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Mauern überwinden

von Shea Balik (Autor:in)
130 Seiten
Reihe: Miracle, Oregon, Band 5

Zusammenfassung

Seinen wahren Gefährten zu finden, sollte das großartigste Ereignis im Leben eines jeden Gestaltwandlers sein. Aber Chadwick Ramos, der seit seinem fünften Lebensjahr auf diesen Moment gewartet hat, ist sich plötzlich nicht mehr sicher, überhaupt einen Gefährten zu wollen. Zumindest nicht den, den das Schicksal für ihn vorgesehen hat – ein dominanter Alpha, der ihm garantiert vorschreiben will, was er zu tun und zu lassen hat, ist nicht der Gefährte, den er sich stets erträumt hat. Saber Thorsen weiß, dass seine enorme Körpergröße eine wirkungsvolle Abschreckung ist, sich lieber nicht mit ihm anzulegen. Dass sie auf seinen Gefährten dieselbe Wirkung haben würde, hat er allerdings nicht erwartet. Es wird viel Geduld und Verständnis erfordern, Chadwicks Meinung zu ändern. Aber Saber ist bereit, alles zu tun, was nötig ist. Wenn sie doch nur ausreichend Zeit hätten! Aber die Zweikämpfe um die Sitze im Rat der Gestaltwandler stehen kurz bevor, und es wäre geradezu mirakulös, sollte Saber die Herausforderung nicht nur überleben, sondern auch gewinnen. Obendrein auch das Herz seines Gefährten zu gewinnen, ist wahrscheinlich zu viel verlangt. Andererseits heißt ihre Stadt nicht umsonst Miracle … Ein homoerotischer Liebesroman für Erwachsene mit explizitem Inhalt. Jeder Band dieser Reihe geht auf die romantische Beziehung eines anderen Paares ein. Länge: rund 32.000 Wörter

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Kapitel 1

Überall um Chadwick Ramos erhob sich der Lärm des Kampfes. Es war eine heftige Schlacht, und mehrere Male hatte Chadwick bereits befürchtet, nicht lebend da rauszukommen. Das Gefühl wurde beinahe zur Sicherheit, als der Rat weitere fünfhundert seiner Soldaten schickte – gerade, als es den Anschein hatte, dass Chadwick und seine Freunde vielleicht doch gewinnen könnten.

Schreie des Schmerzes und der Verzweiflung erhoben sich, während Männer und Frauen um ihr Leben kämpften. Für Chadwick und seine Freunde ging es um so viel mehr als um den Sieg über den Rat. Es ging um das Recht, so zu leben, wie sie es für richtig hielten, ohne ständig über die eigene Schulter schauen zu müssen, ob ihnen gerade jemand wegen ihrer Sünde nach dem Leben trachtete – der Sünde, schwul zu sein.

Eine leichte Bewegung der Luft war alles, was Chadwick als Warnung brauchte, um zu wissen, dass ihn jemand von hinten zu attackieren versuchte. Trotz seiner Erschöpfung nach den Stunden ununterbrochenen Kampfes drehte Chadwick sich blitzschnell um, schwang sein Schwert und tötete den Angreifer.

Aber es war knapp gewesen, das musste er zugeben. Der Soldat des Rats hätte es beinahe geschafft, Chadwicks Kopf von seinem Hals zu trennen. Zum Glück waren Chadwicks Reflexe selbst in erschöpftem Zustand immer noch schneller als die der meisten anderen.

Das verdankte er dem unermüdlichen Training, zu dem er und seine vier Freunde sich selbst gezwungen hatten, um für den Tag bereit zu sein, an dem sie wegen ihrer Homosexualität gezwungen sein würden, um ihr Leben zu kämpfen. Zu jener Zeit wäre Chadwick lieber gestorben als vorzugeben, jemand zu sein, der er nicht war.

Aber jetzt? Alles hatte sich geändert, als sie notgedrungen aus ihrem früheren Rudel fliehen mussten. Als sie damals in Miracle angekommen waren, hatte Chadwick geglaubt, sein Freund und jetziger Alpha Edrick hätte den Verstand verloren, weil er diese verlassene Stadt gekauft hatte. Aber es hatte nicht einmal eine Woche gedauert, da hatte Chadwick sich in die kleine Stadt verliebt, die kurz vor dem Zusammenbruch stand. Jetzt würde er auf keinen Fall zulassen, dass irgendwer ihn umbrachte und ihm die Freiheit nahm, die er hier endlich gefunden hatte – am allerwenigsten der fanatische Rat der Gestaltwandler.

Also kämpfte er. Dass er gerade allein drei Männern gegenübertrat, kümmerte ihn nicht. Selbst wenn es hundert Männer wären! Chadwick hatte vor, jeden einzelnen von ihnen zu töten, damit er das Leben führen konnte, von dem er immer geträumt hatte. Eines, in dem ihm niemand vorschrieb, mit wem er Sex haben durfte.

Ein wütender Schrei ganz in der Nähe ließ Chadwick die Haare zu Berge stehen. Nach dem Gestank von Furcht zu urteilen, den die Männer verströmten, mit denen er gerade kämpfte, hatte dieser Schrei auch dem Feind eine Scheißangst gemacht. Chadwick hätte diesen Umstand mehr genossen, wenn ihm nicht ein brennender Schmerz in seinem Schwertarm angezeigt hätte, dass er eine Verletzung davongetragen hatte, bevor er überhaupt ein Problem bemerkt hatte.

Als Chadwick versuchte, sein Schwert zu heben, gehorchte ihm der Arm nicht, und einer der drei Männer vor ihm nutzte die Gelegenheit. Chadwicks Training setzte ein, und er ließ sich fallen, bevor das Schwert des Gegners auch nur nahe genug kam, um Schaden anrichten zu können. Gleichzeitig sah Chadwick an seinem Arm hinab, um die Verletzung einzuschätzen.

Blut lief aus einer klaffenden Wunde an seinem Oberarm. Das war keine Schusswunde, wie er zunächst angenommen hatte, da eigentlich niemand nah genug gewesen war, um ihn zu schneiden. Aber die Verletzung stammte eindeutig von einer Klinge. Als einer der drei Männer auf ihn zustürmte, rollte Chadwick sich weg und schaute hinter sich.

Ein Affe mit wütendem und todverheißendem Blick stand hinter ihm, die zerfetzten Überreste eines Ratssoldaten zu seinen Füßen. „Verwandeln. Sofort!“, verlangte der Affe. Es klang guttural und undeutlich, da er in seiner Tiergestalt war, aber Chadwick verstand die Worte dennoch.

Seine Verletzung war in der Tat schlimm genug, dass Chadwick den Rat hätte befolgen sollen, aber er war auch ein viel besserer Kämpfer mit seinen Schwertern, und die würde er aufgeben müssen, wenn er seine Pumagestalt annahm.

