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Die Märchenhochzeit fällt aus

von David Pawn (Autor:in)
280 Seiten

Zusammenfassung

Dornröschens großer Tag ist gekommen. Sie wird den Prinzen, der sie wachgeküsst hat, heiraten. Einziges Problem: Sie will nicht. Erstens hatten sie kaum Zeit, einander kennenzulernen, und zweitens will sie nach hundert Jahren Schlaf erst einmal ihre Jugend auskosten. Deshalb flieht sie aus dem Schloss und in ein abenteuerliches Leben hinein. Aber Prinz Gregor hat sie aus Liebe von ihrem Fluch erlöst. Deshalb schwingt er sich auf sein Ross und folgt ihr, um sie erneut zu retten. Diesmal vor den Folgen ihrer eigenen verrückten Einfälle.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Auf in die Freiheit
Isabell von Rosenthal

Der nächste Tag sollte der glücklichste meines Lebens werden. Das sagten alle. Schließlich war ich eine Prinzessin und mein zukünftiger Ehemann ein Prinz. Wir reden hier also von einer richtigen Märchenhochzeit, wie sie in den Büchern geschrieben steht, die mir meine Amme und meine Mutter stets vorgelesen hatten, als ich noch klein und dumm war, und daran glaubte, dass solche Geschichten Wirklichkeit werden könnten.

Inzwischen wusste ich es besser. Nein, das stimmt nicht. Ich wusste einfach nicht, ob ich überhaupt verheiratet sein wollte. Und erst recht wusste ich nicht, ob ich mit Prinz Gregor verheiratet sein wollte, was hauptsächlich daran lag, dass wir nicht viel Zeit gehabt hatten, um einander richtig kennenzulernen. Dabei lag der Tag unserer ersten Begegnung schon einen Monat zurück. Das war länger als den meisten anderen Prinzessinnen, von denen ich gehört hatte, gewährt worden war, um ihren zukünftigen Gatten näher kennenzulernen. Meine Eltern gehörten zum Glück nie der Gruppe von Regenten an, die Ehepartner aus staatsmännischen Gründen heraus auswählten. Bei vielen Prinzen und Prinzessinnen der Nachbarländer hieß es von einem Tag zum nächsten: Heute wird geheiratet, zack und bumm! Sie ließen mir Zeit. So hatte ich meinen achtzehnten Geburtstag als Jungfer und ohne männliche Begleitung begangen. Aber das lag auch schon ein paar Jährchen zurück.

Umso glücklicher waren meine Eltern, dass ich ungeachtet meines Alters eine so gute Partie abfangen konnte. Nicht zuletzt deshalb, weil sie selbst im Lande nichts mehr zu sagen hatten. Sie durften mit der Staatskarosse durch die Ländereien fahren und huldvoll zum Fenster hinaus winken, aber dabei musste es inzwischen bleiben. Die Leute hatten in den vorhergehenden hundert Jahren gelernt, dass sie sehr gut auch ohne einen König zurechtkamen. Anfangs hatte es wohl Probleme mit den Nachbarn gegeben, die meinten, man könne sich das Reich schnell unter den Nagel reißen, wenn die ganze Regierung schläft, aber die Bauern, Handwerker und Soldaten des Landes entschieden, nachdem sie den alten König auf so unspektakuläre Weise losgeworden waren, brauchten sie bestimmt keinen neuen, der mit einer Armee über die Grenze getrampelt kam.

Prinz Gregor sah ausgesprochen gut aus. Das musste ich zugeben. Das bemerkte ich allerdings erst, nachdem ich das gesamte Schloss mit meinem Schreckensschrei geweckt hatte. Es ist nicht gerade überraschend, dass ich so reagierte. Es geziemt sich für jede ehrbare Jungfer, dass sie wie am Spieß schreit, wenn sie im Bett liegt, und plötzlich ein Kerl seine Lippen auf ihre presst. Das hatte mir die Krautwitz Erika erklärt, die erst meine Amme und später unsere kalte Mamsell war.

Gregor stand sofort stramm wie ein Leibgardist an meinem Bett, sodass ich ihn mir noch ein wenig genauer ansehen konnte.

Da stand ein schneidiger Typ – schlank und gerade gewachsen. Unter den Ärmeln seines Gewands spielten eindrucksvolle Muskeln, wie es sich für einen Prinzen, der eine Prinzessin errettet, gehörte. Sein braunes, lockiges Haar fiel ihm bis über die Ohren und umrahmte ein schmales, längliches Gesicht in dem smaragdgrüne Augen das hervorstechendste Merkmal darstellten. Solche Augen sah man wirklich selten. Einzig, dass er glattrasiert war, störte in meinen Augen das Gesamtbild. Erst ein Bart lässt einen Mann so richtig männlich aussehen.

Er trug einen kecken, mit einer Pfauenfeder verzierten Hut drauf und steckte in einem weißen Rüschenhemd und grünem Rock, dazu schwarze Kniebundhosen und seidene Strümpfe. Seine Schuhe waren offensichtlich aus feinstem, weichem Leder. Eindeutig handelte es sich nicht um einen dahergelaufenen Rabauken, der eine unschuldige Maid in Bedrängnis bringen wollte. Das einzig Furchteinflößende an ihm war der Degen in seiner Rechten.

„Wer seid Ihr?“, flüsterte ich. Ich stellte fest, dass sich meine Stimme anhörte, als müsse sich meine Kehle erst wieder daran erinnern, wie man so etwas zuwege brachte.

Der junge Mann schlug die Hacken zusammen und machte Meldung: „Prinz Gregor von Aquimera. Ihr ergebener Diener, schönes Fräulein Dornröschen.“

Bevor ich darauf hinweisen konnte, dass mein Name Isabell von Rosenthal sei, und ich keinen Wert darauflegte, mit dusseligen Kosenamen belegt zu werden, stürmten zwei Wachen mit Piken in das Zimmer und richteten diese auf den Prinzen.

„Wer seid Ihr? Was geht hier vor?“, forderte der eine Wächter zu wissen.

„Prinzessin, seid Ihr wohlauf?“, fragte der andere.

Ich nickte, während Prinz Gregor seinen Namen nannte. Dann erklärte er: „Ich kam, das holde Dornröschen zu wecken, so wie es die Legende sagt.“

Die Wächter schauten sich ratlos an, und ich wusste auch nicht, wovon dieser seltsame junge Mann sprach. Also fragte ich: „Wovon redet Ihr? Und wieso nennt Ihr mich unausgesetzt bei diesem dummen Namen?“

Der Prinz sagte es und ich fiel in eine kurzzeitige Ohnmacht. Seltsam genug, dass man hundert Jahre schlafen kann, noch seltsamer, wenn man kurze Zeit nach dem Erwachen schon wieder bewusstlos wird. Aber es ist meiner Meinung nach ein guter Grund ohnmächtig zu werden, wenn einem am eigenen Bett ein junger Mann erklärt, man habe gerade die letzten hundert Jahre verpasst. Mit einem Satz fegte er meine Jugend, meine Jahre als junge, erwachsene Frau und sogar mein Altenteil hinweg, denn 118 – so alt war ich, wenn die Information korrekt war – wird schließlich kein Mensch.

Als ich wieder zu mir kam, richtete ich mich auf, starrte diesen Prinzen grimmig an und erklärte: „Das glaube ich nicht.“

„Aber der Fluch …“, stammelte er.

„Fluch?“, fragte ich, ehe mich eine Welle der Erkenntnis aus dem Bett und ans Fenster spülte. Plötzlich erinnerte ich mich wieder und diese Erinnerung ließ mich frösteln.

Stimmt ja, dachte ich, da gab es dieses alte, bösartige Weib, das mich hatte tot sehen wollen, nur weil es nicht zur Taufe eingeladen worden war. Frauen können so heimtückisch sein. Ein Mann hätte an der Stelle der Alten meinen Vater in die Schranken gefordert und mit einer Lanze vom Pferd gestoßen. Danach hätten sich die beiden bis zum Umfallen betrunken, und alles wäre wieder gut gewesen. Aber nein, ich sollte mich an einer Spindel stechen und tot umfallen. Nicht nur heimtückisch, auch noch lächerlich verspielt. Warum sollte ich, eine Prinzessin, plötzlich Begeisterung fürs Flachsspinnen entwickeln wie eine Magd?

Aber es trat, so wurde mir berichtet, eine weitere Frau an meine Wiege und schwächte den Fluch ab. In ein langes Nickerchen. Ein sehr langes. Und dieses lag nach Aussage des jungen Mannes in meinem Schlafzimmer gerade hinter mir.

Ich schaute aus dem Fenster und stellte als Erstes fest, dass ich mich keineswegs in meinem Schlafzimmer befand, sondern in einem Raum weit oben im Turm des Schlosses, den in meiner Erinnerung nur Tauben bevölkerten. Ich fragte mich, wer ein Bett hier hineingeschafft und mich dann hineingelegt hatte. Und warum, zum Teufel, dieser Jemand mich nicht in mein Zimmer gebracht und dort zur Ruhe gebettet hatte. Ich dachte eine gebührende Weile über dieses Phänomen nach. Als Nächstes fragte ich mich, wer unser Schloss an den Rand einer Stadt gestellt hatte. In meiner Erinnerung lag unser Schloss etwa einen Stundenritt vor den Toren der nächsten Ortschaft. Es hatte sich um ein verschlafenes Nest namens Rosenhort gehandelt. Es gewann einen geringen Reichtum aus dem Handel mit Duftstoffen und Tuchen. Jetzt erstreckten sich Häuser, soweit ich von meinem Turmzimmer aus schauen konnte. Auf den Straßen rumpelten Karren vorbei, Volk wuselte umeinander. Immer wieder blickten Leute zum Turm hinauf und deuteten Richtung Fenster. Einige der Menschen hielten sich seltsame Dinge vor die Augen.

„Wo sind wir hier? Wer hat das Schloss an einen anderen Ort gehext?“

„Niemand, Dornröschen“, sagte der Prinz. „Das Schloss steht noch immer in Rosenhort.“

„Noch immer? Es stand nie dort“, rief ich aus. Ich fuhr auf dem Absatz herum und befahl den Wachen: „Bringt diesen Kerl vor meinen Vater. Ich folge euch.“

Salutieren und den Prinzen in ihre Mitte nehmen war eins. Fünf Minuten später standen wir zu viert im Thronsaal. Mein Vater benötigte dringend eine Rasur, sonst würde er sich vermutlich im eigenen Bart verlaufen. Er schaute ziemlich verwirrt drein. Meine Mutter dagegen erwies sich als Herrin der Lage.

„Dieser junge Prinz hat dich also errettet, mein Kind“, stellte sie fest, nachdem Gregor seine Rolle in der ganzen Geschichte erläutert hatte.

„Er behauptet es“, sagte ich.

„Nun, die Tatsachen sprechen für ihn“, sagte meine Mutter. „Wo kommt Ihr her, Prinz Gregor?“

„Ich bin der Sohn des Königs von Aquimera. Wir sind die Nachbarn Eures Reiches im Westen.“

„Ach, waren nicht die Grafen von Tulpenstängel unsere Nachbarn im Westen?“, meldete sich mein Vater zu Wort.

„Bis sie den Krieg gegen Euer Reich verloren, Königliche Hoheit“, erwiderte der Prinz.

„Ah, ja. Schön. Meine Garde hat sich also wacker geschlagen.“

„Nicht direkt“, sagte der Prinz. „Es gab eine Garde, aber sie wurde vom Volk aufgestellt.“

„Um den Thron zu schützen, wie nett.“

„Um die Ernte zu schützen“, sagte der Prinz. „Die Sache ist ein wenig kompliziert. Immerhin musste Euer Volk in den letzten hundert Jahren ein wenig improvisieren, da es Euren Rat nicht in Anspruch nehmen konnte. Aber seid gewiss, es liebt Euch.“

Mein Vater lächelte geschmeichelt.

In diesem Moment wurde die zweiflüglige Saaltür mit Getöse aufgestoßen. Ich wandte mich überrascht um. Ein dicker Mann, begleitet von vier Bewaffneten, trat ein. Hinter dieser Gruppe gestikulierte unser Zeremonienmeister verzweifelt mit seinem Stock. Er musste versucht haben, die Leute aufzuhalten, aber gescheitert sein.

Der Mann, den die Bewaffneten schützend begleiteten, war mit einer Robe in den Farben des Reiches – rot und weiß – gekleidet.     Seine Wache schaute nicht minder grimmig als unsere Schlosswächter. Sie trugen die Armbrüste locker in der Rechten, aber ihr Blick sagte jedem, dass diese binnen Augenblicken auf ihn gerichtet werden könnten, wenn die Situation es erforderte.

Drei Schritte vor dem Thron blieb die Abordnung stehen. Der dicke Mann trat aus der Mitte heraus und dichter heran, bis er neben dem Prinzen und mir zum Stehen kam.

„Wer seid Ihr? Was treibt Ihr in meinem Schloss?“ Die Stimme meines Vaters schwankte zwischen Wut, Ratlosigkeit und Furcht.

„Ich bin Herbert Wagenmacher, der Kanzler des Reiches Rosenthal und möchte Euch, König Friedhelm III., zum Wiedererwachen gratulieren. Ich bringe Euch und dem holden Dornröschen die besten Wünsche des ganzen Volkes.“

„Warum wartet Ihr nicht, wie es Euch gebührt, bis der Zeremonienmeister Euch hereinführt?“, begehrte mein Vater auf.

„Weil es mir nicht gebührt“, sagte der Fremde. „Ich bin seit zehn Jahren Herrscher des Reiches. Ich werde nicht warten, bis irgendein Lakai mir erlaubt, hier hereinzukommen.“

„Was erlaubt Ihr Euch, Kerl. Ich bin König dieses Reiches und als solcher …“

„… nicht mehr befugt, Befehle zu erteilen“, unterbrach der Mann meinen Vater. „Ihr habt, um es freundlich auszudrücken, eine lange Ruhepause genossen. Es mussten Entscheidungen getroffen, Feinde vertrieben, Ernten eingebracht und Bündnisse geschlossen werden. Dazu hat sich eine Regierung gebildet, der ich vorstehe. Und vor mir stand ihr der ehrenwerte Kanzler Maiering vor und davor Kanzler Schmidt und davor … nun, ihr versteht. Es gab eine Reihe von Herrschern. Ihr, Herr König, werdet in Zukunft das Reich nach außen vertreten. Ihr und Eure Tochter seid das Aushängeschild dieses wohlhabenden Landes. Deshalb genießt Ihr weiterhin Wohnrecht hier im Schloss und werdet ein Salär beziehen, um die Aufgabe der Repräsentation gebührend zu erfüllen.“

„Wache! Wache!“ Man kann die Laute meines Vaters nur krakeelen nennen, wenngleich so eine Art des Rufens eines Königs nicht würdig erscheint.

Aber noch ehe die Piken sich gesenkt hatten, waren die Armbrüste im Anschlag. „Ich bitte Euch, König Friedhelm, erweist Euch des hohen Amtes als würdig, das auszuüben ich Euch vorschlage.“ Der unwillkommene Gast lächelte süffisant.

