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OUT: Willkommen in der Unsterblichkeit

von Rainer Korn (Autor:in)
480 Seiten

Zusammenfassung

Unsterblichkeit! Noch nie war die Menschheit diesem Traum so nah wie heute. In Hamburg forscht ein unabhängiges Institut, das Mind Networks United, an der Digitalisierung des menschlichen Gehirns. Es hat einen Chip entwickelt, mit dem sich unendlich viel Wissen in ein menschliches Gehirn transferieren lässt. Doch das MiNU ist schon weiter: Das ICH eines Menschen digital zu klonen und als MindClone in einen gewaltigen Speicher hochzuladen – in die MindCloud. Doch etwas läuft schief. Nicht nur in unserer Wirklichkeit beginnt die Suche nach einem skrupellosen Attentäter, der totale Kontrolle ausübt und sogar eine Cyber-Spezialabteilung des BKA vor größte Rätsel stellt. In Rainer Korns spannendem Thriller zeigt er auf, was heute oder in allernächster Zukunft digital möglich sein wird – und liefert gleich fundierte Argumente für eine Diskussion über Ethik und Grenzen der Digitalisierung mit – alles verpackt in einer mitreißenden Geschichte, die schneller Wirklichkeit werden könnte, als die meisten Menschen es sich heute vorstellen können. Der gelernte Journalist Rainer Korn hat knallharte wissenschaftliche Fakten in einer packenden, emotionalen Erzählung zu einem furiosen Thriller über die digitalen Möglichkeiten zusammengeführt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis



Prolog

Das Flugzeug beschrieb einen weiten Bogen 10.000 Meter über dem Boden. Unter der Maschine breitete sich ein lockerer, weißer Wolkenteppich aus. Michael D. Allhoven überflog die Recherchen zu seiner neuen Story. Es ging um die Veruntreuung von Beratergeldern in der EU-Kommission, in der Bundeswehr und um Einrichtungen, die sich mit Cyberwar und staatlichen digitalen Verbrechen beschäftigten. Während in Deutschland die Bundeskanzlerin und die Regierung einen „Digitalpakt für die Schulen“ auf den Weg brachten und damit meinten, mit der globalen Digitalisierung Schritt halten zu können, manipulierten andere Regimes sogar die US-Präsidentschaftswahlen. Eine neue Form von Krieg war entstanden, eine neue Form von Kriminalität: Cyberwar und Cybercrime. Während in Deutschland verzweifelt versucht wird, Anschluss an die rasend schnelle Digitalisierung zu finden, hangeln sich Handynutzer weiterhin im Land von Funkloch zu Funkloch.

Findige Kriminelle, Regierungen und staatliche Stellen weltweit hatten längst das Internet gekapert, um es für ihre finsteren Zwecke zu nutzen.

Waren die Menschen so schlecht?, dachte Michael. Oder machte das System die Menschen so schlecht? Diese Welt war so voller Ungereimtheiten, es passierten so merkwürdige Dinge. Ein egomanischer Vereinfacher wurde US-Präsident und nicht nur in Brasilien wählten sie ihren eigenen zukünftigen Diktator. Die Menschheit schwankte zwischen Konsum und Überleben – und entschied sich wahnwitzigerweise für den Konsum.

Es gab kein richtiges Leben im falschen – diesen Satz des Philosophen Theodor W. Adorno hätte Michael gern als sein Lebensmotto ausgegeben, wenn ihn jemand danach gefragt hätte. Doch: Was war das falsche Leben? Und: Welches war das richtige? Wer wusste das schon? Marie sagte oft, er machte sich zu viele Gedanken. Konnte man sich zu viele Gedanken machen? Machten sie sich nicht alle zu wenige?

Michael schaute aus dem Flugzeugfenster. Die kommt uns aber ganz schön nahe, dachte er noch, als eine andere kleinere, sehr schnelle Maschine sich von rechts vorn seinem Flugzeug näherte. Dann schrie jemand auf und das Schreien schwoll zu einem kreischendem Sturm an, aber nur ganz kurz. Die Maschinen krachten ineinander. Das war’s, war Michael D. Allhovens letzter Gedanke, dann wurde die Welt dunkel und still. Die Unendlichkeit breitete sich in 122 Menschen aus, die eben noch geatmet, gelacht, sich unterhalten, geschlafen und geträumt hatten. Sie wurden von einer Sekunde zur anderen aus dem Leben gerissen: Mütter, Väter, Singles, Kinder. Michael D. Allhoven bekam von alledem nichts mehr mit. Er war zurückgekehrt in die Weltendunkelheit, aus der er einst auf die Erde des Lichts gekommen war. Der Rest war Schweigen.

Niemandsland

Hallo?

Selber Hallo.

Wer ist da?

Ich.

Michael fühlte sich seltsam. Präsent, aber irgendwie auch unendlich leer. Irgendwas war passiert, aber er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern. Er sollte vielleicht die Augen öffnen, um dieser unglaublich tiefen Dunkelheit zu entkommen. Nur leider hatte er keine Ahnung, wie er das anstellen sollte. Normalerweise passierte das einfach. Da gab es keinen Befehl „Augen öffnen“ – es geschah fast wie von allein. Normalerweise. Entweder hatte er es verlernt, die Augen zu öffnen, oder er war gelähmt oder er hatte gar keine Augen mehr! Irgendwas war passiert. Etwas Elementares. Aber so sehr er sich auch anstrengte, kein Gedanke formte sich in ihm, der ihm in irgendeiner Art und Weise hilfreich erschien. Was hatte er zuletzt gemacht? Wo hatte er sich befunden? Mit jeder Frage, die er sich stellte, wuchs eine kalte Angst in ihm. Sie drohte ihn zu ersticken. Atmen, jetzt wieder atmen. Aber panisch musste er feststellen, dass auch das ihm nicht gelang. Aber wenn er nicht atmete, dann musste er sterben. Seltsamerweise fühlte er keinerlei Atemnot, kein Ringen nach Luft. Er atmete einfach nicht, fertig. Die erste Panikattacke verflog ein wenig, als er feststellte, dass er nicht gleich starb. Streng deinen Geist an, hämmerte er sich ein. Was ist passiert? Wo war er?

Nicht schön, so, die Dunkelheit, was?

Schon wieder die Stimme. Michael erschrak.

Und bevor du wieder fragst, ich bin hier. Ich kann dir leider momentan nicht mehr zu mir sagen, tut mir Leid. Aber ich, nun, laboriere noch herum, um mir Klarheit zu verschaffen. Ist allerdings nicht so einfach, wo alles so leer in und um einen herum scheint. Dir geht’s wohl ähnlich, wie?

Michael hörte die Stimme gar nicht, stellte er fest, sondern nahm sie in sich auf. Als ob sie sich in seinem Kopf manifestierte. Na ja, wenn er keine Augen hatte, um zu sehen, hatte er wohl auch keine Ohren, um zu hören. Das war immerhin schon mal logisch, wenn auch ein sehr schwacher Trost. Wer war der andere und wo war er?

Du kannst wohl auch nichts sehen, oder?, wollte Michael von ihm wissen.

Stille.

Hallo? Bist du noch da?

Stille.

Marie

Es war wie im Film. Sie waren zu zweit an die Tür ihres Reihenhauses gekommen und hatten geklingelt. Ein Mann, eine Frau. Marie hatte ihnen nur in die Augen sehen müssen und wusste, es war etwas Fürchterliches geschehen. Flugzeugunglück. Maschine in die Eifel gestürzt. Keine Überlebenden. Ihr Mann war eingecheckt gewesen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit tot. Suchtrupps sind am Flugzeugwrack, das über mehrere Quadratkilometer verteilt in zerbrochenen Stücken liegt. Marie wollte gar nicht wissen, was die Absturzursache war. Sie fühlte ihr Leben mit einem Mal genauso zerbrochen wie dieses Flugzeug. Hannah! Hämmerte es in ihrem Kopf. Sie musste noch bei einer Freundin sein. Ein Referat vorbereiten. Ihre 16-jährige Tochter, für die in diesem Moment noch alles heil wie immer sein würde – doch das Schicksal hatte bereits seine Flügel ausgebreitet, hockte da auf einem Ast wie ein Gespenst, bereit zum Abheben. Marie saß zwei Stunden auf dem Küchenstuhl, unfähig sich zu bewegen. Das Telefon klingelte.

„Marie? Hier ist Tom. Hast du das von dem Flugzeugunglück gehört? Saß Micha in der Maschine? Oh, mein Gott, bitte lass ihn einen anderen Flug genommen haben.“

„Tom? Nein, die Polizei war bereits hier. Er war auf diesem Flug eingecheckt. Sie sagen, es …, es gäbe keine Hoffnung auf Überlebende ...“

„Oh, Marie, Scheiße! Das tut mir so unendlich Leid!“

Tom war Michaels Ressortleiter Wirtschaft. Er hatte ihn quasi auf den Flug von Frankfurt nach Brüssel geschickt, um über die neuen Formen von Cyberkriminalität zu recherchieren. In Frankfurt hatte Michael sich mit verschiedenen Informanten getroffen, um Hintergrundmaterial zu sammeln. Außerdem war Tom Michaels bester Freund und auch oft bei ihnen zu Gast.

„Marie? Soll ich vorbeikommen? Ich kann in dreißig Minuten da sein.“

Sie wollte schon Ja sagen, zögerte dann. Wollte sie Tom jetzt hier haben, wo sie noch nicht mal mit Hannah gesprochen hatte?

„Danke, Tom, aber ich muss erstmal mit Hannah sprechen. Ich – ich brauche noch ein wenig Zeit für mich. Es ist so unwirklich. Ich habe Micha zehn Mal angerufen, aber immer heißt es, der Teilnehmer sei zurzeit nicht erreichbar.“

„Mein Gott, Marie – ruf mich an, wenn Du mich brauchst. Ich versuche, über die Redaktionskanäle Neuigkeiten aufzutreiben.“

Sie legten auf.

Neuigkeiten? Welche sollten das denn sein? Das übliche Prozedere bei Abstürzen: die hektische Suche nach der Blackbox; wilde Theorien in den sozialen Medien; Terrorismus, menschliches Versagen. Es war eigentlich alles egal für sie. Michael lag zerfetzt in Einzelteilen in der Eifel. Nie wieder würde sie seine so vertraute Stimme hören, die „Kleines“ hauchte. Nie wieder seine Lippen auf ihrem Nacken spüren, auf den Lippen.

Mitch

Die Talkshow war okay gewesen. Der Moderator hatte ihn verschiedene Male versucht, aufs theoretische Glatteis zu führen, aber er war lächelnd darüber hinweg geschwebt. Mitch galt vielen als Superdenker, seit er vor drei Jahren sein bahnbrechendes Buch „Alles und nichts“ herausgebracht hatte. Darin webte er einen Zusammenhang aus 10.000 Jahren Religion, politischer Geschichte, Psychologie und der Entwicklung der menschlichen Gesellschaften – inklusive Irrungen und Wirrungen der Zeitgeschichte. Ein Wälzer in drei Bänden, zudem noch so spannend geschrieben, dass alle drei Bände Nummer-1-Bestseller wurden – weltweit. Das hatte ihm natürlich sofort den reflexartigen Vorwurf von Teilen der Wissenschaft eingebracht, er würde populärwissenschaftlich agieren und biege das Wissen so, wie es ihm in den Kram passt. Doch ein nicht unbedeutender Teil des Wissenschaftsbetriebs, vor allem der jüngere, war begeistert von seiner Analyse und vor allem von seinen Schlussfolgerungen, die letztendlich allen Entwicklungen, ob religiös, gesellschaftlich, politisch (was ja oft dasselbe war), aber auch familiär und sportlich, dieselben inneren Mechanismen nachwies. Eigentlich war es eine riesengroße Vereinfachung, die Mitch betrieben hatte. Allerdings so genial fundamental bewiesen, dass sich alle Kritiker bisher ihre neidischen Zähne daran ausgebissen hatten. Nicht wenige sprachen bereits von der „Neuen Weltenformel“, die Mitch gefunden hatte und die der Einstein’schen Relativitätstheorie in keiner Weise in ihrer Wirkung nachstehen würde. Dieser Erfolg hatte Mitch nicht nur steinreich gemacht, sondern spülte ihn auch in Talkshows und andere TV-Sendungen. Denn er war nicht nur ein extrem wacher Geist, sondern sah auch noch unverschämt gut aus, konnte unglaublich charmant sein und verfehlte selbst auf seine Kritiker nicht seine bezaubernde Wirkung. Dabei waren seine äußeren und inneren Attribute nur eine zufällige Mischung seiner Gene, wie Mitch gern erzählte – verursacht vom Lauf der Geschichte. Und damit brachte er seine eigene persönliche Entwicklung in schönsten Einklang mit seiner „Weltenformel“. Seine Mutter, eine Deutsche, deren Familie aus dem vormals deutschen Ostpommern am Ende des Zweiten Weltkriegs vor die Tore Hamburgs geflohen war, traf ihren späteren Mann, einen US-Amerikaner aus Florida, auf einer Hafenrundfahrt im Hamburger Hafen. Howard gehörte zu einer US-Wirtschaftsdelegation, die eine Woche in der Hansestadt zubrachte, um die „Geschichte des europäischen Handels“ kennenzulernen, wie sein Vorgesetzter das ausdrückte. Howard Winfield war wiederum zu einem kleinen Teil direkter Nachfahre der afrikanischen Sklaven, die auf den „neuen“ Kontinent geschafft worden waren. Ein weiterer Teil seiner Familie stammte aus Vancouver in Westkanada. Dort hatten sich sogar vor etwa 150 Jahren noch asiatische Gene in seinem Stammbaum verewigt. Und zwar in Form eines chinesischen Spezialisten in Sachen Fische filetieren. Die Chinesen galten in der Fischverarbeitung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen bedeutenden Anteil an der Wirtschaft in Südwest-Kanada hatte, als beste Filetierer der Welt. Schnell, effizient und gehorsam – das waren Werte, die die kanadischen Fischkonserven-Hersteller begeisterten. Diesen Teil seiner Geschichte kannte Mitch Kessler natürlich auch. Und er kokettierte gern damit, wenn irgendwer in seiner Nähe von Rasse zu faseln begann. Mit ein paar Fragen hatte er einen vermeintlich „reinrassigen“ blonden Arier in dessen Entstehungsgeschichte zumindest bis in den Irak oder gar bis nach Indien verortet. Das Dumme an Rassisten war nur ihre unglaubliche Blindheit – sie wurden wie kleine Jungs böse, wenn ihnen jemand die Wahrheit sagte und ihre kleine Scheinwelt in Stücke riss. Da half ihnen nur noch blinde Gewalt – getreu dem alten Motto, der Überbringer der schlechten Nachricht ist selbst schlecht und gehört weg. Zum Glück traf Mitch heute nur noch äußerst selten auf große, dumme Jungs. Seine Bucherfolge hatten ihn zu einem schwerreichen Mann gemacht. Er konnte manchmal immer noch nicht glauben, wie schnell das geschehen war. Aus dem Uni-Betrieb hatte er sich schon vor einem Dutzend Jahren frustriert verabschiedet. Seither schrieb er für eine erfolgreiche Food-Bloggerin die Texte. Josephine konnte zwar unglaublich gut und kreativ kochen, agierte vor der Kamera so herrlich erfrischend und ehrlich, war allerdings nicht in der Lage, zwei zusammenhängende Sätze zu schreiben. Jedenfalls keine, die miteinander einen Sinn ergaben. Josy war darüber furchtbar traurig, hatte schon einige Versuche gestartet, ihr persönliches Schreib-Handicap zu überwinden, war aber immer kläglich gescheitert. Mitch hatte sie (zufällig) in einer Hotelbar kennengelernt. Er schrieb bereits an seinem ersten Buch, das nicht so recht vorangehen wollte, und hatte ziemlich dringende finanzielle Probleme. Josy hatte ein Meeting gehabt mit Vertretern von Maggi, die sie sponsern wollten. Sie war ein aufsteigender Stern am Foodblogger-Himmel (bei ihr allerdings bisher nur via YouTube aus besagten Gründen). So saßen sie beide an der Bar zufällig nebeneinander und begannen ein leidenschaftloses Hotelbargespräch, das immer intensiver zu werden schien. „Maggi und Josephine? Niemals!“ Am Schluss nach einigen Caipis war Josy sich sicher: Sie würde unabhängig bleiben. Schluss. Punkt. Und Mitch hatte einen neuen Job, der ziemlich schnell ein einigermaßen sicheres Einkommen bedeutete. Der ihm aber dennoch ausreichend Zeit ließ, sich um sein Buch zu kümmern. Josy fand dieses Vorhaben fantastisch. Der Vorteil, für eine Foodbloggerin zu arbeiten, bestand auch darin, dass sich Mitch über kulinarische Unterversorgung keine Sorgen zu machen brauchte. Josy war eine fantastische Köchin. Und weil sie einen vegetarischen Blog betrieb, wurde auch Mitch selbst Vegetarier. Zuerst eben aus Zufall, dann aus Überzeugung. Obwohl, Zufall war auch schon wieder so ein Begriff, mit dem Mitch ernste Probleme hatte ...

Niemandsland

Er hörte mehrere Stimmen. Oder besser: Er nahm mehrere Stimmen wahr. Sie schienen zu diskutieren.

Ich hätte den Fehler mit den zwei Fronten niemals machen dürfen. Das weiß ich jetzt auch.

Nun, ich weiß nicht, von der Problematik weiß ich zu wenig, habe ja vorher gelebt.

Ach, es ist eine solche Schande, dieses ganze Unnütze, diese Aasgeier, die nur von meinen Innereien gelebt haben, dieser dicke Göring mit seinen Fantasie-Uniformen. Spätestens da hätte ich merken müssen, dass dieser Mann komplett dem Wahnsinn verfallen war. Oder dieser Speichellecker Göbbels. Wussten Sie, dass der im Glauben gewesen war, eigentlich der bessere Führer zu sein? Der klügere? Seine ganze Liebe zu mir war nichts weiter als der Wunsch, an meine Stelle zu treten, das Reich zu Füßen.

Michael glaubte sich in einem weiteren Traum. Da sprach Adolf Hitler. Diese Stimme kannte er, sie war so markant und wer hatte nicht schon einmal diesen Agitator auf Archivmaterial gehört? Eine absolut unverwechselbare Stimme und dazu die Themen. Michael war zutiefst verwirrt. Wie konnte das sein. War er wahnsinnig geworden? Aber was war denn überhaupt geschehen. Er versuchte sich zu erinnern. Maria kam ihm in den Sinn, seine Frau. Seine Tochter Hannah. Das Reihenhaus in Hamburg-Wandsbek. Sein Job. Er war Journalist. Das Nachrichtenmagazin. Tom, sein Kollege, Freund, Vorgesetzter. Er fuhr einen Smart, weil alles andere in dieser Stadt keinen Sinn machte. Er spielte jeden Mittwoch Badminton mit Tom und anderen Kollegen. Im Urlaub wanderten sie gern in den Bergen. Er löste Schachaufgaben, hatte aber schon lange keine echte Partie mehr gegen einen Menschen gespielt. Er war 44 Jahre alt, wog 82 Kilo und war einen Meter 74 groß. Seine Mutter lebte in Gießen, sein Vater war vor zwei Jahren gestorben. Maria war ein Jahr älter als er, arbeitete als Grundschulleiterin, war aber zurzeit krankgeschrieben. Sie hatten sich in einem Fußballstadion an einem Imbiss kennengelernt. Beide machten sich nichts aus Fußball, sie war von ihrem Bruder mitgeschleppt worden, er von Kollegen aus der Sportredaktion („Das musst du mal erleben, diese Atmosphäre! Dieses gemeinsame Gefühl!“). Doch weder bei Maria noch bei ihm wollte sich der Funken der Begeisterung einstellen. Sie mussten wohl beide etwas gequält ausgesehen haben, jedenfalls schauten sie sich nur an und mussten lachen. Sie verließen das Stadion noch während der ersten Halbzeit und redeten einen ganzen Nachmittag und Abend zusammen in einer kleinen Bar im Schanzenviertel in Hamburg. Hannah war ihre Tochter, sie war 16, ging aufs Gymnasium und war trotz ihres Alters relativ vernünftig, wie Micha fand. Er hatte von Kollegen wahre Horrorgeschichten gehört von ihren „wachsenden“ Mädchen. Er hatte immer darauf gewartet, dass der Horror auch in ihr hübsches Reihenhaus einziehen würde, aber da kam nichts. Probleme wurden beredet, nicht immer super-sachlich, aber stets mit Respekt vor dem anderen. Vielleicht war das das ganze Geheimnis, dachte Micha jetzt. Dem anderen mit Respekt zu begegnen, auf Augenhöhe. Er hatte keine Ahnung, warum er das jetzt alles gerade dachte, wo neben ihm Hitler vom Zweifrontenkrieg faselte.

K.I.T.

Maybrit starrte auf ihren Computer-Bildschirm. Zahllose Kolonnen an Zahlen zogen wie Heere bereit zur Schlacht über den Monitor. Ein dumpfer Schmerz erinnerte sie daran, dass sie ziemlich bald einen Zahnarzttermin verabreden sollte. Doch diese Zahlenkolonnen waren sogar in der Lage, ihren Zahn zu beruhigen. Sie warf ihrem Chef einen Blick zu. Magnus telefonierte. Eigentlich hörte er zu und jemand anders erzählte. Seiner Miene nach zu urteilen, war das ein vorgeschalteter Politiker, der ihm langwierig etwas darlegte. Magnus war nicht gänzlich uninteressiert, aber seine Miene verriet seine Ungeduld und von der Schwierigkeit, diese nicht am Telefon zu zeigen. Also doch ein Politiker – auf jeden Fall, da war sich Maybrit jetzt sicher. Endlich war das Telefonat vorüber und Magnus starrte durchs Fenster.

„Die haben keine Ahnung von Digitalisierung.“

Maybrit wusste, was er meinte.

„Die wollen alles kontrollieren, wissen aber nicht einmal, was sie eigentlich kontrollieren wollen und können.“

Magnus war für die verantwortlichen Politiker eine Art A.A.O. – alles ausführendes Organ. Also luden sie bei ihm, dem Chef der Arbeitsgruppe Künstliche Intelligenz/Intelligente Technik, kurz AG K.I.T., ihre ganzen Sorgen ab. Er sollte dann wohl eine Art digitalen Zauberstab schwingen und alles wurde gut. Neben Maybrit und ihm war noch Thilo mit an Bord ihrer Sondereinsatzgruppe, die innerhalb des Bundeskriminalamtes eine Sonderrolle einnahm. Die drei aus der digitalen Welt, wie Dr. Benz sie gern nannte – ihr einziger richtiger Vorgesetzter beim BKA. Es gab natürlich noch eine ganze Reihe weiterer Abteilungen, die sich mit Internet, Digitalem und den damit verbundenen Verbrechen beschäftigten. Doch die AG K.I.T. kümmerte sich um die ganz sonderbaren Fälle, um neue Erscheinungsformen der www-Kriminalität. Alle drei waren Spitzenleute in Sachen digitaler Welt und arbeiteten in dieser Konstellation jetzt zwei Jahre zusammen. Sie waren nicht diejenigen, die nach ausgiebiger Recherche die Pistolenhalfter umlegten und die überführten Bösen aus dem Dunkel des Darknet ins helle Licht der Wirklichkeit zerrten. Ihre Arbeit war zwar die Grundlage für weitere Ermittlungen, die aber von Kollegen aus anderen Abteilungen fortgeführt und wenn möglich abgeschlossen wurden.