Im nächsten Augenblick hatte der Affe sich bewegt, die beiden Soldaten gepackt, mit denen Chadwick gekämpft hatte, und ihnen die Genicke gebrochen, bevor sie auch nur wussten, wie ihnen geschah. Der dritte Mann hatte kaum Zeit zu schreien, bevor auch er als blutiger Haufen vor den Füßen des Affen lag.

„Verwandeln“, forderte der Affe noch einmal, als er sich wieder zu Chadwick umdrehte.

Es lag eine solche Autorität in der Stimme des Affen, dass Chadwick unwillkürlich begann zu gehorchen – Fell wuchs überall auf seinem Körper. Aber er würde sich nicht vorschreiben lassen, was er zu tun hatte, vor allem nicht von diesem Mann. „Nein.“

Das Pochen in seinem aufgeschlitzten Arm jedoch machte ihm klar, wie dumm er sich gerade benahm. Die Verwandlung würde seine Wunde heilen, zumindest so weit, dass er weiterkämpfen konnte. Falls nicht, würde er wahrscheinlich Nole aufsuchen müssen, Edricks Gefährten und den Arzt des Rudels, damit der ihn zusammenflickte.

Während die Schlacht weiter um ihn herum tobte, konnte Chadwick nicht einfach weglaufen, wenn er die Möglichkeit hatte, das Problem genauso gut selbst zu lösen. Aber das Funkeln in den dunklen Augen des Affen, der ihn eindringlich anstarrte, ließ einfach nicht zu, dass Chadwick das tat. Er wollte verdammt sein, wenn er den Befehlen des Affen gehorchte.

Denn das würde bedeuten, dass er sich für den Rest seines Lebens diesem Gestaltwandler beugen würde, und Chadwick beugte sich niemandem. Nicht einmal diesem Affenwandler, der – sollten sie siegreich aus der Schlacht hervorgehen – höchstwahrscheinlich dem Rat vorsitzen würde.

Zwar würde er dann immer noch den derzeitigen Ratsvorsitz zeremoniell im Zweikampf bezwingen müssen, aber angesichts der schieren Größe des Affenwandlers und seiner tödlichen Fähigkeiten konnte Chadwick sich nicht vorstelle, dass er unterlag.

Zwei weitere Soldaten kamen auf sie zu, aber sie schafften es nicht einmal auf zehn Meter an Chadwick heran, bevor der Affenwandler sie blutig niedermetzelte. Dann kam er zurück zu Chadwick. Sein Fell bildete sich bei jedem Schritt mehr zurück, und sein Gesicht nahm menschliche Züge an. Als er schließlich vor Chadwick stand, war der Affe fort. Stattdessen starrte ein Mann Chadwick an.

So unmöglich es auch eigentlich sein sollte, der Mann war noch weit furchterregender, als es der Affe gewesen war. Seine tief gebräunte Haut bedeckte mehr Muskeln, als ein einzelner Mann haben sollte. Jeder Zentimeter war ausdefiniert, und alle zusammen bildeten eine Kampfmaschine, von der Chadwick sich nicht vorstellen konnte, dass sie je besiegt wurde.

Dunkles Haar hing ihm bis über die Schultern, und der ordentlich getrimmte Bart verlieh dem Kerl eine bösartige Ausstrahlung, die Tod versprach. Dennoch – alles, was Chadwick sich in diesem Moment ausmalen konnte, war, mit seinen Fingern durch die dichte, dunkle Mähne des Mannes zu fahren und seine Lippen mit einem leidenschaftlichen Kuss zu erobern, der keinen Zweifel an seinen Absichten ließ.

„Ich sagte, verwandeln!“, fauchte der Mann, dessen Name Saber war. Seine Augen, schwarz wie die Nacht, warnten Chadwick, ihm nicht zu trotzen.

Der Mann war ein Alpha durch und durch, und Chadwick musste seinen ganzen Willen aufbringen, um standhaft zu bleiben und nicht zu gehorchen. „Nein“, sagte er entschieden. „Jetzt geh mir aus dem Weg. Ich habe immer noch eine Schlacht zu schlagen.“

Aber der Mann rührte sich nicht.

Als ein weiterer Soldat einen Angriff von hinten wagte, drehte Saber sich gerade genug zur Seite, um dem Mann das Genick zu brechen, bevor er sich erneut an Chadwick wandte. „Hör auf, so stur zu sein. Du verlierst zu viel Blut, um die Wunde unbeachtet zu lassen.“ Die dunklen Augen richteten sich auf den Arm, mit dem Chadwick kaum noch seine Waffe hielt. „Du kannst nicht einmal dein Schwert richtig halten. Wie willst du so kämpfen?“

Der Blutverlust half Chadwick nicht, standhaft zu bleiben. Er merkte, wie sich seine Augen schlossen.

„Chadwick, verwandle dich!“, befahl Saber.

Chadwick war nicht sicher, ob es die Erschöpfung von seiner Verletzung war oder Sabers Tonfall, aber bevor er es verhindern konnte, verbog sich sein Körper. Knochen knackten, Muskeln zogen sich zusammen, und schließlich landeten seine vier Tatzen auf dem Boden. Einen Moment lang stand er desorientiert da, dann taumelte er und fiel auf die Seite.

Sekunden später verwandelte Saber sich erneut in seine Affengestalt und zerfetzte fünf weitere Soldaten, die offenbar Chadwicks geschwächten Zustand für eine gute Gelegenheit zum Angriff gehalten hatten. Chadwick musste mehr Blut verloren haben, als er gedacht hatte, denn er konnte kaum den Kopf heben. Aber er musste sich keine Sorgen machen – Saber würde niemals zulassen, dass ihm etwas zustieß.

Es war seltsam. Als kleiner Junge hatte Chadwick stets von diesem Moment geträumt. Doch nun, da er Saber begegnet war, schrie etwas in ihm ihn an, so weit vor ihm davonzulaufen, wie es nur ging.

Saber hatte nicht die geringste Mühe, die Soldaten des Rats auszuschalten. Dann ging er in die Hocke – erneut in menschlicher Gestalt – und hob Chadwick auf seine Arme. „Keine Angst, Kätzchen, ich hab’ dich.“

„Nenn mich nicht so“, murmelte Chadwick. Sein Mund und seine Zunge wollten ihm kaum gehorchen. Er konnte sich nicht einmal erinnern, sich wieder in seine menschliche Gestalt verwandelt zu haben. Das war kein gutes Zeichen. Nichts von all dem sollte passieren. Sich zu verwandeln hätte den Heilungsprozess auslösen sollen. Sein Körper sollte bereits dabei sein, das verlorene Blut zu ersetzen. Also wieso verlor er gerade das Bewusstsein?