„Ich … ich … Wer seid Ihr? Was soll das alles?“ Mein Vater klang kläglich.

„Ihr wisst es doch, oder nicht?“ Der Kanzler sah meinen Vater interessiert an. „Hält Euch der Schlaf noch gefangen?“

„Nein.“

„Gut. Ihr, Herr König, habt hundert Jahre in seligem Schlaf verbracht, während vor den Toren des Schlosses das Leben weiterging. Das Reich ist gewachsen und gediehen. Nicht zuletzt natürlich der Legende wegen. Deshalb tragen wir Euch und Eurer Familie auch die Ehre an, das Reich quasi zu symbolisieren. Ihr seid das Reich und das Reich seid Ihr. Aber natürlich befehligt das Reich keine Menschen, sondern Menschen befehlen dem Reich – wenn Ihr versteht, was ich meine.“

„Kein Wort“, sagte mein Vater. Er straffte sich und versuchte, wieder Autorität in seine Stimme zu bekommen. Kein leichtes Unterfangen angesichts seines mottenzerfressenen Ornats. Das Gewand war vor hundert Jahren prachtvoll gewesen. Jetzt sah es aus, wie etwas, was man einem Bettler auf der Straße gab, damit dieser nicht erfriere.

„Seht Ihr, Königliche Hoheit“, sagte der Prinz. „Euer Reich hat großen Reichtum erworben, denn von überall her strömten die Menschen, um das berühmte verwunschene Schloss zu sehen. Immer wieder versuchten sich Wagemutige daran, die Rosenhecke zu erstürmen. In den letzten Jahren gab es ein Turnier am Geburtstag der Prinzessin. Der Preis des Siegers war das Recht, es zu versuchen, die Dornen zu zerschlagen und sich zu Dornröschen vorzukämpfen.“

„Zu wem?“ Mein Vater schien der Name genauso wenig zu gefallen wie mir.

„Dornröschen, Eure Tochter, Hoheit“, sagte der sogenannte Kanzler.

„Meine Tochter heißt noch immer Isabell von Rosenthal“, rief mein Vater. „Und ich wünsche, dass sie auch so genannt wird.“

„Das wird Eurem Volk nicht gefallen. Überall auf der Welt wirbt es mit dem Markenzeichen des Dornröschens für die Güter Eures Reiches“, erklärte der Kanzler. „Seht nur aus dem Fenster, welchen Reichtum die Legende von der Schönheit hinter den Dornenhecken Eurem Reich beschert hat. Nie zuvor konnte ein Land so blühen und gedeihen, ohne kriegerisch durch die Welt zu ziehen. Alle Welt beneidet Euch und Eure Untertanen um dieses Schloss, das jedermann sehen will. Es gibt sogar ein eigens erfundenes Wort für jenen Drang, das Dornröschenschloss zu sehen. Tourismus.“

Im weiteren Verlauf des Tages erfuhren wir weitere Einzelheiten der vergangenen hundert Jahre. Am Ende ergaben wir uns in unser Schicksal.

Mein Vater übernahm die Rolle des freundlich lächelnden Königs, der für die Hofmaler posierte, die ihn bei den verschiedensten Gelegenheiten malten: Wenn er einem Herrscher eines Nachbarlandes zur Begrüßung die Hände schüttelte, wenn er eine neue Kutschenstrecke einweihte, wenn er Kindern, die den ersten Tag in der Schule verbrachten, eine Rede hielt. Meine Mutter übernahm die Schirmherrschaft für die Hilfsgemeinschaft gefallener Jungfern, für die Schule der gestrandeten Existenzen, für den Fond zur Unterstützung altersschwacher Kräuterweiber, für den Dornröschen-Forschungsfond zur Bekämpfung der Schlaflosigkeit und einiger weiterer Organisationen, die sich der Hilfe anderer Menschen verschrieben hatten. Und mir wurde die Ehre zu Teil, meine Verlobung mit Prinz Gregor bekannt zu geben und als Hochzeitstermin einen Tag im Monat nach meiner Errettung zu benennen.

Der am nächsten Morgen beginnen würde. Ich durfte gar nicht daran denken.

Vor dem Schloss standen die Bänkelsänger und Nachrichtenbriefschreiber Schlange, um sich in die Liste jener einzutragen, die Einlass in die Schlosskapelle erhielten. Wer nicht rechtzeitig auf diese Liste kam, musste draußen warten und seine Kollegen beneiden. Die würden jeden Moment der Zeremonie peinlich genau aufschreiben, um aller Welt darüber berichten zu können. Ihnen entginge kein Staubkorn auf meinem langen, weißen Kleid mit der Schleppe, die durch die halbe Mittelachse der Kapelle reichte. Mir graute schon bei dem Gedanken an dieses Folterwerkzeug aus Spitze. Ich sah in den Spiegel und erblickte mich darin, wie ich über das Ding stolperte, der Länge nach hinschlug und alle Stifte emsig geschwungen wurden, um mein dämliches Missgeschick nur ja für die Ewigkeit festzuhalten. Wenn so etwas einer Bauerntochter passierte, krähte kein Hahn danach.

Im Licht der Kerzen, die die Finsternis der Nacht, die draußen herrschte, vertreiben sollten, trug ich jedoch eine einfache beige Bluse und einen hellblauen Glockenrock.

Ich fragte den Spiegel, ob ich wirklich so schön sei, wie alle, allen voran mein Verlobter, immer wieder beteuerten. Aber das Ding antwortete nicht. Wie sollte es auch. Die Geschichten über sprechende Spiegel waren nur ein Märchen.

Ich wusste genau, dass ich kein klassisches Profil besaß. Meine Nase war zu klein, meine Augen waren zu groß, meine Brauen zu dicht und meine Lippen zu voll. Außerdem war mein Busen zu groß und meine Füße waren zu schmal.

Ich fragte mich also, was alle Welt an mir fand. Die einzige großartige Leistung meines Lebens hatte darin bestanden, hundert Jahre zu schlafen und beim Erwachen nicht eine Minute älter ausgesehen zu haben als beim Einschlafen. Und diese Leistung war nicht mein Verdienst, sondern die der Zauberkraft einer Fee, die sich von meinen Eltern schlecht behandelt gefühlt hatte. Ich wurde bestraft, weil mein Vater dem dummen Aberglauben anhing, dreizehn Gäste brächten Unglück. Dabei waren es eben genau zwölf, die Unglück brachten, denn die dreizehnte Fee wäre ganz brav und zuvorkommend gewesen, wenn man sie, verflixt nochmal, eingeladen hätte.

Ann-Luisa, meine Kammerzofe, trat ein. Sie knickste und erklärte, es sei an der Zeit, sich für die Nacht umzukleiden. Ich solle am nächsten Morgen doch als strahlende Schönheit und nicht mit Ringen unter den Augen zur Zeremonie erscheinen. Ich nickte ergeben.

Ann-Luisa trat an meinen Kleiderschrank heran und öffnete beide Türen schwungvoll. Das Hochzeitskleid beanspruchte die gesamte rechte Hälfte des Schrankes. Links hingen meine übrigen Sachen, die alle neu waren. Von jener Garderobe, die ich vor dem Langen Schlaf getragen hatte, musste ich mich trennen, denn während die Ruhephase keinem Einwohner des Schlosses geschadet hatte, und die Kleidung, an deren Leib nur etwas angestaubt und von Motten zerfressen war, waren alle Kleidungsstücke, die in Schränken und Truhen verwahrt hingen oder lagen, größtenteils einfach zu Staub zerfallen. Und das Ding, in dem ich hundert Jahre im Bett zugebracht hatte, wollte ich keine Minute länger als unbedingt nötig mehr auf dem Leib haben.

„Wie fühlt Ihr Euch sich, Hoheit?“, fragte Ann-Luisa, während sie mir aus meinen Kleidern half. „Seid Ihr schon sehr aufgeregt?“

„Aber ja.“ Eigentlich nicht, aber ich wollte die junge Frau nicht enttäuschen, die immer zur Stelle war, wenn ich etwas benötigte. Es handelte sich nicht um Aufregung, die mich beherrschte, sondern um Widerwillen. Ich hatte hundert Jahre gepennt und anstatt, dass ich jetzt erst einmal das Leben genießen durfte, musste ich heiraten.

„Einer der Bänkelsänger hat ein Lied für mich geschrieben“, gestand meine Zofe, während sie mein Korsett aufschnürte. Das einfache würde morgen natürlich nicht gut genug sein. Ich würde eines aus Seide und Tüll tragen, bei dem es, wie mir die Schneiderin mit einem Zwinkern versichert hatte, eine Freude für meinen Ehemann sein werde, mich daraus zu befreien.

„Gestern Abend, in der Taverne. Es ist aber eine ganz einfache Melodie.“ Ich konnte förmlich hören, wie sie bei diesen Worten errötete.

In der neuen Zeit verfügten unsere Dienstboten und -mägde über viel mehr Freiheiten. Sie durften das Schloss am Abend verlassen und mussten auch nicht mehr in einer Kammer des Schlosses wohnen. Ihnen standen feste Arbeitszeiten und einmal in der Woche ein freier Tag zu.

„Wie sieht er denn aus, der Herr Bänkelsänger?“, fragte ich.

„Ach, ganz gewöhnlich.“ Die Stimme klang auf einmal sehr bedacht gleichgültig. So gewöhnlich war der Künstler also vermutlich nicht.

„Er ist etwa so groß wie Euer zukünftiger Gemahl und hat ganz wildes, lockiges Haar. Man möchte immer hindurchstreichen wie bei einem Hund.“

„Aha.“

„Und blaue Augen hat er, wie Ihr, Hoheit und einen Schnurrbart wie unser Kater.“

„Das ist ja eine tolle Mischung“, sagte ich.

Ann-Luisa begann, mein Haar zu kämmen, und summte währenddessen eine feine Melodie vor sich hin, die ein wenig nach Schlaflied klang. Wahrscheinlich handelte es sich um ihr Lied.

Der Zauber hatte zum Glück bewirkt, dass weder meine blonden Haare noch meine Finger- und Fußnägel in den Jahren des Schlafes gewachsen waren. Ansonsten hätte ich alle Rekorde des jungen Mannes gebrochen, der zu meinem achten Geburtstag als Überraschungsgast in unserem Schloss war. Er hieß Peter Struvel mit Namen, stammte aus einem Nest, das Mainertsbrunn genannt wurde, und hatte in jungen Jahren seine Haare und Fingernägel nicht schneiden lassen, um sie später auf Jahrmärkten für Geld zeigen zu können. Ob meine Eltern ihn zu jenem Geburtstagsfest geladen hatten, um für Belustigung zu sorgen oder um als abschreckendes Beispiel zu dienen, und mich zu mehr Körperpflege anzuhalten, weiß ich nicht. Mir als Achtjährige hatte es jedenfalls unbändigen Spaß bereitet, seine Locken zu befühlen, die fast bis zum Boden reichten, und gegen die Spitzen seiner Nägel zu stupsen, die lang wie Säbel waren.

Allerdings war ich trotz der durchaus im Rahmen des Üblichen liegenden Länge meiner Haare nicht glücklich mit ihnen. Seit meinem Erwachen konnte ich feststellen, dass die derzeitige Mode dahin tendierte, dass die jungen Mädchen ihre Haare kurz wie Jungs trugen. Bubikopf nannte der Volksmund diese Frisur. Meine Mutter nannte sie den Räubertochterschnitt. Ich konnte mir allerdings nicht vorstellen, dass sie je eine Räubertochter kennengelernt hatte.

Ann-Luisa erzählte ganz aufgeregt von all den Vorbereitungen, die im Schloss für das große Ereignis meiner Hochzeit getroffen wurden. Sie wurde offensichtlich von der Vorfreude beherrscht, die im ganzen Reich die Hochzeitsvorbereitungen begleitete. Jedermann schien glücklich zu sein, dass ich unter die Haube kam. Wenn man mal von mir absah. Und ich war ja nur die Braut.

Dabei konnte ich nicht einmal sagen, dass ich meinen Bräutigam nicht mochte. Es handelte sich eher um eine unwillkürliche Scheu vor der Veränderung. Wenn wir den vergangenen Monat seit meinem Erwachen jeden Tag hätten gemeinsam verbringen können, gemeinsam stundenlang durch die Schlossgärten spaziert wären, wenn er mir all das Neue gezeigt hätte, das sich in den letzten hundert Jahren in unserem Reich etabliert hatte, wenn wir in feinen Restaurants gespeist hätten, die die sogenannten Touristen frequentierten, dann wäre zwischen uns vielleicht eine Beziehung gewachsen, wie ich sie mir vor einer Ehe vorstellte. Aber jeder von uns war ständig mit anderen Dingen beschäftigt gewesen.

Hin und wieder sahen Prinz Gregor und ich uns zu offiziellen Anlässen. Diese Zeit war angefüllt mit geschüttelten Händen und förmlichen Gesprächen, mit Tischreden und Terminen mit den Leuten, die die Nachrichtenbriefe verfassten.

Ich probierte ein Lächeln, als das Kämmen endlich ein Ende fand. Ann-Luisa sollte nicht glauben, ich sei mit ihrer Arbeit unzufrieden.

Sie eilte zum Schrank und holte eines der neuen Nachthemden heraus. Es bestand aus feinster Seide, wie man sie im Nachbarland Aquimera fertigte, und war ein Geschenk meiner zukünftigen Schwiegereltern. Schmetterlinge in blau und rot flatterten über den Stoff.

Während Ann-Luisa mir half, es anzuziehen, zählte sie atemlos die Gäste auf, die aus aller Welt gekommen waren, um meiner Hochzeit beizuwohnen. Die meisten kannte ich nur aus den Nachrichtenbriefen oder den Versen der Bänkelsänger, die hin und wieder auf dem Schlosshof ihre Lieder zum Besten gaben. Sie dienten eigentlich der Unterhaltung der Mägde und Diener, aber ich stand immer an einem Fenster und lauschte, was im Reich geschehen war, dass für interessant genug gehalten wurde, es in einfachen Reimen festzuhalten.

Die neuesten Lieder handelten alle von den Räubern, die im Wald von Rosenthal-Wimmerwies ihr Unwesen treiben sollten. Wenn man den Worten der Sänger Glauben schenken durfte, handelte es sich um finstere Burschen, die mit Messern und Pistolen in den Händen Postkutschen überfielen, die Männer an Bäume fesselten, den Frauen den Schmuck stahlen, während sie ihnen gleichzeitig Komplimente ins Ohr raunten, und schließlich mit Gut und Pferden im Wald verschwanden. Aber, so hieß es, sie gaben von jedem Raub den Armen in den Dörfern, weshalb man sie auch nicht fing, denn die Dörfler schützten sie.

Schließlich schlug Ann-Luisa meine Bettdecke auf, beobachtete, wie ich ins Bett kletterte, und wünschte mir eine gute Nacht. Sie löschte die Kerzen und verließ auf leisen Sohlen den Raum, so als schliefe ich bereits geraume Weile und sie wolle mich nicht wecken.

Draußen vor dem Fenster gurrten die Tauben, die den ganzen Tag Briefe von und zu Nachbarreichen transportiert hatten. Wahrscheinlich tauschten sie Reiseerlebnisse aus. Vielleicht gab es auch bei ihnen Aufschneider, die nach jedem Flug damit prahlten, wieder einmal einem Falken ein Schnippchen geschlagen zu haben.