Meine Digi-Precogs, beschrieb Dr. Benz gern die drei – womit er die hellseherischen Personen aus dem berühmten Zukunftsthriller „Minority Report“ von Steven Spielberg meinte. Sie können Morde schon vorher sehen, bevor sie ausgeführt werden. Die „Täter“ werden quasi bereits im Vorfeld ihrer Tat verhaftet und in Verwahrung gebracht. In einen Zustand ständiger Bewusstlosigkeit. Dr. Benz liebte den Film, in dem Tom Cruise die Hauptrolle spielte, und war nur darüber enttäuscht, dass das ganze Projekt leider am Schluss beendet wurde, weil es sich als fehlerhaft herausstellte. Für Dr. Benz war es eine fantastische Vorstellung, Verbrechen bereits vor ihrer Ausführung verhindern und die „Täter“ wegsperren zu können. Mit mutmaßlich angehenden Terroristen wurde ja schon seit einigen Jahren ähnlich verfahren. Wurden ihre Vorbereitungen entdeckt, gab’s eine Observation und möglicherweise Zugriff, bevor die Tat begangen wurde. Auch für die Vorbereitung eines terroristischen Akts konnte man für lange Zeit hinter Gitter wandern.

Als Hellseher empfanden sich die drei vom K.I.T. allerdings nicht gerade. Sie surften in den digitalen Weiten der Internets und kamen sich da eher manchmal wie die Pioniere aus Star Trek vor – nur dass sie nicht in einem Raumschiff materiell durch den Weltraum rasten, sondern eben digital in den ebenso unendlichen Weiten der Clouds und Netze.

„Magnus? Die Hackeraktivitäten, die wir seit einer Woche beobachten, steigen sprunghaft an. Ziel sind vor allem wissenschaftliche Einrichtungen der Unis und der technischen Hochschulen.“

Magnus drehte sich auf seinem Stuhl zu ihr um.

„Irgendwelche Wurzeln? Verbindungen zu bekannten Aktivitäten?“

Maybrit schüttelte ihren Kopf.

„Nein, nichts zu erkennen. Das brandet immer wieder wie Wellen auf die Server. Aber es wirkt ein wenig ziellos, so, als ob die letzte Konsequenz zum Durchbrechen nicht vorhanden ist.“

„Okay, beobachte es weiter. Ich habe ein anderes Problem. Das Büro des Hamburger Innensenators hat merkwürdige digitale Sendungen erhalten. In ihnen wird vor Gottes Rache gewarnt, wenn der Mensch sich weiter seiner Hybris schuldig macht. Die menschliche Intelligenz sei von Gott gegeben – jeder Versuch, sich darüber zu erheben, sei ein Angriff auf Gott und seine Schöpfung. Das würde ernste Konsequenzen nach sich ziehen und so weiter ...“

Thilo Thielsen schaute nun das erste Mal von seinem Bildschirm auf.

„Klingt nach üblichem religiösem Eifertum, allerdings aus christlicher Richtung, vermute ich. Aber ehrlich, solche Dinge kursieren doch tausendfach im Netz. Wieso misst das IM dem denn eine Bedeutung zu?“

Magnus schaute seine beiden Mitarbeiter abwechselnd an:

„Es wurde in diesem Fall ein Video mitgeschickt, das den Innensenator spielend mit seinen beiden Töchtern zeigt – am Schluss färbt sich das Bild rot ein.“

Niemandsland

Irgendetwas war furchtbar schief gelaufen, da war sich Michael jetzt ziemlich sicher. Er, der so gern alles unter Kontrolle hatte, der Probleme als Schachspieler anging, analytisch, berechnend und kontrolliert, sah sich jetzt einer total unwirklichen, abstrakten und unmöglichen Situation gegenüber. Hitler schwieg jetzt zum Glück, aber er nahm eine andere Stimmen wahr.

Der Schwache kann nicht verzeihen. Verzeihen ist eine Eigenschaft des Starken.

Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier.

Michael nahm die Sätze in Englisch wahr, obwohl er sich da nicht so sicher war (wie konnte er bei irgendwas hier sicher sein?). Sie berührten sein Inneres, brachten es zum Schwingen. Sie kamen ihm sogar bekannt vor, auch wenn er sie gerade nicht einordnen konnte. Aber das schien zurzeit das eindeutigste Merkmal seiner Situation zu sein: die Unmöglichkeit des Einordnens. Obwohl, der zweite Satz: Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier – der passte ja irgendwie wunderbar zur aktuellen Diskussion um Ressourcen, die immer weiter auseinanderklaffende Schere zwischen Arm und Reich auf der gesamten Welt, zu Klimaveränderung und Migrationsbewegungen weltweit. Zu übermäßigem Fleischkonsum mit all seinen schädlichen Folgen, zu dem Abholzen des Regenwaldes, CO2 und Stickoxid und zum ganzen Rest.

Der Satz mit der Gier, sprach Michael, der stimmt natürlich, aber hilft auch nicht so richtig weiter im politischen Tagesgeschäft, wo es doch hauptsächlich um kurz- bis mittelfristige Problemlösungen geht. Die Menschheit ist so beschäftigt mit dem Verwalten der aktuellen Situation, dass sie sich viel zu wenig Zeit und Mühe gibt, um die zentralen Fragen zur Zukunft der Menschheit zu stellen. Es scheint, dass alles rein wirtschaftlichen Interessen untergeordnet wird – und den Aufsichtsrat interessiert das Wohl der Menschheit und der Erde nur in feierlichen Stiftungsreden, ansonsten weiter wie gehabt, Geld scheffeln.

Michael fand es auf eine sonderbare Weise komisch, dass er diese Gedanken hatte, wo doch ihm seine persönliche Situation komplett unbewusst und unklar war. Da vernahm er wieder die Stimme von vorhin:

Die Geschichte lehrt die Menschen, dass die Geschichte die Menschen nichts lehrt.

Unzweifelhaft richtig, dachte Michael, sehr schön zugespitzt formuliert, aber welche Konsequenzen zieht man nun daraus?

Sei Du selbst die Veränderung, die Du Dir wünschst für die Welt.

Okay, das erinnerte Michael stark an die Theorie des Schmetterlings-Effekts – nur in positivem Sinne. Geprägt hatte ihn der US-amerikanische Meteorologe Edward N. Lorenz in einem Vortrag 1972 mit dem Titel „Vorhersagbarkeit: Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen?“ Lorenz wies in mathematischen und physikalischen Versuchen nach, dass sich in bestimmten Systemen nicht vorhersehen lasse, wie sich selbst kleine, beliebige Veränderungen am Anfang des Systems auf die gesamten Entwicklungen und Folgen auswirken. Das war die Geburt der populären Chaostheorie. Eigentlich hätte die korrekterweise „Dynamik nicht linearer Systeme“ heißen müssen, aber dann wäre sie sicherlich in der Öffentlichkeit niemals auf ein so großes Interesse gestoßen. Nicht wenige Wissenschaftler sehen in der Chaostheorie eine der drei wissenschaftlichen Revolutionen des 20. Jahrhunderts – neben der Relativitätstheorie Albert Einsteins und der von Max Quandt begründeten Quantenphysik. Und auch persönlich hatte Michael seine eigenen Erlebnisse mit der Chaostheorie gehabt. Als er mit 14 Jahren seine erste „richtige“ Freundin kennenlernte, war dieses Zusammentreffen auch eine Verkettung glücklicher Umstände gewesen. Denn eigentlich – und dieses Wort eigentlich war eigentlich das Anfangswort zu jeder Chaostheorie – wollte er zum Fußball fahren. Doch neben der Straße fand er eine verletzte Krähe, die wohl in ein Auto geflogen war. Sie duckte sich ganz flach in einen kleinen Graben neben der Straße unter ein paar Zweige eines Gebüschs. Michael griff sie behutsam um den Körper und die Schwingen und steckte sie unter seine Jacke. Mit einer Hand schob er das Rad, mit der anderen hielt er den schwarzen Vogel. Erst hatte er ein wenig Furcht, dass die Krähe mit ihrem so aus der Nähe betrachtet ziemlich gewaltigen Schnabel nach ihm hacken würde. Aber das tat sie nicht. Er kannte eine Tierärztin im Ort, bei der sie auch mit ihrem Beagle hin und wieder waren. Sie untersuchte die Krähe, gab ihr eine Beruhigungsspritze, stellte fest, dass wohl nichts gebrochen sei und der Vogel einfach von dem Zusammenprall benommen war. Sie organisierte einen Karton, in den die Krähe verfrachtet wurde. Sollte sie die nächsten zwei Stunden überstehen, so die Ärztin, hätte sie wohl keine inneren Verletzungen und würde vielleicht überleben. So verbrachte Michael die nächsten zwei Stunden mit dem Karton auf dem Schoß im Wartezimmer der Praxis und wartete darauf, dass die Krähe starb oder überlebte. Ying oder Yang. Null oder Eins. Schwarz oder Weiß. Leben oder Tod. Bald kam ein Mädchen in seinem Alter mit ihrem Meerschweinchen ins Wartezimmer. Siegrid fand die Krähe natürlich super spannend – und so waren sie zusammen gekommen. Die Krähe überlebte, hieß dann Krax, weil sie ziemlich krächzende Töne von sich gab – eine Folge des Unfalls, wie die Ärztin vermutete. Fünf Jahre lebte sie bei den Allhovens, bis sie eines Tages von einem Ausflug nicht mehr zurückgekommen war. Michael war todtraurig und schaute jeden Tag in den Himmel, um Krax auf sich zufliegen zu sehen. Aber Krax blieb verschwunden. Michael zog bald darauf aus dem kleinen Ort weg nach Hamburg, wo er studieren wollte. Doch noch jahrelang blickte er immer wieder sehnsuchtsvoll in den Himmel, um ein Zeichen von Krax zu entdecken. Aber Krax tauchte nie wieder auf. Als hätte es die Krähe nie in Michaels Leben gegeben. Mit Siegrid war noch schneller Schluss gewesen. Nach einem Jahr trennten sie sich, wie sich halt Teenager voneinander trennen. Hätte das Auto damals vielleicht ausweichen können? Dann wäre Krax nie in seinen Armen gelandet, genauso wenig wie Siegrid. Alles wäre anders gekommen. Und so war es mit beinah allem im Leben. Zufälligkeiten bestimmten es. Oder wie hieß es so schön: Planung ist das Ersetzen des Zufalls durch Irrtum. Die Chaostheorie bewies nun, dass selbst kleinste Veränderungen zu großen Umwälzungen führen konnten. Selbst das Mit- und Gegeneinander der Planeten, Sterne und Kometen orientierte sich nach diesem Chaosprinzip. Ein abgebrochener Teil eines Asteroiden, der auf einem Planeten einschlägt und dort zu einer verdichteten Explosion führt, die Moleküle schafft, die es vorher auf dem Planeten nicht gegeben hat. Vielleicht der Anfang des biologischen Lebens auf diesem Planeten? Die Stimme meldete sich wieder, als hätte sie Michaels Gedanken gelesen:

Wo Liebe wächst, gedeiht Leben – wo Hass aufkommt, droht Untergang.

Mitch

Er lenkte seinen geliebten polarweißen Range Rover durch die Straßen Hamburgs. Sein Navi lotste ihn in eine kleine Seitenstraße Altonas. Er fluchte. Hier einen Parkplatz zu finden, dürfte keine leichte Aufgabe werden. Endlich fand er eine Lücke und versuchte, seinen Fünfmeter-Boliden hineinzuzwängen. Nächstes Mal nehme ich ein Taxi oder kaufe so eine verdammte Erbsenbüchse Smart, versprach Mitch sich und stieg aus. Das kleine Café hatte er schnell gefunden. Drinnen war es gemütlich mit viel Holz eingerichtet. Allerlei Kaffee- und Teekannen hingen von der Decke oder standen überall herum, wo Platz war. Es gab vielleicht ein Dutzend runde Tische, jetzt gegen Nachmittag an einem Montag zur Hälfte besetzt. Ein sehr gemischtes Publikum, stellte Mitch fest. Jüngere, ältere, freakige Leute und ganz normal gekleidete. Ein bunter Mix. Die Bedienung war eine junge, dunkelhaarige Frau, wahrscheinlich eine Studentin, mit blitzweißen Zähnen und einer lustigen kleinen Zahnlücke in der oberen Reihe. Von einem der vorderen Tische stand eine sehr schlanke Frau auf. Sie wirkte sportlich, fast drahtig, trug ihre schwarzen Haare sehr kurz. Auch ihre Augen waren dunkel. Auf Anfang 30 schätzte Mitch sie und sie gefiel ihm, ohne Frage. Sie wirkte auf den ersten Blick leicht unterkühlt, nein, eher distanziert, vielleicht auch einfach vorsichtig.

„Valery Bernstein, guten Tag!“

Sie sprach mit einem herrlichen amerikanischen Akzent und hielt ihm ihre schmale Hand zur Begrüßung hin. Sie setzten sich. Valery orderte einen grünen Tee, Mitch einen Milchkaffe, zubereitet aus Hafermilch. Dabei dachte er kurz, dass es „früher“ lediglich Milchkaffe gegeben hatte. Heute konnte man ihn mit Hafer- oder Soyamilch bestellen, mit laktosefreier Kuhmilch und den Kaffee ohne Koffein. Die Individualisierung des Menschen in der westlich geprägten Welt nahm immer stärkere Formen an. Wie weit konnte das gehen, bevor es im Getriebe zu knirschen begann? Und wie würde sich ein Gigant wie China dahingehend entwickeln? Noch stand dort die von oben verordnete Kollektivität an erster Stelle, obwohl eine starke Entwicklung hin zu individuellem Konsum und zur allgemeinen Individualisierung stattfand. Ein Land mit über einer Milliarde Menschen im Wechselbad der Systeme von Kommunismus und entfesseltem Kapitalismus. Mitch schob die Gedanken zur Seite. Manchmal war es problematisch, ein „Superdenker“ zu sein – diesen Beinamen hatten ihm die Medien nach seinem Bucherfolg verpasst. Einfach zu viele Gedanken, unablässig, nicht wie ein Strom, sondern wie ein großer, rauschender Gebirgsbach, dessen Wasser sich an Steinen und Felsen bricht, immer neue Wege sucht und doch die alten findet? Er seufzte und wandte sich Valery zu, die ihn aus ihren dunklen, tiefen Augen anschaute wie ein spannendes Insekt, das vor einem auf dem Tisch krabbelte. Nicht mit Ekel, sondern eher aus wissenschaftlicher Neugier – was haben wir denn da für ein seltsames Geschöpf?

„Wie Sie wissen, Dr. Kessler, arbeite ich für MiNU – Mind Networks United. Leif Trager, der Gründer des MiNU, beobachtet Ihre Arbeit genau. Er ist sehr daran interessiert, mit Ihnen zu kooperieren. Er ist von Ihren Büchern begeistert. Leider konnte er heute nicht kommen, weil er plötzlich für ein paar Tage nach Bangkok reisen musste. Nächste Woche wird er wieder hier sein und sich freuen, mit Ihnen zusammen zu treffen.“

Sie machte eine kleine Pause und wartete, ob er etwas erwidern wollte. Mitch fand, dass sie extrem kontrolliert sprach, ohne dabei kalt zu wirken. Im Gegenteil, ihre Stimme hatte eine leicht warme Farbe, die von ihrer geringen Lautstärke, mit der sie sprach, profitierte. Es war angenehm, mit Valery zu reden, fand Mitch, wollte, dass sie weiter sprach. Als sie merkte, dass von Mitch nichts kommen würde, fuhr sie leise fort.

„Das MiNU beschäftigt sich mit Künstlicher Intelligenz. Wir meinen einen Weg gefunden zu haben, Wissen für alle in bisher unbekannter Form bereit zu stellen. Wir möchten, dass Sie unsere Bemühungen untersuchen und bewerten.“

„Warum ich?“, fragte Mitch.

„Nun, Sie haben durch Ihre Bücher gezeigt, dass Sie in extremen Zusammenhängen denken, Geschehen von Jahrtausenden analysieren können. Vielleicht ist Ihr Gehirn etwas sehr Besonderes in dieser Zeit. Auch darüber würden wir gern mit Ihnen sprechen.“

„Also, soll nicht nur ich Ihre Arbeit untersuchen, sondern Sie wollen auch mich untersuchen, verstehe ich das richtig?“

Mitch schaute sie direkt an. Man konnte förmlich in diesen Augen versinken, dachte er. Wie zwei schwarze Löcher mit unendlicher Ausdehnung nach innen und unstillbarem Hunger nach Energie. Sie lächelte.

„Das haben Sie gut erkannt, Dr. Kessler. In der Tat, uns interessiert Ihr Wissen. Ihre Art zu denken. Sie könnten für unser Projekt enorm gewinnbringend sein – gewinnbringend im wissenschaftlichen Sinne. MiNU ist eine Stiftung, die nicht an Profit orientiert ist.“

Mitch schlürfte seinen Hafermilch-Kaffee.

„Sie wollen mein Gehirn.“

Er sagte es ohne Fragezeichen. Valery Bernstein lächelte ihn an.

Marie

Es klingelte. Marie seufzte und stand langsam auf. Sie horchte nach oben. Doch aus Hannahs Zimmer drang nicht einmal Musik. Kein gutes Zeichen. Ihre Tochter hatte die Nachricht vom Tod ihres Vaters schweigend aufgenommen. Wie in Trance, hatte Marie kurz gedacht. Dann hatte Hannah sich an sie gelehnt und lange geweint, immer wieder von Krämpfen geschüttelt. Marie wusste, wie sehr Hannah an ihrem Vater hing. Als sie vier Jahre gewesen war, hatte sie ihn immer wieder gefragt, ob sie ihn denn später heiraten könne. Er und Marie hatten darüber gelächelt und Michael hatte dann immer zu ihr gesagt:

„Meine kleine Blume, du bist hier für ewig in meinem Herzen“ – und er legte seine Handinnenfläche behutsam auf seine Brust.

„Wir brauchen gar nicht zu heiraten, weil ich immer für dich da sein werde. Und schau mal, ich bin ja mit Mama verheiratet, aber du bist mein ewiger Sonnenschein, der immer in meinem Herzen leuchtet, wohin ich auch gehe. Das ist viel besser als zu heiraten ...“

Hannah saß dann auf seinem Schoß, sah ihn mit diesem unglaublichen kindlichen Ernst an, umarmte ihn und flüsterte in sein Ohr:

„Ich werde immer dein Sonnenschein sein. Ich leuchte auch noch hell, wenn alles um uns herum total dunkel ist.“

Marie schluckte, als sie an diese Momente dachte. Und sie war sich sicher, dass es Hannah genauso ging. Bis Hannah ungefähr acht Jahre alt war, hatte sich diese Szene immer wieder zwischen ihr und Michael abgespielt. Es war ein Ritual geworden, etwa wenn Hannah sich schlecht fühlte – aber auch, wenn es Michael nicht gut ging. Er war zu der Zeit noch kein politischer Journalist, sondern beschäftigte sich viel mit krassen sozialen Themen wie Kindesmissbrauch, Pädophilie, mit Vernachlässigung von Kindern bis hin zu totaler Verwahrlosung, aber auch mit Bildung, sozialen Aufbauprojekten und Sozialpolitik. Über diese Schiene gelangte er schließlich zum politischen Journalismus. Da waren die Themen zwar oft genauso abstoßend und unglaublich wie vorher, aber die extreme psychische Belastung, die oft durch die kinder-spezifischen Geschichten an seinen Nerven und an seiner Seele teilweise wie verrückt gezerrt hatte, war von ihm gewichen. Das, was er in der Europa- und Wirtschaftspolitik zu sehen bekam, widerte ihn zum Teil an, diese Anti-Demokratisierung, dieser menschenfeindliche Lobbyismus, diese Egozentrik der mächtigen Frauen und Männer – sein Weltbild einer westlich geprägten demokratischen Politik, die den Menschen dient, war erst ins Wanken geraten und schließlich in Trümmer gefallen. Und je länger er sich in diesen Türmen der Macht bewegte, desto stärker spürte er den Sog, der auch ihn in dieses System der Gefälligkeiten, der Abhängigkeiten und der Korruption hineinziehen wollte. Wie eine unheimliche Kraft, die einen lockt, immer einen Schritt weiter in die Dunkelheit zu gehen. Er hatte Kollegen kennengelernt, die mittlerweile in diesem Strom, dieser Parallelwelt aus Geben und Nehmen, schwammen wie Fische im Wasser. Auf diese Weise wurden Entscheidungen getroffen, die sich gegen die Menschen wandten, aber Geld in die Taschen vieler Privilegierter schaufelten. Wer in diesem Strom seine Netze auswarf und die Silberfische und Goldlachse, die da heimlich und unerkannt herumschwammen, aufs Trockne warf, damit sie von allen öffentlich bestaunt und im besten Fall bestraft werden konnten, machte sich nicht gerade Freunde in Teilen der Politik, Wirtschaft und des Journalismus. Er und Marie hatten oft über diese Zusammenhänge gesprochen, wenn sich gerade wieder besonders finstere Machenschaften zusammenbrauten oder sie öffentlich wurden.

Als Hannah älter war, wurde ihr Ritual zu einem spielerischen. Sie schenkte Michael ein eindrucksvolles, selbst gemaltes Bild einer strahlenden Sonne.

„Wenn ich irgendwann in Australien bin, dann kann ich ja nicht mehr immer bei dir sein, dann schaust du dir dieses Bild an und dann bin ich doch bei dir!“

Seit Hannah zehn Jahre alt war, bedeutete ihr Australien die endgültige Verheißung. Für sie stand fest, dass sie irgendwann in dieses Land ziehen würde. Sie schaute Dokumentationen über Down Under, las Reportagen und wollte alles über das ferne Land wissen. Woher dieser Wunsch gekommen war, wussten Marie und Michael nicht. Er war einfach irgendwann da gewesen und nicht wieder gegangen. Michael musste versprechen, eines Tages mit Hannah nach Australien zu reisen. Nun, dachte Marie mit einem schmerzhaften Stich der Trauer, würde es dazu niemals mehr kommen. Es war alles noch zu frisch, um Michaels Tod in seiner Endgültigkeit zu begreifen, dass er nie wieder in die Tür treten würde mit seinem freudigen und lauten Ausruf: „Ich bin wieder da!“

Sie öffnete die Tür. Davor stand eine dunkelhaarige, schlanke Frau.

„Hülsenberg, Tatjana, enschuldigen Sie, Frau Allhoven?“

Marie nickte leicht.

„Erst einmal mein herzliches Beileid. Es muss furchtbar sein, eine solche Nachricht zu bekommen. Ich bin Wirtschafts-Spezialistin bei Europol“ – sie zückte ihren Dienstausweis und reichte ihn Marie – „ich möchte mich nicht aufdrängen und ich kann verstehen, dass Sie sich ersteinmal sammeln müssen, aber wir müssten auch dringend mit Ihnen reden.“

Sie blickte Marie aus freundlichen, dunklen Augen an, wartete Maries Reaktion ab.