„Ich weiß nicht“, sagte Saber. „Du fauchst und kratzt wie ein kleines Kätzchen, das es nicht besser weiß.“

In Sabers Stimme schwang Humor mit, der Chadwick ganz und gar nicht gefiel. „Lass mich gefälligst runter, bevor ich dir zeige, wie scharf meine Krallen wirklich sind.“ Erleichtert darüber, dass seine Stimme ein wenig kräftiger klang, horchte Chadwick in seinen Körper hinein und stellte fest, dass seine Kraft zurückzukehren begann.

Nicht, dass er schon wieder auf dem Damm war, aber zumindest war er nicht mehr kurz davor, ohnmächtig zu werden. Er war nicht sicher, ob er diese Demütigung je überwinden könnte, besonders, wenn es ihm vor Saber passierte. „Lass mich runter“, forderte Chadwick.

Saber lachte nur und drückte Chadwick noch enger an seine Brust, während er durch das Schlachtgewühl marschierte, als könnte nichts und niemand ihnen etwas anhaben. Tatsächlich berührte sie niemand. Chadwick verfluchte den Mann, der ihn trug. Saber hatte ohnehin schon ein viel zu aufgeblasenes Ego, da brauchte er nicht auch noch zusätzliche Beweise dafür, unbesiegbar zu sein.

„Es geht mir gut“, beharrte Chadwick. „Jetzt lass mich runter. Meine Freunde brauchen uns als Kämpfer.“ Chadwick würde seine Leute nicht im Stich lassen, wenn sie ihn am meisten brauchten. Schon seit sie in den Windeln gelegen hatten, waren sie befreundet, und sie hatten stets aufeinander aufgepasst und zusammengehalten, selbst als Chadwick im Alter von fünf Jahren verkündet hatte, er würde eines Tages einen männlichen Gefährten haben.

Keiner seiner Freunde hatte sich von ihm abgewandt. Stattdessen hatten sie sein Geheimnis bewahrt und Pläne geschmiedet, eines Tages gemeinsam zu fliehen.

„Die Schlacht ist so gut wie vorüber“, antwortete Saber. „Der Rat hat verloren, und du bist nicht in der Verfassung zu kämpfen.“

„Sag du mir nicht, was ich tun kann und was nicht!“, entgegnete Chadwick und zappelte, um sich aus Sabers Armen zu befreien.

Aber Saber legte sich Chadwick einfach wieder auf dem Arm zurecht. Dabei befreite er offenbar eine seiner Hände, denn im nächsten Moment spürte Chadwick das scharfe Klatschen besagter Hand auf seinem Hintern. „Lass das“, befahl Saber. „Ich bewundere, dass du willens bist, mir zu trotzen. Verdammt, das wird sich als sehr nützlich erweisen, denn ich neige dazu, bisweilen recht herrschsüchtig zu sein. Aber ich werde meinem Gefährten nicht erlauben zu sterben, nur weil er zu dämlich ist zu begreifen, dass er nicht in der Verfassung zum Kämpfen ist.“

Chadwick stöhnte entsetzt auf. Ja, er hatte es eigentlich nicht bezweifelt, aber dass Saber es aussprach, machte die Situation ein wenig zu real. Chadwick mochte zwar stets darauf gewartet haben, die eine Person zu finden, die das Schicksal allein für ihn geschaffen hatte, aber das Letzte, was er brauchte, war ein überheblicher Alpha-Typ, der glaubte, ihn herumkommandieren zu können.

Er hatte gerade erst die Freiheit erlangt zu sein, wer er wirklich war, und er wollte verdammt sein, wenn er sich von irgendwem etwas anderes erzählen ließ. Vor allem nicht von einem anmaßenden Alpha-Typen, der glaubte, dass sich jeder seinem Willen zu beugen hatte. Chadwick war vielleicht nicht in der Lage, irgendetwas dagegen zu tun, aber er wollte Saber nicht zum Gefährten.

Kapitel 2

Chadwick gegen die Soldaten des Rats kämpfen zu sehen, war wie Poesie in Bewegung. Es war geradezu ehrfurchtgebietend, einen solchen Krieger in Aktion zu beobachten. Dass Chadwick Sabers Gefährte war, machte es nur umso besser.

Saber Thorsen hatte seine Jugend selbst als einer der Soldaten des Rats verbracht. Es wurmte ihn noch immer, nicht mehr gewesen zu sein als eine Marionette für eine Gruppe Leute, die sich selbst für Götter hielten. Sehr zu seinem Bedauern kannte Saber die wahren Absichten des Rats nur zu gut.

Sein Vater Karlin war eines der Gründungsmitglieder des Rats gewesen und hatte geholfen, Frieden unter den Spezies zu stiften. Leider hatten nicht alle diesen Frieden gewollt. Saber war erst wenige Jahre Soldat gewesen, als sein Vater von Refugio Costa getötet worden war. Es war keine Herausforderung um einen Sitz im Rat gewesen – so wie die, die Saber selbst vor Kurzem ausgesprochen hatte – sondern kaltblütiger Mord.

„Ich sagte, lass mich runter“, verlangte Chadwick, als Saber ihn von der Schlacht wegbrachte, die um sie tobte.

Dass sein Gefährte sich nicht davor fürchtete, sich ihm entgegenzustellen, brachte Saber zum Lächeln. Genau das war eine seiner größten Sorgen gewesen, wann immer er daran dachte, seinen Gefährten zu finden. Saber war kein Idiot. Er wusste, dass er furchterregend war. Die meisten Leute nahmen die Beine in die Hand, sobald sie ihn nur sahen. Aber sein Gefährte war nicht geflüchtet – ganz im Gegenteil, er hatte ihm sogar die Stirn geboten. Das gab Saber Hoffnung für die Zukunft.

„Kommt nicht in Frage, Kätzchen.“ Ja, Saber bewunderte Chadwicks Mumm, aber deswegen würde er ihm noch lange nicht nachgeben.

„Ich sagte dir bereits, dass du mich nicht so nennen sollst“, grollte Chadwick. Klauen gruben sich in Sabers Schulter, und sein Arm wurde schlagartig taub. Es dauerte nur wenige Momente, bis Sabers Nerven wieder zum Leben erwachten, aber da hatte Chadwick die Ablenkung bereits genutzt, um sich aus Sabers Umarmung zu winden. Jetzt stand er vor ihm wie der Krieger, der er war.

Seine grauen Augen verdunkelten sich, als würde ein Sturm aufziehen. „Wir mögen Gefährten sein, aber das gibt dir kein Recht, mich herumzutragen. Wie du siehst, komme ich perfekt allein zurecht.“

Saber spannte ein paarmal die Muskeln in seinem Arm an, um sicherzugehen, dass er ihn ohne Probleme bewegen konnte – es schien alles in Ordnung zu sein. Er lächelte seinen Gefährten an. „Nicht schlecht. Ich bin beeindruckt.“

Chadwick verdrehte die Augen. „Und wenn schon! Bleib mir einfach vom Leib.“

Dass sein Gefährte offenbar tatsächlich glaubte, irgendetwas davon würde als Warnung dienen, brachte Saber zum Lachen.