In dieser Hinsicht musste ich Prinz Gregor in Schutz nehmen. Er brüstete sich nicht mit irgendwelchen Taten. Selbst meine Rettung spielte er immer herunter. Es sei eben an der Zeit gewesen, sagte er. Und damit hatte er natürlich recht.

Warum also sollte ich ihn heiraten?

Ich wälzte mich im Bett von der einen Seite zur anderen. Mir gingen tausend Fragen durch den Kopf. Zum Beispiel jene, ob mir ein Prinz oder ein anderer Mann einfiele, den ich lieber als Gregor heiraten wollte. Aber um diese Frage zu beantworten, hatte ich viel zu wenig Männer eingehender kennengelernt.

Ich schlug die Decke wieder zurück, kletterte aus dem Bett, trat ans Fenster und starrte in die Nacht hinaus. Einzelne Sterne blinzelten mir aus dem Firmament herab zu, hin und wieder von Wolken gestört, die sich ins Blickfeld schoben. Eine Fledermaus stürzte vom obersten Turm herunter, huschte dicht am Fenster vorbei und landete am Rand des Brunnens im Innenhof. Irgendwo pfiff jemand laut und falsch die Ballade vom armen Ritter Rübenbart. Das konnte nur aus der Küche kommen, denn dort wurde in dieser Nacht durchgearbeitet, damit morgen alles bereit sei, wenn die Gäste nach der Zeremonie hungrig zu Tisch gingen. Ich wusste gar nicht mehr genau, wie viele Gäste insgesamt erwartet wurden. Es mussten mehrere hundert sein.

Prinz Gregors Eltern brachten praktisch ihren gesamten Hofstaat mit in unser Schloss. Vielleicht konnte ich diesem ganzen Wahnsinn ja entkommen, der um meine Person und meine Hochzeit herum veranstaltet wurde. Es war Nacht und nachts sind nicht nur alle Katzen grau, sondern auch alle Menschen irgendwie gleich. Niemand würde erkennen, dass da eine Prinzessin und nicht eine einfache Magd das Schloss durch den Dienstboteneingang verließ.

Ich wandte mich wieder dem Zimmer zu, trat an den großen Kleiderschrank und öffnete ihn. Ich ließ bewusst jene Tür geschlossen, hinter der das Hochzeitskleid lauerte. Unter den Kleidern fand ich eine Reisetasche, die ich für groß genug erachtete, damit ich nicht ganz mit leeren Händen in die Welt hinausziehen musste.

Rasch raffte ich einige Sachen zusammen und stopfte sie hinein. Als ich versuchte, die Tasche anzuheben, stellte ich fest, dass meine Wünsche nach Kleidung offensichtlich zu schwerwiegend waren. Ich zerrte also die Hälfte der Kleidung wieder heraus, eilte zu dem kleinen Schränkchen neben meinem Bett, griff mir die Haarbürste und steckte sie zu den Sachen in der Tasche. Diesmal gelang mir der Versuch, sie zur Tür zu tragen.

Ich ließ sie dort stehen, kehrte mitten ins Zimmer zurück und tauschte mein Nachthemd gegen jene Kleidung, die ich den Tag über getragen hatte. Aus dem Schrank nahm ich das bequemste Paar Schuhe, das mir zur Verfügung stand. Leider verfügte sogar dieses über Absätze, die mich fünf Zentimeter größer machten. Selbst mir unerfahrenem Wesen war klar, dass derartige Fußbekleidung nicht für lange Wanderungen durch die Welt geeignet war.

Ich trat erneut vor den Spiegel. Selbst im blassen Mondlicht konnte ich deutlich sehen, dass jedermann – jede Frau erst recht – mich erkennen würde, wenn er mir begegnete. So würde meine Flucht an der nächsten Straßenecke enden, ehe ich eine Chance bekam, das Leben und vielleicht einen anderen Mann kennenzulernen.

Ich ließ mich aufs Bett sinken und versank in Trauer. Morgen wäre ich eine verheiratete Frau und ich hatte keine Wahl. Jede Magd, jede Wächterin besaß in diesem Reich größere Freiheit.

Halt! Jede Wächterin … Eine Idee bemächtigte sich meiner. Ich wischte eine einzelne Träne von meiner linken Wange, streifte die unpraktischen Schuhe von den Füßen und ging zu der Reisetasche hinüber. Ich leerte sie vollends und stopfte sie in den Schrank zurück. Ich nahm eine andere heraus, die ich bequem tragen konnte, und legte lediglich die Bürste hinein. Dann huschte ich ins Badezimmer, das hinter einer Tapetentür verborgen an mein Zimmer grenzte, und nahm noch eine Stück Seife, das ebenfalls mein Gepäck ergänzte.

Mir fiel ein, dass meine Eltern sich wohl sorgen würden, wenn sie am nächsten Morgen die Nachricht erhielten, ich sei verschwunden. Sie würden sich Schreckensszenarios mit Räubern und Mordbuben ausdenken und wie Gespenster von einem Raum zum nächsten eilen, nur um mich auch dort nicht zu finden. Ich entzündete eine Kerze, setzte mich an meinen Sekretär aus Kirschbaumholz und schrieb eine Nachricht. Ich versiegelte sie und brachte sie zu meinem Bett, wo ich sie deutlich sichtbar auf dem Kopfkissen platzierte.

Mein Start ins freie Leben konnte beginnen. Ich öffnete die Zimmertür einen Spaltbreit und linste hinaus auf den Gang. Er lag, von einzelnen Fackeln erleuchtet, ganz still und verlassen. Ich packte entschlossen die Tasche, trat hinaus, schloss die Tür hinter mir ganz leise und schlich zur Treppe.

Plötzlich vernahm ich Stimmen aus einer der unteren Etagen. „Ich glaube, sie liebt mich nicht“, sagte jemand und ich war ziemlich sicher, es sei Prinz Gregors Stimme.

„Ach Junge, als ich deinen Vater geheiratet habe, sah ich ihn auch am Tage zuvor zum ersten Mal. Und jetzt sind wir schon über ein Vierteljahrhundert zusammen glücklich“, erwiderte eine Frauenstimme. Das konnte nur seine Mutter sein.

Schritte entfernten sich. Ich atmete auf und lugte über das Treppengeländer nach unten. Ich sah niemanden und schlich hinab. Ich erreichte unbemerkt den ersten Stock. Hier erstreckten sich links der Treppe die Gästezimmer und rechts die Privatgemächer meiner Eltern. Alles blieb ruhig. Entweder schliefen alle bereits oder ein Teil tummelte sich im Ballsaal oder draußen im Schlossgarten. Der sonnige Maientag hatte in einen lauen Abend und eine mondhelle Nacht gemündet, eine Nacht, die dazu einlud, durch den Garten zu flanieren, den Fledermäusen bei der Jagd zuzusehen und hinter den Hecken zu kichern. Was immer einen dazu bringen mochte. Die Krautwitz Erika hatte mir da einiges zu erklären versucht, aber irgendwie konnte ich mir gar nicht vorstellen, dass das so lustig sein sollte.

Auch im Erdgeschoss, wo sich der Thronsaal und der Ratssaal der Minister, den inzwischen die sogenannten Volksvertreter für ihre Beratungen nutzten, befanden, blieb alles still. Ich verschwand noch tiefer und erreichte das erste Kellergeschoss. Hier herrschte Gerlind, die oberste Köchin, mit geschwungener Schöpfkelle über ihre eigenen Untertanen, und außerdem lagen hier die Räume der Wache.

Da spazierten bereits zwei Wächter heran. Sie trugen ihre Piken locker über der Schulter und strebten der Treppe zu. Sie gehörten zur Tagschicht, wie ich an ihren Uniformen erkannte. Die für die Wächter, die im Schloss selbst Dienst taten, war farbenprächtiger und dafür weniger praktisch als die der Nachtwache. Vermutlich traten sie ihre wohlverdiente Nachtruhe an.

„Ich hoffe nur, es gibt morgen keinen Ärger. Bei so vielen Gästen weißt du nie, ob sich alle zu benehmen wissen“, sagte der eine zu seinem Partner.

„Sind doch alles hochherrschaftliche Leute.“

„Wenn die genug geladen haben, sind sie auch nicht besser als der Pöbel in den Vier Rosen.“ Der Mann räusperte sich und spie einen Schleimklumpen in die Ecke.

Ich duckte mich tiefer in einen finsteren Winkel und hoffte, er würde nicht noch einmal und dann vielleicht in meine Richtung speien. Sie passierten mich, ohne sich umzusehen, und so bemerkten sie mich auch nicht.

Ich atmete durch und schlich weiter. Mein Ziel war die Kleiderkammer der Wache. Um diese Zeit sollte sich dort niemand mehr aufhalten. In der Nacht waren nur die Patrouillen, die an der Außenmauer Streife liefen, und die Torwächter anwesend. Diese teilten sich auf zwei Schichten auf. Die eine verrichtete den Dienst auf ihren Posten und die andere am Würfel- und Kartentisch.

„Der ist für mich! Und der auch! – Schneider, meine Herren!“

Da hörte man die eifrigen Spieler bereits. Ich hörte einen derben Fluch und Münzen, die auf Holz geworfen wurden.

„Revanche?“

„Was dachtest du denn? Dass wir dir den ganzen Batzen einfach so überlassen? – Gib endlich!“

Vor denen würde ich Ruhe haben.

Über hundert Jahre lagen seit dem Tag zurück, da ich zuletzt hier unten gewesen war, aber es erschien mir, als sei es kaum ein paar Wochen her. Es gehörte zu den Gepflogenheiten in unserem Reich, dass auch die weiblichen Herrscher Fecht- und Reitunterricht erhielten.

„Eine Frau sollte ihre Ehre nicht nur mit Worten verteidigen können“, sagte meine Mutter vor der ersten Ausbildungsstunde mit dem Degen. Diese Stunden fanden hier im Keller statt. Die Reitstunden natürlich nicht, dafür gab es den sogenannten Turnierplatz, der an den Schlossgarten im Westen angrenzte.

Die Kleiderkammer lag linker Hand vor dem eigentlichen Wachraum, jener Spielhölle, aus der jetzt wieder lautes Geschrei drang. „Das gibt es doch gar nicht! Der betrügt doch!“ Jemand schlug offenbar mit der flachen Hand wutentbrannt auf den Tisch.

„Ihr könnt eben nicht spielen“, sagte die Stimme des Gewinners von vorhin.

Ich bog nach links ab und öffnete die Tür zur Kleiderkammer. Sie knarrte. Verflixt!

„Was war das?“, rief der Gewinner laut genug, dass selbst ich es hören konnte.

„Was soll das schon gewesen sein? Lenk nicht ab. Du willst bloß nicht weiterspielen. Hast wohl Angst, dein Glück verlässt dich?“ Lachen erklang.

Ich atmete tief ein und stellte so fest, dass ich die Luft angehalten hatte. Wie weiter? In der Kleiderkammer herrschte stygische Schwärze, die der fahle Schein aus dem Kellergang nur einen Meter weit durchdrang. Bei meinen früheren Besuchen war der Raum stets durch Fackeln hell erleuchtet gewesen. Ich dumme Trine hatte dies auch zu dieser Zeit erwartet. Aber warum sollte das so sein, wenn niemand die Kammer jetzt betreten wollte?

Ich brauchte also eine Fackel. Ich entdecke eine neben der Tür. Konnte ich es wagen, mich hinauszuschleichen, sie zu entzünden, zurückzukehren und dann auch noch diese knarrende Tür zu schließen?

Eigentlich eine rhetorische Frage, denn die Alternative bestand darin, brav in mein Zimmer zurückzukehren und am nächsten Tag vor dem Altar Ja zu sagen.

Dieser Gedanke ließ mich nach oben greifen, die Fackel packen, wieder auf den Gang schlüpfen und an eine der dort brennenden halten, bis sie sich entzündet hatte. Nebenan im Wachraum tobte das Kartenspiel. Offenbar hatte sich das Blatt gewendet, denn die jubelnde Stimme gehörte jetzt einem der Verlierer von vorhin.

„Doppelt, mein Freund, doppelt!“, rief er triumphierend.

Ich huschte wieder in die Kleiderkammer und zog so leise wie möglich die Tür hinter mir zu. Und diese Verräterin knarrte erneut. Ich sollte sie aufknüpfen lassen, wegen Hochverrat. Allerdings wird das eine Tür nicht stören.

Ich eilte zu den Kleiderregalen. Hier gab es Jacken, Hosen, Hemden, Unterkleidung, Fußlappen und Stiefel. Letztere standen unter den Regalen in Reih und Glied. Da es bei der Schlosswache auch drei Frauen gab, hoffte ich, auch meine Größe zu finden. Mit fliegenden Fingern wühlte ich mich durch die verschiedenen Kleidungsstücke. Natürlich berührte ich die Herrenunterwäsche nur mit den Fingerspitzen. Schnell stellte ich fest, dass die Sachen nach Größe sortiert lagen. Ich musste also nicht die ganzen Regale durchforsten. Nach ein paar Minuten hatte ich mir von jedem Teil ein Stück rausgesucht. Eilig stopfte ich alles in meine Tasche. Umziehen würde ich mich später. Ich schlüpfte lediglich sofort in ein paar Stiefel. Sie saßen ein wenig zu locker, aber es musste ausreichen. Vielleicht halfen dann die dickeren Strümpfe, die zur Uniform gehörten.

Ich wandte mich um, als ich eine Tür gehen hörte. Jemand fragte: „Wo willst du denn jetzt schon wieder hin?“

„Pinkeln. Meine Güte, bist du meine Mutter?“

Eine dritte Person lachte grölend.

Dann vernahm ich Schritte. Eilig stürzte ich zur Fackel hinüber, riss sie aus der Halterung und schüttelte sie so kräftig, dass sie erlosch.

Jemand näherte sich der Tür und brummelte: „Wer hat denn die Kleiderkammer offengelassen? Verdammter Schlendrian! Eines Tages finden wir früh einen Bären oder eine böse Fee drin.“ Dann knallte die Tür ins Schloss und ich stand in der Finsternis.

Ich war zwar nicht eingeschlossen, aber ein erneutes Öffnen der Tür würde diese wieder zum Knarren bringen. Und dann käme gewiss jemand, um nachzusehen, was los sei.

Was sollte ich tun?

Ich lehnte mich an die Tür, schloss die Augen und dachte nach.

„Beeil dich!“, brüllte jemand. „Wir haben gleich Wachwechsel!“

Richtig! Der Wachwechsel.

Seit meine Eltern nur noch zu Repräsentationszwecken als Königspaar fungierten, war die Schlosswache deutlich reduziert worden. Ihr gehörten nicht mehr alle Soldaten des Landes an. Die Tagwache bestand aus ein paar Leuten mehr, weil sie auch Gäste durch das Schloss führte, an Türen eher als Dekoration fungierte und für die sogenannten Touristen für gemeinsame Schnellportraits posierte. Aber in der Nacht gab es nur zwei Schichten. Und wenn gewechselt wurde, liefen beide außerhalb des Schlosses herum. Dann musste ich aus der Kleiderkammer schlüpfen und so schnell wie möglich aus dem Schloss verschwinden.