Ihr erster Impuls war, die Frau zu vertrösten und zu verabschieden, zu bitten, sie möge in ein paar Tagen wieder kommen. Aber gleichzeitig war da eine tiefe Neugier in ihr drin. Die Nachricht über den Tod ihres Mannes war gerade ein paar Stunden alt und schon stand eine Frau von Europol vor ihrer Tür? Sie wusste, dass Michael mit Polizeibehörden zu tun gehabt hatte – das war Teil seins Jobs. Er hatte ihr auch mehr als einmal seine Meinung über BKA, Euro- und Interpol mitgeteilt. Der Sog, der auch an ihm zurrte und zerrte, machte vor Polizeibeamten jedwelchen Dienstranges keinen Halt. Als Michael über die Verstrickungen von Interpol mit der Industrie recherchierte – es ging 2013 um angebliche millionenschwere Kooperationsverträge mit dem Tabakkonzern Philip Morris sowie zahlreichen Pharmaunternehmen – hatte er sogar von Drohungen gesprochen, ohne jemals konkret geworden zu sein. Natürlich hatte sie wissen wollen, ob sie tatsächlich gefährdet waren. Ihr kam es damals wie ein Thriller im Fernsehen vor – alles schien heile Welt, sicher und frei – aber plötzlich wurden sie bedroht von einer dunklen Seite der Demokratie und des Kapitalismus? Von Korruption und Verbrechen? Michael hatte damals abgewunken, er bilde sich das vielleicht nur ein; wenn man erst einmal anfängt, im Schlamm zu wühlen, formen sich halt Figuren, vor denen man schon mal Angst bekommen kann. Er hatte danach nicht wieder davon erzählt und sie hatten auch nicht erneut darüber gesprochen. Es hatte zwar etwas Dunkles, Unausgesprochenes, aber ehrlicherweise war Marie auch nicht wirklich erpicht darauf, sich weiter Sorgen zu machen. Zu irreal erschien ihr eine etwaige Bedrohung durch staatliche Organisationen. Für Verschwörungstheoretiker hatte Marie noch nie viel übrig gehabt. Wenn man sich bestimmte Aspekte und Wissensteilchen aus dem gewaltigen Mega-Strom der Informationen herauspickte, ließ sich so gut wie alles theoretisch „beweisen“ oder man säte zumindest Skepsis und Misstrauen unter den Menschen. Dazu kommt noch eine Flut von Fälschungen in Bildern, Videos und Berichten, dass es mitunter schwer fällt, die Wirklichkeit noch zu erkennen – sofern es EINE Wirklichkeit, wie Michael immer mit einem Lächeln zu sagen pflegte, tatsächlich gibt. Nach zwei Gläsern Wein war er dann meist der Überzeugung, dass es keine eine, sondern wohl viele verschiedene Wirklichkeiten geben müsse – fast jeder Mensch, der nachdenkt, ja selbst, der nicht weiter nachdenkt, hat seine eigene Wirklichkeit. Bei einigen bildete die sich allerdings wahnhaft aus, führte zu religiösem Eifertum, einer übersteigerten Angst vor Fremdem oder sonstwelchen fanatischen Auswüchsen.

Es war nie irgendetwas passiert nach den „Drohungen“, die Michael erwähnt hatte. Marie fühlte sich weder verfolgt noch bedroht, es knackte nicht im Telefon, es gab keinerlei Hinweise darauf, dass sie zum Zielpunkt einer Observation geworden waren. Dass sie ins Fadenkreuz einer mächtigen Organisation geraten sein könnten. Nichts.

Tatjana Hülsenberg stand noch immer vor ihrer geöffneten Tür. Meine Güte, dachte Marie, wo bin ich mit meinen Gedanken. Sie hatte keinerlei Gespür dafür, wie lange sie hier schon so standen. Ohne weiter nachzudenken, signalisierte sie der Europol-Mitarbeiterin mit einer Handbewegung, sie könne eintreten. Marie bat sie in das Wohnzimmer.

„Einen Kaffee?“

„Gern. Schwarz, bitte.“

Wie ein Automat füllte sie den Wasserkocher mit Wasser und stellte ihn an. Sie füllte einige Löffel Kaffee in eine French Press Kanne und wartete darauf, dass das Wasser zu kochen begann. Von ihrer halboffenen Küche konnte sie die Frau beobachten, die sich noch nicht gesetzt hatte, sondern scheinbar interessiert das Bücherregal studierte. Plötzlich blieb sie stehen, zog ein Buch heraus und blätterte langsam durch die ersten Seiten. Marie konnte nicht erkennen, um welches Buch es sich handelte. Das Wasser kochte. Sie wand sich ab, füllte die Kanne auf. Langsam schritt sie in das Wohnzimmer. Tatjana Hülsenberg hatte kein Buch mehr in der Hand. Sie saß auf einem Sessel und schaute Marie aus ihren dunklen Augen an.

MiNU

Sie waren zu dritt zu der Veranstaltung des MiNU gekommen. Der ebenso schillernde wie anscheinend hoch intelligente Vorstandsvorsitzende der Stiftung, Leif Trager, war noch nicht auf der durch glitzernde Stahlträger gestützten Bühne zu sehen. Dort stand nur ein überdimensionaler Metallkopf mit geschlossenen Augen. Hinter der Bühne ragte eine riesige LED-Leinwand auf, die zurzeit allerdings nur das bekannte Matrix-Muster aus dem gleichnamigen Film abspielte. In einer Vorankündigung hatte das MiNU für heute die Vorstellung einer bahnbrechenden Entwicklung in Sachen Künstlicher Intelligenz bekannt gegeben. Das MiNU, so wusste Magnus Herzberger, war vor etwa fünf Jahren an diesem Standort in der Neuen Hafen-City im städtebaulich aktuell spannendsten Stadtteil Hamburgs errichtet worden. Das schimmernde Gebäude, dessen Außeneffekt durch eine raffiniert angebrachte Außenhaut-Kombination aus Glas und Metall erreicht wurde und das ein echter Hingucker war, wirkte ein wenig wie aus dem Weltraum im Hamburger Hafen gestrandet, fand Magnus. Trotzdem konnte sich wohl niemand seiner Faszination entziehen. Innen war dieser „fantastische“ Effekt konsequent fortgeführt worden. Viel Metall, noch mehr Glas, spiegelnde Flächen – man hatte zwar das Gefühl drinnen zu sein, aber auf eine verstörende Art und Weise auch wieder nicht. Natürlich war dieser Effekt gewollt.

Das MiNU beschäftigte sich mit der Welt von morgen, forschte zu Künstlicher Intelligenz, Cloud-basiertem Wissen und auch profanen Smartphone-Weiterentwicklungen. Erstaunlicherweise sollte das alles ohne den Gedanken an Wertschöpfung und Profitorientierung stattfinden. Die Stiftung „Welt von morgen“, die das MiNU unterhielt, unter der Leitung von Leif Trager, schien trotzdem über enorme finanzielle Mittel zu verfügen. Es gab anscheinend eine Reihe ziemlich vermögender Leute, die die Stiftung regelmäßig großzügig unterstützten, ohne sich in irgendeiner Form lenkend einzubringen. Namen von vermeintlichen Spendern wurden immer wieder mal ins Spiel gebracht, Mark Zuckerberg und Bill Gates waren natürlich darunter, aber auch viele andere. Die Stiftung selber hielt sich darüber bedeckt und da sie keinerlei öffentliche Mittel bezog, musste sie auch über ihre Spender keine Auskunft geben. Das MiNU war im besten Sinne international. Hier arbeiteten hunderte Menschen aus aller Welt. Deswegen war auch Englisch die Amtssprache des MiNU.

Endlich kam Bewegung in die Sache. Ein kleiner, schmaler Mann enterte mit jungenhaften Schritten die Bühne und postierte sich neben dem Metallkopf. Leif Trager sah neben dem Kopf, der mit seinem Sockel bestimmt 1 Meter 80 in die Höhe ragte, noch kleiner aus als er schon in Wirklichkeit war. Lediglich 1 Meter 65 maß der Deutsch-Schwede; seine schmale Figur ließ ihn neben dem Kopf wie ein Kind erscheinen. Doch als er zu sprechen begann, erfüllte eine dunkle, volle Stimme den gesamten Saal. Sie mussten über eine fantastische Audio-Anlage verfügen, dachte Magnus.

„Liebe Gäste, das Team des MiNU und ich heißen Sie herzlich willkommen in unserer Zentrale. Sie alle hier sind interessiert an Wissen und wie es vermittelt wird. Viele Journalistinnen und Journalisten sind anwesend, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Unternehmer-innen und Unternehmer. Das Internet, das Digitale, hat unser Leben in den vergangenen zwei Dekaden entscheidend verändert. Darüber muss ich nicht reden, Sie leben in der Jetztzeit, Sie wissen das so gut wie ich. Auf die industrielle Revolution folgte die digitale, die ohne die industrielle nicht denkbar ist.“

Leif Trager machte eine kurze Pause. Hinter ihm lief weiter die Matrix, Grün auf Schwarz. Es war bis auf einige Huster still in dem riesigen Foyer des MiNU.

„Doch nun stehen wir vor einem weiteren epochalen Schritt, der das Bewusstsein des Menschen, unser Leben radikal verändern wird. Und die Frage ist nicht, ob sich unser Leben radikal ändert, sondern wann. Das größte und unglaublichste Rätsel ist unser Gehirn. 86 Milliarden Nervenzellen bilden den Grundstock für die faszinierendste evolutionäre Entwicklung unserer Erdgeschichte. Der Ursprung für die Unverwechselbarkeit eines Menschen liegt in seinem Gehirn. Intelligenz, die Fähigkeit zu reflektieren und zu abstrahieren – nachzudenken, Empathie – all das ist ohne die Mega-Funktionalität des menschlichen Gehirns nicht denkbar. Dazu lernen wir im günstigsten Falle Zeit unseres Lebens, vor allem aber als junge Menschen, wenn der Körper am besten in der Lage ist, Wissen aufzunehmen und zu speichern. Wissen ist Macht, schrieb Francis Bacon bereits 1597 – also weit vor der Entwicklung des Smartphones. Sein Ausspruch und Anspruch, „den Menschen in einen höheren Stand seines Daseins“ zu erheben, erleben wir heute in revolutionärer Form. Noch nie war es möglich, so unmittelbar über Wissen zu verfügen wie heute – vorausgesetzt, das WLAN ist nicht abgestürzt oder Sie haben ausreichend Handy-Empfang.“

Einzelne leise Lacher waren zu hören; viele nutzten den kleinen Witz, um mal die Füße zu bewegen. Es raschelte und schabte. Leif Trager wartete kurz ab. Er war ein extrem guter Redner, musste Magnus ihm zugestehen. Seine Stimme war angenehm. Er sprach nicht zu schnell und nicht zu langsam; akzentuiert und konzentriert, ohne verkrampft zu wirken. Seine Lockerheit stand im Widerspruch zu seinen sehr kompakten Sätzen, die sich wie gemeißelt in die weite Runde der MiNU-Halle aussandten.

„Francis Bacon war seiner Zeit weit voraus. Im Grunde muss er aus heutiger Sicht als einer der Pioniere des Transhumanismus verstanden werden. Denn das Erheben in einen höheren Stand des Daseins ist ja das Zentrum des transhumanistischen Denkens. Sicherlich hatte Bacon im 16. Jahrhundert nicht an moderne Technologien gedacht – es gab noch nicht mal Elektrotechnik. Erst 1844 startete das Zeitalter der elektrischen Kommunikation – mit der ersten Telegrafenlinie, die zwischen Baltimore und Washington eingerichtet wurde – mit einem Morse-Telegraf, erfunden von Samuel F.B. Morse. Im selben Jahr erstrahlte in Paris auf dem Place de la Concorde das erste Mal auf der Welt elektrische Beleuchtung eines öffentlichen Platzes in Form von Kohlebogenlampen. Heute chatten 12-Jährige aus Hamburg wie selbstverständlich mit anderen 12-Jährigen in Echtzeit – ob sich diese in Hamburg befinden oder in Indien, spielt keine Rolle mehr.

In der Vergangenheit – vor dem Informationszeitalter, wie wir es heute kennen, war die Verbreitung eines seichten Halbwissens der Standard. Bei einer Diskussion schleppte niemand kiloschwere Lexika mit sich rum, um Fehler in der Argumentation des Gegenüber zu beweisen. Zudem das Wissen im geschriebenen Lexikon bereits bei seiner Drucklegung veraltet war. Auch waren viele gesellschaftliche Ereignisse und Tatsachen in diesen eher konservativ geführten Lexika gar nicht enthalten. Relativ kleine Redaktionen und Fachräte bestimmten über die Verbreitung von Wissen. Das Internet hat diese primitive, monopolistische Form der Wissenssammlung revolutioniert. Wikipedia und seine Satelliten sind eine der fantastischsten Errungenschaften des digitalen Zeitalters. Wissen für alle ist nicht nur möglich geworden, sondern es ist für jeden frei verfügbar, der ein Smartphone oder Computer besitzt oder eines davon nutzen kann. Er muss nicht einmal mehr seine Fragen schreiben, er kann sie sogar ins Telefon sprechen und erhält seine Antworten. Das, meine lieben Zuhörerinnen und Zuhörer, ist das Heute“ – Leif Trager machte eine lange Pause und blickte sich in den Zuschauerreihen um. Man hatte das Gefühl, er würde jedem einzelnen tief in die Gedanken schauen.

„Das Morgen“, hob er wieder an, „beginnt mit dem heutigen Tag: MiNU hat einen Weg gefunden, dem Menschen das Wissen von heute zu implantieren. Viele haben davon in den vergangenen Jahren geredet, haben daran geforscht, doch wir haben den Durchbruch erreicht. In Zukunft wird Schule nicht mehr notwendig sein – jedenfalls nicht zur Wissensvermittlung. Das Wissen der Welt wird zukünftig in unseren Köpfen stecken – abrufbar auf Wunsch. Die Überwindung des Homo sapiens wird Wirklichkeit – wir schaffen den Homo sapiens digitalis! Wir reden nicht von einem sabbernden Frankenstein-Monster, sondern von dem Menschen, wie wir ihn heute kennen, gepaart mit dem Wissen der Welt.“

Unruhe entstand unter der Zuhörerschaft, als die letzten Worte Tragers mit einem leichten Echo verhallten. Leises Gewisper setzte ein, verhaltene Diskussionen. Trager ließ es viele Sekunden gewähren. Magnus verspürte plötzlich ein flaues Gefühl in der Magengegend. Über diese Sachen wurde in der Wissenschaft in den vergangenen Jahren sehr viel gesprochen. Etliche Wissenschaftler tüftelten, testeten und forschten. An amerikanischen Instituten waren Querschnitt-gelähmte soweit gebracht worden, dass sie nur mit Hilfe ihrer Gedanken Roboterarme dirigieren konnten, um Aufgaben zu erledigen. Das Anzapfen des Gehirns war längst Realität, aber was Leif Trager da formulierte, war das Öffnen eines unheimlichen Tores, das eine Revolution in der Menschheit bedeuten konnte. Dummerweise wusste man bei Revolutionen nie so genau, wohin sie letztlich führten. Die Vergangenheit hatte gezeigt, nicht immer zum Wohle der Menschheit ...

Leif Trager stand noch immer unbewegt neben dem Metallkopf. Dann wurde das Licht gedämmt. Das Tuscheln und Gewisper verstummte. Der Kopf öffnete sich, indem die Schädelplatten rechts und links geräuschlos herunterfuhren. Sichtbar wurde ein dem Kopf entsprechend großes Gehirn, das bläulich leuchtete. Trager legte seine rechte Hand auf das Gehirn. Er zog einen rot leuchtenden Chip in der Größe einer Micro-SD-Karte heraus.

„Dieser Chip enthält das zurzeit bekannte und verifizierte Wissen der Menschheit, eine Art Common Sense der menschlichen Kenntnisse. Der Chip interagiert nicht bloß mit dem Gehirn, er ist Teil davon. Die Nutzung der unglaublichen Fähigkeiten unseres Gehirns, bisher limitiert durch die bio-evolutionäre Entwicklung, wird durch die digital-evolutionäre Aufstockung – ein Mechatroniker würde es wohl lapidar Chip-Tuning nennen – dieses Organ zu einem Superhirn umfunktionieren. Wissen für alle ist unser Credo – wer sich Eliteschulen wie Harvard nicht leisten kann – macht nichts: Auch er oder sie kann zukünftig das Wissen der Welt in sich speichern und abrufen, wann und wo immer es ihm beliebt. Übrigens unabhängig von WLAN- oder Handy-Netz.“

Es war jetzt sehr still in der funkelnden Halle, deren Glas- und Stahlfronten das blaue Licht des riesigen Gehirns flackernd reflektierten. Auf der Leinwand hinter Trager war die grüne Matrix schon längst verschwunden. Jetzt leuchtete langsam und immer heller werdend die Erdkugel auf – aufgenommen aus dem Weltall.

Es war, als müsste sich Leif Trager selbst wieder von seinem Rausch der Worte herunterbringen. Er blickte jetzt erneut in die Runde und lächelte.

„Liebe Gäste, ich verstehe, dass Sie eine Menge Fragen haben, die unsere Mitarbeiter und ich Ihnen gern in einer Pause so gut es geht beantworten. Nach einer halbstündigen Unterbrechung werden wir Ihnen noch eine kleine Demonstration am Menschen zeigen – ich denke, dass damit vieles klarer wird, was ich Ihnen heute bereits vorgetragen habe. Selbstverständlich haben wir einen kleinen Imbiss im Foyer vorbereitet – in einer halben Stunde geht es dann weiter – vielen Dank bis hier und guten Appetit!“

Das Licht ging wieder an, Trager verließ die Bühne über eine Treppe nach hinten. Magnus schaute Maybrit und Thilo an, die neben ihm standen. Alle holten erstmal tief Luft. Sie spürten, dass sie hier und heute Zeugen einer eventuell tiefgreifenden Richtungsänderung in der Menschheits-geschichte geworden waren. Die Ansätze waren dabei nicht neu, wie Trager ja selbst formuliert hatte. Aber die Konsequenz, mit der das MiNU seine Ergebnisse vortrug, ließ ahnen, dass diese ominöse Stiftung anscheinend den entscheidenden Schritt in die Praxis unternommen beziehungsweise genau das vor hatte.

Das Wissen der Welt! Das flaue Gefühl in der Magengegend von Magnus war noch immer da. Er wusste, dass das nichts Gutes bedeuten konnte.

Niemandsland

Guten Tag, ich bin Dein persönlicher Assistent, Murphy.

Hätte Michael zusammenzucken können, wäre er jetzt zusammengezuckt. Aber seine offensichtliche Körperlosigkeit verhinderte dies wirkungsvoll.

Wie? Was? Wer bist Du?

Murphy, Dein Assistent, Michael. Ich versuche, Dir hier zur Seite zu stehen. Wenn Du etwas wünschst, sag einfach Murphy und ich stehe Dir zu Diensten.

Tausend Fragen donnerten durch seine Gedankenwelt, dass es ihm verdammt schwerfiel, auch nur eine einzige vernünftige zu formulieren. Raubtiere und die Herde, Raubfische und der Schwarm, dachte er. Ein Hai kann nicht einen Schwarm angreifen, er muss versuchen, einzelne Fische zu isolieren, um diese dann zielgerichtet zu verfolgen und zu attackieren. Okay, tolle Sache, aber das half ihm nun auch nicht weiter.

Murphy?

Ja, Michael.

Wo befinden wir uns?

Wir befinden uns in der MindCloud, die MiNU eingerichtet hat.

Michael würde es gern kalt und heiß den Rücken herunterlaufen spüren, wenn er denn einen Rücken hätte.

Was ist mit mir passiert?

Du befindest Dich in der MindCloud, die MiNU eingerichtet hat.

Ja, ja, das weiß ich ja schon. Aber ... Michael wusste nicht weiter. Träumte er? Er versuchte sich zu erinnern. Was war vor seinem „Aufwachen“ geschehen? Er war in der Redaktion gewesen. Ein Taxi hatte ihn abgeholt. Wohin hatte es gehen sollen? Zum Flughafen? Zur Bahn? Nach Hause? Frustriert musste er feststellen, dass er es nicht mehr wusste.

Murphy?

Ja, Michael.

Wieso befinde ich mich in einer Cloud?

Er fand, das war eine ziemlich kluge Frage.

Bedaure, das kann ich Dir nicht beantworten.

So langsam wurde Michael etwas verärgerter.

Was heißt, Du kannst es nicht beantworten? Kannst Du nicht? Willst Du nicht oder darfst Du nicht?

Bedaure, das kann ich Dir nicht beantworten.

So kam er nicht weiter.

Murphy?

Ja, Michael.

Habe ich eine Chance, aus dieser Cloud wieder herauszukommen?

Aber natürlich besteht diese Möglichkeit, Michael.

Hoffnung keimte in ihm auf. Vielleicht konnte sein Bewusstsein die Ketten hier brechen und er würde wieder in der Wirklichkeit Platz nehmen – da, wo er hingehörte.

Wie kann ich die Cloud verlassen?

Bedaure, das kann ich Dir nicht beantworten.

Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hergibt.

Michael erschrak. Eine neue Stimme. Sie hatte einen weichen Klang, sehr angenehm.

Hallo, wer spricht da?

Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen. Wie frohe wäre ich, es würde schon brennen. Meint Ihr, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen? Nein, ich sage Euch, nicht Frieden, sondern Spaltung. Denn von nun an wird es so sein: Wenn fünf Menschen im gleichen Haus leben, wird Zwietracht herrschen – drei werden gegen zwei stehen und zwei gegen drei; der Sohn gegen den Vater, die Mutter gegen die Tocher ...

Was redete der Typ denn da für einen Blödsinn? Auch diese Sätze meinte Michael schonmal irgendwann gehört zu haben, aber auch diese konnte er nicht zuordnen.

Ein Prophet gilt nirgends weniger als in seinem Vaterland, bei seinen Verwandten und in seinem Hause!

Jesus! Das waren Zitate von Jesus, durchfuhr es Michael. Und nun fiel ihm auch der andere ein, der den Satz gesagt hatte „Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier“. Gandhi, Mahatma Gandhi, der indische Freiheitskämpfer, der mit seinen Worten und passivem Widerstand das britische Empire in die Knie gezwungen hatte. Doch dann hörte er wieder die Stimme Jesus.

Es ist unvermeidlich, dass Verführungen kommen. Aber wehe dem, der sie verschuldet. Es wäre besser für ihn, man würde ihn mit einem Mühlstein um den Hals ins Meer werfen, als dass er einen von diesen Kleinen zum Bösen verführt. Seht Euch vor!

Darauf wieder die Stimme Gandhis:

Die Ehrfurcht vor dem universalen und alles durchdringenden Geist der Wahrheit hat mich in die Politik geführt; und ich kann ohne Zögern und doch in aller Demut sagen, dass ein Mensch, der behauptet, Religion habe nichts mit Politik zu tun, nicht weiß, was Religion bedeutet.

Da war erneut die Stimme Jesus:

Niemand kann zwei Herren dienen; denn entweder wird er den einen hassen und den andern lieben oder er wird einem anhängen und den anderen verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Reichtum!

Die Replik Gandhis folgte postwendend:

Dem Verstand Allwissenheit zuzuschreiben, ist die gleiche Art von Götzendienst, wie die Anbetung von Stock und Stein. Ich plädiere nicht für eine Abwertung der Vernunft, aber für die gebührende Anerkennung der Instanz in uns, die die Vernunft heiligt.

Mit einem Mal tauchte eine neue, etwas näselnde Stimme auf, die Michael noch nicht gehört hatte:

Es gibt eine Theorie, die besagt, wenn jemals irgendwer genau herausfindet, wozu das Universum da ist und warum es da ist, dann verschwindet es auf der Stelle und wird durch noch etwas Bizarreres und Unbegreiflicheres ersetzt. –- Es gibt eine andere Theorie, nach der das schon passiert ist.

Das war von Douglas Adams aus dem Anhalter durch die Galaxis. Das hatte er ewig nicht mehr gelesen. Dabei hatte er die vierbändige Trilogie in fünf Teilen immer geliebt. Jüngere Leute kannten die herrlich verrückten Bücher zum Teil gar nicht. Wenn er ihnen davon erzählte, glaubten viele, er wolle sie auf den Arm nehmen. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass so etwas tatsächlich mal geschrieben worden ist und sogar ziemlich berühmt wurde. Tatsächlich starb Douglas Adams leider mit nur 49 Jahren an einem Herzinfarkt ausgerechnet in einem Fitnessstudio – Ford Prefect hätte an dieser Konstellation sicherlich seine Freude gehabt.

Aber wie kam Douglas Adams Stimme hierher? Ganz zu schweigen von Jesus, Gandhi und Hitler. Wieso redeten einige in bekannten Zitaten, aber Hitler in kommunikativen Sätzen?

Murphy?

Ja, Michael.

Was mache ich hier?

Diese Frage ist leider nicht eindeutig. Ihre verschiedenen Antworten würden Dich nicht befriedigen, weil ihre Aussagen sich zum Teil diametral gegenüberstehen. Deswegen macht eine Antwort von meiner Seite keinen Sinn.

