz, für Preise nominiert – erschienen. Sie ist auch als Lektorin tätig und gibt Anthologien heraus. Gerade sitzt sie selbst an ihrem ersten Liebesroman und hofft, dass keine Leiche auftaucht.
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Titel: Zicke, Zacke, tot