Ich tastete mich durch die Finsternis zu meiner Tasche, kollidierte dabei einmal mit einem Regal und einmal mit einem Tisch. Das würde eine Beule an der Stirn und einen blauen Fleck an der Hüfte geben. Als ich den Rückweg antrat, hatten sich meine Augen ein wenig an das fehlende Licht gewöhnt und ich konnte einzelne Umrisse erkennen. Es gelang mir daher, weitere Kollisionen mit Möbelstücken zu vermeiden.

Ich stellte die Tasche ab und legte ein Ohr an die Tür. Zum Glück war die Schlosswache nicht für ihr Schleichen berühmt. Die vier Wächter, die sich die Zeit mit Kartenspiel vertrieben hatten, würden auf dem Gang vorbei und die Treppe hinauftrampeln. Nur weil die Schlafgemächer in den höheren Stockwerken lagen, beschwerte sich niemand über sie.

Ich musste nicht allzu lang in dieser Haltung eines Spitzels verweilen. Erst hörte ich den Klosettbesucher zurückkehren, kurz danach eine Tür gegen die Wand krachen, als könnten die Herren Wächter gar nicht erwarten, ihre Patrouillengänge wieder aufzunehmen, und schließlich schwere Stiefel im Gleichschritt durch den Gang marschieren. Als ich sicher war, sie jetzt auf der Treppe zu hören, öffnete ich zögernd die Tür. Ich lauschte auf den Tritt, um das Knarren gleichzeitig mit einem Aufstampfen erklingen zu lassen, damit es überdeckt wurde. Es gelang mir ganz gut.

Endlich war die Tür offen, die Wächter stampften sicherlich bereits auf das Schlosstor zu. In das große zweiflüglige Tor, das breit genug ist, um eine Kutsche passieren zu lassen, wenngleich diese nicht die Freitreppe davor hinaufkäme, ist auf der linken Seite eine einfache Tür eingelassen. Sie heißt offiziell die Tür des Wachhabenden, wird aber von allen Wächtern nur die Hundetür genannt. Sie knarrt und quietscht nicht und würde mich ohne Probleme hinauslassen.

Ich schlich, so gut dies in Stiefeln möglich war, die Treppe hinauf. Am Absatz zum Erdgeschoss sah ich mich flüchtig nach links und rechts um, aber weit und breit herrschte Ruhe. Ich eilte zum Tor, öffnete die Hundetür und schlüpfte hinaus. Ich zog die Tür hinter mir zu und wandte mich sofort nach rechts. Ich konnte keineswegs dem breiten Kiesweg zum Zufahrtstor folgen. Von dort käme mir die Ablösung an den Spieltisch im Keller entgegen, die bis vor wenigen Minuten am Tor Wache gehalten hatte.

Ich bewegte mich im Schatten des Schlosses, teilweise von Büschen verborgen, die um dieses herum angepflanzt worden waren, nachdem die gigantische Rosenhecke abgerissen worden war. Es handelte sich um Taxus- und Rhododendronbüsche. Rosen mochte meine Mutter in unmittelbarer Nähe des Schlosses nicht mehr dulden, obwohl deren Blüten noch immer unser Wappen zierten: zwei gekreuzte, dornenbewehrte Rosenstängel mit Blüten in rot und weiß.

Geduckt schlich ich in Richtung des hinteren Gartens, an den sich, wie ich schon erwähnte, der Turnierplatz anschloss. Dieser besaß ein eigenes Tor, das benutzt wurde, um die Pferde für Ausritte in die Umgebung hinauszuführen. Natürlich würde dieses Tor um diese Zeit geschlossen sein, aber auf der Gartenseite verfügte es über schmiedeeiserne Zierstreben, die ich in meinen Kindertagen gern für Kletterübungen benutzt hatte. Wenn ich während meines Schlafes nicht völlig eingerostet war, sollte ich dort sehr einfach hinaufkommen. Ein Sprung und ich wäre in Freiheit.

Ich erreichte die rückwärtige Schlossfront, linste um die Ecke und stellte fest, dass die Luft rein war. Eine Wolke hatte sich vor den Mond geschoben und erleichterte meine Aufgabe, unbemerkt zu bleiben. Die Wachen beschäftigten sich vermutlich noch mit der Ablösung. Ich packte meine Tasche fester und eilte über die kiesbestreute Freifläche hinter dem Schloss zur gegenüberliegenden Mauer. Hier gab es wieder kunstvoll beschnittene Bäume, Büsche und Skulpturen unbekleideter Damen und Herren, bei denen es sich um Gottheiten handelte. Ich hatte mich als Kind oft gefragt, ob die Götter so arm waren, dass sie sich keine Kleidung leisten konnten.

„Halt! Wer da?“

Na toll. Ich warf die Tasche hinter einen Busch, sprang hinterher, warf mich zu Boden und kroch halb unter das Gewächs.

Schritte näherten sich.

„Da war ein Schatten“, sagte eine Männerstimme. Sie gehörte einem der Verlierer aus dem Wachzimmer. Ich hatte sie ganz zu Beginn meines Kellerbesuchs vernommen.

„Wird irgendein Tier gewesen sein, Rudolf.“ Diese Stimme gehörte dem vom Glück Verfolgten.

„Muss ein ziemlich großes Tier gewesen sein.“ Schritte näherten sich. „Wir sollten uns das mal genauer ansehen.“

„Was du nur hast? Glaubst du wirklich, jemand will sich ins Schloss schleichen? Was soll er da wollen?“

„Keine Ahnung, Arthur. Vielleicht die Prinzessin rauben.“

„So ein Unsinn“, sagte Arthur. „Du hörst zu viele Bänkelballaden. Alle lieben die Prinzessin. Wir können froh sein, dass wir sie haben.“

„Ja, eben. Und da sind die anderen Reiche rund rum neidisch und missgönnen sie uns.“ Dieser Rudolf stand inzwischen dicht vor meinem Busch. Ich konnte seine Stiefelspitzen sehen. Sie drehten sich nach links und rechts. „Hier ist keiner“, sagte er.

„Sag ich doch.“

„Ich könnte schwören …“ Ein Fingerschnipsen folgte. „Sehen wir weiter dort drüben nach.“

Ich nahm an, er deutete in Richtung auf den Turnierplatz. Schönen Dank auch, dann musste ich noch eine Weile hier im Gras liegen bleiben und abwarten, dass sie von ihrer Streife zurückkamen. Ich konnte nur hoffen, dass sie mich nicht aus den Augenwinkeln sahen, wenn sie mein Versteck passierten.

Arthur stöhnte. „Das ist nicht mehr Patrouillenstrecke. Da beginnt das Turniergelände.“

„Dann bleib du hier. Ich gehe allein. Behalt mich im Auge, falls mir jemand auflauert, schlägst du Alarm.“

„Meinetwegen.“

Schritte passierten mich. Ich versuchte, ein Stück weiter unter das Gebüsch zu kriechen, ohne einen Laut zu verursachen, schließlich stand dieser Arthur noch herum. Zu meinem Glück gelang mir das. Nach einer gefühlten Ewigkeit, und das ist nicht nur so dahergeredet, kehrte Rudolf zurück.

„Nichts zu sehen. Wahrscheinlich hattest du recht. War wirklich nur ein Tier.“

„Dann lass uns endlich unsere Runde weitergehen“, sagte Arthur praktisch über meinen Kopf hinweg.

Ich spürte, dass irgendetwas über mein linkes Bein krabbelte. Nicht schreien! Das ist ein Käfer, ein harmloser, kleiner Käfer! Weil mein Mund aber auf meinen Verstand nicht hören wollte, blieb mir nur, mir die Faust so fest in den Mund zu stopfen, wie es ging.

„Da hat was geraschelt.“

„Bei meiner Mutter, Rudolf! Du hörst heute Nacht die Flöhe husten!“

Endlich zogen die Wächter ab. Eigentlich gebührte zumindest Rudolf ein Lob. Er war aufmerksam und ganz dem Schutz des Schlosses und seiner Bewohner verpflichtet. Sein Kartenspiel mochte sein, wie es wollte, als Wächter verhielt er sich vorbildlich. Ich musste mir seinen Namen merken, bis ich dereinst zurückkehrte.

Ich blieb liegen, bis ich die sich entfernenden Schritte nicht mehr hörte, dann stand ich eilig auf, hetzte in Richtung Turnierplatz, wo ich hinter einer alten Eiche in Deckung ging. Sollte Rudolfs Gehör wieder etwas bemerkt haben, wollte ich unsichtbar sein, falls er sich umwandte.

Der Turnierplatz war ein großes von alten Bäumen umstandenes Oval. Ein hüfthoher Zaun aus weiß gestrichenem Holz umgab es. Ein weiteres Zaunoval im Inneren trennte eine breite Laufbahn ab. Direkt mir gegenüber befand sich eine ebenfalls geweißte Tribüne, die für den Hofstaat und Gäste ausreichend groß war. Entlang des Ovals fanden die sogenannten Wettrennen statt. Dabei traten die schnellsten Pferde und geschicktesten Reiter aus unserem und den umliegenden Königreichen und Baronien gegeneinander an. Meist gewannen die Teilnehmer aus Aquimera.

In meiner Jugend gab es im Innenraum zwei längs verlaufende, ebenfalls gegeneinander durch einen Zaun getrennte Sandstreifen. Hier waren die Ritter und Edelleute zu Pferde mit Lanzen gegeneinander angetreten. Sie versuchten mit diesen, den jeweiligen Gegner aus dem Sattel zu stoßen. Allerdings gab es diese Art Turnier nicht mehr. Prinz Gregor hatte mir erzählt, dass das Lanzenbrechen vor nahezu fünfzig Jahren aus der Mode gekommen war. Die Wettrennen aber erfreuten sich nach wie vor großer Beliebtheit und fanden etwa einmal pro Monat statt.

Ich schlich ganz nach rechts zur Außenmauer und dann an dieser entlang zum Tor. Es war noch da und sah genauso aus, wie ich es in Erinnerung hatte. Das eiserne Spalier an der Turnierplatzseite machte ein Übersteigen zum Kinderspiel, wäre da nicht die Tasche gewesen. Ich konnte sie nicht in der einen Hand halten und nur mit der anderen klettern.

Ich stand ein paar Augenblicke da und schaute das etwa zwei Meter hohe Tor hinauf. Dann kam mir eine Idee. Ich stellte mich mit dem Rücken zum Tor, nahm den Henkel der Tasche in beide Hände und nahm all meine Kraft und Entschlossenheit zusammen. Ich beugte mich nach vorn, schwang die Tasche rückwärts und schnellte dann nach vorn und die Arme nach oben. Schließlich ließ ich los und drehte mich um. Ich sah sie in hohem Bogen hinauf und über das Tor fliegen. Das war geschafft. Jetzt musste ich nur noch klettern.

Ich stellte fest, dass ich seit meinen Kindertagen doch ein wenig an Kletterkunst eingebüßt hatte, aber schließlich saß ich doch oben auf dem Tor und sah auf der anderen Seite auf den Pfad hinab, der aus dem Wald kommend dort endete. Meine Tasche lag ein Stück entfernt am Stamm einer Kiefer.

Die Wolken zogen zur Seite, der Mond kam wieder hervor und ich sprang in die Freiheit.

Gregor von Aquimera

Zwei Tauben, die vor meinem Fenster turtelten, weckten mich mit ihrem Gegurre. Ich weiß nicht, was andere Leute so toll an diesen Viechern finden, für mich erzeugen sie eines der nervtötendsten Geräusche, dem man am frühen Morgen ausgeliefert sein kann. Ich schwang die Beine aus dem Bett.

So begann der Tag meiner Märchenhochzeit mit Prinzessin Isabell von Rosenthal, genannt Dornröschen. Eigentlich sollte ich singend und tanzend meine Rasur und Morgentoilette absolvieren, aber ein dumpfes Gefühl der Ungewissheit verhindert einen derartigen Überschwang.

Natürlich konnte niemand, der Augen im Kopf hatte, abstreiten, dass die Prinzessin wunderschön aussah. Sie bewegte sich wie eine Elfe, lächelte wie die gute Fee, die gerade drei Wünsche gewährte, und wenn der erste Wunsch dabei dazu führte, dass man sie in den Armen halten und den lieblichen Mund küssen durfte, konnte man die anderen beiden getrost vergessen. Ich weiß nicht, ob das, was ich für sie fühlte, tatsächlich Liebe war, denn ich bin nie zuvor verliebt gewesen, aber die Vorstellung, nicht an ihrer Seite bleiben zu dürfen, bohrte sich wie ein Dorn in meinen Leib.

Allerdings gab sie sich stets distanziert. Sie blickte mich bei den wenigen Gelegenheiten, die wir gemeinsam verbrachten, an, als wäre ich ein Möbelstück, das man ihr, ohne sie zu fragen, ins Zimmer gestellt hatte. Ein Möbelstück, leider, das von einem sehr unbegabten Tischler angefertigt worden war. Einmal hatte sie ihre Bedenken gegen unsere Ehe in einen sehr schlichten Satz gekleidet: „Wir kennen uns doch gar nicht richtig.“

Während des Monats, den ich in diesem seltsamen Königreich verbracht hatte, lernte ich viel über das neue Denken, das die Köpfe der Menschen hier beherrschte. Der wichtigste Grundsatz lautete, einfach formuliert: Alle Menschen sind gleich. Eine seltsame, mein Vater sagte sogar gefährliche, Idee. Die Rosenthaler waren überzeugt davon, dass es besser sei, sich jene Personen, die die Geschicke des Reiches lenkten, selbst auszuwählen, statt darauf zu hoffen, dass jene, die diese Aufgabe als Geburtsrecht übernahmen, auch wirklich weise und gut erzogen wären, und das Wohl des Landes über das eigene Wohl stellten.

Ich könnte nicht sagen, dass ich diese Vorstellung tatsächlich schlecht fände. Immerhin hatte ich an der Seite meines Vaters bei Staatsbesuchen einige Könige kennengelernt, die man, wenn sie als einfache Bürger geboren worden wären, in Eisen gelegt und in eine Irrenanstalt gesperrt hätte.

Aber ich wusste auch von einem Land im Westen am Großen Meer, in dem ebenfalls der Herrscher von den Einwohnern bestimmt wurde, wo über viele Jahre einer regiert hatte, der Stroh auf dem Kopf und eine rote Pappnase trug, und sich wie ein Hofnarr gebärdete.

Diese Gedanken hatten mich kurzzeitig von meinen Sorgen abgelenkt, aber jetzt brandeten sie mit neuer Heftigkeit durch meinen Kopf. Würde es mir gelingen, die Prinzessin glücklich zu machen?

Ich verscheuchte die Überlegungen, die sowieso zu keinem Ergebnis führen würden. Wir heirateten und dann mussten wir weitersehen. Ich ging ins Bad, seifte mich von oben bis unten ein, wusch mich ab, besprühte meinen Körper mit Duftwasser und zog mich an.