Irgendwie erinnerte ihn dieser Murphy ein wenig an Siri von Apple oder Alexa von Amazon.

Kann ich mit außerhalb dieser Cloud kommunizieren?

Solche Möglichkeiten sind im Prinzip vorgesehen, weil ja nur durch die Kommunikation dem Ganzen ein Sinn gegeben wird.

Wie kann ich mit außerhalb kommunizieren?

Bedaure, das kann ich Dir noch nicht beantworten.

Marie

Beide Frauen saßen einige Minuten schweigend am Tisch und hielten ihre Kaffeetassen in den Händen. Es war seltsam: Einen Moment lang fühlte Marie eine ganz erstaunliche Leichtigkeit. Als sähe sie von oben auf diese Szene, in der zwei Frauen voreinander saßen und den Duft des frisch aufgebrühten Kaffees einatmeten. Der Kaffee war natürlich fair gehandelt – die Kaffeebauern in Nicaragua erhielten besseren Lohn als anderswo, Schulen wurden errichtet und die soziale Struktur der Kommune ständig verbessert. Für einen Augenblick musste Marie daran denken, wie es tatsächlich dort aussah, wo dieser Kaffee, den sie gerade tranken, angebaut, umhegt und geerntet wurde. Sie dachte daran, dass sie mit Michael auch schon hin und wieder über dieses Thema diskutiert hatte. Seine Idee war gewesen, eine große Reportage darüber zu erstellen. Also wirklich die Produzenten zu besuchen in ihren Ländern – einmal die von Fair Trade und einmal die „konventionellen“. Doch es gab so viele Projekte, so viel Aktuelles hier in Deutschland und Europa, dass es dazu noch nicht gekommen war. Und jetzt auch nie wieder – ein Stich drang durch ihr Herz, der Schmerz schmeckte wieder bitter und sie musste schlucken. Kann ein Herz zerreißen? Kann ein Herz brechen? Hannah hatte diese Frage umgetrieben und sie hatte dazu Erstaunliches recherchiert. An gebrochenem Herzen zu sterben, war keineswegs immer nur eine Metapher, sondern konnte tatsächlich ganz konkret, sehr körperlich geschehen. So kann extremes seelisches Leid, verursacht etwa durch eine einseitige Trennung oder Tod, zu einer Schwächung des Immunssystems führen. Und zu einer sehr starken Ausschüttung des Stresshormons Adrenalin. Dabei können sich die Herzgefäße so stark verengen, dass ein Herzinfarkt die Folge sein kann – und der Tod! Vor allem dann, wenn bereits eine nicht bemerkte Vorschädigung vorhanden ist. Das „Broken Heart Syndrom“ dagegen, das ähnliche Symptome wie ein Herzinfarkt zeigt, wird ebenfalls durch extreme Stresssituation ausgelöst. Wissenschaftler vermuten eine Verkrampfung der kleinen Herzkranzgefäße dahinter. All diese Gedanken wirbelten Marie blitzschnell durch den Kopf. Die Oberfläche ihres Kaffees in der Tasse zitterte leicht. Sie setzte die Tasse ab. Tatjana Hülsenberg blickte sie an.

„Marie ... Ich darf doch Marie sagen?“

Marie hob leicht den Kopf.

„Ja, kein Problem ...“

„Marie, wissen Sie, warum Ihr Mann nach Brüssel wollte? Es ging wahrscheinlich um diese Cybercrime-Geschichte, vermuten wir. Europol ermittelt ebenfalls in diese Richtung. Ihr Mann war das wohl etwas Größerem auf der Spur.“

„Das weiß ich nicht. Wissen Sie, die neueste Entwicklung war wohl tatsächlich so aktuell, dass wir noch gar nicht darüber gesprochen hatten.“

Und jetzt auch nicht mehr würden, dachte sie im Stillen den Gedanken weiter.

Tatjana Hülsenberg war sichtlich enttäuscht.

„Darf ich mich im Arbeitszimmer Ihres Mannes einmal umsehen?“

Reflexartig antwortete Marie.

„Nein, bitte, das ist noch zu früh. Ich muss da erstmal selbst schauen, wegen privater Sachen und so ...“

Wenn Tatjana enttäuscht war, so ließ sie es sich nicht anmerken.

„Ja, das verstehe ich natürlich. Es ist nur so, dass wir bereits seit einigen Monaten ermitteln und Ihr Mann immer wieder bei unserer Recherche auftauchte. Wir hätten uns wirklich sehr gern einmal mit ihm zusammengesetzt, zudem wir Informationen haben, die ihn für seine Arbeit sicherlich brennend interessiert hätten. Unsere Ziele sind diesselben: Die neuen Technologien zu verstehen und Korruption aufzudecken und einzudämmen. Sie frisst sich wie ein Geschwür in die Gesellschaften – auch in vermeintlich so „saubere“ wie unsere.“

Sie nippte an dem Kaffee. Marie hätte ihr gern geholfen, aber verspürte eine seltsame Blockade im Gehirn. Der Schock der Nachricht vom Flugzeugabsturz schien sie noch auf eine besondere Art zu lähmen. Tatjana schien das zu spüren – und auch, dass sie hier und jetzt nicht weiterkommen würde.

„Wir melden uns die Tage noch einmal bei Ihnen. Vielen Dank erst einmal, dass Sie sich überhaupt die Zeit genommen haben. Ich wünsche Ihnen viel Kraft.“

Sie stand auf. Automatisch tat es ihr Marie gleich. Beide Frauen gingen schweigend zur Haustür, wo sie sich ohne weitere Worte verabschiedeten. Marie blickte der attraktiven Frau stirnrunzelnd hinterher. Psychologisch perfekt geschult, dachte sie kurz, wischte ihre Gedanken zur Seite und schloss die Tür.

MiNU

Dr. Mitch Kessler stand am Rand der Eingangshalle und hatte den Ausführungen Tragers konzentriert gelauscht. Er versuchte, diesen kleinen Mann einzuschätzen, tat sich aber, das musste er sich eingestehen, damit schwer. Das Wissen der Welt. Homo sapiens digitalis. Transhumanismus. Überwindung des Menschen. Wer Böses im Sinne hatte, konnte hinter diesen Worten auch ferne Echos der Geschichte vernehmen. Eine neue Menschenrasse, die sich mit Hilfe des Digitalen über die andere, „minderwertige“, erhob. Das nazistische Rassenprinzip neu entwickelt – mit dem Anspruch der Verbesserung des Menschen. Mitch hatte sich nicht umsonst die vergangenen Jahre mit dem Menschen, seiner Geschichte und seiner verworrenen Entwicklung beschäftigt, um zu begreifen, welche Gräben, welche Gefahren, welche Fässer hier aufgemacht wurden. Die Büchse der Pandora, schoss es ihm durch den Kopf. Alles Übel, alles Schlechte sollte damals laut der griechischen Mythologie mit der ersten Frau auf Erden, eben Pandora, auf die Welt gekommen sein. Stand die Menschheit jetzt erneut vor einer solchen Öffnung, wenn der „neue“ Mensch mit Hilfe des Digitalen erschaffen wurde? Mitch atmete tief ein. Hier taten sich Fragen auf, die weit über das hinausgingen, was sich Menschen bisher unter Fortschritt vorgestellt hatten. Das waren eher profane Weiterentwicklungen wie autonom fahrende Autos oder das digitale Sehen bisher blinder Menschen. Leif Trager wollte ihn sprechen, das hatte sich bei dem Gespräch mit Valery Bernstein gezeigt. Das war einer der Gründe, warum er heute im MiNU war. Nach der „Show“ Tragers, so empfand Mitch die Veranstaltung, wollten sie sich zusammensetzen. Er wusste nicht genau, was Trager eigentlich von ihm wollte, aber das würde sich schon noch zeigen. Er entdeckte Magnus Herzberger vom K.I.T. in der Menge, die zu den Tischen mit Fingerfood strömte. Herzberger stand da wie ein Felsen im Fluss, die Leute drängten um ihn herum Richtung Tische. Mitch ging auf ihn zu. Sie kannten sich von einem IT-Kongress in der Daimler und Benz Stiftung in Stuttgart von vor zwei Jahren. Mitch hatte Magnus als sehr intelligenten Querdenker mit ausgeprägtem kriminalistischem Spürsinn kennengelernt. Natürlich war Mitch Magnus bekannt als erfolgreicher Buchautor und häufiger TV-Talkshow-Gast. Vom ersten Moment an verstanden sich beide prächtig. „Der Denker und der Kommissar“, hatte Mitch abends in seinem Hotelzimmer gedacht. Sie hatten seitdem immer wieder lose Kontakt, schrieben sich Mails und hin und wieder trafen sie sich zu gemeinsamen Abendessen in zumeist asiatischen Restaurants in Hamburg. Mitch hatte dem K.I.T. auch schon einige Male geholfen, wenn es um komplexe Fälle von IT-Verbrechen ging. Magnus schätzte seine geistigen Fähigkeiten und wusste sie für seine Abteilung geschickt zu nutzen, ohne ihn auszunutzen. Denn, das musste Mitch ja zugeben, es schmeichelte ihn, dass sein Wissen und sein Intellekt sogar in Fragen kriminalistischer Untersuchungen gefragt waren. Zudem passten sie menschlich einfach prima zusammen und es machte Spaß.

Als Magnus Mitch erkannte, der auf ihn zugegangen war, erhellte sich sein bis dahin verkniffenes Gesicht. Die Männer gaben sich die Hand.

„Nun, was hälst du davon?“, wollte Magnus von Mitch wissen.

„Hm, schwer zu sagen. Wieviel ist Show, wieviel können die wirklich schon? Die Dinge, über die Trager spricht, sind ja von der Idee her zumindest nicht brandneu. Wenn du dich ein wenig damit beschäftigst, wirst du schnell feststellen, dass sich zurzeit ein Heer von Wissenschaftlern, Neurologen, aber auch besonders Unternehmern diesen Dingen widmet. Es ist der nächste große Big Point in der menschlichen Evolution, ohne Frage. Nur verschiebt sich diese biologische Evolution in eine andere, menschengemachte Entwicklung. Wir befinden uns ohne Zweifel in der Vorstufe der Divolution – der digitalen Weiterentwicklung der menschlichen Spezies.“

Magnus verwunderte es bei Mitch kein bisschen, dass dieser bereits in der Pause der Veranstaltung ein vortragsreifes Statement abgeben konnte. Allerdings hatte er natürlich in seiner Analyse verdammt Recht.

„Wir werden bisher undenkbare geistige Höhen und unglaubliche Möglichkeiten in die Hände bekommen, verbunden allerdings mit Gefahren, die wir uns wahrscheinlich noch nicht einmal im Ansatz ausmalen können, oder?“

Mitch nickte.

„Ja, das ist ziemlich treffend formuliert. Ich finde die Gedanken, die sich da auftun, gigantisch – das muss ich ehrlich gestehen. Aber mir wird extrem mulmig, wenn ich an den Ozean an Folgen denke, der da gerade entsteht. Wenn du es religiös betrachtest: Der Mensch erhebt sich über die Schöpfung und schafft sich selbst neu. In der Antike galt das als Hybris und wurde meist mit qualvoller Auslöschung bestraft.“

Magnus schaute an Mitch vorbei auf die geöffnete Kopfskulptur auf der Bühne.

„Na ja, religiös gesehen wäre eine solche Erhebung ja auch von einer göttlichen Instanz zumindest vorgesehen – ansonsten wäre die Schöpfung ja nicht göttlicher, unfehlbarer Art, oder?“

Mitch schaute Magnus mit einem Lächeln an. Auf der Bühne redete einer vom Wissen der Welt, das für jeden in Zukunft zugänglich sein sollte. Von Silizium-Chips in Gehirnen. Und sie beide, moderne Denker, Agnostiker, ohne einen wirklichen Gedanken an eine Gottheit, redeten über religiöse Aspekte des Ganzen. Es war wirklich nicht einfach. Mitch sprach:

„Das setzte natürlich eben diese Unfehlbarkeit voraus. Die griechischen Götter, die uns Pandora schließlich vermachten, waren alles andere unfehlbar – allen voran Zeus, der Göttervater. Bei den Römern war es ebenso. Erst die mono-theistischen Religionen wie das Christentum erfanden die Unfehlbarkeit des Gottes.“

Maybrit Heerwagen kam auf sie beide zu. Sie hatte ein Glas Wasser in der Hand. Mitch kannte Maybrit von seinen Besuchen im K.I.T. Er schätzte ihre glasklare Art zu denken. Dabei war sie kein Nerd, sondern eine lebenslustige junge Frau, die viel joggte, Bungee- und Fallschirmspringen konnte und anscheinend überzeugter Single war. Ich bin mir selbst genug, hatte sie ihm einmal verraten, als sie bei einem Cappuccino über ihre Leben gesprochen hatten. Mitch fand sie attraktiv, aber sie hatte keinerlei Ambitionen gezeigt, die zu mehr zwischen ihnen hätten führen können. Also hatte er seinen Charme in dieser Richtung nicht weiter verstärkt, sondern Maybrit weiterhin als sympathische Kollegin gesehen und es dabei belassen. Auch wenn sie ihn in körperlicher und emotionaler Hinsicht schon reizte, das musste er zugeben. Wie sehr wir doch im Alltagsleben von unserer Biologie beeinflusst werden, von den elementaren Trieben wie Überleben und Fortpflanzung, musste er mal wieder erkennen. Gleichzeitig war der zivilisierte Mensch in der Lage, seine Triebe zu kontrollieren. Wenn die dann bei jemandem plötzlich unkontrolliert ausbrachen und er sie egoistisch sowie empathielos auslebte, kam im Anschluss meist die Polizei – oder die Rechnung der professionellen Sex-Sklavin.

„Nun, Doktor, Ihre Kragenweite hier, was?“ Maybrit lachte ihr helles und zugleich leicht kokettes Lachen, was ihm jedes Mal einen winzigen Stich ins Herz verschaffte.

„Hallo, meine liebe Maybrit. Ja, ist schon faszinierend. Wir Menschen stehen wohl am Scheideweg – so sieht’s zumindest aus, wenn wir Leif Trager und den anderen Transhumanisten zuhören.“

Sie blickte ihn aus ihren blauen Augen an, die immer wie Kristalle funkelten. Eine solche Augenfarbe hatte Mitch bei noch niemandem sonst gesehen. Sie sprach mit einem Lächeln:

„Ich fürchte, unsere Abteilung wird zukünftig eine Menge Mehrarbeit bekommen. Ich ahne schon die künftigen Ratgeber-Schlagzeilen: Hackerangriffe auf Menschen – mit dem neuesten Update Ihr Gehirn schützen! Oder: Kurzschluss im Kopf – so vermeiden Sie Nanobrände! Oder: Der Sex-Chip – tunen Sie Ihr Liebesleben!“

Alle drei mussten lachen. Dabei wussten sie, dass Maybrits Ahnungen schon bald normale Realität sein konnten. Auch Thilo Thielsen hatte sich zu ihnen gesellt. Er und Mitch begrüßten sich kurz mit Handschlag. Dann entstand Unruhe, die Besucher machten sich wieder auf den Weg von den Tischen Richtung Bühne. Die Projektion der Erde war einem großen Gehirn gewichen, dessen Hirnareale in unterschiedlichen Farben nacheinander pulsierten und aufleuchteten. Dabei drehte sich die 3D-Animation langsam in verschiedene Richtungen. Leif Trager stand bereits wieder auf der Bühne neben dem metallenen Riesenkopf. Man konnte ihn nur schemenhaft erkennen, weil der Lichtspot noch nicht eingeschaltet war. Währenddessen drehte sich das projezierte Gehirn auf der LED-Leinwand und sendete sein Leuchten in die Halle. Ohne dass sich irgendetwas verändert hatte, verstummten die Besucher nach und nach. Es wurde still. Nur dann und wann ein unterdrücktes Husten. Der Spot ging an. Leif Trager lächelte.

Niemandsland

Plötzlich wurde es ein wenig heller. Hell war etwas übertrieben. Es kam Michael wie eine zarte Morgendämmerung vor. Umrisse wurden deutlicher. Als wenn jemand den Dimmer in Zeitlupe hochdrehte. Bäume wurden sichtbar, Nadelbäume, Fichten dem Anschein nach, die hoch in den Himmel ragten. Je heller es wurde, desto mehr Einzelheiten der Landschaft konnte Michael entdecken. Kleine runde Hütten mit kugeligen Strohdächern standen vereinzelt, schmale Wege mit dunkel-beigem Schotter führten zu ihnen. Nirgends waren Menschen zu sehen. Er wollte an sich herunterblicken, aber das funktionierte nicht. Wie ein früheres Computerspiel, dachte er. Er blieb körperlos, aber zumindest war diese fürchterliche Dunkelheit fort. Auch ohne fühlbaren Körper konnte er sich bewegen. Er probierte aus, ob er beschleunigen konnte – auch das funktionierte. In den Augenwinkeln sah er kurz etwas. Als er hinschaute, meinte er, dass die Wiese für einen Moment fast klötzchenförmig ausgesehen hatte, aber vielleicht hatte er sich auch getäuscht. Er schritt langsam auf eine der Hütten zu. Er fragte sich, ob ihm kalt oder warm war. Doch er fühlte in dieser Hinsicht rein nichts. Auch die Hütten schienen keinerlei Heizmöglichkeiten zu haben. Schornsteine waren nirgends zu sehen. Die gesamte Umgebung wirkte auf eine Weise sehr friedlich. Aber etwas erinnerte ihn an ein typisches Horrorfilm-Szenario – eine vermeintlich friedliche Szene schlägt um in groteske Brutalität. Aus diesen Extremen bezogen solche Filme ja meist ihre Spannung. Auch Michael spürte eine solche Spannung in sich. Lag es jetzt an der Situation und Umgebung oder an den Horrorfilmen, die er in seinem Leben gesehen hatte? Er wusste es nicht. Doch was sollte ihm schon passieren? Einen Körper, den jemand abschlachten konnte, gab es augenscheinlich nicht. Bei dem Gedanken, jemand könnte ihn wieder in die Dunkelheit stoßen, wurde ihm allerdings mulmig zumute. Vorsichtig näherte er sich der ersten Hütte. Sie war mit einer simplen niedrigen Tür aus rohem Holz verschlossen. Das ganze wirkte ein wenig wie das Auenland der Hobbits, fand er. Doch wie sollte er die Tür so ohne Körper öffnen? Als er sich dicht vor der Tür befand, schwang diese geräuschlos auf. Michael trat ein. Ein kleines rundes Fenster ließ ein wenig Licht hinein. Auf einem mit Fell belegten Korbstuhl hockte jemand. Der Oberkörper war nach unten gebeugt, die Hände umfassten den Kopf, der sachte hin- und herschwang. Mehr Details konnte Michael nicht erkennen. Er versuchte wieder zu sprechen:

Hallo, entschuldigen Sie die Störung, die Tür war offen und ...

Die Person richtete sich sofort in dem Stuhl auf und saß nun kerzengerade, den Kopf Michael zugewandt. Das Problem war nur, er sah weder Augen noch Mund, überhaupt fehlten sämtliche Details des Körpers. Wie ein 3D-Schattenriss, dachte Michael. Oder als würde jemand einen dicken, eng anliegenden, dunklen Ganzkörper-Stoffanzug tragen.

Kein Problem, komm rein. Ich bin Ho.

Sein Kopf besaß oben eine Art Kamm, wie sie einige Dinosaurierarten gehabt hatten. Allerdings befand sich dieser Kamm ebenfalls unter dem Stoffanzug.

Ho sprang auf und wühlte hektisch in den Schubladen eines altmodischen Schrankes.

Ein Chaos, sag ich Dir, ein absolutes Chaos!

Ho schmiss mit irgendwelchen Dingen um sich, die sich wohl in den Schubladen befanden. Michael versuchte zu erkunden, um welche Dinge es sich handelte, aber immer wenn er meinte, endlich etwas zu erkennen, schien es auf eine seltsame Weise unscharf zu werden. Als ob es sich seinen Blicken entzog. Michael hatte sich anscheinend bereits an die Merkwürdigkeiten seiner Umgebung ein wenig gewöhnt, denn er versuchte gar nicht weiter, die herumfliegenden Gegenstände zu identifizieren. Ho wühlte wie ein Wahnsinniger in den Schubladen. Ab und an erscholl ein triumphierendes „HAH!“ – allerdings immer gefolgt von einem enttäuschten „Ach nee, doch nicht...“

Was suchst Du denn?, versuchte Michael das Gespräch wieder aufzunehmen.

Wenn ich’s Dir sage, würdest Du es sowieso nicht verstehen.

Ho machte einfach weiter. Entweder hielten ihn hier alle, die er auf irgendeine komische Weise traf, für einen Trottel – oder er war in dieser Umgebung ein echter Trottel und wusste das nur noch nicht.

Du kannst es doch mal versuchen, ermunterte Michael ihn.

Ho starrte ihn an. Es kam Michael zumindest so vor, denn Ho hatte ja kein Gesicht.

Ist eigentlich egal, sagte Ho und ließ vom Schrank ab, als hätte es ihn nie gegeben.

Du bist Michael, oder?

Warum war er so gar nicht erstaunt, dass Ho das wusste.

Ja, und Du bist ... Ho?

Jo, genau – der Ho.

Ho ging jetzt hektisch in der kleinen Hütte auf und ab. Sie maß vielleicht 20 Quadratmeter und war tatsächlich perfekt rund.

Um alles muss man sich selbst kümmern! Es ist zum Kotzen. Hier machen alle nur ewig voll Chaos und schwupp, verschwinden sie – und ich darf dann wieder alles zusammenflicken.

Ho wirkte jetzt schwer verstimmt und ziemlich sauer. Noch immer stapfte er von einer Hüttenseite zur anderen. Der Boden bestand aus verdichteter dunkler Erde.

Du hast Murphy getroffen?

Michael bestätigte das.

Sei vorsichtig, Michael, Murphy ist ein wenig schwierig. Vertraue ihm nicht, glaube ihm nicht. Versuch, ihn ein bisschen auf Abstand zu halten. Er wirkt zuweilen etwas beschränkt, aber glaube mir, das ist er ganz bestimmt nicht.

Ho stand bei seinen Worten ganz still. Mitten im Raum.

Am besten, Du gehst ihm so gut es eben geht, aus dem Weg.

Michael war sich mit einem Mal sicher, dass er verrückt geworden war. Wahrscheinlich saß er in einem weißen Kittel sabbernd auf einem Krankenbett in einem Klinikzimmer. Vollgepumpt mit Blockern aller Art und halluzinierte. Irgendeine Leitung in seinem Kopf war vielleicht durchgeschmort und er lebte in einer Traumwelt – in einer Alptraumwelt! Ohne Körper, ohne Kopf, ohne auch nur im Ansatz zu verstehen, wo er sich befand. Das war exakt der Moment, in dem man seinen kalten Angstschweiß auf dem Rücken spüren würde – wenn man denn einen Rücken und oder Schweiß hätte. Hatte er aber beides nicht! Das machte ihn langsam wütend. Die Tür schnarrte zur Seite und helles Licht drang herein.

Ich sehe, Ihr habt Euch bereits bekannt gemacht?

Eine silbrig glänzende Figur erschien im Türrahmen. Sie bildete eine ähnliche Silhouette wie Ho – nur in Silber und ohne Kamm auf dem Kopf. Ho schnellte herum.

Murphy? Schön Dich zu sehen – so ein Zufall, wir haben gerade über Dich gesprochen.

Murphy tat zwei Schritte in die Hütte.

Ich weiß.

Marie

Hannah war endlich eingeschlafen. Marie hatte Tom angerufen und ihn gebeten, doch einmal zu ihr zu kommen. Eine halbe Stunde später klingelte es an der Tür. Marie öffnete und ließ Tom hinein. Sie wehrte seine versuchte Umarmung etwas schroff ab – warum sie das tat, wusste sie selbst nicht so genau. Sie wollte alles Drumherum beiseite lassen, zum Kern kommen.