Chadwick verengte seine hübschen Augen. „Was zum Henker ist so lustig?“

Saber trat näher, bis sich ihre Nasen beinahe berührten. „Dass du denkst, irgendetwas von all dem hier würde mich davon abhalten zu nehmen, was mein ist.“ Saber war mehr als bereit, seinem Gefährten ein wenig Spielraum zu lassen, aber sie waren dennoch Gefährten. Je eher Chadwick das in seinen Dickschädel kriegte, desto besser.

Chadwicks Körper verspannte sich angesichts der Herausforderung, und Sabers Schwanz wurde unter dem unnachgiebigen Blick seines Gefährten beinahe schmerzhaft hart. Saber hatte nie einen besonderen Typ gehabt, was seine früheren Liebhaber anging. Er hatte einfach Gelegenheiten genutzt; wen er gefickt hatte, war ihm ziemlich egal gewesen. Aber als er nun Chadwick betrachtete, wusste er, dass sein Gefährte perfekt für ihn war. Willensstark, muskulös – ein Kämpfer durch und durch.

„Falls du irgendwas versuchst, werde ich dir die Eier abreißen, während du schläfst“, fauchte Chadwick. Dann drehte er sich um und ließ Saber einfach stehen, als wäre er mit ihm fertig.

Einen Moment lang wollte Saber ihn aufhalten, beschloss jedoch, Chadwicks Entschlossenheit, ihn im Schlaf zu kastrieren, nicht unnötig auf die Probe zu stellen. Außerdem hatte er bekommen, was er wollte: Sein verletzter Gefährte steckte nicht mehr in der Schlacht, die noch immer hinter ihnen tobte. Saber mochte ein wenig übertrieben haben, als er gesagt hatte, sie wäre vorüber.

So gern er Chadwick gefolgt wäre, um zu beweisen, dass Chadwick nicht so ungerührt von ihm war, wie er vorgab – Saber musste helfen, die Armee des Rats zurückzuschlagen, wenn sie eine Chance auf den Sieg haben wollten. Seine Männer würden eine ziemliche Schneise in alles schlagen, was der Rat aufzubieten hatte, aber Saber wusste auch, dass er der bessere Kämpfer und unverzichtbar war. Seit dem Tod seines Vaters vor hundert Jahren hatte er unermüdlich trainiert, um gegen den Rat zu kämpfen.

Er hatte nur auf den Tag gewartet, an dem er Refugio herausfordern und alles ändern konnte, wofür der Rat gegenwärtig stand. Dann hatte er den Anruf von Brecken Shaw, dem Alpha des Snow River-Rudels erhalten, und etwas in Saber hatte Feuer gefangen. Bis dahin hatte er befürchtet, nie die Männer und Frauen zu finden, die bereit wären, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um ihre Welt in etwas zu verwandeln, auf das sie stolz sein konnten.

Bis zuletzt war er unsicher gewesen, ob er Brecken wirklich glauben konnte, dass sie den Rat herausfordern würden. Aber dann war er Zeuge der schieren Entschlossenheit jedes Mannes und jeder Frau geworden, die gegen die überwältigende Zahl der Ratssoldaten kämpften.

Als Saber sich erneut ins Gefecht stürzte, sah er, dass sich neue Truppen von Soldaten aus dem Nordosten näherten. Der Rat machte keine halben Sachen. Nicht, dass Saber kein Verständnis dafür hatte – sollten sie heute unterliegen, würde jedes einzelne Mitglied des Rats in einem Zweikampf seinen Sitz verteidigen müssen.

Aber falls sie die Schlacht gewannen, brauchten sie nichts weiter zu tun, als den Sieg für sich zu beanspruchen. Auch wenn sie dazu Tausende in den Tod schicken mussten – es kümmerte sie nicht. Hauptsache, der Rat gewann. Das würde Saber jedoch nicht zulassen, solange er noch atmete.

Angesichts der Gefahr, in der Chadwick sich befunden hatte, hatte Saber sich unwillkürlich in seine Tiergestalt verwandelt. Dabei waren seine Sachen zerfetzt, so dass er nun nichts zum Anziehen hatte. Also verwandelte er sich zurück in seine Affengestalt. Zum Glück konnte er dennoch mit dem Schwert weiterkämpfen, da er auch als Affe des aufrechten Gangs fähig war. Genau das hatte er jahrelang trainiert. Er war stets einsatzbereit, egal in welcher Gestalt.

Dann warf er sich den neu angekommenen, eifrigen Soldaten entgegen. Er fand es furchtbar, so viele junge Männer und Frauen töten zu müssen, die höchstwahrscheinlich nicht begriffen, wie von Grund auf böse der Rat wirklich war. Aber Saber würde sich auf keinen Fall die Chance entgehen lassen, die Männer und Frauen zu schlagen, die aus Machthunger und Gier die Gestaltwandler dieser Welt unterdrückt hatten.

Mit jedem Schritt, den er machte, wuchs die Furcht in den Gesichtern der Soldaten, bis die ersten von ihnen sich umdrehten und wegrannten. Die Zurückbleibenden versuchten, sich alle gleichzeitig auf ihn zu stürzen. Plötzlich war Saber umzingelt, aber er erlaubte sich nicht, auch nur eine Sekunde lang in Erwägung zu ziehen, dass er verlieren könnte.

Er hatte bereits zu viele Jahre gekämpft, um sich derartige Zweifel zu gestatten. Nicht, weil er ausschloss, dass es dazu kommen könnte, sondern weil es Zeit- und Kraftvergeudung war. Was auch geschah, Saber hatte über die Jahre gelernt, dass es immer einen Weg gab.

Ein Knurren zu seiner Rechten erinnerte ihn, dass der wichtigste Grund, erfolgreich zu sein, wo andere versagen mochten, die Männer waren, die ihm folgten. Saber hatte es nicht darauf angelegt, für die Männer, die sich um ihn geschart hatten, der Alpha zu werden. Vielmehr hatte er sich mit Händen und Füßen dagegen gesträubt, für das Leben anderer verantwortlich zu sein.

Aber trotz allem hatten sich im Laufe der Jahre zehn Männer dazu entschieden, Saber zu folgen. Es war kein leichtes Leben. Er verlangte jenen, die sich ihm anschlossen, viel ab. Das musste er, wenn er hoffen wollte, sie alle am Leben zu halten. Er weigerte sich schlicht, die Möglichkeit zu akzeptieren, dass seine Männer nicht lebend – und mehr oder weniger in einem Stück – aus jedweder Lage herauskamen. Also bestand er darauf, dass sie trainierten, bis aus ihnen stahlharte, gnadenlose Krieger wurden.