In meiner Heimat beginnt der Tag für Männer und Frauen mit einem guten Frühstück. Ein solches besteht für den Aquimerer aus Schinkenspeck, Eiern, geräuchertem Fisch, dunklem Brot mit guter Butter und einer Schüssel mit weißen Bohnen in der berühmten Aquimeranischen Spezialsoße. Sie besteht zu großen Teilen aus Essig und Zucker. Der Koch hier im Schloss verwendete, als ich ihn nach dieser Soße fragte, jedoch das Wort berüchtigt. Es fiel mir nicht leicht, mich an jene Kost zu gewöhnen, die es hierzulande zum Fastenbrechen am Morgen gab.

Die Leute in Rosenthal frühstücken weißes Brot, Haferflocken und Dickmilch. Zu all diesem gibt es ihr geliertes, eingekochtes Obst, das sie Marmelade nennen. Der einzig nicht süße Bestandteil, der einem angeboten wird, ist eine Auswahl von geschätzten hundertfünfzig Sorten Käse. Harte Käse, weiche Käse, Käse aus der Milch von praktisch jeder Art Haustier außer vom Hund, Käse, der nach nichts schmeckt und riecht, und Käse, der dermaßen stinkt, dass er als Waffe gebraucht werden könnte. Aber um der Prinzessin zu gefallen, opferte ich mich auf und aß, was die Einheimischen aßen.

Ich verließ mein Zimmer und trat auf den Gang hinaus. Ein Wächter eilte an mir vorbei und kürzte mit seiner Pike beinahe meine Nase.

„He! Was soll das?“ Der Mann ignorierte meinen Ausruf und verschwand an der Treppe. Na, das würde ich dem König unter die Nase reiben. So konnte man doch einen zukünftigen Schwiegersohn nicht behandeln oder, besser gesagt, ignorieren.

Ich wandte mich in die Richtung, in der Pike und Wächter gerade verschwunden waren. Frühstück gab es für die Königsfamilie, mich und meine Eltern im Thronsaal an der sogenannten kleinen Festtafel. Ich lief die Treppe hinab, wandte mich nach rechts, trat durch die Tür und blieb verblüfft stehen.

Nicht nur, dass die Tafel nicht eingedeckt war, auch fehlte die Königsfamilie, die gewöhnlich bereits zu Tisch saß, wenn ich kam. Vermutlich aufgrund des genossenen ausgiebigen Schlafes gehörten sie inzwischen zu den Frühaufstehern. Irgendetwas stimmte hier ganz eindeutig nicht. Ich trat wieder aus dem Saal und kehrte ins Treppenhaus zurück.

Eine der jungen Küchenmägde kam aus dem Keller empor. Sie sah mich und brach in Tränen aus. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich tatsächlich so grässlich aussah. Also eilte ich auf sie zu und fragte: „Was ist hier los?“

„Das … das … ist so … schrecklich!“, stammelte sie, wandte sich ab und eilte die Treppe hinunter.

Waren über Nacht alle verrückt geworden? Ich stand am Treppenabsatz und starrte der Magd sprachlos hinterdrein. In diesem Moment vernahm ich Schritte von oben. Ich sah hinauf und erblickte meine Eltern, die in gemessenem Schritt die Stufen herabkamen. Meine Mutter wurde von meinem Vater gestützt. Sie zerdrückte ein Taschentuch in ihrer Hand und wischte Tränen von ihren Wangen. Als sie meiner ansichtig wurde, befreite sie sich aus dem Griff meines Vaters und eilte auf mich zu. „Mein armer Junge, mein armer Junge“, wiederholte sie dabei unaufhörlich.

Ich sperrte den Mund auf, aber kein Laut kam heraus. Der Irrsinn griff immer mehr um sich.

„Mutter, was ist denn passiert?“, brachte ich schließlich heraus.

Sie packte mich an den Schultern. Wir standen uns auf Armabstand gegenüber. Sie sah mir fest in die Augen und sagte: „Mein Sohn, du musst jetzt sehr stark sein. Die Prinzessin ist weg.“

„Die … Was? Was soll das heißen? Weg?“

„Sie ist verschwunden. Abgehauen, wie der Pöbel es ausdrückt.“

„Abgehauen?“

„Sie hat in der vergangenen Nacht das Schloss mit unbekanntem Ziel verlassen. Ihr Vater hat uns gerade in Kenntnis gesetzt. Die Zofe hat einen Brief von ihr gefunden. Soweit wir informiert sind, schreibt sie darin, dass sie nicht heiraten kann und will. Sie weiß nach ihren Worten nicht, ob sie dich liebt. Sie will, und das hört sich doch wirklich verrückt an, sich selbst finden.“

„Was soll denn das bedeuten?“

Meine Mutter zuckte die Schultern. „Woher soll ich das wissen? Wer weiß schon, was im Kopf einer Verrückten vorgeht?“

„Du sprichst von meiner Braut, Mutter!“ Ich war verwirrt, zornig, verletzt – alles gleichzeitig.

„Ex-Braut. Du glaubst doch nicht, dass Vater und ich dieser Ehe noch zustimmen werden?“

„Ich habe die Prinzessin aus dem hundertjährigen Schlaf errettet. Mir ist sie deshalb versprochen.“ Ich wand mich aus dem Griff meiner Mutter. „Ich werde sie suchen, zurückbringen und heiraten.“

„Sie weiß ja nicht einmal selbst, wo sie ist. Wie willst du sie da finden? Und warum? Offenbar liebt sie dich nicht.“ Während meine Mutter sprach, trat mein Vater an ihre Seite und legte ihr eine Hand auf die Schulter.

„Aber ich liebe sie“, platzte ich heraus und erntete seltsame Blicke.

„Das macht es noch schlimmer“, sagte mein Vater schließlich. „Obwohl es natürlich völlig belanglos ist. Du hast Dornröschen befreit, dir gebührt es, sie zu heiraten, den Reichen Aquimera und Rosenthal zu neuer Blüte verhelfend.“

„Belanglos? Meine Gefühle sind belanglos?“, ereiferte ich mich.

Meine Mutter trat dichter an mich heran und lächelte aufmunternd. „Natürlich nicht, mein Junge. Was dein Vater meint, ist, dass der Affront natürlich viel tiefer geht. Er trifft ja nicht nur dich, er trifft das gesamte Reich.“

„Das schert mich nicht“, brachte ich hervor und für einen Augenblick fürchtete ich, völlig unprinzenhaft in Tränen auszubrechen.

In meinem Hinterkopf machte sich ein Gedanke breit, den ich in den letzten Tagen nie hatte ganz verdrängen können. Es handelte sich um die Frage, ob die Prinzessin mich liebte. War ich nicht gerade mit solchen Überlegungen im Kopf aus dem Schlaf geschreckt? Und nun bestätigten sich meine Befürchtungen auf die schlimmste denkbare Weise.

„Die Prinzessin zu finden und zurückzubringen ist nicht unsere Aufgabe. Darum müssen sich schon die Rosenthaler kümmern“, sagte mein Vater entschieden. „Ich kann nicht zulassen, dass mein Sohn und Thronerbe durch die Wildnis zieht.“

„Aber es ist …“ Ich unterbrach mich, als das Königspaar von Rosenthal die Treppe herabkam. Sie sahen beide blass aus und stützten sich offensichtlich gegenseitig in dieser schweren Stunde. Sie erreichten die Ebene des Thronsaales und kamen zu mir und meinen Eltern herüber. Alles Elend dieser Welt sprach aus ihren Blicken.

„König Friedhelm, Königin Dietlinde.“ Ich verbeugte mich angemessen.

„Eure Eltern haben Euch gewiss bereits mitgeteilt, was geschehen ist, Prinz Gregor. Wir sind rat- und fassungslos. Es sind bereits Wachen in alle Himmelsrichtungen entsandt, die Prinzessin zu suchen und wieder zum Schloss zurückzubringen“, sagte König Friedhelm gemessen, aber mit nur schlecht verhohlenem Schmerz in der Stimme.

„Ich möchte nur mal wissen, was in das Kind gefahren ist“, erregte sich seine Gemahlin. „So etwas hat sie doch früher nicht gemacht.“

„Es ist ja auch ihre erste Hochzeit“, sagte ich.

„Natürlich, Prinz Gregor, aber in ihrem Alter sollte sie doch …“

„Sie ist erst achtzehn“, sagte König Friedhelm. „Die Jahre des magischen Schlafes kann man nicht anrechnen. Das wird der Prinz gewiss auch so sehen.“

Natürlich sah ich das so. Dachten die Rosenthaler tatsächlich, ich würde eine Frau von über hundert Lenzen ehelichen wollen? Was sollte diese Überlegung überhaupt? Wollten sie damit bewirken, dass ich auf die Hochzeit verzichtete?

Ich mochte dazu bereit sein, wenn die holde Prinzessin mich darum bat, aber das sollte sie von Angesicht zu Angesicht tun. Sich des nachts einfach davon zu schleichen, war nicht die Art, die einer Prinzessin gut zu Gesicht stand. Sie hätte mir wenigstens die Chance geben sollen, um sie zu kämpfen.

Ich liebte Dornröschen wirklich. Ich spürte, wie sich ein tiefer Riss in meinem Herzen auftat und erbarmungswürdig schmerzte.

Ich konnte mich noch gut erinnern, wie alles angefangen hatte. Ich war gerade vierzehn Jahre alt geworden, da nahm ich ihr feines Antlitz zum ersten Mal bewusst als Mann wahr. Es prangte als Kohlezeichnung auf einem Plakat, das für die alljährlichen Rosenspiele vor dem Schloss von Rosenhort warb. Es hieß, wer diese Wettkämpfe gewann, würde die Chance erhalten, sich daran zu versuchen, die Rosenhecke um das Schloss zu zerschlagen und das Dornröschen mit einem Kuss zu erwecken.

Ich war natürlich noch zu jung für diese Wettkämpfe. Ich riss das Plakat von der Wand des Hauses, an der es geklebt hatte, rollte es ein und stopfte es unter mein Wams. Daheim versteckte ich es in einer Schublade meines Schrankes und holte es nur hin wieder hervor, um die sanften Züge, die zierliche Nase, die langen Haare zu betrachten. In den Nächten nach solcher Betrachtung schlief ich unruhig und am Morgen schnalzte mein Kammerdiener unzufrieden mit der Zunge und sagte: „Mein Prinz hat wieder aufregende Träume gehabt, wie ich feststellen muss.“ Dann läutete er nach einer Zofe und ließ frische Laken auflegen.

Ernsthaft eine Teilnahme an den Wettkämpfen von Rosenthal erwog ich, nachdem ich achtzehn geworden war. Unser Stallmeister und der Vogt erzählten mir von den verschiedenen Prüfungen, die zu bestehen waren, um siegreich zu sein. Nicht allein Reiten, Fechten, Faustkampf und Waldlauf mussten absolviert werden, es gab auch ein Ratespiel, bei dem die Stärke des Geistes der Teilnehmer geprüft wurde. Alles diente dem Zweck, einen Retter der Prinzessin herauszufinden, der würdig war, nach erfolgreicher Mission auch ihr Ehemann zu werden.

Als ich all die Teilnehmer erblickte, die sich gemeinsam mit mir an den Prüfungen beteiligten, wurden meine Knie weich. Da kamen gestandene Ritter, die einen Baum mit einem Schwerthieb längs spalten konnten, weise Alchemisten, die auf alle Fragen der Erde und des Himmels Antworten wussten, edle Recken, die während eines Rittes über den Rücken eines Pferdes tanzten, als sei es fester Boden, schlanke Edelmänner, die einen Hasen im Lauf überholten. Und so zog ich im ersten und auch im zweiten Jahr meiner Teilnahme schon nach wenigen Prüfungen als Unterlegener wieder heimwärts. Aber ich wurde besser von Jahr zu Jahr. Auch steigerte sich meine Liebe zur Prinzessin mehr und mehr. Inzwischen zeigten die alljährlichen Plakate ihr Gesicht und ihren Oberkörper als farbiges Bild. Und dieses brannte sich tief in mein Herz ein.

Als ich dann siegte und tatsächlich die Hecke zu durchdringen vermochte, kannte mein Glück keine Grenzen. Natürlich, es gab hinterher Neider, die sagten, ich hätte lediglich Glück gehabt, denn es sei ein reiner Zufall, dass ich am Ende des hundertsten Jahres des Schlafes jener gewesen sei, der das Turnier gewann. Aber tief in mir wusste ich, dass dies nicht der alleinige Grund für meinen Erfolg sein konnte. Der Zauber hatte meine tief empfundene Liebe erkannt und mich deshalb passieren lassen.

Zu dumm, dass die Prinzessin das nicht auch erkannt hatte.

Hätten wir mehr Zeit allein verbringen können, vielleicht bei Waldspaziergängen, gemeinsamen Ausritten oder Bootspartien auf dem Rosace, wäre mir bestimmt gelungen, ihr Herz für mich zu gewinnen. Aber immer waren Leute um uns herum, die uns erklärten, was wir sagen und tun sollten. An manchen Abenden hatte ich mich wie eine Holzpuppe gefühlt, die den ganzen Tag über an Fäden herumgeführt worden war.

Ich betrachtete die beiden Königspaare, die sich gegenseitig beteuerten, dass sie alles erdenkliche unternehmen würden, damit die Hochzeit stattfinden konnte. Dabei hatte meine Mutter vor wenigen Minuten erst erklärt, wie unpassend sie die Hochzeit jetzt fand. Da ging mir durch den Kopf, dass es eigentlich ein Wunder war, dass wir nicht früher gemeinsam ausgerissen waren.

Und in diesem Moment wusste ich, was ich tun musste. Ich musste ebenfalls aus dem Schloss flüchten, mich in das Abenteuer stürzen wie meine Braut. Meine Eltern wollten nicht, dass ich mich an der Suche beteiligte. Aber das war mir egal, denn mein Herz befahl mir, ungehorsam zu sein und aufzubrechen. Ich musste es nur unbemerkt schaffen.

Ich verkündete, ich habe Kopfschmerzen und wolle mich in mein Zimmer zurückziehen.

„Mein armer Junge“, sagte meine Mutter und strich mir übers Haar.

Ich entzog mich ihrem Trost und eilte zur Treppe. Dort wandte ich mich noch einmal um und sagte: „Wartet nicht mit dem Essen auf mich. Ich begebe mich wieder zur Ruhe.“

„Es hat ihn wohl hart getroffen?“, hörte ich den König von Rosenthal fragen, als ich die ersten Stufen nach oben nahm.

„Wirklich verliebt, der arme Kerl“, antwortete mein Vater. Es klang, als hätte ich eine tödliche Seuche.

Ich ging auf mein Zimmer und grübelte an einem Fluchtplan. Wenn es einer zierlichen Person wie der Prinzessin gelungen war, diesem Schloss zu entkommen, musste es einem gestandenen Kämpfer wie mir doch wohl auch gelingen. Jetzt mochte sich all mein Training für die Rosenspiele erneut auszahlen. Ich trat ans Fenster und sah hinaus.