„Europol war hier. Sie wissen von irgendwelchen Recherchen in der EU-Politik. Sie sagten, sie wüssten, dass Michael da an was dran war. Tom! Wieso wissen die davon? Was steckt dahinter?“

Tom war die Ruhe selbst. Er saß da vor Marie auf dem Sofa und rieb seine Handflächen ganz langsam und weich ineinander.

„Europol? Das überrascht mich. Was haben die denn damit zu tun? Wie hießen die Leute?“

„Es war nur eine. Tatjana Hülsenberg. Sie sagte, dass sie Michael schon länger beobachten. Sie wüssten, dass er an was dran war.“

„Eine einzige Frau?“

Tom schaute sie an.

„Europol-Beamte kommen immer zu zweit. Normalerweise ...“

Tom schaute aus dem Fenster, als würde dort draußen irgendeine Lösung auf ihn warten. Er konnte noch immer nicht glauben, dass sein Freund Michael tot war. Zerschellt am Boden, aufgelöst in all seine Einzelteile. Nie wieder würde er vor ihm stehen und mit der Hand auf seine Schulter tippen. Michael war Geschichte, war fest in der Vergangenheit verankert, war eine Erinnerung, die aus dem Versunkenen noch immer recht lebendig grüßte. Aber nur, weil es so frisch war, so plötzlich, so ungedacht. Tom mochte Marie. Früher, als sie sich kennengelernt hatten, da hatte er sie begehrt. Er hatte es sie nie fühlen lassen – zumindest glaubte er das – aber die ersten zwölf Monate waren hart für ihn gewesen. Sein Freund Micha, endlich glücklich mit einer klugen, intelligenten, attraktiven, warmen Frau. Er beglückwünschte ihn dafür. Und bemitleidete sich dafür, Marie nicht früher gekannt zu haben.

Die Story, an der Michael dran gewesen war, taugte eigentlich nicht zu einer Agentenposse. Business as usual. Hier ein paar geld- und machtgeile Politiker, da ein paar Vollstrecker willfähigen Kapitals – fertig war der Sumpf der Korruption und der Politik. Ganz einfach. Ob in Burkina Faso, in Whei-Nangh oder Frankfurt – die Zutaten für den Komplott waren überall dieselben. Hier und da wurde etwas mehr verschleiert, etwas mehr versteckt, aber im Kern lief alles auf dasselbe hinaus. Was zum Teufel interessierte Europol daran? Und was auch komisch war: Sie hatten ihn, den Chef, den Auftraggeber, wenn man so wollte, nicht angesprochen, nicht kontaktiert – gar nichts.

„Hat die Frau eine Karte da gelassen?“

Marie dachte kurz nach. Sie schüttelte den Kopf und blickte aus dem Fenster. Tom erzählte ihr von den Recherchen, die Michael unternommen hatte, vom Stand der Dinge und warum er in dieser verdammten Maschine gesessen hatte. In den Nachrichten wurde von einem Zusammenstoß mit einer Militärmaschine gesprochen. Die Tatsache, dass der Überschallflieger mit der Linienmaschine kollidiert war, würde eine große Untersuchung nach sich ziehen. So viel war sicher. Doch die Informationen flossen spärlich, bisher war noch keine Black Box gefunden worden. Spekulationen gaben sich die Hand und wilde Theorien sprossen so zahlreich, wie das Netz der Netze sie ausspucken konnte. Marie nahm die Welt wie durch Watte wahr. Gedämpft, heruntergedimmt. Tom erzählte noch immer von Michaels letzten Recherchen, aber sie hörte schon gar nicht mehr richtig hin. Ab und an nickte sie leicht, aus Reflex und Gewohnheit. Plötzlich drangen Toms Worte ganz klar in sie ein.

„Was war da eigentlich vor zwei Wochen? Er hatte sich drei Tage frei genommen, weil er angeblich an eurem Haus was machen wollte. Er sagte das so komisch, druckste herum, als ich nachfragte...“

„Vor zwei Wochen?“

Marie ging in Gedanken ihren Kalender durch. Vor zwei Wochen war alles völlig normal abgelaufen. Michael war die ganze Woche in der Redaktion gewesen. Oder etwa nicht? Jetzt fiel ihr wieder ein, dass auch sie ein wenig verwundert über sein Verhalten gewesen war. Michael war sehr still gewesen, ein wenig zerstreut, als wenn er über irgendeine Sache brütete, mit der er nicht herauskommen wollte. Sie hatte allerdings gerade ihre eigenen Probleme gewälzt, versucht, das Chaos mit den vielen Fehlstunden im Kollegium zu organisieren. Jetzt erinnerte sie sich wieder, wie sie das seltsame Verhalten Michaels zur Seite gewischt hatte. Sie wollte es später ansprechen, hatte es aber dann wieder vergessen. Und nun war es zu spät für Fragen und Antworten. Etwas legte sich auf ihre Brust, dass sie kräftiger atmen musste, um überhaupt noch Luft zu bekommen.

„Ja, du hast recht, Tom – da war irgendwas vor zwei Wochen. Micha war jeden Tag ganz normal in die Redaktion gefahren. So sagte er zumindest. Aber am Donnerstag, das weiß ich noch genau, war er abends sehr seltsam – sprach kaum ein Wort, war geistig richtig abwesend. Ich hatte an der Schule Stress und hatte mir vorgenommen, am Wochenende mit ihm drüber zu sprechen, aber Samstag war alles ganz normal und ich hatte es wieder vergessen ...“

„Michael hat doch auch hier ein Arbeitszimmer. Vielleicht sollten wir mal nachschauen, ob wir irgendwas finden, was diese Europol-Sache erklärt“, schlug Tom vor. Einige Augenblicke später standen sie vor dem antiken Eichenschreibtisch, den Michael von seinen Großeltern geerbt hatte. Es lagen nur sehr wenige Papiere herum. Michael war ein großer Fan des papierlosen Büros geworden und sammelte alles in Ordnern auf seinen externen Festplatten. Jeden Monat fertigte er ein Backup an und deponierte dieses bei einem Bekannten eine Straße weiter. Ein weiteres Backup lagerte tatsächlich in einer Bank – sie hatten dort ein Schließfach mit einigen Goldmünzen und geerbtem Schmuck. Und eben einer Festplatte. Die Wahrscheinlichkeit, dass all diese drei Lagerorte gleichzeitig zerstört wurden, stufte Michael als extrem gering ein. Ein Atomangriff ja, aber dann wäre es wohl sowieso egal und die Festplatten sein geringstes Problem, pflegte er dazu zu sagen. Michael war auch ein sehr ordnungsliebender Mensch gewesen. Über den Satz Albert Einsteins „Ordnung braucht nur der Dumme, das Genie beherrscht das Chaos!“ konnte Michael gar nicht lachen. Er hielt ihn für grundsätzlich falsch – und lebte auch entsprechend. Er war nie ein pedantischer Prinzipienreiter gewesen, liebte es aber, wenn die Dinge im wahrsten Sinne in Ordnung waren. Marie hatte ihn manches Mal damit aufgezogen, weil sie so ganz anders war. „Mein süßer Spießer“ nannte sie ihn dann, wenn sie sich mal wieder über seinen Sinn für Ordnung aufregte. Dann schmollte er meist eine Weile, weil niemand gern Spießer genannt wird. Michael war alles andere als ein Spießer, aber trotzdem fühlte er sich von diesem Satz von Marie jedes Mal getroffen. Vielleicht weil er insgeheim Angst davor hatte, tatsächlich ein wenig spießig zu sein? Marie war jedenfalls das komplette Gegenteil eines Spießers. Michael hatte sich immer gewundert, wie sie eine Schule leiten konnte. Sie suchte fortwährend ihre Unterlagen, die Autoschlüssel, ihr Telefon, ihr Adressbuch. Zu Michaels Erstaunen bekam sie aber fast immer alles irgendwie hin. „Knapp auf Kante“, wie sie dann immer mit einem lauten Lachen rief, aber eben hinbekommen. „Wenn ich so arbeiten würde wie du, würde ich keinen einzigen Artikel zum Redaktionsschluss fertig haben“, war deswegen sein Standardspruch. „Wenn ich so meine Schule leiten würde, wie du arbeitest, wäre es eine Schulbehörde, aber keine Schule“, konterte sie dann und hatte die Trefferpunkte auf ihrer Seite.

In der transparenten Kunststoff-Ablage lagen dann doch einige Blätter herum. Unter anderem ein ausgedrucktes PDF, das Tom jetzt mit fragendem Blick in den Fingern hielt.

„Sagt dir der Name MiNU irgendwas?“

Marie nahm ihm die zusammengehefteten Blätter ab und las sie quer. Sie las etwas von Transhumanismus, von Digital Mind, von Wissen für alle. Hatte das eine Bedeutung? Michael hatte darüber garantiert nicht mit ihr gesprochen. Oder doch? Sie war so angespannt gewesen in dieser Woche. Nun tat es ihr fürchterlich Leid, weil alle Chancen auf Wiedergutmachung in einer Explosion am Himmel zunichte gemacht worden waren.

„War das ein Thema bei euch?“

Marie schaute Tom fragend an.

„Nein, na ja, schon, die Fortschritte in der Digitalisierung des menschlichen Gehirns sind immens – es gibt unter anderem ein riesiges EU-Forschungsprojekt dazu, das Human Brain Project, das versucht, allen Arealen des menschlichen Gehirns seine Funktionen zu entlocken. Wir beschäftigen uns natürlich immer wieder mit diesem Komplex, aber Michael war da eigentlich meines Wissens gar nicht involviert.“

Etwas irritiert schaute Tom auf den Ausdruck. MiNU? Jetzt fiel es ihm wieder ein. Das war doch dieses obskure Projekt in der Hafen-City – die hatten heute eine Pressekonferenz angesetzt. Eine Kollegin sollte auch da sein. Vielleicht hatte das PDF aber auch gar nichts zu sagen.

Tom blickte auf das Computer-Display, das seinen Blick schwarz und kalt erwiderte. Marie hatte sich die drei zusammengehefteten Seiten durchgelesen. Einige Sätze waren mit einem gelben Marker hervorgehoben worden. Michael hatte da einiges anscheinend ziemlich interessant gefunden. Kein Wort hatte er darüber verloren. Das verwunderte Marie am meisten. Sie mochten unterschiedliche Vorgehensweise haben, aber über ihre privaten wie beruflichen Probleme hatten sie immer geredet. Oft war es auch sehr hilfreich, wenn der oder die seine oder ihre Probleme schilderte – denn der/die andere hatte eine gänzlich andere Sichtweise, was einem neue Dimensionen erschloss. Von MiNU hörte Marie hier allerdings zum ersten Mal. Und das verwunderte sie.

„Ich würde mir das gern einmal anschauen“, sagte sie leise zu Tom, noch immer das ausgedruckte PDF in ihren Händen. Tom nickte. Ihn überkam ein seltsames Gefühl. Er hatte das lange schon nicht mehr verspürt. Ein Kribbeln im Nacken, feuchte Hände, Gedankenblitze. MiNU war eine Geschichte wert, das war so klar wie nur irgendwas. Aber was, zum Teufel, hatte Michael damit zu tun gehabt?

MiNU

„Meine lieben Gäste“, begann Leif Trager, „ich hoffe, Ihnen hat unser kleiner Imbiss zugesagt. So sehe ich Sie gestärkt, um dem zweiten Teil unserer Präsentation zu folgen. Ich möchte Ihnen einen jungen Mann vorstellen, der mit einer schweren Bürde lebt – oder besser: lebte. Steven wird jetzt zu uns auf die Bühne kommen. Steven ist 22 Jahre alt und leidet an einer extrem seltenen Form von Alzheimer. Sie wurde diagnostiziert, als er 15 war. Seine Gehirnleistung nahm radikal ab. Vor einem Jahr lebte er nur noch in der Gegenwart, jegliche Vergangenheit, jegliches Wissen war von ihm nicht mehr abrufbar. Es schlummerte alles in seinem Kopf, aber die neuronalen Verknüpfungen funktionierten nicht mehr. Wir haben von Steven gehört und seine verzweifelten Eltern kennengelernt. Sie haben sich bereit erklärt, dass Steven unser erster Proband wird, was die digitale Aufrüstung des menschlichen Gehirns betrifft. Unsere Wissenschaftler haben Steven einen sehr besonderen Micro-Chip in den Hippocampus implantiert. Er hält nicht nur passives Wissen bereit, sondern steuert aktiv seine Gehirnzellen und auch die Neurotransmitter. Wir haben die Verknüpfungen, die unterbrochen worden waren, wieder aktiviert. Außerdem befindet sich auf dem Chip nichts weniger als das Wissen der heutigen Welt. Allerdings erst einmal in stark vereinfachter Form, da wir noch nicht wissen, wie unser Verstand auf einen solchen Mega-Input reagiert. Bei dieser besonderen Form von Jugend-Alzheimer sind die Verbindungen in den Synapsen unterbrochen. Warum, weiß niemand genau. Deswegen schien uns Steven als idealer Proband für unser System. Bei Menschen, die etwa durch Alterungsprozesse erhebliche physische Veränderungen des Gehirns erleiden, würde das so nicht funktionieren. Da müssten erstmal körperliche Reparaturarbeiten erfolgen, die einen neuronalen Fluss überhaupt erst wieder möglich machten. Nehmen Sie als Beispiel eine Brücke über einen realen Fluss. Bei Steven ist die Brücke intakt gewesen, aber am Anfang und Ende waren Schranken heruntergelassen, die das Befahren unmöglich machten. Wir haben diese Schranken geöffnet, um die Brücke wieder nutzen zu können. Bei vielen altersbedingten Demenz-Fällen sind aber leider diese Brücken eingestürzt – das Öffnen der Schranken allein hilft da nicht.“

Leif sah sich in seiner Zuhörerschaft um. Dann sprach er ruhig weiter.

„Sie sehen und hören jetzt einen kurzen Film, der Steven zeigt – ein Jahr zuvor. Anschließend werde ich ihn auf die Bühne bitten und Ihnen vorstellen. Vielen Dank.“

Das Licht wurde augenblicklich abgedunkelt. Magnus war wohl genauso gespannt wie alle anderen in der Halle. War das hier ein werbewirksamer Fake oder Wirklichkeit? Wurden sie gerade durch MiNU in Gestalt von Leif Trager manipuliert? Die meisten Menschen haben keine Ahnung, wie stark und oft sie manipuliert werden, vor allem natürlich durch Werbung, aber auch durch Politik und Wissenschaft. Dass der Glaube Berge versetzen konnte, hatte angeblich bereits Jesus festgestellt. Was war also Show hier und was war Realität? Wie weit war das MiNU tatsächlich? Magnus wusste instinktiv, dass sich seine Abteilung mit Sicherheit mit dem MiNU in nächster Zukunft würde beschäftigen müssen.

Auf der LED-Leinwand erschien ein junger Mann, wohl Steven, der ungelenk auf einem Stuhl saß und seinen Oberkörper sacht hin und her wiegte. Eine Frau, vermutlich seine Mutter, sprach ihn an und berührte seine Schulter. Steven schaute sie an und gab seltsame Laute von sich, die an ein tierisches Jammern erinnerten und Magnus eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Stevens Augen rollten in den Augenhöhlen, zum Teil war nur das reine Weiß seiner Augäpfel zu sehen. Wenn der Film Eindruck schinden sollte, so war dieser Effekt mit Sicherheit gelungen. Als Magnus seinen Blick zu den Seiten wendete, wusste er, dass es den übrigen Zuschauern ebenso erging wie ihm. Der Film blendete langsam über Schwarz aus. Nun erschien, so mutmaßte Magnus, ein neuronales Geflecht in Orange auf der Leinwand, das sich in Zeitlupe und 3D um sich selbst drehte. Ein Spot ging an, beleuchtete Leif Trager sowie Steven, der neben ihm stand und in die Runde lächelte. Trager lächelte ebenfalls – ein wenig zumindest.

„Nun, Sie haben diesen kleinen, aber wie ich meine, sehr eindrucksvollen und emotionalen Film angesehen. Der junge Mann, der dort zu sehen war, steht jetzt hier neben mir“ – Trager legte seine Hand leicht auf Stevens Schulter – „und hat auch mit zugeschaut.“

Nun wandte er sich direkt an Steven.

„Steven, was für ein Gefühl ist es, sich jetzt so selbst zu sehen, rund 360 Tage in der Zeit zurück?“

Steven schaute erst ihn an, dann wieder in die Besuchermenge.

„Ich kann es wirklich nicht glauben. Ich meine, da einen Fremden zu sehen.“

Stevens Stimme war sehr angenehm; sie hatte etwas jugendhaftes, aber auch ein dunkles Timbre, wie es gute Erzähler haben. Er pointierte ziemlich stark, fand Magnus. Aber das war ja auch irgendwie nicht weiter verwunderlich, wenn man seinen Zustand von vor einem Jahr dazu in Relation setzte. Steven fuhr fort, jetzt frontal an die Zuhörer gewandt.

„Ich hatte keine Entscheidungsfreiheit vor einem Jahr. Meine Eltern haben für mich entschieden. Ich war geistig auf den Stand eines Neugeborenen zurückgefallen durch diese schlimme Krankheit, die weder Mediziner noch Wissenschaftler erklären können. Keiner weiß, wie oder durch was sie ausgelöst wird, aber sie löschte meine Erinnerungen, mein Wissen, meine Persönlichkeit. Mein Mensch-Sein. Vor wenigen Wochen wurde mir ein auto-aktiver Computer-Chip in den Hippocampus eingesetzt. Er löst die Barrieren, die in meinem neuronalen Netz entstanden waren, und hat mir sogar meine Erinnerungen an meine Kindheit zurückgebracht. Lediglich die zwei Jahre, in denen ich nichts mehr abgespeichert hatte, sind unwiderbringlich weg. Auf die kann ich aber gut verzichten – ich habe mein Denken wieder, meine Erinnerung – ich habe mein Leben wieder!“

Es war schon fast unheimlich still in der Empfangshalle des MiNU, obwohl gut 200 Leute anwesend waren. Es war so still, dass Magnus glaubte, sein eigenes Blut fließen zu hören. Steven fuhr nach einer kleinen Pause fort.

„Als ich mein Ich wiederbekommen hatte, fragten mich die Freunde von MiNU, ob ich einen Test mitmachen würde. Sie würden in den aktiven Chip, der meine Neuro-Barrieren kontrollierte, sehr viel, gigantisch viel Wissen implantieren können, wenn ich das wünschte. Wir haben uns dann entschieden, sozusagen einen reduzierten Input zu wagen. Wir wollten mein Gehirn ja nicht gleich wieder überstrapazieren. Nun“ – Steven blickte freundlich ins Publikum – „ich kann nur sagen, dass das, was ich jetzt weiß, meine kühnsten Träume von Wissen um ein Vielfaches übertroffen hat. Doch das Wichtigste ist nicht dieses Wissen, das Wichtigste ist, dass ich wieder Herr über mein Denken, meine Gefühle, mein Ich bin. Dafür möchte ich MiNU, Leif Trager und seinem ganzen Team von Herzen danken.“

Er ergriff die Hand Tragers und hielt sie einen Moment lang fest. Dabei schaute er ihm in die Augen. Es war ein etwas surreales Bild: Steven, gut 1 Meter 85 groß und der kleine Leif Trager, wie sie da auf der Bühne standen, wortlos und sich einfach die Hände gaben.

Der Denker und sein Homunkulus, dachte Magnus sofort und ärgerte sich über diesen Gedanken im nächsten Augenblick. Wenn das hier kein Fake war – und davon ging er aus – denn sonst könnte MiNU hier sehr bald die Lichter ausgehen lassen – dann hatte MiNU einem sehr kranken, jungen Menschen sein Leben zurückgegeben. Was, bitte schön, war daran schlecht? Andererseits wirkte alles ein wenig künstlich, ein bisschen zu sehr inszeniert. Nun gut, Leif Trager hatte viele Jahre in den USA gelebt – wer dann nicht die Show beherrschte, hatte wohl was falsch gemacht. Aber trotz aller Effekte war die Demonstration schon sehr eindrucksvoll gewesen, musste Magnus zugeben. Sie standen weiterhin zusammen, sein Team und Mitch. Die Show war vorbei, auf der LED-Leinwand rieselte wieder grün die Matrix. Überall wurde rege diskutiert. Magnus musste jetzt aber erstmal dringend pinkeln und suchte nach den Toiletten. Endlich hatte er die wegweisenden Schildchen gefunden und bog in einen schmalen Korridor am Rande der Halle. Als er wieder aus der Tür trat, stand dort Leif Trager. Magnus war überrascht.

„Sorry, es ist sonst nicht meine Art, Leute vor dem WC abzufangen, aber ich wusste nicht, wann sie gehen, Herr Herzberger, da habe ich die Gelegenheit am Schopf gepackt.“

Leif Trager sah ihn so freundlich an, dass Magnus nur ein „Ist schon okay...“ herausbringen konnte.

„Magnus, ich darf doch Magnus sagen?“

Magnus nickte leicht.

„Danke. Also, Magnus, ich hoffe, unsere Demonstration hat ihre Aufmerksamkeit geweckt. Ich weiß, dass sie allein schon beruflich mit der IT-Welt zu tun haben. Doch ich vermute mal, dass diese Demo heute auch sie gefesselt hat, oder?“

Er blickte Magnus mit dem Wissen an, die Antwort bereits zu kennen. Trotzdem ließ er ihm seine Zeit.

„In der Tat, Leif – ich darf doch Leif sagen – es hat mich sehr beeindruckt. Doch wenn ich das weiter denke, dann ist der medizinische Gedanke an Stevens „Heilung“ eher zweitrangig für sie? Sie denken in ganz anderen Dimensionen. Sie sind schon viel weiter, oder?“

Leif schaute ihn an, so wie Forscher kleine Krabbeltiere anstarrten, die sie im nächsten Augenblick auf eine Nadel spießen wollten.

„In der Tat – wir sind da um ein Erhebliches weiter. Ich würde ihnen sehr gern unseren Herrn Professor Doktor Brettschneider vorstellen – das Gehirn unserer IT sozusagen. Er kann ihnen und ihrem Team auch viel besser ihre fachlichen Fragen beantworten. Ich bin eher der Mittler, der Katalysator, wenn sie so wollen.“

Sie fuhren etwas später in dem Fahrstuhl einige Stockwerke nach unten. Magnus wunderte sich ein wenig, dass hier so dicht an der Elbe so tief gebaut worden war. Maybrit, Thilo und Mitch standen neben ihm, niemand sagte ein Wort. Endlich waren sie anscheinend angekommen. Leif schritt voran, durch mehrere Glastüren, bis sie in einer Art Halle angekommen waren. Ein junger Mann mit Dreitagebart begrüßte sie kumpelhaft, wohl ein Assistent, der einige Versuche kontrollierte. Leif Trager lächelte wieder sein nachsichtiges, ruhiges Lächeln.

„Professor Doktor Alexander Brettschneider – Maybritt Heerwagen, Thilo Thielsen, Magnus Herzberger vom K.I.T. und Dr. Mitch Kessler.“

Der junge kumpelhafte Typ lachte sie an.

„Oh, die Besten der Besten in meinem Büro, ich fühle mich geehrt.“ Schalk blitzte in seinen Augen. „Nun, was wollen sie wissen?“

Niemandsland

Murphy fläzte sich in einen Sessel, den Michael vorher gar nicht wahrgenommen hatte. Er putzte sich völlig anstandsfrei seine Fingernägel mit einem sehr kleinen Schraubenzieher. Zumindest sah es so aus, Finger waren für Michael nicht zu erkennen.

Jaja, Schwierigkeiten tauchen immer dann auf, wenn alles läuft.

Murphy putzte sich weiter die Nägel. Michael war ziemlich genervt, dass hier alle so normal taten, er aber noch nicht einmal einen Körper hatte! Er beschloss, es mit der Wahrheit zu versuchen.