Innerhalb weniger Minuten waren all seine Freunde an seiner Seite. Sie wussten, wie erschöpft alle nach Stunden des Gefechts bereits waren, und es war entscheidend, dass diese neuen Soldaten, die noch frisch und ausgeruht waren, das Hauptfeld der Schlacht erst gar nicht erreichten.

Saber und seine Männer waren nur zu elft, aber er wusste, dass sie es durchaus mit den etwa zweihundert Neuankömmlingen aufnehmen konnten, insbesondere, nachdem bereits ein Drittel davon allein bei Sabers Anblick entsetzt die Flucht ergriffen hatte. Hier handelte es sich nicht um kampferprobte Krieger, und sie würden relativ leicht zu schlagen sein. Saber hoffte nur, dass dem Rat bald der Nachschub an neuen Soldaten ausgehen würde. Andernfalls würden sie ernsthafte Schwierigkeiten bekommen.

Plötzlich traf Saber unerwartet der Duft seines Gefährten und ließ ihn für den Bruchteil einer Sekunde zögern, aber mehr brauchten die Männer des Rats auch nicht, um anzugreifen. Bevor das Schwert Sabers Flanke treffen konnte, sprang Chadwicks Puma durch die Luft und schlug die Fänge in die Kehle des Soldaten, der Saber beinahe erwischt hätte.

Es geschah so unfassbar schnell, dass Saber erneut tief beeindruckt von den tödlichen Fähigkeiten seines Gefährten war. „Ich habe dich extra weggebracht, weil du zu verletzt bist, um weiterzukämpfen!“ Saber konnte ein Knurren nicht unterdrücken, als er seinen Gefährten tadelte.

Er wusste, dass er sich das wahrscheinlich nur einbildete, aber Saber hätte schwören können, dass Chadwicks Puma die Augen verdrehte und verächtlich schnaubte.

„Lauf zur Stadt zurück“, befahl Saber.

Chadwick drehte Saber den Rücken zu und schaltete rasch hintereinander zwei weitere Feinde aus. Gegen seinen Willen musste Saber über seinen Gefährten grinsen, während er weiterkämpfte. Ein Leben mit Chadwick würde jedenfalls nicht langweilig werden, so viel stand fest. Saber konnte es nicht erwarten, mit diesem Leben zu beginnen.

Sein Stellvertreter Draco schüttelte den Kopf und rief: „Das Kätzchen hat Mumm – ich hoffe, er geht deswegen nicht drauf!“

Ein tiefes Grollen entfuhr Saber bei dem bloßen Gedanken, Chadwick zu verlieren. Das würde er unter keinen Umständen zulassen. Niemals. Bis zu seinem letzten Atemzug. Saber hatte nicht über hundert Jahre für nichts trainiert.

Dass Chadwick seine Hilfe eigentlich nicht benötigte, spielte für Saber oder seinen Affen keine Rolle. Er würde seinen Gefährten beschützen, komme, was wolle. Auch wenn dessen graue Augen ihn dabei so anfunkelten wie gerade jetzt – als wäre er der Feind.

Kapitel 3

Hätten sie nicht bereits mitten in einem grausigen Gemetzel gesteckt, dann hätte Chadwick Saber attackiert. Wie konnte der Kerl wagen, so zu tun, als würde Chadwick seinen Schutz brauchen? Hatte Chadwick nicht soeben einen der feindlichen Soldaten davon abgehalten, Schaschlik aus Saber zu machen? Zu schade, dass er in Pumagestalt nicht reden konnte, sonst hätte er Saber ordentlich die Meinung gesagt.

Schlimm genug, dass sein Gefährte meinte, ihn aus der Schlacht tragen und obendrein über den Stand der Dinge anlügen zu können, um ihn fernzuhalten. Aber über ihm zu wachen, als wäre er Chadwicks persönlicher Schutzengel, war zu viel. Chadwick war stocksauer. So war es nicht wirklich überraschend, dass Chadwick Saber zur Warnung den Arm aufschlitzte, als der ihm zu nahe kam.

Der Ausdruck des Schocks auf Sabers Gesicht wäre unbezahlbar gewesen, aber sie waren von mindestens hundert Feinden umzingelt, die jede kleinste Ablenkung nutzen würden, um sie zu töten. Chadwicks Nackenfell richtete sich auf und warnte ihn vor nahender Gefahr.

Er warf sich herum und sprang, die Klauen ausgefahren. Der überraschte Soldat, auf dem er landete, hatte nicht einmal Zeit zum Reagieren, da hatte Chadwick ihm bereits die Kehle aufgeschlitzt. Ein brillantes Manöver, hätte Chadwick nicht den zweiten Mann übersehen, der offenbar auf genau so einen Fehler gewartet hatte.

Ein Eichhörnchen, das sich hinter einen umgestürzten Baum geduckt hatte – nur anderthalb Meter entfernt von der Stelle, wo Chadwick soeben auf dem Soldaten gelandet war – verwandelte sich in seine menschliche Gestalt und hob das Schwert seines gefallenen Freundes auf, noch während er zu einer Größe von fast zwei Metern wuchs. Bevor Chadwick die Bewegung registrierte, schwang der Eichhörnchenwandler die Waffe und schlitzte ihm die Flanke auf.

Blut strömte aus der Wunde, und Chadwick taumelte. Ein Brüllen wie aus den Eingeweiden der Hölle erhob sich. Noch während Chadwick sich unwillkürlich zu verwandeln begann, starrte er den Mann an, der diesen entsetzlichen Laut von sich gegeben hatte.

Saber.

Sekundenlang lag Chadwick nackt am Boden. Er konnte den Blick nicht von Saber abwenden, der sich durch die Reihen der Soldaten metzelte, die sie davon abzuhalten versucht hatten, zum Hauptfeld durchzubrechen. Chadwick war beeindruckt, und Saber dabei zuzusehen, wie er sich durch die Männer und Frauen schlitzte, als wären sie nichts weiter als lästige Insekten, verschaffte ihm einen Harten. Gleichzeitig begriff er aber auch mit Schaudern, wie unglaublich gefährlich Saber wirklich war.

Es war diese Erkenntnis, die ihn dazu brachte, sich erneut in seine Pumagestalt zu verwandeln und davonzulaufen. Er hatte sich etwas vorgemacht zu glauben, er könnte gegen Saber bestehen. Chadwick mochte geglaubt haben, sich gegen jeden Gegner behaupten zu können, aber was seinen Gefährten betraf, so hatte er nicht die geringste Chance. Nachdem er endlich seinem Vater entronnen war, der ihn an der kurzen Leine gehalten hatte, würde er sich auf keinen Fall mit jemandem verpaaren, der eindeutig jede seiner Forderungen gegenüber Chadwick mit nackter Gewalt durchsetzen konnte.