Zwei Wachen liefen gerade an der äußeren Mauer entlang, die Piken etwas zu lässig für meinen Geschmack geschultert. Ich wusste, dass auch am vorderen Tor ein Paar Wächter stand. Normalerweise liefen auch mehrere durch das Haus, aber von denen war heute noch keine Nasenspitze zu sehen gewesen. Wahrscheinlich waren sie auf die Suche nach der Prinzessin geschickt worden.

Vor dem Schlosstor mochten inzwischen die Kutschen der Gäste ankommen. Ich fragte mich, wie sie wohl reagieren würden, wenn man ihnen mitteilte, dass sie ganz umsonst teilweise mehrtägige Anreisen auf sich genommen hatten. Hoffentlich kam es zu keinem Krieg, nur weil ein König oder Baron unterwegs schlecht geschlafen hatte.

Auch das Volk von Rosenthal würde sicherlich nicht begeistert sein, wenn es erfuhr, dass die Hochzeit abgesagt war. Wie überall auf der Welt liebte auch hierzulande das einfache Volk Speise und Trank. Und eine Hochzeit galt allemal als ein ausgezeichneter Grund, um zu schlemmen und sich volllaufen zu lassen. Eine Schinkenquiche und einen Becher Wein auf das Wohl des Brautpaares! Darauf musste man nun verzichten.

Im Schutze der Dunkelheit wäre es natürlich viel einfacher gewesen, aus dem Schloss zu verschwinden. Aber so lange wollte ich nicht warten. Dann hätte Dornröschen einen ganzen Tag Vorsprung und konnte sonst wo im Reich sein.

Ich beobachtete die Wachen, die an der Mauer entlangliefen, hin und wieder einen Blick zur Seite warfen, zumeist aber einfach den Weg vor sich im Auge behielten. Ich dachte über die Torwächter nach. Sie standen dort draußen vor ihren Schilderhäuschen und musterten jeden eingehend, der sich dem Schlosstor näherte. Verlangte jemand Einlass, so fragten sie nach seinem Begehr, untersuchten ihn auf verborgene Waffen und ließen ihn passieren, wenn er sich als ungefährlich erwiesen hatte. Die Besucher des Reiches, die einen Blick auf das berühmte Schloss hinter den Rosenhecken ergattern wollten, stellte sich, so weit wie es erlaubt war, in ihre Nähe und ließen sich von Schnellzeichnern porträtieren, Schloss im Hintergrund, Wache zur Linken oder Rechten. Ein Bild, um es daheim an eine Wand zu hängen und sich zu erinnern.

Und dann kam mir die Erleuchtung. All diese Wachen sorgten dafür, dass niemand unbefugt HINEIN kam. Auf jemanden, der HINAUS wollte, achteten sie viel weniger. Bis sie bemerkt haben würden, wer sich da verdrückte, war es zu spät. Die einzige Gefahr für diesen Plan ging von meinen Eltern und dem Königspaar von Rosenthal aus.

Ich packte ein paar bequeme Sachen in einen Mantelsack, legte mein Rasierzeug, Seife und eine warme Decke dazu und warf das Bündel am Ende aus dem Fenster. Sicherlich würde es Fragen aufwerfen, wenn ich Gepäck die Treppe hinuntertrug.

Dann zog ich mich für einen Ausritt um. Mein treuer Hengst Traumfänger stand seit der Errettung der Prinzessin in den Stallungen des Königs. Hin und wieder war ich mit ihm rund um den Turnierplatz geritten. An manchen Tagen, wenn ich nicht genug Zeit fand, bewegte ihn einer der Stallburschen.

Ich trat aus dem Gästezimmer auf den Gang, der verwaist wirkte. Heute sollten sich viele fröhliche Gäste im Schloss aufhalten, stattdessen verströmte es im Augenblick die Atmosphäre einer Leichenhalle. Ich lief Richtung Treppenhaus. Eine der Zofen kam mir entgegen, knickste, brach in Tränen aus und eilte an mir vorbei. Ich sah ihr einen Moment lang nach, dann ging ich weiter.

Im Erdgeschoss traf ich auch niemanden an. Die Königseltern hatten sich vermutlich zur Beratung in den Thronsaal begeben. Ich verließ unbehelligt das Schloss. Vor der Tür stand ein einzelner Wächter, der salutierte, als ich ihn passierte.

Ich eilte zum Turnierplatz und dort zu den Stallungen. Auch hier hielt sich keine Menschenseele auf. Die Pferde standen schnaubend in ihren Boxen. Sie wirkten, als wüssten sie, dass etwas Unvorhergesehenes geschehen war.

Ich ging zu Traumfängers Box, öffnete sie und streichelte beruhigend seine Flanke, während ich auf ihn einflüsterte. Ich schilderte ihm meine Sorgen, auch wenn er sie nicht verstand. Ich griff nach dem Sattel- und Zaumzeug, legte ihm alles an und führte ihn nach draußen. Dort schwang ich mich auf seinen Rücken und rief: „Auf gehts!“

Er wusste genau, was er bei diesen Worten zu tun hatte. In strammem Galopp fegten wir vom Turniergelände herunter in den Gartenbereich. Wir passierten die Wächter an der Mauer, die uns verblüfft nachsahen, und rasten zum Tor hinaus.

Draußen empfing uns die Menge der Bürger von Rosenhort und Umgebung. Mit gespannten Blicken standen sie herum und starrten zum Schloss. An einer Mauer fiel mir ein Plakat auf. Ich konnte nicht alles lesen, was auf ihm geschrieben stand. Nur ein Wort sprang mich förmlich an: „Märchenhochzeit“.

Ich konnte mir nur zu gut vorstellen, wovon die Rede war und einmal mehr bohrte sich ein Stachel in mein Herz. Er wurde nicht einfach so in dieses hineingetrieben, wie ein Dolch, der ein schnelles Ende bringt, sondern genüsslich von einem erfahrenen Folterknecht hineingedreht, wie der Bohrer des Schreiners in Holz.

Hinter mir hörte ich jetzt einige überraschte und auch erschrockene Ausrufe, aber ich zügelte Traumfänger nicht, sondern trieb ihn noch hurtiger an. Vor mir spritzte die Menge auseinander und gab einen Weg in Richtung der Stadt frei.

Wie sollte es weitergehen? Wie wollte ich die Prinzessin finden?

Isabell von Rosenthal

Die Nacht war furchtbar gewesen, dunkel, kalt und voller Augen, die mich aus der Schwärze des Waldes heraus anstarrten. Ich setzte mich an einen Baum auf den Boden, umarmte mich selbst und fiel in einen Halbschlaf, aus dem das leiseste Geräusch mich aufschreckte. Zwischenzeitlich wollte ich in den Schutz des Schlosses und der es umgebenden Mauern zurückklettern. Aber ich sagte mir, dies sei der Preis der Freiheit und ich würde ihn nicht auf ewig entrichten müssen. Als der Morgen graute, nahm ich die Wachuniform aus der Tasche und zog mich um. Erst wollte ich das Kleid mitnehmen, überlegte es mir jedoch anders. Ich steckte das Seifenstück in die linke und die Haarbürste in die rechte Tasche der Uniformjacke und ging ohne Gepäck meiner Wege.

Ich lenkte meine Schritte in Richtung Stadt. Ich fühlte mich wie nach mehreren Übungsstunden mit dem Schwert, war müde und vor allem hungrig. Ein heißer Kakao wäre auch nicht schlecht.

Als ich die ersten Straßen erreichte, begrüßte mich eine lebhafte Geschäftigkeit, die ich so früh am Morgen nicht erwartet hatte. Männer schoben oder zogen Karren mit Waren zu Geschäften, Frauen hängten Wäsche aus dem Fenster, standen in Vorgärten und wässerten Blumen oder schoben Kinderwagen vor sich her durch die Straßen. Über allem lag eine gespannte Fröhlichkeit. Ich ahnte, woraus diese resultierte. Es war die Vorfreude der Leute auf die geplante Hochzeit. Daraus würde leider nichts werden. Ein wenig tat es mir leid, dass ich den Leuten ihren Spaß raubte, aber schließlich wäre ich bis ans Ende meines Lebens mit Prinz Gregor verheiratet und nicht sie. Da sollte es doch wohl meine Entscheidung sein, ob ich das wollte oder nicht.

Überall entdeckte ich Plakate, die eine Märchenhochzeit und ein großes Volksfest auf dem Marktplatz versprachen. Nicht mehr lange, dann würden Boten kommen, die diese entfernten oder überklebten. Vielleicht fand das Volksfest ja dennoch statt. Menschen lassen sich nur sehr ungern vom Feiern abhalten. Bestimmt organisierten sie sogleich ein Die-Prinzessin-ist-verschwunden-Fest. Schließlich hatten sie auch aus dem Fluch des hundertjährigen Schlafes eine alljährliche Vergnügung gemacht.

Ich spürte Hunger und sah mich nach einem Ort um, wo ich etwas zu essen bekommen könnte. So schwer konnte das nicht sein, schließlich lieferte die Stadt dem Schloss all die Waren, die bei uns auf den Tisch kamen.

Trotz der frühen Stunde erschienen mir auf der Straße ausnahmslos fröhliche Menschen unterwegs zu sein. Ich beobachtete eine Weile einen Mann, der einen Karren voll Gemüse auslud und dabei mit einer Frau scherzte, die ihm die Waren abnahm und ins Haus trug.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite öffnete ein dickbäuchiger Mann mit weißem Haar gerade seine Fensterläden. Anhand der Auslagen erkannte ich den Bäcker. Nebenan musste ein Fleischer residieren, der blecherne Schweinskopf über der Tür sagte genug.

Mein Magen knurrte angesichts dieser Angebote vernehmlich. Ich trat an den Bäckerladen heran, setzte ein bezauberndes Lächeln auf und bat um ein kleines weißes Brot, wie es da verlockend in der Auslage lag.

Der Mann griff nach einer Papiertüte, stopfte eines der verlockend duftenden Exemplare hinein, hielt mir die offene Hand hin und verlangte einen Achteltaler. Ich sah ihn verblüfft an. Woher sollte ich Geld haben? Ich war die Prinzessin.

„Ich habe kein Geld“, sagte ich wahrheitsgemäß.

„Dann verschwinde!“ Der Mann blickte plötzlich überhaupt nicht mehr freundlich und wedelte mich mit der Hand, die nicht die Tüte hielt, fort.

„Aber ich habe Hunger.“

„Was geht das mich an. Bekommt ihr bei der Wache keinen Sold mehr?“ Er musterte mich von oben bis unten.

Ich senkte den Blick. Richtig, ich trug schließlich die Uniform einer Wächterin.

„Oder hast du die Uniform gar gestohlen?“ Der Mann schaute lauernd in mein Gesicht, als vermute er, es kürzlich auf einem Anschlag gesehen zu haben, der um Hilfe bei der Suche nach Räubern bat. Er rieb sich das Kinn. „Ich kenne deine Visage.“

Was waren denn das für Ausdrücke einer Prinzessin gegenüber? Klar, ich war nicht so gekleidet. Die Mütze verbarg mein darunter zusammengerolltes langes Haar. Und eigentlich wollte ich auch gar nicht erkannt werden. Höchste Zeit, zu verschwinden.

Ich trat rückwärts die Flucht an. Der Bäcker schaute mir grimmig hinterdrein. Kurz bevor ich mich abwandte, um nach einem freundlicheren Händler zu suchen, drohte er mir mit der Faust hinterher.

Auch die nächsten beiden Versuche, ohne Bezahlung etwas zu essen zu ergattern, schlugen fehl. Man gab mir keinen Brotkanten und auch keinen Apfel. Der eine Händler meinte, wenn die Wache so schlecht zahle, solle ich mir eine andere Arbeit suchen, die Frau mit dem Obst sah mich zwar mitleidig an, meinte dann jedoch, auch sie habe nichts zu verschenken. Dann gab sie mir einen Tipp, der freundlich gemeint war, jedoch wenig nützte. Sie sagte, zur Feier der Hochzeit der Prinzessin werde es beim Schloss gewiss gratis Speise und Trank für das einfache Volk geben.

Ich wurde immer hungriger und auch Durst meldete sich. Ob mir jemand wenigstens einen Schluck Wasser reichen würde, ohne dafür Geld zu erwarten?

Eine Kirchenglocke schlug die siebente Stunde des Tages. Ich schlich mich zu einer Straßenecke und ließ mich dort zu Boden sinken. Die Freiheit, die ich gesucht hatte, schmeckte plötzlich bitter. Gewöhnlich lag ich um diese Zeit noch in meinem warmen, kuschligen Bett. Wenn ich dann aufstand, erschien meine Kammerzofe, fragte nach meinen Wünschen. Ich wurde gewaschen und angekleidet und ging hinunter zum Frühstück mit meinen Eltern. Es gab frisches Brot, vielleicht sogar von jenem unfreundlichen Bäcker, Butter, Marmelade, Früchte, Haferflocken und an meinem Platz stand immer ein Becher Kakao. Hier aber gab mir niemand etwas, solange ich kein Geld besaß.

Zwei ältere Damen schritten vorbei.

„Sieh dir das an, Clothilde“, sagte die eine. „Unsere Schlosswache verlottert auch jeden Tag mehr.“

„Der Alkohol, Marianne, der Alkohol“, erwiderte die andere. „Es ist wirklich eine Schande.“

Sie ließen mich zurück und schritten mit erhobenen Nasen die Straße entlang, als seien sie selbst Königinnen. Ich sah ihnen nach und spürte gleichzeitig Zorn und Verzweiflung in mir aufflammen. Ich rappelte mich wieder auf und sah die Straße entlang zum Schloss zurück. All meine derzeitigen Sorgen wären auf ganz einfache Art und Weise zu tilgen. Ich musste nur dort hinunter gehen, mich am Tor melden und sagen, wer ich war. Vielleicht glaubte man mir nicht sofort, aber man riefe meine Eltern und die würden mich zweifellos erkennen und in ihre Arme schließen. Und alles, was ich bewiesen hätte, wäre, dass ich keinen Tag außerhalb der schützenden Mauern klarkam.

Pah! Diese Blöße würde ich mir niemals geben. Isabell von Rosenthal gehörte nicht zu diesen empfindlichen Persönchen, die sich beschwerten, wenn eine Erbse unter ihrer Matratze lag. Was hatte ich über diese Prinzessin gelacht, als ich in einem Nachrichtenbrief darüber las. Angelika von Andersen-Christianshans! Ha! Was für eine verweichlichte Version einer Dame königlichen Geblüts! Wahrscheinlich handelte es sich sowieso nur um eine Baroness.

Was würde ich also als Nächstes tun?

Mir etwas zu essen besorgen.

Ich ging weiter die Hauptstraße entlang. Langsam nahm die Geschäftigkeit zu. Ich sah Schulkinder, die ihr Bücherbündel unter dem Arm geklemmt, schwatzend und lachend an mir vorüberzogen, Handwerksburschen, die in Arbeitskleidung, mit Werkzeug in der Hand unterwegs waren zu ihren Meistern, sowie Frauen, die Ladenlokale öffneten, Türschwellen scheuerten und Fenster putzten. Ich sah Leute, die in ihren Vorgärten arbeiteten oder ihre Häuser in den Landesfarben für das von ihnen erwartete Fest schmückten.