Murphy, ich würde wirklich gerne wissen, was nun Sache ist. Ihr lauft hier umher, ich sehe mittlerweile was, aber bin eigentlich nichts.

Murphy putzte sich noch immer angestrengt die Fingernägel, grunzte dazu ein paar Mal.

Ho starrte Michael an. Plötzlich fiel Michael auf, dass er Ho jetzt sogar im Detail erkennen konnte. Ho war ein Punk. Eine zerschlissene schwarze Jeans, ein ehemals weißes löchriges T-Shirt, das den Slogan „Kill your Idols“ wohl mal getragen hatte und der noch schwach erkennbar war. Und ein Irokesenhaarschnitt – das war der Kamm gewesen, den Michael zuvor bemerkt hatte. Er dachte nach. Zuerst waren da diese unglaubliche Dunkelheit und nur Stimmen. Dann hatte eine Art Dämmerung eingesetzt und er hatte seine Umgebung erkennen können, Hütten, Wiesen, Bäume. Er hatte Ho getroffen, der ihm aber wie ein 3D-Schattenriss erschien. Nun hatte er sich in einen Punk mit Iro verwandelt. Und Murphy? Als Michael ihn wieder betrachtete, erschrak er. Auch Murphy hatte sich verwandelt. Er war nun eine menschliche Person, die einen altmodischen Pullunder mit schwarzem Rautenmuster auf Dunkelblau trug – der Pullunder sah aus wie eine zu einem Pullunder mutierte Burlingtonsocke. Unter dem Pullunder trug Murphy ein weißes Langarmshirt, dazu eine dunkelblaue Bundfaltenhose, einen Tick heller als der Pullunder. Die Füße steckten in cremefarbenen Socken und weißen Turnschuhen. Er hatte ein rundliches, weißes Gesicht und eine Kurzhaarfrisur, Modell Topfschnitt, in Schwarz. Der Anblick war eine gewisse Beleidigung des guten Geschmacks, ohne Frage. Murphy und Ho passten optisch ungefähr so gut zusammen wie eine gelbe Gummiente und ein mittelalterliches Breitschwert. Was ging hier vor? Michael war versucht anzunehmen, dass er Zeuge einer Entwicklung wurde. Vom schwarzen Nichts zu einer bunten, detaillierten Welt. Allerdings war es nicht seine Welt, wie er sie kannte. Diese Landschaft kam ihm völlig unbekannt vor. Sie schien sich auch bis zum Horizont endlos zu erstrecken. Er hatte auch keine Flugzeuge am Himmel, keine Kondensstreifen, weder Vögel noch Strommasten gesehen. Bäume, Gras, Hütten und Pfade – das war bisher alles gewesen. Und jetzt natürlich Ho und Murphy als Ying und Yang. Michael kam ein ungeheuerlicher Verdacht. Bei seinem ersten Zusammentreffen mit Murphy hatte dieser von einer MindCloud gesprochen. Konnte er sich tatsächlich in einer digitalen Welt, einer Bewusstseins-Wolke befinden? In einer Art Computerspiel? Oder lag er im Koma und träumte nur sehr intensiv von dieser anderen Welt?

Ho hustete. Dann sprang er wieder auf und ging nach draußen. Von dort schrie er ins Haus.

Murphy? Hast Du diese Digs mitgebracht? Vielleicht solltest Du dich mal um sie kümmern.

Murphy tat so, als hörte er Ho gar nicht. Er putzte sich weiter die Fingernägel und pfiff dazu leise eine Melodie. Michael kannte den Song, aber erstens pfiff Murphy sehr leise und zweitens fiel ihm der Name des Liedes partout nicht ein.

Murphy, hörst Du mich?

Murphy blickte nicht von seinen Fingernägeln auf.

Natürlich höre ich Dich, ich sitze ja genau vor Dir mit einem sehr geringen Abstand.

Murphy hatte so eine Art drauf, die einen sehr schnell sehr wütend machen konnte. Aber da das Michael nicht weiter half, ließ er sich nichts anmerken.

Murphy? Befinden wir uns in einer digitalen Welt? In einer künstlichen Welt?

Ja, natürlich. Wir befinden uns in der MindCloud, die MiNU eingerichtet hat. Und Du bist ein Teil davon. Ich als Dein persönlicher Assistent möchte Dir sehr gern dabei helfen, dass Du Dich hier zurecht findest.

Wieso habt Ihr Körper, ich aber nicht?

Das ist eine interessante Frage, die Dich wahrscheinlich sehr bewegt.

Da war sie wieder, diese Wut, die Murphy so schnell bei einem erzeugen konnte. Er war ein wenig wie diese künstlichen Telefon-Sprach-Assistenten, wenn man versuchte, seinen Telefonanbieter wegen einer Servicefrage anzurufen.

Ja, diese Frage bewegt mich durchaus sehr! Hättest Du auch die Freundlichkeit, mir diese Frage zu beantworten?

Michael, das ist keine Frage der Freundlichkeit, sondern es ist mir ein ernsthaftes Anliegen, Dich nach meinen Kräften zu unterstützen. Im Übrigen ist es auch meine dienstliche Aufgabe.

Und? Warum Du Körper, ich nicht?

Vielleicht half eine Reduzierung auf das Wesentliche?

Bedauerlicherweise liegen uns zurzeit keine biometrischen Daten Deiner Person vor, nach denen eine Gestalt ausgeformt werden könnte. Wir hoffen das jedoch mit einem der nächsten Updates korrigieren zu können.

Murphy beschäftigte sich nun nicht mehr mit seinen Fingernägeln, sondern hatte seine Hände auf die Oberschenkel gelegt, das Gesicht lächelnd Michael zugewandt. Ein Update? Also tatsächlich eine digitale Welt, das war nun sicher. Doch warum er sich hier befand und was genau geschehen war, blieb ihm weiterhin verborgen. Draußen hörte er ein Blöken und Muhen und immer wieder dazwischen das Geschrei Hos: Murphy! Muuurphy! Kümmere Dich um Deine verdammten Digs!

Endlich stand Murphy auf und ging vor die Tür. Neugierig folgte ihm Michael. Draußen standen ein Dutzend blaue Schafe sowie sechs gelb-schwarze Kühe. Sie sahen aus wie aus kleinen Klötzchen zusammengesetzt. Als Murphy sie anschaute, wurden sie still und trotteten hinter einen Hügel außer Sichtweite. Ho kratzte sich am Kopf und hüpfte zu ihnen.

Ich werde Michael ein wenig herumführen und ihm unsere Welt zeigen, okay?

Murphy nickte leicht und verschwand wieder in der Hütte. Die Tür schloss sich. Ho winkte Michael zu und bedeutete ihm, ihm zu folgen. Sie schritten eine Weile dahin, Michael natürlich immer noch körperlos. Allerdings fand er das nun gar nicht mehr so seltsam. Wie schnell sich der Mensch doch an Dinge gewöhnen konnte, wunderte er sich – und seien sie noch so skurril. Ho sprach ihn an. Erstaunlicherweise bewegte er dabei seine Lippen nicht und schaute ihn beim Gehen auch nicht direkt an.

Michael, ich muss auf diese Weise mit Dir kommunizieren – hier haben die Gräser und Bäume Ohren. Ich habe erst heute morgen von Dir erfahren, als Du in die Hütte kamst. Das ist ziemlich seltsam, weil ich so eine Art Wächter der MindCloud bin, weißt Du. Normalerweise hätte ich von Deiner Ankunft schon früher erfahren müssen. Ich verstehe das nicht so ganz, zumal Murphy anscheinend Bescheid wusste. Ich verstehe auch die Zusammenhänge nicht wirklich, aber Fakt ist, Du befindest Dich in der MindCloud. Du willst mit der Außenwelt kommunizieren? Das ist schon möglich, aber nicht ganz einfach. Außerdem habe ich den Eindruck, dass Murphy Dich dabei nicht unbedingt unterstützen will. Fast könnte man meinen, er versucht es zu verhindern.

Michael hörte fasziniert zu.

Nun, es gibt einen Weg, wie gesagt, aber dafür müssen wir in einen anderen Teil der MindCloud. In die „Alte Welt“. Willst Du das versuchen?

Klar, beeilte sich Michael zu sagen. Aber Du sagst das so komisch. Ist es gefährlich?

Na ja, in gewisser Weise schon, aber alles halb so wild, wiegelte Ho ab.

Michael wollte es lieber genauer wissen.

Was kann denn passieren?

Hmmh, also im Extremfall, der aber total unwahrscheinlich ist, muss ich dazu sagen, könnte es unter ungewöhnlichen Umständen passieren, dass Du gelöscht wirst.

Ich werde gelöscht? Michael glaubte sich verhört zu haben. Wie, gelöscht?

Ho ging immer noch neben ihm und bewegte weiterhin nicht seine Lippen.

Na, gelöscht halt. Deleted. Erased. Weg. Was ist denn daran so schwer zu verstehen? Also, wie gesagt, das ist total unwahrscheinlich, aber ich will es Dir nicht vorenthalten haben. Nicht dass du später ankommst und Dich beschwerst.

Wenn ich gelöscht bin, sollte das Dein Problem nicht mehr sein.

Ho blieb stehen.

Da hast Du recht. Also, auf zur „Alten Welt“?

Michael grummelte seine Zustimmung.

Lande ich in einem Papierkorb, wenn ich gelöscht werde, wie in einem Computer?

Du meinst, dass so eine Art Datei-Wiederherstellung möglich ist? Nein, gelöscht heißt in diesem Fall tatsächlich erased, unwiederbringlich weg. Formatiert. Rien ne vas plus.

MiNU

Nachdem er seine erste Überraschung über Alexander Brettschneider überwunden hatte, sprach Magnus ihn an.

„Nun, wir haben gesehen, dass sie hier bei MiNU ganz schön weit sind. Ich vermute, noch viel weiter, als ihre Präsentation auf der Bühne ahnen lässt.“

Brettschneider musterte den Polizisten mit Interesse und einem spitzbübischen Lächeln.

„Ja, das stimmt wohl. Wir puzzeln wie viele andere Forscher auch an dem Human Brain Project. Wir kartografieren das Gehirn, um es dann – na sagen wir mal ruhig etwas salopp – zu tunen. Wir können direkt eingreifen in den Datenverkehr der Neurotransmitter. Ein Beispiel haben sie eben bei Steven gesehen. Eindrucksvoll, nicht?“

Alle nickten. Das war in der Tat beeindruckend gewesen. Nun äußerte sich Mitch Kessler.

„Bei einem Treffen mit ihrer Kollegin Bernstein erzählte sie mir bereits von dem „Wissen der Welt“, das MiNU in die Gehirne der Menschen implantieren möchte.“

Brettschneider schaute ihn freundlich an.

„Ja, genau, das ist ein Teil unserer Forschung hier bei MiNU. Das Ziel der Stiftung ist es, die Zugänge zu Wissen für alle zu öffnen – nicht nur für Menschen, die sich Harvard oder ähnliches leisten können. Im Prinzip ist es ganz einfach: Wir sorgen dafür, dass externes Wissen vom menschlichen Gehirn verarbeitet werden kann – und zwar erfolgt die Kopplung direkt im Gehirn – im Hippocampus. Wenn sie so wollen: eine Art Wikipedia ohne Smartphone, lokal mit dem Gedächtnis eines Menschen verknüpft.“

Mitch nickte. Das hatte er verstanden. Der Hippocampus, dieser Teil des Gehirns, der seinen Namen wegen seiner vagen Ähnlichkeit mit dem Seepferdchen verpasst bekommen hatte, ist die Schnittstelle unserer Erinnerungen. Alles, was neu an Information hereinkommt, wird durch den Hippocampus in die „Erinnerungs-Datenbank“ des Hirns eingepflegt, wie ein Computer-Experte wohl sagen würde. Damit wird Erinnern erst möglich. Ohne Hippocampus keine neue Erinnerung. MiNU musste einen Weg gefunden haben, Unmengen neuen Wissens durch den Hippocampus in die Langzeiterinnerung zu transferieren. Geschehen sollte das durch einen aktiven Microchip, der wohl an den Hippocampus „angeschlossen“ werden konnte und das Wissen in das menschliche Gehirn einimpfte. Mitch pfiff leise durch die Zähne. Wenn MiNU das tatsächlich gelungen war, standen sie alle hier und heute vor der bahnbrechendsten Entwicklung in der Menschheitsgeschichte – seit Erfindung des Feuers. Maybrit hatte das genauso schnell verstanden wie Mitch.

„Das heißt, sie wären auch in der Lage, falsche Erinnerungen, also Fake-Erinnerungen zu implantieren?“

Brettschneider schaute sie wieder mit seinem gewinnenden Lächeln an.

„Natürlich. Sie können jede Erinnerung in das Gedächtnis eines Menschen pflanzen, vorausgesetzt, sie sind der Lage, diese Erinnerung so auf- und vorzubereiten, dass das jeweilige Gedächtnis sie gewissermaßen schluckt und als eigene Erinnerung akzeptiert und wahrnimmt. Bereits 2012 gelang dem Neuro-Forscher Steve Ramirez das Implantieren von künstlicher Erinnerung bei Mäusen mit Hilfe von Lasern. Heute sind einige Forscher da um ein Vielfaches weiter ...“

„Zum Beispiel MiNU“, ergänzte Maybrit seinen Satz.

„Zum Beispiel MiNU“, bestätigte Brettschneider.

Leif Trager schaltete sich ein. Er sah Maybrit in die Augen.

„Maybrit, hätten sie Lust auf ein kleines Experiment? Es tut nicht weh, schadet ihnen garantiert nicht, aber wird sie mit Sicherheit in Erstaunen versetzen. Unser Alex Brettschneider wird sie genau einweisen und begleiten.“

Maybrit schaute zu Magnus. Der nickte leicht.

„Okay, worum geht’s?“, wendete sie sich direkt an Brettschneider. „Nicht dass sie mit einer neuen Version von Total Recall kommen – zwei Verfilmungen sollten doch ausreichen, oder?“

„Nun, keine Sorge, ich mache keine Agentin aus ihnen. Ich werde sie an unser Elektrodennetz anschließen und ihnen einen Wissens-Input von außen geben. Dafür messe ich zuerst ihre Gehirnaktivität, weil ich das Gerät auf sie persönlich einstellen muss – das geht aber ganz schnell. Sie werden davon nichts merken. Sagen sie, liebe Maybrit, von welcher Materie haben sie nur sehr wenig Ahnung? Wie sieht’s mit Pilzen aus?“

Maybrit musste lachen.

„Pilze? Nun, ich esse ganz gern Champignons und Austernpilze, aber Ahnung von Pilzen habe ich wirklich nicht. Wahrscheinlich würde ich mich sofort vergiften, wenn ich Pilze sammeln gehen würde.“

Brettschneider lächelte wieder sein schönstes Lächeln.

„Na, für unser kleines, unverfängliches Experiment sind das doch allerbeste Voraussetzungen.“

Er bat Maybrit und die übrigen in einen etwa 40 Quadratmeter großen Raum, der sich direkt neben ihnen befand und der mit einer großen Glasscheibe abgetrennt war. Er war in Weiß und Stahl gehalten, wirkte aber nicht kalt, eher professionell. Seine ganze Ausstrahlung signalisierte dem Eintretenden: Hey, hier wird ernsthaft geforscht – sei ein wenig ehrfürchtig. An den Seiten standen eine Reihe von Computer-Displays mit Tastaturen davor. Mitch fiel auf, dass sowohl sie als auch die Computer-Mäuse mit Kabeln verbunden waren. Brettschneider hatte seinen wohl etwas skeptischen Blick bemerkt.

„Drahtlos-Technik wird in unseren Laboren nicht verwendet, weil ihre Signale Experimente verfälschen oder stören könnten.“

Mitch nickte. War eigentlich logisch. Man wollte alle Fehlerquellen ausschalten. Nicht ganz in der Mitte des Raums stand ein ultra-modern aussehender Stuhl, einem Zahnarztstuhl nicht unähnlich, der von einer kapselförmigen transparenten Kuppel umgeben und die oben weiß lackiert war. Unter der Kuppel baumelte eine Art Trockenhaube, von der ein stattlicher Kabelbaum bis in die Decke führte. Der Raum war um vier Meter hoch und ebenfalls leicht kuppelförmig. Vor dem Sitz befand sich ein schmaler Schreibtisch aus Metall mit einer Glasplatte, auf der ein Laptop stand. Brettschneider bat Trager, Maybrit beim Entern der Kuppel zu helfen. Sie setzte sich hin und inspizierte neugierig die Gerätschaften um sie herum. Brettschneider hatte am Schreibtisch Platz genommen und gab einige Befehle in den Computer ein. Dann wandte er sich wieder Maybrit zu – die anderen hatten automatisch einen Halbkreis um den Schreibtisch und die Kuppel gebildet und waren gespannt, was jetzt kommen würde. Wie von Geisterhand leuchtete an der gegenüberliegenden Wand ein in die Wand integriertes riesiges LCD-Display leicht bläulich auf.

„Maybrit, ich werde ihnen jetzt unsere Elektrodenhaube aufsetzen. Wie schon gesagt, sie werden körperlich während des gesamten Experiments nichts spüren – weder negativ noch positiv. Entspannen sie sich und lehnen sie sich zurück. Wir werden jetzt zusammen in den Wald gehen.“

Nachdem er Maybrit die Haube aufgesetzt und wieder an seinem Laptop Platz genommen hatte, wurde die große Scheibe an der einen Seite des Raumes plötzlich undurchsichtig und der gesamte Raum in ein warmes, grün-gelbes Licht getaucht.

Wie an einem milden Tag im Herbstwald, musste Magnus unwillkürlich denken – er wusste, den anderen erging es genauso. Auch die typischen Waldgeräusche waren sehr gedämpft zu hören. Ein leichter Wind ließ das Laub rascheln. Ein Vogel schrie in der Ferne. Auf dem Display lief ein Film ab. Eine Kamera bewegte sich wie die Augen eines Menschen durch den Wald. Man sah keine Person – es war, als ob der Betrachter des Films mit den Augen der Kamera sah. Dann fokussierte sich der Kamerablick auf ein merkwürdiges Gebilde am Fuß einer mächtigen Kiefer. Es sah aus wie ein großer, fester Schwamm. Brettschneiders Stimme klang warm und weich.

„Maybrit, wir unternehmen einen Spaziergang im herbstlichen Wald. Wir wollen Pilze sammeln. Was sehen sie?“

Maybrit sah ganz normal aus. Scheinbar entspannt saß sie auf dem gemütlichen Stuhl und schaute sich das Gebilde an der Kiefer an.

„Oh, eine prächtige Krause Glucke! Lateinisch Sparassis crispa. Ein sehr guter Speisepilz, bis 40 Zentimeter breit und 20 hoch; ähnelt einem Natur-Badeschwamm. Das Fleisch ist weißlich, elastisch und besonders bei älteren Exemplaren etwas zäh. Der Geschmack ist leicht nussig und mild. Krause Glucken kommen im Nadelwald vor; hauptsächlich an Kiefern, seltener auch an Fichten und Lärchen. Sandige, nährstoffarme Böden sind ideal. Vorkommen von Juli bis Oktober. Wegen ihrer verästelteten Form sind Krause Glucken oft mit Sand und Dreck verschmutzt, auch Insekten lieben ihr Labyrinth als Schutzraum. Zubereitungstipp: Mit einem scharfen Messer mit langer Klinge die Glucke in etwa acht Millimeter breite Scheiben schneiden, diese dann mit einer Pilzbürste gründlich reinigen. Nach längerem Braten in der Pfanne ein wenig Sahne dazu geben und kräftig mit Salz würzen – fertig ist ein tolles Pilzgericht!“

Der Kamerablick fuhr weiter durch den Wald und blieb an einem markanten rötlichen Pilz hängen und zeigte ihn in Großaufnahme.

„Das ist aber ein schönes Exemplar eines Flockenstieligen Hexenröhrlings, lateinisch Neoboletus erythropus. Durch seine hell-rötlichen Farben wird er von vielen Pilzsammlern gemieden – aus Angst, ihn zum Beispiel mit dem giftigen Satanspilz zu verwechseln. Dabei ist er ein sehr guter Speisepilz, wird von vielen dem Steinpilz als ebenbürtig angesehen. Wer besonders auf das Flockenstielige achtet, sollte aber keine Probleme bekommen. Er bläut beim Anschneiden sofort intensiv, was man in früheren Zeiten für Hexenwerk hielt – daher sein Name. Der Flockenstielige Hexenröhrling wächst von Juni bis Oktober und ist in Deutschland recht weit verbreitet – sowohl im Flachland als auch in den Mittelgebirgsregionen.“

Brettschneider lächelte einmal mehr. Magnus, Mitch und Thilo schauten abwechselnd auf den Pilz auf dem Display und zu Maybrit. Diese lächelte sie an.

„Oh, wow, ich bin eine Pilz-Expertin geworden! Unglaublich.“

Trager nahm ihr die Haube ab und half ihr aus der Kuppel. Brettschneider saß noch immer auf seinem Stuhl.

„Haben sie irgendwas gespürt, Maybrit? Etwas körperliches?

Maybrit schüttelte ihren Kopf.

„Nein, gar nichts. Ich sah die Bilder von den Pilzen und wusste das alles plötzlich über sie. Es war so, wie ich auf Dinge reagiere, über die ich gut Bescheid weiß. Das Wissen war einfach da.“

Sie starrte Brettschneider an.

„Das ist, das ist wirklich unglaublich, aber auch ...“

Sie suchte nach den richtigen Worten.

„... es ist unheimlich. Das öffnet ja auch jeder böswilligen Manipulation Tür und Tor!“

Trager stand an die Kuppel gelehnt und nickte ganz leicht.