Das war etwas, das seinem Vater nicht gelungen war – nicht mehr seit Chadwicks zwölftem Lebensjahr, als er seinem Vater körperlich überlegen wurde. Als sein Vater versucht hatte, ihn mit Gewalt dazu zu zwingen, sich den Raufbolden anzuschließen, die Kellach wegen seines schmächtigen, femininen Äußeren schikanierten, hatte Chadwick zurückgeschlagen.

Seit jenem Tag hatte sein Vater sich auf verbale Schikanen beschränkt. Das hatte auch nur funktioniert, weil Chadwick Angst hatte, aus dem Rudel verbannt zu werden und seine Freunde zurücklassen zu müssen. Aber Saber mit seiner ungeheuren Kraft könnte Chadwick mit Leichtigkeit zwingen, Dinge zu tun, die er nicht tun wollte.

Ein erneutes Brüllen erschütterte den Wald um ihn. Chadwick rannte schneller. Er wusste einfach, dass es Saber war. Genau wie er wusste, dass das Gebrüll nicht der Schlacht galt, sondern dem Umstand, dass Chadwick fortgerannt war.

Nur das Bedürfnis, ein freier Mann zu bleiben und zu verhindern, dass der Rat ihm das nahm, hielt ihn davon ab, dem Krieg vollkommen zu entfliehen. Als er den äußersten Rand des Schlachtfeldes erreichte, konzentrierte er sich erneut auf den Kampf und verbannte jeglichen Gedanken an seinen Gefährten aus seinem Kopf.

Er wünschte nur, das wäre so leicht.

* * * *

Chadwick hatte all sein Geschick einsetzen müssen, um sich so weit wie möglich von Saber fernzuhalten. Der Mann hatte unermüdlich nach ihm gesucht, seit sie die Schlacht gewonnen und ihre Verwundeten zu Nole und den wenigen anderen medizinisch Ausgebildeten gebracht hatten.

Danach war ihnen noch die beschwerliche Aufgabe geblieben, ihre Toten zu begraben. Im Vergleich zu den Truppen des Feindes waren ihre Verluste gering, aber jeder Gefallene war ein Beweis dafür, wie weit der Rat gehen würde, um dafür zu sorgen, dass Männer wie Chadwick nicht überlebten.

Es ergab keinen Sinn, dass Männer getötet werden sollten, nur weil sie schwul waren. Ganz gleich, wie oft Chadwick schon versucht hatte, es zu begreifen, er konnte sich keinen ausreichenden Grund für die Haltung des Rats in dieser Sache vorstellen.

Oder wieso überhaupt jemand auf so etwas kommen konnte.

Was schadete es irgendwem, wenn er auf Männer stand? Gar nichts. Genauso wenig, wie seine Liebesbeziehung zu gebratenem Speck irgendwem schadete. Nun ja, abgesehen von Jari, der ihm ständig Nachschlag braten musste.

Chadwick wischte sich die Hände an seiner Hose ab, dann brachte er die Schaufel zurück in den Schuppen, von wo er sie geholt hatte. Er allein hatte schon insgesamt zehn Gräber geschaufelt, und es bestand durchaus die Möglichkeit, dass noch weitere ihrer Verletzten, die in kritischem Zustand waren, es nicht schaffen würden.

„Willst du darüber reden?“

Chadwick, der gerade die Schuppentür geschlossen hatte, wirbelte herum und fand Saber hinter sich. Der Affenwandler sah besorgt aus. Für eine Sekunde war Chadwick versucht, ja zu sagen. Aber er verbiss sich die Antwort und schüttelte den Kopf. „Nein. Ich habe zu tun.“

Er versuchte, sich an dem großen Mann vorbeizudrücken, aber Saber verlagerte nur leicht sein Gewicht und hinderte Chadwick dadurch wirkungsvoll daran, erneut wegzulaufen – so wie bisher jedes Mal, wenn Saber ihn irgendwo aufgestöbert hatte.

„Bitte, gib mir eine Chance.“ Der leicht flehende Unterton in Sabers Stimme drohte beinahe, den Wall zu durchbrechen, den Chadwick in seinem Inneren gegen diesen Mann aufgebaut hatte.

Er hatte nicht damit gerechnet, dass Saber je anders klingen könnte als selbstbewusst und fordernd. Was, wenn er sich in Saber täuschte? Was, wenn er ihn fälschlich zusammen mit Männern wie seinem Vater oder seinem früheren Alpha in einen Topf warf, ohne ihm eine Chance zu geben? Tat er Saber damit genau das an, worüber er selbst sich stets beschwert hatte, wenn andere so mit ihm und seinen Freunden umgingen? Jemanden zu verurteilen, ohne ihn überhaupt kennengelernt zu haben?

Als Chadwick so darüber nachdachte, wurde ihm bewusst, dass er in der Tat genau das die ganze Zeit machte. Es ärgerte ihn, dass er offenbar selbst auch nicht besser war als sein Vater. Aber er weigerte sich, das hinzunehmen, und antwortete stattdessen: „Worüber willst du reden?“

Die Erleichterung in Sabers mitternachtschwarzen Augen war deutlich, und Chadwick kam sich wie ein Arsch vor, weil er seinen Gefährten nur abgewiesen hatte.

„Zum Beispiel darüber, dass wir Gefährten sind, du mir aber ständig aus dem Weg gehst?“

Chadwick spürte, wie ihm Hitze in die Wangen stieg. Saber hatte recht, aber Chadwick hatte keine große Lust, das zuzugeben. „Tut mir leid.“ Das war alles, was er sagen konnte. Er wollte sich nicht eingestehen, warum das so war, zumindest jetzt noch nicht. „Ich werde versuchen, mich zu bessern.“. Das würde nicht leicht werden, aber er war es seinem Gefährten schuldig.

„Gut.“ Sabers Stimme hatte den flehenden Unterton verloren und klang wieder befehlsgewohnter, was Chadwick beunruhigte. „Dann muss ich dich nicht an mein Bett fesseln.“

In einem einzigen Herzschlag ging Chadwicks innere Alarmglocke von Vorsicht auf Stufe Rot. Allein die Erwähnung von Fesseln und die Vorstellung von irgendeiner Art Zwang brachte ihn auf hundertachtzig, und sein innerer Puma wollte sich mit Klauen und Zähnen einen Weg nach draußen bahnen. „Wenn du das auch nur versuchst, wird es das Letzte sein, was du je tun wirst.“

Einen Wimpernschlag später presste Saber ihn mit seinem ganzen Körper gegen die Schuppenwand. Chadwick verfluchte stumm den Umstand, dass Saber ihn so sehr überragte. Chadwick musste tatsächlich den Kopf in den Nacken legen, um Augenkontakt zu halten.