Zwei weitere Male versuchte ich bei Händlern ohne Geld etwas zu essen zu bekommen, vergeblich. Nur Wasser reichte mir jemand in einem Krug zum Fenster hinaus, als ich darum bat. Es füllte kurz meinen Magen, aber der Hunger kehrte bald zurück, und zwar drückender als zuvor. Mit jeder Minute erschien es mir verlockender, einfach ein Brot oder ein paar Äpfel aus den Auslagen zu greifen und weiterzugehen. Zunächst konnte ich diese, einer Prinzessin unwürdigen Gedanken unterdrücken, aber je mehr mein Magen die Kontrolle über meinen Verstand übernahm, umso weniger verwerflich erschien mir ein derartiges Vorgehen. Das war doch kein Diebstahl, oder? Es handelte sich vielmehr um einen Akt der Selbstverteidigung. Jedes Gericht erkannte das an.

Das heutige Rosenhort, jene Stadt, die aus dem ehemaligen Dorf hervorgegangen und dabei dichter und dichter an das Schloss herangewachsen war, bis seine Hauptstraße schließlich direkt vor dessen Tor endete, hat die Form einer bauchigen Flasche. Der Hals weist auf das Schloss zu. Der dicke Bauch umringt die ursprüngliche Ortschaft.

Ich erreichte gerade jenen Punkt, wo der Hals in den bauchigen Teil besagter Flasche übergeht und die Hauptstraße von einer weiteren Magistrale gekreuzt wird, da wurde der Drang nach Essen übermächtig. An einer Ecke bot ein weiterer Bäcker seine Waren feil. Ich zögerte nur einen winzigen Moment, als der Mann sich kurz abwandte, weil jemand aus dem Inneren des Ladens ihn ansprach.

Ich griff nach dem ersten besten Gebäck, das ich erwischen konnte, und rannte davon. Schon wurden hinter mir Rufe laut, die verlangten, den Dieb zu halten.

Ich wandte mich von der Hauptstraße nach links, dorthin wo der Wald von Rosenthal-Wimmerwies begann, der im Norden von Rosenhort bis zur Grenze mit der Grafschaft Wimmerwies reicht. Hinter mir erklangen stampfende Schritte und drohende Rufe. Ich wagte einen Blick zurück. Der Bäcker und vermutlich zwei seiner Gesellen waren mir auf den Fersen.

Ich packte das schlanke Weißbrot, das ich erbeutet hatte, fester und beschleunigte meine Flucht. Ich schlug direkt vor einem Karren mit Heu einen Haken zur anderen Straßenseite, zerrte meinen Verfolgern im Vorbeilaufen einen Stuhl eines Gasthauses in den Weg, der dort unter dem Fenster gestanden hatte, und lief im Zickzack durch einen Trupp junger Leute hindurch, die laut diskutierend mir entgegenkamen.

Leider zeigte ein erneuter Blick zurück, dass sich die Verfolger nicht abschütteln ließen.

Nicht weit vor mir stand ein einsames Pferd gesattelt vor einem Haus. Ein Mann mit einem Mantelsack über der Schulter ging zu seinem Haus. Das Pferd blieb unbeaufsichtigt zurück. Wenn ich meinen Häschern entkommen wollte, war das meine Chance. Ich konnte das Tier ja später zurückbringen, wenn ich in der Welt mein Glück gefunden hatte. Es handelte sich nicht um Diebstahl. Ich lieh mir das Tier nur aus. Vielleicht konnte ich in sicherer Entfernung von der Stadt absteigen, dem Pferd einen Klaps geben und es trottete von allein in den heimischen Stall zurück. Unsere Pferde standen immer hinterher wieder in der Box, wenn man bei einem Ausritt von ihren Rücken gefallen war und sie davongelaufen waren.

Ich legte noch einen Zahn zu, erreichte das Pferd, schwang beherzt einen Fuß in einen Steigbügel und schon saß ich samt meinem Weißbrot im Sattel. Die zahllosen Reitstunden meiner Jugend waren eindeutig nicht umsonst gewesen.

Ich rief: „Hüa!“, stieß dem Tier meine Stiefelabsätze in die Flanken und es lief los.

Hinter mir erklangen erboste Ausrufe. Ich warf einen Blick über die Schulter und sah den Besitzer des Pferdes die Fäuste über dem Kopf in meine Richtung schütteln, während er zu Fuß die Verfolgung aufnahm. Natürlich besaß er keine Chance gegen das Pferd, wenngleich dies eher von einer gemütlichen Wesensart zu sein schien. Seine Vorstellung von Galopp ließ sich keineswegs mit denen der Turnierpferde des Königs vergleichen. Das Geschrei des Pferdebesitzers lockte einige Nachbarn an die Fenster oder vor ihre Haustüren, aber sie guckten nur. Wahrscheinlich hofften sie, einem Bänkelsänger oder Nachrichtenbriefschreiber von dem Ereignis berichten und ein paar Silberstücke verdienen zu können.

Wir, das Pferd und ich, preschten die Straße entlang. An ihrem Ende schlug sie einen weiten Bogen nach rechts, während direkt geradezu ein schmaler Fußweg zwischen den ersten Bäumen des Waldes hindurchführte. In die Rinde eines der Bäume war ein Wegzeichen geschnitzt. Ein Kreis und eine senkrechte Linie nach unten, eine stark vereinfachte Rose.

Ich lenkte das Tier in Richtung auf den Pfad. Kurz wehrte es sich gegen meine Hand. Vermutlich wäre es lieber auf der breiten Straße geblieben, statt sich durch den engen Pfad zu schlängeln, der vor uns lag. Aber wenn ich all diesen Verfolgern entkommen wollte, musste ich aus der Stadt heraus. Im Wald konnte ich das Brot verzehren und wenn ich Glück hatte, fand ich sogar ein paar Beeren, die mir seinen Geschmack versüßten.

Kurz hinter dem Waldrand fiel mir eine junge Frau auf, die zwischen den Bäumen am Wege stand. Obwohl sie kaum älter als ich aussah, trug sie das schlohweiße Haar einer Betagten. Wie ein gefrorener Wasserfall wand es sich über ihre Schultern und an ihrem Körper hinab beinahe bis zur Hüfte. Als ich mich nach ein paar Schritten meines Gauls noch einmal umsah, stand sie mitten auf dem Pfad und schien meinen Weg interessiert zu verfolgen. Ob sie mich erkannt hatte? Lief diese Person jetzt schnurstracks zum Schloss, um ihr Wissen dort vielleicht in klingende Münze zu verwandeln? Egal, ich würde meinen Weg gehen oder besser gesagt reiten. Eine einzelne neugierige Frau konnte mich nicht aufhalten.

Nach etwa einer Viertelstunde wurde der Pfad ein wenig breiter, der Wald links und rechts jedoch dichter und finsterer. Ich glaubte, Augen zu spüren, die mich beobachteten, aber immer, wenn ich meinen Blick wandte, sah ich lediglich ein paar Äste, die in seltsamer Weise beieinanderstanden oder eine Spechthöhle. Ich schüttelte den Kopf über meine Furchtsamkeit. Im Wald am Turnierplatz war ich schließlich auch schon oft ausgeritten. Natürlich wurde ich dort in meiner Jugend meist von einem Wächter und einer Gouvernante begleitet. Außerdem sollte es in diesem Wald Räuber geben.

Ich stoppte meinen Ritt, führte das Pferd vom Weg an den Waldrand und lehnte mich an einen Baum. Dann teilte ich das Brot, hielt die eine Hälfte dem braven Tier hin, das sie erst beschnupperte und dann nahm, und aß die andere selbst.

Ich schaute zur Krone des Baumes, unter dem ich stand, hinauf und entdeckte ein Eichhörnchen. Emsig eilte das Tier von einem Ast zum anderen, knabberte mal an diesem Zapfen, mal an jenem. Ich sagte mir, ich solle mir, anders als der Eichkater, in Ruhe überlegen, was meine nächsten Schritte sein sollten.

Ich musste mir ein neues Leben aufbauen. Ganz ohne Schloss und ohne die Betreuung von Dienern, Lehrern und Eltern. Ich musste Geld verdienen, denn sonst würde ich weiter Nahrung und Wasser erbetteln oder stehlen müssen. Keine Aussicht, die mir erstrebenswert erschien. Damit stellte sich die Frage: Was konnte ich?

Reiten, leidlich fechten, ein paar Selbstverteidigungshiebe beherrschte ich auch. Vielleicht konnte ich ja wirklich in irgendeiner Wache unterkommen. Bestimmt gab es reiche Leute, die einen Bewacher gebrauchen konnten, wenn sie sich zum Beispiel in diesen Wald wagten.

Als Mädchen hatte ich natürlich auch ein bisschen zum Thema Haushaltsführung gelernt. Eine Prinzessin, die später mal einen Prinzen heiraten sollte, musste schließlich einen ganzen Hühnerhof an dienstbarem Volk beaufsichtigen, wenn sie erst im eigenen Schloss residierte. Man musste der Köchin und den Stubenmädchen, den Zofen und den Hausdienern auf die Finger sehen, damit die Arbeit ordentlich erledigt und das Geld nicht zum Fenster hinausgeworfen wurde. Das hatte mir meine Hauswirtschaftslehrerin erklärt. Sie war eine Frau mit Adlernase und Adlerblick, die ich von ganzem Herzen verabscheut hatte. Sie sprach über Diener und Mägde grundsätzlich, als seien sie Inventar und keineswegs Menschen.

Mit solcherart Denken hatte die neue Zeit in Rosenthal gründlich aufgeräumt. Und im Gegensatz zu meiner Mutter konnte ich nichts Schlechtes daran finden.

Ich würde also in die nächste Stadt reiten und mich dort entweder als Wächterin oder Wirtschafterin verdingen. Ich wollte nicht in Rosenhort mein Glück in so einem Beruf versuchen, denn dort würde man mich früher oder später entweder aufspüren oder erkennen und ans Schloss zurückbringen. Und ich wollte meinen Eltern erst wieder unter die Augen treten, wenn ich meinen Weg gemacht hatte. Dann vielleicht sogar mit einem Mann an meiner Seite, den ich mir selbst auserwählt hatte.

Ich löste mich vom Baum, führte das Pferd, bei dem es sich um eine dunkelbraune Stute handelte, wieder auf den Weg zurück und stieg auf.

Im nächsten Augenblick surrte ein Pfeil über meinen Kopf hinweg. Gleichzeitig sprangen vor mir links und rechts zwei Männer aus dem Wald auf den Weg und richteten Armbrüste auf mich.

„Absteigen!“, kommandierte der eine von ihnen. „Ganz langsam.“

Ich dachte ja nicht dran!

Ich duckte mich hinter den Kopf des Pferdes, so gut es ging und stieß ihm die Absätze in die Flanken. Sofort stürmte es los. Links und rechts flogen Bolzen an uns vorbei. Einer der Männer auf dem Weg versuchte, den Zügel zu fassen zu bekommen. Ich zog den Gaul etwas nach links und wich ihm aus.

Aber kaum hatte ich die beiden Räuber passiert, tauchten aus dem Waldesdickicht weitere auf und diese waren auch zu Pferde. Und deren Pferde waren auch noch rassiger. Bald wurde ich links und rechts von zwei Reitern flankiert. Der auf der rechten Seite hatte die Hände von den Zügeln genommen und griff zu meinen hinüber, ohne langsamer zu werden. Er saß dabei auf seinem Tier, als sitze er gemütlich daheim im Sessel. Der Reiter auf der linken Seite, zog zu mir hinüber und drängte mein Pferd dichter an jenes rechts von mir heran.

Weitere Reiter setzten sich vor mich und zwangen mich, langsamer zu werden. Ich wurde eingekreist. Jeder Versuch zu entkommen, erschien aussichtslos. Ich ließ die Zügel los und hob die Hände.

Wir stoppten allesamt, der Räuber zu meiner Rechten ließ meine Zügel los und wandte mir sein Gesicht zu.

„Wen haben wir denn da?“, fragte er mit dunkler Stimme, die zu seiner ganzen Erscheinung hervorragend passte. Bei dem Besitzer der Stimme handelte es sich um einen Mann von stämmiger, aufrechter Statur. Er hielt sich auf dem Pferd wie ein Edelmann. Sein Haar war schwarz und lockig, seine Brauen buschig und sein Mund wurde von einem ebenfalls schwarzen Bart umrahmt, der auffallend ordentlich gestutzt aussah. Seine Nase zeigte leicht nach links, aber nicht so sehr, dass es einen Makel darstellte.

Seine Augen, die mich fixierten, waren strahlend blau wie der Himmel an einem schönen Sommertag. Sie standen in starkem Kontrast zu der schwarzen Grundstimmung seines Äußeren. Auch seine Hosen und sein offenstehendes Wams über der breiten, behaarten Brust waren schwarz.

„Antworte gefälligst, wenn der Schwarze Michael dich was fragt“, sagte die Stimme des Reiters zur Linken. Es handelte sich eindeutig um die Stimme einer Frau.

„Ich bin Isa…“, setzte ich an, aber was sollte ich sagen. Ich konnte doch unmöglich meinen richtigen Namen nennen.

„Isa, so. Und wie weiter?“, fragte der Schwarze Michael, der vermutlich der Anführer dieser Räuberbande war.

„Isa Rosenkohl.“

Schallendes Gelächter antwortete aus der Runde.

„Rosenkohl? Was ist das denn für ein Name?“, rief einer der Räuber mit einer Stimme, um die ihn jede Saatkrähe beneidet hätte.

„Zufällig der meinige“, gab ich zurück.

„Also, Isa Rosenkohl“, erklärte der Räuberhauptmann, „dies hier ist mein Wald. Und wer ihn passieren will, muss Zoll entrichten.“

„Ich habe nichts“, sagte ich wahrheitsgemäß.

„Ein Pferd ist nicht nichts.“

„Ich brauche das Pferd. Außerdem ist es nicht meins.“

Der Schwarze Michael kraulte seinen Bart. „Wie? Nicht deins? Hat die Wache keine eigenen Pferde mehr.“

„Ich gehöre auch nicht zur Wache“, sagte ich.

„Das hört sich alles sehr merkwürdig an, Isa Rosenkohl. Ich glaube, das erzählst du uns im Lager. Steig ab.“

„Aber …“ Weiter kam ich nicht.

„Kein aber.“ Eine Armbrust zeigte direkt zwischen meine Augen. Sie war eben so lässig gehoben worden, wie andere ihren Humpen an die Lippen setzen.

Der Schwarze Michael packte wieder die Zügel meines Pferdes, dann wandte er sich an seine Kumpane. „Wir bringen die junge Dame in unser Lager.“

Zustimmendes Gemurmel antwortete. Ich wurde samt meinem Reittier vom Weg in den Wald hineingeführt. Wir ritten eine Weile und landeten schließlich auf einer Lichtung, an deren Rand im Rund einige primitiv zusammengezimmerte Hütten standen. Mitten auf der Lichtung hielt der Tross an.

„Absteigen! Langsam!“, kommandierte der Schwarze Michael. Ich gehorchte. Statt in der Freiheit war ich in Gefangenschaft gelandet. Toll, da hätte ich auch heiraten können.