„Ja, es ist unglaublich – aber es ist wahr. Wir sind tatsächlich in der Lage, Wissen so zu implantieren, dass es sofort und in vollem Umfang dem menschlichen Gedächtnis zur Verfügung steht. Ihr Wissen über die Krause Glucke und den Flockenstieligen Hexenröhrling bleibt ihnen übrigens erhalten. Es wurde so vermittelt, dass es über den Hippocampus in ihr Langzeitgedächtnis gelangt. Wenn von außen aber keine erneute Stimulanz erfolgt, wird dieses Wissen wie alles Erlernte mit der Zeit verblassen, wenn sie es nicht trainieren. Natürlich haben sie mit ihren Bedenken recht. Allerdings spiegelt das auch unsere natürlichen Widersprüche wider: Sehen sie, Liebe ist eine wunderbare Sache, die viel Glück und Zufriedenheit bringen kann. Aber ein zuviel an Liebe kann den Partner erdrücken, ihn letztendlich zur Trennung bringen – oder Schlimmerem. Auch Wasser ist janusköpfiger Natur: Wir bestehen – zumindest als Erwachsene – zu 50 Prozent aus Wasser. Wir brauchen es zum Überleben, aber sie können auch jemanden damit foltern und sogar töten.“

Marie

Die Bahnfahrt war ihr wie eine Ewigkeit vorgekommen. Obwohl der ICE mit hoher Geschwindigkeit unterwegs gewesen war und die Landschaften hinter den getönten Scheiben vorüberflogen, hatte sie das Gefühl, sich in Zeitlupe zu bewegen. Wie ein mieser Traum, dachte sie. Hannah saß schweigend auf ihrem Platz und starrte in eben diese Landschaften. Marie war beunruhigt, weil ihre Tochter keinerlei Anstalten machte, in ihr Smartphone zu schauen. Für die heutige Jugend kam das ja einer Psychose gleich, dachte Marie und erschrak über diesen Gedanken. Sie versuchte, etwas in Hannah zu ergründen, aber diese war wie verschlossen, obwohl man ihr das auch auf den zweiten Blick nicht ansah. So war die Fahrt vergangen, bis sie umstiegen und in eine Regionalbahn wechselten. Eine Mitarbeiterin der Airline, mit der Michael verunglückt war, hatte alle Formalitäten für sie und Hannah erledigt, damit sie mit den Angehörigen der anderen Verunglückten in der Nähe des Absturzortes zusammenkommen konnten, um zu trauern. Sie hatten nur in ein wartendes Taxi steigen und den weiteren Plan abfahren müssen – vorausgesetzt, die Bahnen verkehrten pünktlich. Nun saßen sie in einem kleinen Ort in einer relativ großen und stattlichen Kirche. Wieso hat dieses Nest eine solche Kirche?, wunderte sich Marie und wunderte sich gleichzeitig darüber, dass sie sich wunderte. Es war nicht nur ein christlicher Würdenträger zugegen, sondern anscheinend auch ein muslimischer. Dazu ein dünner, großer Mann, der neutral gekleidet und vielleicht ein weltlicher Seelsorger war. Ein Vertreter der Luftsicherheit oder irgendeines Amtes, Marie hörte kaum hin, hieß alle willkommen und breitete die momentan bekannten und akzeptierten Wahrheiten in dem weiten Raum des Kirchenschiffs aus. Unglücksfall, menschliches Versagen, alle Anstrengungen, tiefe Trauer, Teilnahme, dunkle Stunden ... Satzfetzen drängten sich in ihre Ohren, die wie Wellen in ihr Bewusstsein drangen und dort abperlten. Hannah saß neben ihr, steif, wie eine Puppe, wie eine Marionette, die an unsichtbaren Fäden hing. Ein Schnitt und sie würde in sich zusammenfallen. Marie atmete mehrere Mal tief ein. SIE musste jetzt stark sein. Michael war weg, pulverisiert im Himmel. SIE musste jetzt Hannah den Halt geben, den diese dringend benötigte. Doch woher konnte sie die Kraft dafür schöpfen? Sie fühlte sich selbst neben sich stehend. Atmen, bewegen, sehen, riechen: Ihre Körperfunktionen gingen ihrem natürlichen Treiben nach, aber ihre Seele schrie nach Erlösung. Sie würde gern mit einem gewaltigen Schrei alles Schlechte aus sich heraus lösen, alles Böse, alle Trauer. Doch sie war wie gelähmt. Denn den Schrei, die Befreiung, die sie sich so sehnlichst erhoffte, die gab es nicht! Jetzt nicht und niemals. Dieses Tal musste sie durchqueren, wenn sie jemals wieder zu leben hoffen durfte. Diese Wüste musste sie durchschreiten, um jemals wieder Wasser an den Lippen zu spüren. Und gleichzeitig, während sie das dachte: Lohnt das denn noch? Nach diesem Verlust? Maikel – mit dem sie vor einigen Tagen noch so vertraut gesprochen hatte, der seit Jahrzehnten ihr Begleiter in diesem Leben war, den gab es von der einen auf die andere Sekunde nicht mehr. Er war aus ihrem Leben verschwunden, so plötzlich, so unerwartet, so dramatisch – es gab keinerlei emotionalen Halt für sie. Und gleichzeitig saß da ihre gemeinsame Tochter, deren Verzweiflung in ihrer Abgeschottetheit zutiefst greifbar war. „Wenn die Nähe zum Fluch wird, bleibt nur noch die Flucht in das Innerste, das du hast – oder: Du gehst ganz aus dir heraus“, dachte Marie mit einem Schaudern. Wie komme ich an dich ran, Hannah? Gib mir bitte ein Zeichen, damit wir beide zusammen vielleicht nicht mehr ganz allein sind. Doch Hannah saß da in der hölzernen Kirchenbank und wirkte unnahbar wie zuvor. Sie gab kein Zeichen. Marie fühlte sich so unendlich allein. Untröstbar. Unfühlbar. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Seit sie von dem Unglück erfahren hatte, waren ihre Tränen merkwürdigerweise wie versiegt gewesen, doch jetzt quälten sie sich hervor, jede einzelne voller Salz, jede Träne eine Tonne schwer. Sie würde das niemals schaffen. Wie hatte sich Michael gefühlt in seinen letzten Sekunden? Hatte er gewusst, dass es zu Ende war? Was waren seine letzten Gedanken gewesen? Sie fühlte ihr Smartphone in der Tasche. Gleich würde es summen, Michael würde lachen und sie foppen – hey, ich bin noch da, ganz nah bei dir. Marie hatte das Gefühl, sie müsste implodieren – zuviel Energie da drinnen, keine Möglichkeit, das irgendwohin abzuleiten. Und dann summte ihr Smartphone. Ihr wurde eiskalt.

K.I.T.

Er saß da auf dem Schreibtisch von Magnus Herzberger und ließ seine Beine baumeln. Manchmal beschlich Maybrit das Gefühl, dass Dr. Benz zuweilen etwas ...wunderlich ...war? Nun gut, aber er war nun einmal die höhere Instanz der Befehlsgewalt, was die Hierarchie im BKA betraf. Thilo, Magnus und sie selbst saßen auf Stühlen im Halbkreis um ihren Vorgesetzten, der sie abwechselnd anschaute. Das war bei ihm immer etwas seltsam, weil Dr. Benz zwei unterschiedliche Augenfarben hatte. Sein eines Auge war reines Meeresblau, das andere Dunkelbraun. Es gab niemanden, der sich davon nicht irritieren ließ. Selbst wenn man den Anblick gewohnt war, beeinflusste einen immer wieder dieses ungleiche Augenpaar. Maybrit war davon beim ersten Mal so fasziniert gewesen, dass sie dieses Phänomen recherchiert hatte. Iris-Heterochromie nannte sich diese Verschiedenheit beider Regenbogenhäute der Augen. Ausgelöst wurde es durch eine Störung der Pigmentierung. Die meisten kaschierten diese Störung durch Einsetzen einer farbigen Kontaktlinse. Dr. Benz war stolz auf seine „Besonderheit“ und hatte bereits als Kind das Tragen einer Kontaktlinse abgelehnt. Jetzt war er war aufgeregt und nervös – das verrieten seine baumelnden Beine.

„Meine lieben Kollegen, diese komischen Droh-Botschaften sind schwer greifbar. Wir haben versucht herauszufinden, woher sie stammen, aber tappen noch immer im Dunkeln. Einige meinen, irgendjemand in Russland wäre der Absender, aber das ist ja fast schon Mode – Russland geht immer. Ich glaube das aber nicht. Wir haben jetzt einen Namen: Prometheus. So nennt sich der Absender mittlerweile. Was mich – und einige Experten – verwundert: Er schreibt extrem sicher, was Grammatik und Orthografie angeht. Wir haben Sprach-Experten hinzugezogen, als uns das aufgefallen ist – sie konnten nicht einen Fehler finden in all seinen Botschaften.“

Maybrit schaute Dr. Benz interessiert an.

„Und was schließen ihre Experten daraus?“

Dr. Benz überhörte ihren leicht süffisanten Tonfall – oder tat zumindest so. Dann blickte er Maybrit mit seinen beiden so unterschiedlichen Augen direkt an.

„Sagen sie es mir! Wir wissen es nicht. Auch der Name Prometheus. Was soll das?“

Magnus dachte nach.

„Prometheus? Laut griechischer Geschichte brachte er den Menschen das Feuer. Aber auch Pandora wurde wegen ihm als Götterstrafe geschaffen – analog zu Adam und Eva. Und Pandora war es schließlich, die das Übel über die Menschheit brachte – wie Eva mit dem Apfel. Prometheus entstammte dem Titanengeschlecht; sein Bruder Epimetheus erlag dem Zauber der Pandora, obwohl Prometheus ihn vor Geschenken des Zeus gewarnt hatte. Prometheus ist – zumindest geschichtlich gesehen – ein Freund der Menschen, ein Helfer, eine Art Katalysator, um die menschliche Entwicklung in Gang zu setzen. Warum nennt sich der Absender so?“

Alle schwiegen für eine Weile. Sie wussten, dass griechische, römische und nordische Mythologie sowie das Ur-Christentum Steckenpferde von Magnus waren. Da machte ihm so leicht keiner was vor. Dr. Benz rutschte mit den Beinen schaukelnd auf dem Schreibtisch.

„Seine Botschaften zumindest sind ziemlich heftig. Er droht den Gläubigen des digitalen Fortschritts mit persönlicher Vernichtung. Gestern gab’s eine Drohung gegen den Senator für Kultur und Digitales: Er selbst und seine Brut werden gejagt werden bis an die Klippe des Lebens und wenn nötig darüber hinaus! Das klingt alles so furchtbar dramatisch. Aber leider wissen wir ja, wieviele Verrückte da draußen rumlaufen. Und zu was sie fähig sind ...“

Dr. Benz’ Beine waren plötzlich still. Er war tatsächlich etwas verzweifelt, stellte Maybrit mit Erstaunen fest. So kannte sie ihn gar nicht. Er gab sich sonst immer als Kenner aller Lagen. Abgeklärt und selbstsicher. Aber jetzt schien ihn tatsächlich Angst anzutreiben. Und er war zu ihnen gekommen, damit sie ihm helfen konnten. Konnten sie ihm helfen? Magnus Blick traf sie.

„Und, Maybrit, haben wir von einem Prometheus schonmal gehört?“

Sie dachte angestrengt nach. Prometheus? Sie konnte sich nicht erinnern, diesen Namen im Zusammenhang mit der digitalen Welt schon einmal gehört zu haben. Dann fühlte sie, wie rötliche Farbe heiß in ihre Wangen strömte. Prometheus ... Auf einer Dating-Plattform hatte sich ein User so genannt, der sie geliked hatte. Das war vor einer Woche gewesen. Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt. Sie hatte den Namen da bereits merkwürdig gefunden, doch jetzt bekam das Ganze eine tiefere, finstere Bedeutung. Oh mein Gott! Wenn das der Prometheus war, der Droh-Mails an verantwortliche Politiker schrieb, wieso hatte er sie geliked?

„Maybrit?“, fragte Magnus freundlich nach, „alles in Ordnung?“

Sie nickte tapfer, aber war für einen Moment wie gelähmt. Welches Spiel wurde hier gespielt? Sie entschloss sich, geraden Kurs zu setzen.

„Ich bin auf einer Dating-Plattform unterwegs.“

Sie ignorierte Thilo, der seine Augenbrauen hochzog.

„Vor einer Woche tauchte dort ein Prometheus auf, der mich daten wollte. Er war ziemlich offensiv, ich habe ihn abblitzen lassen. Seitdem habe ich nichts von ihm gelesen.“

Sie alle schwiegen. Was zum Teufel bedeutete das denn nun wieder?, fragten sich Magnus, Thilo und Dr. Benz. Stand es im Zusammenhang mit ihrem „Fall“ oder war das nur ein dummer Zufall? Maybrit versuchte sich zu erinnern, was dieser Prometheus geschrieben hatte. Es hatte schon anders geklungen als die anderen Mitteilungen, die sie erhielt. Dr. Benz blinzelte in die Runde.

„Frau Heerwagen, wir müssen ihr Dating-Profil checken, die letzten Kontakte, vor allem alles von Prometheus. Das ist kein Zufall, dass er sie kontaktiert hat. Hier versucht einer, mit uns Katz und Maus zu spielen. Das gefällt mir ganz und gar nicht.“

Alle wussten für den Moment nichts zu sagen. Dr. Benz hatte vollkommen Recht. Aber wieso Prometheus zugleich einen Senator der Stadt Hamburg bedrohte und eine IT-Spezialistin des BKA datete, das klang reichlich schräg. Alle dachten nach, über mögliche Verbindungen, über Querverbindungen. Es war auf jeden Fall sehr seltsam. Da meldete sich Maybrits Rechner mit einem Hahnenkrähen. Alle schauten ruckartig zu dem Computer. Langsam näherte sich Maybrit ihrem Rechner, als ob sich dunkle Kreaturen darin verbargen, die nur darauf warteten, sie anzuspringen. Sie schaute auf den Bildschirm und hielt unwillkürlich ihren Atem an. Nach und nach kamen die anderen hinzu – keiner sagte auch nur ein Wort.

Niemandsland

Michael folgte Ho durch die auf eine Weise ganz hübsche, aber auf andere Weise auch langweilige Landschaft. Als ob sich Szenen der Landschaft immer wiederholten, wenn auch jedes Mal leicht modifiziert. Nach einer Weile bog Ho über einen grasbewachsenen Hügel ab. Dahinter ragte schemenhaft in einiger Distanz etwas Künstliches auf. Eine alte Industrieanlage? Michael sah ein wenig wie im Nebel und konnte das weitläufige Gebilde nicht genau erkennen. Ho blieb auf der Hügelkuppe stehen.

Die Alte Welt – von hier kannst Du sie bereits sehen.

Dabei zeigte er mit dem Finger in die Ferne auf das Gebilde im Nebel. Michael kam sich vor, als wäre er wieder Kind. Er erinnerte sich, wie er neue Umgebungen entdeckt hatte und in jedem Neuen etwas Abenteuerliches, etwas Ungewöhnliches, etwas Spannendes gesehen hatte. Wie ein kleiner, dunkler Wald zu einem Märchenwald wurde, mit Feen, Rittern und Räubern. Wie ein in diesem Wald halb vergrabenes rundes Bauelement für ihn und seinen Freund zu einer abgestoßenen Raketenstufe geworden war, von der niemand etwas wissen durfte – ihr gemeinsames Geheimnis! Wie sie im frostigen Winter mit toten, steif gefrorenen Mäusen spielten, die sie an den Schwänzen wie Marionetten führten und die sich unterhielten, als wäre es das normalste auf der Welt. Meine Güte, wann war ihm diese kindliche Fantasie abhanden gekommen? Er konnte den Zeitpunkt oder die Phase nicht benennen. Irgendwann war sie einfach verschwunden gewesen.

Ho trottete wieder los, Michael folgte ihm. Sie kamen näher. Die Distanz ließ sich leichter überwinden, als Michael geschätzt hatte. Das war wohl auch eine der vielen Besonderheiten dieser MindCloud: Seine erlernten Gewohnheiten aus der „echten“ Wirklichkeit seines Lebens funktionierten hier nur zum Teil, verzerrt oder gar nicht. Als befände er sich in einem perfekt simulierten VirtualReality-Computerspiel. Er trug die VR-Brille, konnte sehen und sich bewegen, aber sich selbst nicht sehen. Aber das kam ja vielleicht noch, wie Murphy angedeutet hatte.

Jetzt waren sie dicht genug dran an dem Gebilde und Michael musste erkennen, dass es ein riesiges Areal war, allerdings keine Industrieanlage, sondern ein Jahrmarkt, eine Kirmes! Überrascht hielt er inne. Ho stand da vor dem Eingang zum Jahrmarkt und hatte seine Hände in die Hüften gestemmt.

Willkommen in der Alten Welt – im Spaßbad der Gefühle – im Tempel des Glückes – in der Oase der Freude!

Tempel des Spaßes? Michael schaute auf die Ruinenlandschaft, die einmal ein Jahrmarkt gewesen war und konnte diese Einschätzung nicht so ganz teilen.

Na ja, eher der Spaß-Tempel des Todes oder die Oase des Schreckens ...,

merkte Michael sarkastisch an.

Hej, sei nicht so negativ, meckerte Ho ironisch und hätte ihm sicherlich in die Seite geboxt, wenn Michael eine gehabt hätte.

Was Du hier siehst, lieber Michael, ist der Anfang der neuen Welt, der MindCloud. Die Entwickler dachten sich, wenn schon eine Spielwiese schaffen, dann auch eine richtige. Diese Entwickler sind und bleiben doch immer alle kleine Jungs und Mädchen.

So konnte man es natürlich auch sehen, dachte Michael.

Und warum ist dann alles zerfallen und nur noch eine Ruine?

Ho kratzte sich hinter dem rechten Ohr.

Die Alte Welt hatte ihre Funktion eines Testballons erfüllt. Hier wurde alles erprobt, was in der neuen Welt der MindCloud dann perfektioniert wurde und wird. Aber die Entwickler mochten die Alte Welt nicht so einfach löschen – nenn es sentimental. Also blieb es da, aber eben als Ruine – vielleicht als eine Art Denkmal oder so.

Und wo steckt jetzt das Problem? Michael hatte schon gemerkt, dass da noch was war, von dem Ho noch nicht geredet hatte, was aber bestimmt nicht ganz unwichtig war.

Ho schaute versonnen auf den Jahrmarkt oder besser das, was davon übrig war.

Nun, dieser Teil ist technisch von der übrigen heutigen MindCloud abgetrennt. Deswegen auch dieses Nebelhafte, leicht Verschwommene. Du kannst da nicht einfach durch das Tor marschieren. Du würdest abprallen wie an einer unsichtbaren Wand.

Michael schaute ihn an: Aber Du kennst einen Weg hinein?

Ja und nein – ich meine, er funktioniert nicht immer. Keine Ahnung, warum das so ist. Aber wir versuchen es. Und drinnen müssen wir aufpassen, es lauern da ein paar Gefahren ...

Das klang gar nicht gut, fand Michael und fragte sich, welcher Art diese Gefahren waren. Doch Ho schien seine Gedanken zu lesen und sprach weiter.

Als die Entwickler die Alte Welt aufgaben, vergaßen sie ein paar Digs in ihm. Digs sind digitale Geschöpfe wie die Kühe und Schafe, die du vor der Hütte gesehen hast. Murphy, sozusagen der Butler der MindCloud, trägt Sorge dafür, dass alles seinen geregelten Gang hier geht – das schließt die Digs mit ein. Weißt Du, Murphy ist so ein typischer englischer Butler, sehr korrekt, sehr genau, sehr perfekt. Er kann sehr sauer werden, wenn etwas oder jemand seine Ordnung, die auch die Ordnung der MindCloud ist, stört. Im Grunde ist er der größte Langeweiler aller Welten – sein Perfektions-Anspruch und seine Korrektheit können einem tierisch auf die Nüsse gehen.

Ja, das hatte Michael auch schon feststellen dürfen. Ho fuhr fort.

Einige der Digs, die in der Alten Welt hausen, dürfen unter keinen Umständen in die MindCloud gelangen. Ihre Bösartigkeit könnte die gesamte Cloud gefährden. Sie unterliegen anderen Algorithmen und sind mit ihr nicht kompatibel. Sie könnten die MindCloud zerstören.

Michael wunderte sich: Und warum werden sie nicht einfach von den Entwicklern gelöscht?

Ho schnaubte: Weil sie es nicht können! Die Backups der Systemdateien der Alten Welt wurden vor einiger Zeit durch einen dummen Zufall gelöscht. Kurz gesagt, die Entwickler haben keinen Zugriff mehr auf die Alte Welt. Sie haben es mit den tollsten Tricks versucht, aber es nicht geschafft. Die Digs da drinnen musst Du Dir vorstellen wie die Überreste eines Experiments mit tödlichen Viren. Eigentlich wolltest Du ein Impfserum gegen eine tödliche Krankheit entwickeln, dann versagt aufgrund eines Stromausfalls in Folge eines Gewitters die Klimaanlage Deines Labors – und das am Karfreitag vor dem Osterwochenende. Ein Glasbehälter platzt, Viren werden freigesetzt und mutieren bis Ostermontag. Sie können aber nicht aus der schleusen-bewehrten Kammer heraus. Als die Forscher am Dienstag nach Ostern zurückkommen, schlägt das Alarmsystem an und hält alle Schleusen geschlossen. Sie versuchen durch verschiedene Maßnahmen, die freigesetzten Viren innen abzutöten, aber weder extreme Hitze noch Kälte vernichten sie. Also ziehen sie irgendwann einen gewaltigen Elektrozaun um das Gelände, lassen eine Kontrolleinheit der Armee zurück und forschen in einem anderen Labor weiter.

Und das, wollte Michael wissen, ist so ähnlich hier passiert?

Ja, es sind halt keine Viren, sondern eben Digs. Einige sind zwar extrem hässlich, aber völlig harmlos. Andere hingegen, Ho wiegte seinen Kopf mit dem hochstehenden Iro hin und her, sind sehr böse, gefährlich und auf eine bestimmte Weise eben auch tödlich.

Sie können mich löschen, vollendete Michael seinen Gedanken. Ho nickte.

Jo, genau, Mann. Aber wie schon gesagt, es ist sehr unwahrscheinlich, dass wir überhaupt einen treffen – und dann auch noch einen extrem gefährlichen. So viele gibt’s da drinnen nicht. Und das Gelände ist groß.

Wieso beruhigten ihn diese Sätze nicht? Im Gegenteil, sie versetzten ihn geradezu in lähmende Angst. Was, wenn er von einem solchen paranoiden Digs-Dings gelöscht wurde. Ex und hopp! Er hatte sich noch nicht in dieser bizarren Welt, dieser MindCloud, zurecht gefunden, hatte nicht einmal ansatzweise eine Ahnung davon, was mit ihm geschehen war und sollte dann auch noch unwiederbringlich gelöscht werden? Was für eine beschissene Story war das denn. Dazu kam dieses riesengroße Gefühl der Unsicherheit, sich in einer fremden Welt zu bewegen, deren Regeln er leider nicht kannte.

Ho wartete. Wollen wir, Micha? Wir können nicht einfach reinspazieren, aber es gibt einen verborgenen Eingang. Komm!

Er näherte sich einem kleinen Wachhäuschen etwa 30 Meter neben dem Haupteingang mit seinem geschwungenen Bogen. Das Häuschen war denen sehr ähnlich, die man vom Buckingham Palast in London her kannte. Vor dem Häuschen war auch ein ziemlich lebensechter britischer Gardist mit roter Uniform und diesem lächerlichen turmartigen Fellhut postiert. Als Ho an ihm vorbeihuschte und im Häuschen verschwand, machte der Wachmann allerdings keinerlei Anstalten, ihn aufzuhalten. Genau genommen, machte der Gardist überhaupt nichts. Michael ging langsam an ihm vorbei und schaute ihm ins Gesicht. Wirklich extrem realistisch, musste er anerkennen. Ein bisschen wie eine Figur aus dem Wachsfigurenkabinett. Er folgte Ho in das Häuschen. Dieser war anscheinend einfach durch die Rückwand gegangen. Ohne Körper sollte das für Michael auch kein Problem darstellen. Gar nicht so unpraktisch, dachte er überrascht – und fühlte sich für einen Moment lang wie ein klassischer Geist. Bitterkeit mischte sich in diesen Gedanken. War er nicht genau das? Ein digitaler Geist? Dann war er auf der anderen Seite. Er war in der Alten Welt! Und verharrte geschockt bei dem Anblick, der sich ihm bot. Ho grinste ihn an.

Irre, was?