„Wenn du aufhören würdest, wie ein verschrecktes Kind vor mir wegzulaufen, wäre das auch gar nicht nötig.“ Sabers Ton war hart und unnachgiebig, genau wie sein Körper. „Ich habe versucht, dir Zeit zu lassen, aber ich habe es satt zu warten, bis dir ein paar Eier wachsen und du dich der Tatsache stellst, dass wir vom Schicksal bestimmte Gefährten sind.“

Glühender Zorn bahnte sich einen Pfad durch Chadwicks Körper. Er funkelte Saber wütend an. Seine Klauen traten hervor, als er nach unten griff und sie durch den Stoff von Sabers Hose bohrte, um sicherzugehen, dass er die rasiermesserscharfen Krallen auch an seinen Eiern fühlte. „Falls du je versuchen sollest, mich zu irgendetwas zu zwingen, werde ich diese Dinger von deinem Körper trennen.“ Dann drückte er seine Krallen gerade genug tiefer hinein, um die Haut anzuritzen. „Haben wir uns verstanden?“

Sabers kurzes Keuchen und der unwillkürliche Schritt rückwärts verrieten Chadwick, dass er nur zu gut verstanden worden war.

Chadwick hatte keine Lust abzuwarten, ob Saber die Drohung auf die Probe stellen würde, also drehte er sich um und ging. Als er Jari und Nole in der Nähe sah, bekreuzigte er sich heimlich – wenigstens gäbe es Zeugen, falls Saber zu ihm aufholte.

„Hast du dich gerade bekreuzigt?“, fragte Kellach, als er an Chadwick vorbeiging.

Auf keinen Fall würde Chadwick zugeben, was soeben wirklich passiert war. Zum Glück meldete sich Hudson zu Wort, der bei Kellach war. „Wenn ich mir Sabers Gesichtsausdruck anschaue, dann kann ich es Chadwick nicht verdenken.“ Hudson nickte mit dem Kinn in Richtung des Schuppens.

Dort stand Saber, Mordlust in den Augen. Als dieser Blick auf ihm landete, lief es Chadwick vor Angst eiskalt den Rücken hinunter. Er hatte keine Ahnung, ob Saber ihn nur deshalb nicht attackierte und stattdessen zum Haus ging, weil Hudson und Kellach dabei waren, oder ob es wegen des bevorstehenden Meetings mit Edrick war.

„Kommt“, wandte Chadrick sich an seine Freunde. Er hatte wirklich keine Lust, mit ihnen über seinen Gefährten zu diskutieren. „Wir wollen nicht zu spät kommen.“ In Wirklichkeit kümmerte Chadwick das Meeting herzlich wenig. Seit er endlich das Gefühl von Freiheit gekostet hatte, ließ er sich nicht gern vorschreiben, was er zu tun und wann er wo zu erscheinen hatte. Das schloss auch Meetings ein, wie wichtig sie auch immer sein mochten.

„Okay, alle mal Ruhe“, rief Brecken, seines Zeichens Alpha des Snow River-Rudels, der Menge zu. Er stand auf der Vorderveranda des Hauses, in dem Chadwick und dessen engste Freunde lebten. Brecken war derjenige, der den Plan entwickelt hatte, die Ratsmitglieder um ihre Sitze herauszufordern.

„Wir haben Berichte, dass vier der sieben Ratsmitglieder auf dem Weg hierher sind. Die anderen drei sind spurlos verschwunden.“ Das überraschte Chadwick ein wenig. Denn es bedeutete, dass die drei ihre Sitze kampflos aufgaben – etwas, das kein respektabler Gestaltwandler tun würde oder sollte. Jedenfalls nicht, nachdem bereits eine Herausforderung ausgesprochen wurde.

„Bedauerlicherweise wird, was mit diesen drei Sitzen geschieht, stark davon abhängen, wie sich die vier Ratsmitglieder schlagen werden, die unsere Herausforderungen angenommen haben.“ Die Menge stöhnte und seufzte kollektiv. Dem Gesetz nach sollten die drei flüchtigen Ratsmitglieder ihre Sitze eigentlich bereits verwirkt haben. Auch Chadwick war voll und ganz dieser Meinung.

Aber in der Realität würden die übrigen Ratsmitglieder leider erst ihre Herausforderungen verlieren müssen, damit das Gesetz in Kraft trat. „Also gut“, rief Brecken. „Beruhigt euch wieder.“

Sobald wieder etwas Stille eingekehrt war, fuhr er fort: „Wir haben vor, einen zeremoniellen Kampfring aufzubauen, also erkundigt euch bitte gleich bei Chadwick, ob er Hilfe braucht.“

Chadwick hatte bereits Aufgaben verteilt, aber es gab immer noch reichlich zu tun und er hatte nichts gegen etwas Hilfe einzuwenden. Auf der anderen Seite … solange er mit den Vorbereitungen beschäftigt war, würde er sich nicht mit Saber herumschlagen müssen, bis die Zweikämpfe vorüber waren.

„Die erste Herausforderung wird übermorgen um acht Uhr früh stattfinden“, verkündete Brecken. „Die zweite eine Stunde darauf und so weiter, bis alle vier Kämpfe beendet sind.“

Brecken deutete auf eine Gruppe an der Seite der Veranda. „Ich würde euch nun gern die sieben Männer und Frauen vorstellen, die den Rat herausgefordert haben.“

Die Menge brach in Applaus aus, als die sieben Männer und Frauen vortraten. „Tanis Cruz vom Angel-Löwenrudel“, verkündete Brecken, als die erste Frau auf die Veranda trat.

Chadwick hatte bislang noch keine Gelegenheit gehabt, die mutigen Männer und Frauen kennenzulernen, die den Rat herausgefordert hatten. Nun ja, abgesehen von Saber.

Dieser Gedanke ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Sein Blick wanderte zu Saber, der bei der Gruppe stand, die Brecken vorstellte. Auch Saber schien Chadwick direkt anzustarren, und ihre Blicke begegneten sich. Chadwick stand bewegungslos da, als ihn die Erkenntnis traf, dass Saber ein Ratsmitglied zum Kampf herausgefordert hatte. Noch dazu nicht irgendein Ratsmitglied, sondern den Kopf des Rats, Refugio Costa – einen der grausamsten und skrupellosesten Männer des Planeten.

Refugio war berüchtigt für seine schmutzigen und hinterhältigen Praktiken. In einem fairen Kampf würde Saber ohne jeden Zweifel siegen. Aber bei Refugio konnte man sicher sein, dass der Kampf alles andere als fair ablaufen würde.

Chadwick mochte nicht bereit sein, sich mit Saber zu verpaaren, aber er war genauso wenig bereit, ihn zu verlieren. Er musste den Zweikampf verhindern, komme, was wolle.