Auch die Räuber stiegen von ihren Gäulen. Einer nahm sich derer an und führte sie fort.

„Komm mit!“, wurde ich aufgefordert. Der Räuberhauptmann führte mich zu einem erloschenen Lagerfeuer, das von ein paar einfachen Holzbänken umstanden wurde. „Setz dich!“ Er deutete auf die Bänke und ich nahm Platz.

Er stellte einen Fuß auf die Bank, auf der ich saß, und sah mich aus seinen blauen Augen forschend an. „Also, wer bist du, Isa Rosenkohl? Und was treibst du hier im Wald? Woher hast du die Uniform und das Pferd, wenn du nicht zur Wache gehörst?“

Ich schluckte. „Ich bin … war Zofe … am Schloss. Aber … aber … dort hat man mich schlecht behandelt.“

Der Schwarze Michael hob eine Braue. Ich nickte eifrig.

„Ja. Immer gab es Beschwerden. Vielleicht … vielleicht tauge ich ja nicht zur Zofe.“ Ich versuchte ein schüchternes Lächeln. Spiel die Naive, sagte ich mir.

„Wozu taugst du dann?“ Mein Gegenüber langte nach einem meiner Arme und nahm den Stoff der Uniform zwischen die Finger, als wolle er dessen Qualität prüfen. „Zur Wächterin?“

„Ich wollte nicht erkannt werden, als ich fortschlich. Da habe ich mich verkleidet. Und das Pferd habe ich in der Stadt geliehen. Ich musste fliehen, weil ich ein Brot genommen hatte.“

„Geliehen? Weiß sein Besitzer davon?“

„Er hat gesehen, wie ich wegritt.“

„War er einverstanden?“ Der Schwarze Michael grinste.

Ich schüttelte den Kopf. „Sah nicht so aus.“

„Allerdings sieht es so aus, als wärst du eine kleine Diebin, Isa.“ Lächelte er mich tatsächlich an? „Vielleicht passt du ja zu uns. Dein Pferd bleibt auf jeden Fall hier.“ Er wandte sich um und rief: „Andrea! Komm her und weise unsere neue Mitstreiterin ein!“ Er winkte irgendjemanden aus einer zusammenstehenden und palavernden Gruppe zu.

Eine schlanke, zierliche Gestalt löste sich aus dieser und kam zu der Feuerstelle herüber. Während sie sich näherte, musterte ich sie. Es handelte sich um die Frau, die mich gemeinsam mit dem Schwarzen Michael zu Pferde in die Zange genommen hatte. Sie trug jetzt keine Kopfbedeckung mehr und das erste, was mir auffiel, war ihr unglaublich langes, blondes Haar. Selbst auf die Entfernung schimmerte es wie Seide. Sie trug Männerkleidung: eine Hose aus derbem Stoff, Reitstiefel, ein kariertes Hemd und ein gelbes Halstuch. Den breitkrempigen Hut aus Leder hielt sie locker in der Hand und schlug damit beim Gehen gegen ihre Knie. Sie besaß einen rosigen Teint, klare Augen, eine gerade, spitze Nase und schaute im Augenblick ziemlich grimmig drein. Das mochte daran liegen, dass es ihr nicht gefiel, als Aufpasserin für mich eingeteilt zu werden. Vielleicht lächelte aber auch der Anführer mich nach ihrer Meinung zu sehr an. Dass sie vorhin an seiner Seite geritten war, schien mir ein Hinweis auf Vertrautheit zu sein.

Der Schwarze Michael deutete auf mich. „Isa bleibt vorerst hier. Sie scheint eine talentierte Diebin zu sein. Zeig ihr eine Schlafstatt für heute. Bei dir ist doch noch ein Brett frei, oder?“

Brett? Hat er sich versprochen? Meinte er Bett?

Andrea baute sich vor mir auf. „Komm mit!“ Ich wurde weiterhin herumkommandiert.

Ich erhob mich und folgte ihr. Wir überquerten die Lichtung und betraten eine windschiefe Hütte, in deren Inneren es nach Harz und Pilzen roch. Auf dem Boden lagen tatsächlich zwei mit Fell belegte Bohlen. Auf jener auf der rechten Seite lag an einem Ende ein Rucksack, außerdem gab es in halber Höhe ein Wandbrett, auf dem ein Spiegel an die Wand gelehnt stand. Neben diesem lagen eine Bürste, ein Kamm und verschiedene Haarspangen. Offensichtlich war ihr Haar der ganze Stolz der jungen Frau, denn außer diesen Utensilien sah ich weder Schmuck noch Zierrat.

Sie deutete auf die Seite ohne Regal und Spiegel. „Da kannst du pennen.“

„Was wollt ihr von mir?“ Ich ließ mich auf die Felle fallen.

„Da musst du den Hauptmann fragen. Ich bin bloß sein Adjutant.“

Ihre Worte klangen unzufrieden. Wäre sie gern mehr?

„Warum macht ihr so was?“, fragte ich. Sie fuhr herum.

„Was?“

„Leute überfallen und ausrauben.“

„Weil wir keine Lust haben, nur zu funktionieren wie die Räder in einer Mühle. Reich Rosenthal, pah! Das Reich scheißt auf Leute wie uns.“ Ich zuckte angesichts der derben Sprache zusammen. Sie trat ganz dicht zu mir heran und schaute von oben auf mich herab. „Wir hatten einen Bauernhof, hauptsächlich Milchkühe. Dann kam die Maul-und-Klauen-Seuche. Wir haben trotzdem versucht weiterzumachen, aber es ging nicht. Mein Vater wurde krank und starb und darüber ist dann auch meine Mutter aus Gram gestorben. Der Hof wurde gepfändet. Meine Brüder und ich gingen fort. Wir wollten in Rosenhort Arbeit finden. Für Männer war das ganz okay. Aber weißt du, was ich für Arbeit hätte machen sollen?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Arbeit im Liegen, die Knie weit auseinander, wenn du verstehst, was ich meine.“

„Äh … nein.“

„Weißt du nicht, was ein Bordell ist? Wo hast du gelebt?“

„Im Schloss“, sagte ich wahrheitsgemäß.

Andrea nickte. „Blöd, aber glücklich.“ Sie wandte sich ab und ließ sich auf ihrer Bettstatt nieder. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Jedenfalls“, sagte sie dann, „stand mir nicht der Sinn danach, mich gegen Geld benutzen zu lassen. Ich wollte anständig bleiben.“

„Und was ihr hier tut, ist anständig?“

„Jedenfalls nach meiner Meinung. Du scheinst ja zu glauben, die Welt wäre rosarot und alle wären gut und edel. Ist aber nicht so. Viele der reichen Säcke verdienen ihr Geld auf den Rücken der Armen. Und denen nehmen wir es wieder weg und geben es den Armen zurück.“

„Und warum habt ihr mich dann überfallen?“, fragte ich. „Sehe ich so unglaublich reich aus?“

„Du trägst ‘ne Wächteruniform. Und Wächter können wir in unserem Revier nicht gebrauchen. Aber der Hauptmann meinte, Schlosswächter kämen nicht allein hier in den Wald. Darum wollte er sich den Typen mal genauer ansehen, ehe er ihm einen Bolzen in die Brust schoss.“

Mir blieb das Herz stehen. Nach ein oder zwei Sekunden, die ich atemlos mein Gegenüber angestarrt hatte, setzte der Herzschlag wieder ein und diesmal raste er wie ein durchgegangener Gaul.

„Ja, du hast Glück gehabt“, kommentierte Andrea mein vermutlich aschfahles Gesicht. Dann verzog sie das Gesicht zu einer Grimasse, die ich nicht zu deuten wusste. „Außerdem erschießt der Schwarze Michael keine Weiber.“

„Woher wusste er …“ Ich konnte nicht weitersprechen. Noch immer hämmerte mein Herz, als wolle es aus meiner Brust fliehen.

„Einer von uns hat ein Fernglas. Wir nennen ihn Glasauge, auch wenn seine beiden ganz in Ordnung sind. Er hat es dem Hauptmann gesteckt. Na, und da war er gleich doppelt neugierig.“ Andrea beugte sich vor. „Hat die Schlosswache tatsächlich Weiber?“

„Ja, ein paar. Sonst hätte ich kaum eine Uniform gefunden, die mir passt.“

Mein Gegenüber stützte einen Ellenbogen auf ein Knie und legte das Kinn in die offene Handfläche. Ihr Blick war auf meine Stiefelspitzen gerichtet. Sie verharrte in dieser Denkerpose und murmelte: „Das wäre was für mich gewesen.“

„Warum hast du dich nicht beworben?“

„Weil alle gepennt haben.“ Sie nahm den Kopf wieder hoch. „Ich bin jetzt seit über einem Jahr hier bei Michael. Geht mir gut bei ihm. Die Kerle halten sich von mir fern. Sie wissen, dass mit mir nicht gut Kirschen essen ist, wenn mich einer antatscht, dem ich’s nicht erlaubt habe. Und der Hauptmann mag so was erst recht nicht. Keinen Händel in der Bande. Wir sind wie eine große Familie. Da gibts mal Streit, aber dann ist auch wieder gut. – Du warst Zofe, richtig?“

Ich nickte.

„Für die Prinzessin?“

Ich schüttelte den Kopf. „So weit nach oben hab‘ ich es noch nicht geschafft. Dazu war ich angeblich zu blöd.“

„Ja, so sind sie, die feinen Pinkel.“ Aus Andreas Worten sprach viel Verbitterung. „Aber bei uns kontrolliert keiner, wie das Laken im Bett gefaltet ist. Hier muss man wissen, wie man reitet, ficht und mit der Armbrust umgeht. Wir haben auch einen Koch. Das ist der Dicke Wilbur. Aber nenn ihn bloß nicht so. Das darf nur der Hauptmann, sonst rastet Wilbur aus und spuckt dir eine Woche lang ins Essen, ehe er es dir gibt.“

Das waren schöne Aussichten. Aber ich würde mir wohl verkneifen können, den Herrn Wilbur als dick zu bezeichnen.

Andrea schlug mit den Händen klatschend auf ihre Oberschenkel. „Ich werde dich mal allein lassen. Will hören, was in den nächsten Tagen geplant ist. Frank muss bald von seiner Erkundungstour zurück sein. Es sind ja ziemlich viele reiche Säcke unterwegs wegen der Hochzeit. Da kommen sie von überall her wie die Schmeißfliegen zum Kackehaufen.“

Meine Güte, was für Ausdrücke! Würde ich auch so zu reden anfangen, wenn ich ein paar Tage hierblieb?

Andrea stand auf und verließ die Hütte. Ich legte mich auf die harte Bettstatt, die eher eine Brettstatt war. Aber wenigstens die Felle waren warm und weich. Allerdings müffelten sie. Ich fragte mich, ob meine Idee, das Leben außerhalb der behüteten Umgebung des Schlosses kennenzulernen, wirklich so toll gewesen war.

Gregor von Aquimera

Mein Ritt aus dem Schloss hinaus glich einer Flucht. Mein braver Hengst und ich stürmten die Schlossstraße entlang. Ich sah eine Reihe staunender Augen auf uns gerichtet. Vermutlich fragten sich die braven Leute, ob ich ein reitender Bote sei, der einem Herrscher eines Nachbarreiches eine arg verspätete Einladung zur Hochzeit überbringen sollte. Noch wusste niemand, dass die angekündigte Hochzeit nicht stattfinden würde. Zumindest nicht an diesem Tag.

Kurz vor der sogenannten Großen Kreuzung, an der die Schlossstraße mit der Magistrale zusammentrifft, stieg ich vom Pferd. Kaum hatte der erste Bürger in der Nähe erkannt, wer wirklich vor ihm stand, wurde ich von neugierigen Leuten umringt. Zum Glück ging die Aufdringlichkeit nicht so weit, dass sie an meiner Kleidung herumtasteten, um sich handgreiflich davon zu überzeugen, dass ich es tatsächlich war.

„Warum seid Ihr nicht im Schloss? Müsst Ihr Euch nicht für die Hochzeit umkleiden? Ihr seid doch der Bräutigam, oder? Ist etwas geschehen? Wo ist Dornröschen? Geht es ihr gut?“ Immer mehr und immer drängender prasselten Fragen auf mich nieder.

Mir blieb nichts anderes übrig, als den guten Leuten die Wahrheit zu sagen. Ihr geliebtes Dornröschen hatte das Schloss verlassen, niemand wusste, wohin. Daraufhin brach erst recht Tumult um mich herum aus. Die Leute rückten dichter heran und stellten noch mehr Fragen, die ich alle nicht beantworten konnte. Schließlich bedeutet „verschwunden“ ja eben gerade, dass man nicht weiß, wo sich eine bestimmte Person aufhält.

Endlich gelang es mir, mir Gehör zu verschaffen. Ich fragte die Umstehenden, die mich mit einer Mischung aus Mitleid und Begeisterung betrachteten, ob irgendeiner von ihnen die Prinzessin oder eine Person, die ihr ähnelte, gesehen hatte.

Kopfschütteln antwortete mir von allen Seiten. Niemand konnte sich an ein Gesicht erinnern, das Isabells ähnlich gewesen wäre. Und auf meine Nachfrage beteuerten alle, sie wüssten ganz genau, wie ihr Dornröschen – und sie benutzten alle das vereinnahmende Pronomen – aussah.

Jemand sprach von einer Wächterin aus dem Schloss, die versucht hatte, Brot zu erbetteln. Kaum war diese zum ersten Mal erwähnt worden, meldeten sich andere, die sie auch gesehen haben wollten. Sie habe ein wenig schäbig ausgesehen, gar nicht wie eine Person, die tatsächlich aus dem Schloss kam. Jemand meinte, sie sei wahrscheinlich angetrunken gewesen, und das bereits am frühen Morgen.

Ich konnte mir die Prinzessin zwar keineswegs in angetrunkenem Zustand durch die Hauptstadt schwankend vorstellen, aber vielleicht war sie einfach erschöpft gewesen. Niemand wusste, wie die Prinzessin aus dem Schloss unentdeckt entkommen war. Natürlich bestand die Möglichkeit, dass sie sich eine Uniform der Wache übergestreift hatte, um nicht erkannt zu werden. Wenn sie kein Geld mitgenommen hatte und Hunger verspürte, mochte sie in ihrer Verzweiflung sogar versucht haben, Brot zu erbetteln. Wer wusste schon, zu was er in einer Notlage fähig sein würde, solange er nicht in eine solche geraten war?

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752135947
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Februar)
Schlagworte
Dornröschen Romantik Qinide Märchen Prinz und Prinzessin Wahre Liebe Romance Fantasy

Autor

  • David Pawn (Autor:in)

David Pawn, geboren 1961 in Magdeburg, lebt heute in Dresden, ist glücklich verheiratet und ist stolz auf seine beiden erwachsenen Kinder. Der studierte Diplom-Ingenieur arbeitet heute hauptberuflich als Softwareentwickler in Leipzig und ist somit gezwungen, täglich zu pendeln. Die Zeit im Zug vertreibt er sich sinnvoll mit dem Schreiben seiner Geschichten. Er ist aktives Mitglied der Autorenvereinigung „Qindie“ .
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Titel: Die Märchenhochzeit fällt aus