Kapitel 4

Saber kämpfte gegen den Drang an, zu Chadwick zu gehen, sich seinen sexy Gefährten über die Schulter zu werfen und ihn so lange zu ficken, bis er zugab, dass sie Gefährten waren. Nur die Furcht, die er für einen kurzen Moment in Chadwicks Augen gesehen hatte, als Saber erwähnt hatte, ihn ans Bett fesseln zu wollen, hielt ihn von diesem Höhlenmensch-Manöver ab.

Ganz offenbar fehlten ihm wichtige Teile der Geschichte, was seinen Gefährten betraf. Aber es wäre auch nicht in Sabers bestem Interesse, seinen Gefährten zu irgendetwas zwingen zu wollen – das war genauso offensichtlich. Also stand er da und wartete darauf, dass Brecken ihn der Menge vorstellte.

Plötzlich wandte Chadwick ihm seine sturmgrauen Augen zu, und Saber war wie hypnotisiert von ihrem besitzergreifenden Blick. Es war das erste Mal, dass Chadwick Saber wie einen Gefährten ansah. Saber bekam auf der Stelle einen Harten.

„Und zum guten Schluss: Hier ist der Mann, der Chief Refugio Costa um die Führung des Rats herausgefordert hat, Saber Thorsen.“ Erst als Brecken seinen Namen sagte, löste sich der Bann, unter dem Saber gestanden hatte, während er seinen Gefährten anstarrte.

Er ging hinüber zu den anderen Herausforderern und drehte sich zur Menge. Er hatte den größten Teil seines bisherigen Lebens darauf gewartet, Refugio aus dem Weg zu schaffen. Jetzt, da die Zeit gekommen war, konnte Saber es kaum abwarten, bis der Mann hier auftauchte.

Sein Blick wanderte erneut dorthin, wo Chadwick stand. Er wünschte nur, die Situation zwischen seinem Gefährten und ihm wäre geklärt.

„Nun habt ihr die Herausforderer gesehen, und ich erwarte von euch, dass ihr bei den Vorbereitungen für das Hauptereignis in zwei Tagen helft.“ Brecken gestikulierte in Edricks Richtung. „Falls ihr irgendwelche Fragen habt, wendet euch an Alpha Edrick.“

Edrick wirkte nicht unbedingt glücklich darüber, als Anlaufstelle zu dienen, aber er drückte sich auch nicht vor der Verantwortung. Saber konnte das gut verstehen. Alpha zu sein, war eine Riesenverantwortung, und nur wenige waren bereit, sie auf sich zu nehmen. Aber wenn es so tief in den Genen verankert war, ließ sich der Drang, sein Rudel zu beschützen, nur schwer ignorieren.

Sobald Brecken gegangen war, verließ auch Saber die Veranda und marschierte geradewegs zu Chadwick, der bereits aussah, als wollte er die Flucht ergreifen. Schon wieder! Geduld war ja gut und schön, aber das hier wurde langsam lächerlich. Falls Saber überhaupt eine Chance bei seinem Gefährten haben wollte, musste er unbedingt mehr über ihn wissen. Er wusste auch schon, mit wem er über Chadwick reden sollte.

Saber machte auf dem Absatz kehrt und ließ die kleine Häusergruppe hinter sich, die es irgendwie geschafft hatte, nicht vollkommen zu zerfallen, während jedes andere Gebäude der verlassenen Stadt mehr oder weniger zusammengebrochen war. Saber war zwar erst seit Kurzem in Miracle, aber er wusste genau, wo er den Mann finden würde, mit dem er reden musste.

Die Hauptstraße war eigentlich die einzige Straße, die es in der Stadt gab, abgesehen von dem staubigen Pfad, der zu den Häusern von Edrick und seinen Freunden führte. Saber war verblüfft über den Gegensatz zwischen den Häusern, die teils vollkommen verfallen, teils schon wieder aufgebaut waren. Wie es schien, hatten die Leute hier vor, die ganze Stadt niederzureißen und von Grund auf neu zu bauen.

Wie Saber gehört hatte, waren Edrick und seine Männer noch gar nicht so lange hier, aber sie arbeiteten auf jeden Fall schnell, denn zwei Gebäude waren bereits ganz fertig, und zwei weitere sahen aus, als fehlte nicht mehr viel. Sabers Ziel war eins der bereits fertiggestellten Häuser, das Café „Mausefalle“.

Ein seltsamer Name, wenn man bedachte, dass die Inhaber zwei Mauswandler waren. Aber inzwischen hatte Saber festgestellt, dass an den Männern, die Miracle zu ihrem neuen Zuhause erkoren hatten, wenig normal war. Einer von ihnen glaubte sogar, dass die Stadt von einem Geist heimgesucht wurde. Es war der reinste Zirkus hier, aber je besser Saber die Männer kennenlernte, desto mehr mochte er sie. Er würde hier nichts ändern wollen.

Als er die Tür zur Mausefalle öffnete, ertönte eine Glocke über dem Türrahmen und verkündetet den Besitzern, dass jemand gekommen war. Allerdings war das Lokal bereits gerammelt voll. Nach dem allgemeinen Murren zu urteilen, hatten die Besitzer Jari und Harper offenbar Schwierigkeiten, den vielen Bestellungen schnell genug nachzukommen.

„Braucht ihr Hilfe?“, fragte er Iniko, der wie ein aufgescheuchtes Huhn umherlief und versuchte, nicht den Überblick zu verlieren.

Iniko blieb wie angewurzelt stehen und starrte Saber mehrere Sekunden lang an wie in Trance. Dann blinzelte er und lächelte. „Scheißen Bären im Wald?“, gab er drollig zurück.

Mehrere der Gäste knurrten. Saber starrte jeden einzelnen von ihnen nieder, bis sie verstummten.

Iniko deutete zum Tresen. „Hinter dem Tresen sind Schürzen und Notizblöcke. Warum Jari sich weigert, iPads zu benutzen, werde ich zwar nie verstehen, aber …“, murmelte er vor sich hin, während er mit seinem Tablett voller Getränke bereits zum nächsten Tisch unterwegs war.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752144703
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Mai)
Schlagworte
gestaltwandler wandler gay romance gay fantasy Roman Abenteuer Fantasy Romance Liebesroman Liebe

Autor

  • Shea Balik (Autor:in)

Shea Balik hatte schon immer eine lebhafte Fantasie und Geschichten in ihrem Kopf. Oft entwickelt sie ihre Geschichten aus der Beobachtung von anderen Menschen und verleiht ihnen ihre eigene Note. Reisen ist einer ihrer bevorzugten Wege, ihrer Leidenschaft für das Leute-Beobachten zu frönen, und wer weiß, wer die zündende Idee für ihr nächstes Buch liefern wird.
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Titel: Mauern überwinden