MiNU

Als die Mitarbeiter des K.I.T. gegangen waren, bat Trager Mitch, noch etwas zu bleiben, „für ein weiterführendes Gespräch“. Mitch war nach diesen Demonstrationen im MiNU-Center mehr als neugierig und zögerte keine Sekunde. In seinem Gehirn arbeitete es auf Hochtouren, seine Neurotransmitter hatten eine Menge zu tun. Sie waren zusammen mit Brettschneider in einen anderen Raum tief unter der Halle des MiNU gegangen. Ein gemütlicher Besprechungssaal mit komfortablen dünn gepolsterten Stahlrohr-Sesseln. In der Mitte ein schnörkelloser Glastisch. Es war zugleich gemütlich wie auch professionell – so als ob nichts den Besucher ablenken sollte, ohne auf einen gewissen Komfort zu verzichten. Sich wohl fühlen, aber konzentriert sein können – genauso empfand Mitch diesen Raum. An den weißen Wänden hingen wenige große Hochglanzfotos. Es waren Screenshots von Computer-Simulationen, Modelle von extrem vergrößerten Synapsen, Transmittern, Nervenzellen. Sie strahlten in der Art und Weise, wie sie dargestellt waren, eine ehrfurchtsvolle und zugleich berauschende Ästhetik dar. Und wieder wurde Mitch mit einem Schlag klar, welch’ unglaubliches Meisterwerk das menschliche Gehirn doch war. Wie war die Evolution in der Lage gewesen, etwas dermaßen Komplexes, etwas dermaßen Ausgefeiltes zu entwickeln? Gut, jeder, der sich mit dieser Materie beschäftigte, wusste um den Faktor Zeit. Hunderte Millionen Jahre war eine extrem lange Zeitspanne. Die Prüfungsfahrt zur Führerscheinprüfung kam jedem Teilnehmer wie eine halbe Ewigkeit vor – und das war nicht einmal eine Stunde! Wahrscheinlich lagen diese enormen Zeitdimensionen doch weit außerhalb der menschlichen Vorstellungskraft. Trotzdem war das Gehirn, das jedem Menschen naturgemäß so nah war, noch immer ein Mysterium. Doch Wissenschaftler hatten sich daran gemacht, dieses Geheimnis zu entschlüsseln. Und MiNU war diesem Ziel anscheinend ziemlich nah gekommen. Mitch war auf das Gespräch mit Leif Trager und Alexander Brettschneider mehr als gespannt. Und ebenso darauf, was die beiden mit ihm genau vorhatten. Denn wenn sie ihm tiefe Einblicke in das „Programm“ von MiNU gäben, wäre das sicherlich nicht für umsonst – das war Mitch sonnenklar. Sie hatten Platz genommen. Noch einmal öffnete sich die Tür und eine schlanke, schwarz gekleidete Frau trat ein. Es gab einen kurzen Stich, als Mitch sie ansah. Valery Bernstein, die Assistentin Tragers, mit der er sich in dem Café in Altona getroffen hatte und die ihn hierher eingeladen hatte. Es war ihr Lächeln, das ihn für einen winzigen Moment verunsicherte. So, als verbargen sie beide ein Geheimnis vor der Welt, obwohl Mitch keinerlei Ahnung hatte, welches Geheimnis das sein sollte. Leif Trager stand auf und gab Valery die Hand, die dann Mitch begrüßte und zum Schluss kurz zu Brettschneider nickte. Trager ergriff das Wort.

„Lieber Mitch, also erstmal der Form wegen: Valery kennen sie bereits, genau wie Alex Brettschneider. Der Einfachheit halber würde ich sie alle bitten, dass wir uns mit den Vornamen ansprechen. Wir sind ja ein junges IT-Start-Up, wenn auch eine Non-Profit-Organisation, da gehört sich einfach ein etwas ungezwungener Ton, finde ich. Irgendwelche Einwände?“

Er hatte sich beim Reden gesetzt und strahlte alle mit einem entwaffnenden Lächeln an. Dieses Lächeln bedeutete gleichzeitig, dass sein Vorschlag eher einer Handlungsanweisung gleichkam und Widerspruch gar nicht erst einkalkuliert war. Nun, Mitch war es recht – er war es auch nicht anders gewohnt. Leif lächelte noch immer.

„Na, dann sind ja die Formalitäten geklärt. Also, lieber Alex, das ist Mitch, eines der größten Superhirne unserer Zeit und, Valery, ihr habt euch ja schon einmal getroffen. Dann können wir ja loslegen“ – und an Valery gewandt – „bitte sehr, Val, du darfst anfangen.“

Valery setzte sich aufrecht und konzentrierte sich einen kurzen Augenblick.

„Mitch, was sie hier gesehen und gehört haben, die Vorstellung von Steven, der kleine Versuch mit der Kollegin vom K.I.T. – das ist ein Teil unserer Arbeit. Es läuft unter dem Motto Wissen für alle. Es ist uns klar, und das wird ja auch draußen bereits seit einiger Zeit diskutiert, dass solches Implantieren von Wissen, wenn es Standard wird, geregelt sein muss. Es muss verbindliche ethische Regeln und Normen geben, in welchen Rahmen das passieren soll. Doch das ist der zweite Schritt. Während draußen bereits die Ethik-Diskussion geführt wird über etwas, dass selbst den meisten Forschern noch wie nähere oder fernere Zukunftsmusik erscheint, ist MiNU an einem Punkt angelangt, die Erinnerung des Gehirns zu manipulieren – und zwar durch verschiedene Techniken, die allesamt eine Verknüpfung des Digitalen mit dem menschlichen Denken bedeuten. Alex erklärt ihnen sicher gern die Details, allerdings nimmt das einige Zeit in Anspruch.“

Wieder lächelte sie ihr dezentes Lächeln. Leif wischte mit seiner rechten Hand durch die Luft.

„Liebe Val, du stapelst mal wieder sehr tief“ – und an Mitch gewandt – „Val könnte ihnen die Details in einem Monolog ohne Atem zu holen darbieten. Sie ist sozusagen eine geborene IT-Spezialistin. Ihren ersten autonomen Roboter hat sie mit acht Jahren konstruiert, zusammengebaut und anschließend programmiert.“

Mitch war beeindruckt. Stille Wasser sind eben immer noch tief, Digitalisierung hin oder her, dachte er. Einen kurzen Moment lang herrschte Stille. Dann ergriff Alexander das Wort:

„Mitch, das Wissen der Welt und die ganze Sache mit der Implementierung ist eine Seite unserer Arbeit – zugegeben eine ziemlich wichtige und nun wohl auch erfolgreiche. Aber“, fuhr Alex fort, „MiNU hat noch andere Eisen im Feuer, um es mal salopp auszudrücken. Bereits 2013 fand in den USA ein Zukunftswelt-Kongress 2045 statt. Zahlreiche namhafte Zukunftswissenschaftler und bekennende Transhumanisten diskutierten da unter anderem über das Simulieren eines künstlichen Gehirns mit allen Funktionen, die einem menschlichen Gehirn ähnlich sind, diesem aber um Längen überlegen ist. Nach dem Moore’schen Gesetz verdoppelt sich die Computerleistung alle zwei Jahre – etwa im Jahr 2045, so die einhellige Meinung, müsste die Rechenleistung dann ausreichen, ein menschliches Gehirn digital zu erschaffen.“

Mitch hörte gebannt zu. Das war sein Feld, seine Gedanken jagten.

„Ich habe von dem Kongress gelesen, war selbst aber nicht dort. Da habe ich“ – und er lachte leise – „noch Rezepte aufgeschrieben.“ Er musste unwillkürlich an Josy denken – seine Foodbloggerin, die ihn damals über Wasser gehalten hatte. Verdammt, ich muss mich mal wieder bei ihr melden, dachte er kurz. Er fuhr fort:

„Ray Kurzweil von Google war einer der Hauptredner, meine ich mich zu erinnern. Er hat die These von 2045 in die Welt geworfen, oder?“

Alex Brettschneider nickte zustimmend.

„Genau. Finanziert wurde dieser Zukunftskongress von einem russischen Multi-Millionär namens Dimitry Itskov, der überzeugter Transhumanist ist. Es war eine obskure Mischung aus ernsthaften, anerkannten Wissenschaftlern, spirituellen Führern und weniger anerkannten Zukunfts-Sehern, um es mal einigermaßen wertneutral auszudrücken. Der zentrale Zukunftsgedanke dahinter lautet, dass es irgendwann möglich sein sollte, ein digitales Abbild, eine Kopie eines Gehirns in eine sogenannte MindCloud hochzuladen.“

Nun mischte sich Leif Trager wieder ein, der in gespannter Körperhaltung in seinem Sessel nach vorn rutschte.

„Auf dieser unglaublichen Konferenz hielt ein CEO einer Biotech-Company einen provokativen Vortrag mit dem Titel Der Zweck der Biotechnologie ist das Ende des Todes. Martine Rothblatt sprach dort von MindClones, digitalen Versionen des Menschen, die ewig leben könnten. Vereinfacht ausgedrückt, sind das Persönlichkeits-Profile wie wir es von Facebook oder LinkedIn kennen, nur eben unendlich komplexer und vielschichtiger. Aufgrund der erhöhten Rechenleistung nach eben dem Moore’schen Gesetz sollte der Zeitpunkt, zu dem wir in der Lage sein sollten, solche Mindfiles anzulegen und hochzuladen, um die Mitte dieses Jahrhunderts liegen.“

Natürlich kannte Mitch diese Diskussionen, auch die kritischen Stimmen, die meinten, man könne niemals das Wesen eines Menschen digitalisieren und irgendwo digital speichern. Dazu kamen dann sehr profunde philosophische Fragen, die sogar die Medizin tangierten: Wo befand sich denn eigentlich die Seele eines Menschen? Denn diese mache doch einen Menschen hauptsächlich aus, argumentierten die Kritiker. Und – was war die Seele überhaupt? Viele Transhumanisten waren da weniger esoterisch unterwegs und behaupteten, dass derjenige, der alle neuronalen Vorgänge und Abspeicherungen eines Gehirns digital abbilden konnte, eben auch eine digitale Kopie eines menschlichen Geist-Wesens anfertigen könnte. Und plötzlich begriff Mitch, warum er wirklich hier war. Selbst die kühnsten Transhumanisten rechneten nicht vor 2045 mit einer Möglichkeit des Mindclonings. Er sah Val, Leif und Alex nacheinander kurz an und flüsterte:

„Sie haben es bereits jetzt geschafft – MiNU ist in der Lage, ein Gehirn zu klonen, zu digitalisieren und abzuspeichern – unabhängig von dem Ursprungs-Gehirn.“

Noch während er das aussprach, lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter; er spürte, wie ihm das Atmen schwerer fiel. Die Erkenntnis hatte ihn so hart getroffen, dass er fürchtete, ohnmächtig zu werden. „Mein Gott!“, entfuhr es ihm leise.

Trager nickte ganz sanft.

„Ja, Mitch – das haben wir.“

Sie hatten sich noch eine Weile unterhalten, doch Mitch war irgendwie nicht mehr voll bei der Sache. Zu sehr hatte ihn die Erkenntnis umgeworfen, wozu MiNU anscheinend in der Lage war. Als er sich verabschiedet hatte und von Val nach oben gebracht worden war, blieben Brettschneider und Trager allein in dem Konferenzraum zurück. Beide schwiegen eine Weile, als müssten sie sich selbst noch einmal vergegenwärtigen, wie weit sie bereits gekommen waren. Dann räusperte sich Brettschneider, sah Trager vorsichtig an und fing an zu sprechen.

„Wir können so nicht weitermachen – es entwickelt sich rasant weiter ohne unser Zutun. Es wird gefährlich, glaube ich.“

„Du siehst es als gefährlich an? Du bist der geistige Vater dieser neuen Welt, dieser MindCloud! Alex, du musst das in den Griff bekommen. Unsere MindCloud ist wahrscheinlich die unglaublichste Erfindung in der Geschichte der Menschheit – die kannst du nicht einfach abschalten und dann nach Hause gehen. Wir finden eine Lösung – zusammen.“

Brettschneider war niedergeschlagen. Die Worte seines Chefs kamen ihm wie Durchhalteparolen vor. Brettschneiders Urgroßvater hatte die Einkesselung Stalingrads überlebt. Auch dieser hatte unter Durchhalte-Parolen des faschistischen Unrechtregimes gelitten. Sie hätten ihn und die anderen Eingeschlossenen fast verrückt gemacht, weil sie alle ganz genau wussten, dass es gottverdammte Lügen gewesen waren. Sie hatten den Tod vor Augen und sein Großvater hatte sich manches Mal gewünscht, es möge endlich, endlich vorbei sein, aber für ihn war es nie vorbei gewesen. Sein ganzes Leben hatte ihn dieser Kessel, dieser Krieg verfolgt, bis in alle Träume und bis in die Gedanken der Tage. Brettschneider fühlte, dass er ebenso ohnmächtig war. Sie waren dieser Herausforderung ihrer eigenen MindCloud nicht gewachsen, das wusste er mehr als er ahnte. Gleichzeitig war da ein bohrender Schmerz. Sie waren so weit gekommen. Leif Trager hatte recht: Sie konnten das jetzt nicht einfach abschalten wie einen Fernseher – nur weil das Programm etwas unangenehm wurde. Doch er spürte auch diese kalte Gefahr, die von der MindCloud ausging. Etwas Unkontrollierbares. Eine autonome Entwicklung, die sich aktiv ihrer Beherrschung zu entziehen versuchte. Leif schaute ihn skeptisch an.

„Okay, Alex, wir gehen alles nochmal durch, wir checken unsere Kontroll- und Eingriffsmechanismen. Wir finden eine Lösung, versprochen.“

Damit war er für heute entlassen. Es war spät geworden, die meisten Mitarbeiter des MiNU waren schon gegangen. Als Alexander Brettschneider wenig später in die kühle Abendluft trat, atmete er auf dem Parkplatz erst einmal tief durch. Sie würden die Kontrolle behalten. Sie mussten das schaffen. Sie standen vor einem digitalen Quantensprung; den durften sie jetzt auf der Zielgerade nicht vermasseln. Er stieg in seinen mit zusätzlicher Elektronik vollgestopften Tesla S und rollte surrend vom Parkplatz.

K.I.T.

Auf dem Computer-Display tanzten verschiedene, sehr einfach cartoon-haft gezeichnete Personen herum, fast wie Schablonen. Lediglich die Gesichter waren echte Fotos, aber eben wie ein Bild ohne Bewegung. Sie erkannten Maybrit, die da ungelenk tanzte, auch Magnus und Thilo, Mitch und etliche andere Personen, deren Gesichter sie nicht kannten. Dann wurde von links eine Art Guillotine, gezeichnet im Comic-Stil, hineingeschoben. Zuerst sprang Maybrit hinein und wurde geköpft, dann die übrigen, einer nach dem anderen. Ihre Köpfe fielen in eine große Wanne, auf der „scum“ geschrieben war – Abschaum. Maybrit musste schlucken, ihr war schlecht. Auch den anderen ging es nicht viel besser. Normalerweise war ihre Ermittlungsarbeit eher abstrakter Natur. Kaum einmal bekamen sie direkt mit, welche polizeilichen Aktionen auf ihre Recherchen hin folgten. Sie waren die IT-Strategen im Hintergrund, die den aktiven Polizeieinheiten zuarbeiteten. Wenn sie außerhalb ihres Büros ermittelten, dann oft in Rechenzentren, bei Dienstleistern oder bei IT-Einheiten großer Konzerne. Die Spezialisten des K.I.T. trugen normalerweise keine Waffen und keine Handschellen, obwohl sie alle ausgebildete Spezialkräfte waren. Thilo war sogar Sprengstoff-Experte. Maybrit war eine der besten Schützinnen der Hamburger Polizei und nahm regelmäßig an Wettkämpfen teil, die sie meist gewann. Auch Magnus war gut ausgebildet. Seine Stärke war der waffenlose Nahkampf – bereits als Kind und Jugendlicher trainierte er Kung Fu und Wing Tsun. Doch bisher standen sie niemals unmittelbar vor den Zielen ihrer Ermittlungen. Das war nun mit einem Schlag anders geworden. Weitere Köpfe rollten in die Wanne.

Dr. Benz schnaubte laut.

„Also das ist jetzt ja wohl der Hammer! Der spielt nicht Katz und Maus, der verarscht uns nach Strich und Faden. Herzberger! In mein Büro. Krisensitzung. Ich informiere den Innensenator. Wir stellen sofort eine Soko Prometheus auf, die ich persönlich leite. Heute nachmittag große Konferenz mit den beteiligten Abteilungen im Konfi A II um 16 Uhr!“

Dann rauschte er ab. Er hinterließ ein schweigendes Team des K.I.T. Magnus legte eine Hand auf Maybrits Schulter.

„Maybrit, lass dich nicht schocken. Das ist genau das, was der will. Lass nicht zu, dass sein Plan in dir aufgeht. Es ist ein Fall, in dem wir persönlich ab sofort tiefer stecken als sonst – aber es ist ein Fall“ – und an Thilo gewandt – „ihr beide lasst unsere Prozessoren glühen. Findet heraus, woher dieser Dreck kommt. Noch ist nichts Reales passiert, aber die Drohungen dem Innenminister gegenüber und nun uns – das ist eine ernst zu nehmende Dimension. Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass wir es mit einem pubertierenden Nerd zu tun haben – solange wir das nicht konkret wissen, solange wir Prometheus nicht identifizieren, behandeln wir diese Angelegenheit als reale Bedrohung von Menschenleben in der Wirklichkeit. Aber ich denke, das muss ich euch nicht extra sagen ...“

Maybrit und Thilo nickten stumm. Nachdem Magnus den Raum verlassen hatte, um sich auf den Weg zu Dr. Benz’ Büro zu machen, setzten sich Maybrit und Thilo erst einmal zusammen.

„Kaffee?“, fragte Thilo und Maybrit nickte dankbar. Als er mit zwei Bechern wiederkam, begannen sie zu erörtern, auf welche Weise sie Prometheus im Netz stellen konnten. Maybrit würde sich auf die Suche nach seinem Aufenhalt machen, Thilo das Netz auf Hinweise auf ihn durchforsten. Maybrit war Thilo dankbar, dass er nicht weiter darauf einging, warum sie auf einer Datingplattform unterwegs war. Die Jagd auf Prometheus hatte begonnen. Maybrit fühlte sich schon wieder besser, als sie ihre digitalen Suchhunde von der Leine ließ.

„So, du Arschloch, jetzt sind wir am Zug“, zischte sie leise in Richtung ihres Computers, während ihre Finger über die Tastatur fegten.

„Wir kriegen dich!“

Marie

Die Nachricht auf ihrem Smartphone war von Tom:

„Ich sende euch ganz viel Kraft! Wenn ich doch nur mehr für euch tun könnte. Marie: Wenn du zurück bist, bitte melde dich, ich habe da was auf Michas Rechner gefunden. Alles Liebe, Tom“

Sie schaute wieder nach vorn ins Kirchenschiff. Sie wollte jetzt nicht antworten. Wie sah das aus? Die trauernde Witwe whatsappt noch in der Kirche, während sie über den Hergang der Katastrophe informiert wird, die ihren Mann das Leben kostete. Nein, auch wenn sie neugierig war, was Tom gefunden hatte – das musste jetzt warten. Sie starrte auf einen blutenden Jesus am Kreuz. Sein leidender Blick traf ihren. Gleich wachte sie auf und alles war ein böser Traum gewesen. Nur kurz dieser Gedanke, der im nächsten Augenblick zerstob. Plötzlich standen alle auf; Marie hatte gar nicht mitbekommen, was jetzt angesagt war. Hannah und sie reihten sich in die Prozession der Herausgehenden ein und verließen zusammen mit ihnen die Kirche. Draußen wurden sie von Helfern erwartet, die sie zu den bereit stehenden Bussen geleiteten. Den Wortfetzen um sie herum entnahm sie, dass es nun in die Nähe der Unglücksstelle gehen sollte. Michaels Flugzeug war nach der Kollision mit einer kleineren Miltitärmaschine wohl auseinander-gebrochen und in die Bergwelt der Eifel gestürzt. Genauer auf der Hochebene Zitterwald, einer dünn besiedelten Region im deutsch-belgischen Grenzgebiet. In Stadtkyll an einem grünen Hügel stoppten die Busse. Das THW hatte große Zelte aufgestellt. Es war ein warmer Herbsttag Mitte September, die ersten Blätter verfärbten sich an den Bäumen und die Aussicht wäre phänomenal gewesen, wären sie aus einem anderen Anlass hier. Irgendwo dort einige Kilometer entfernt Richtung Nordwesten lagen die Trümmerteile der Maschinen – weit verstreut über das bewaldete Gebiet des Zitterwalds. Was für ein passender Name, dachte Marie sarkastisch. Abgestürzt im Zitterwald ...

Eine korpulente, kleine Frau um die 60, die neben ihr stand, sprach Marie an.

„Wen haben sie verloren?“

Marie schaute in Richtung des Zitterwalds.

„Meinen Mann“, sagte sie leise.

„Ich auch“, sprach die Frau. „Vergangenes Jahr starb unsere einzige Tochter bei einem Autounfall. Meine Eltern und die meines Mannes sind schon länger tot“ – sie schnaufte schwer.

„Wissen sie, jetzt habe ich niemanden mehr. Ich wünschte, ich hätte zusammen mit Johannes in diesem beschissenen Flugzeug gesessen“ – sie sprach die Sätze mit einer tiefen Bitterkeit aus. Dann wandte sie sich wieder ab. Marie fragte nichts nach – was gab es da noch zu sagen? Herzliches Beileid? Nein, da war Schweigen besser. Sie dachte trotzdem über die Worte dieser fremden Frau nach. Sie legte vorsichtig einen Arm um Hannahs Schultern. Hannah unternahm keinerlei Abwehrreaktion und ließ es geschehen – mehr noch, sie drängte sich ganz vorsichtig an ihre Mutter. Schließlich verbarg sie ihr Gesicht unter Maries Kopf und begann ganz leise zu weinen. Marie spürte das Zittern im Körper ihrer Tochter, ihr Schluchzen. Sie umarmte Hannah fester. So standen beide da und gaben sich endlich den Halt, den beide so dringend benötigten. Die Menschen um sie herum verschwanden, der Ort und der Zitterwald. Sie waren nur sie beide, eingesponnen in einen Kokon der Zuneigung und Liebe. Auch Marie liefen Tränen übers Gesicht. Sie waren nicht mehr tonnenschwer, sondern brachten ihr Erleichterung. Die arme Frau, dachte sie ganz kurz, sie hatte niemanden mehr zum gemeinsamen Trauern. Doch der Geruch von Hannahs Haar und ihr warmer Körper, der nun dicht an sie gepresst war, ließen diese Gedanken verwehen. Sie hatten immerhin noch sich. So standen sie da, wie lange, hätte Marie nicht sagen können. Irgendwann bewegte sich die Gruppe wieder auf die Busse zu, Marie und Hannah folgten, noch immer fest umschlungen. Erstaunt musste Marie feststellen, dass es Hannah war, die ihr neue Kraft gab. Oder gaben sie sich gegenseitig Kraft? Es tat auf jeden Fall so ungeheuer gut, Hannah an ihrer Seite zu wissen – nicht mehr abweisend und fern, sondern wieder ganz nah, ganz dicht bei ihr. Sie betraten den Bus und setzten sich nebeneinander, ihre Köpfe aneinandergeschmiegt. Dann ging es nach Bonn.

Niemandsland

Es blinkte, es sirrte, überall flackerten Lichter, Karussells drehten sich langsam und schnell, Jahrmarktmusik dröhnte von allen Seiten. Michael spürte einen Stich. Wie ein Riss in der Seelenerinnerung, so kam es ihm vor. Plötzlich fühlte er wieder wie ein Kind. Das Kind, das er einmal gewesen war. Dieser ganze Trubel brach über ihm herein, gleichzeitig wurde er unsagbar traurig. Warum ist alles immer nur Vergangenheit? In die Zukunft wird bangen Blickes geschaut. Was passiert mit dem eigenen Leben, was mit dem deiner Nächsten? Was passiert in und mit der Welt? Mit irren Präsidenten, einer vor Geld und Glitter blinden Elite? Mit der Natur, die der Mensch zugrunde richtet? Es ist allein die Vergangenheit, die die Gegenwart formt und überhaupt erst zum Leben erweckt, stellte Michael plötzlich ganz unspektakulär fest. Ich weiß, dass ich nichts weiß – nie vorher war ihm dieser grundphilosophische Spruch so wahr, so unumstößlich vorgekommen.

Hereinspaziert in die gute Laune! Hier ist Lachen Gesetz!

Ho hatte sich vor Michael aufgebaut, die Hände in den Himmel gehoben und schrie diese Sätze gegen den Lärm um sie herum an. Gute Laune? Michael hätte gern gegrinst. Konnte er aber nicht. Um sie herum lärmte die Kirmes und es leuchtete in allen Ecken und Winkeln. Es war fast perfekt, wie in Michaels Erinnerung, nur eines fehlte: Menschen! Die Kirmes spielte und dröhnte, aber es klang und sah aus wie ein Horrorkabinett. Hatte Ho nicht von diesen komischen Digs gesprochen? Von gefährlichen, die ihn löschen, also töten konnten? Michael hatte null Vorstellung von diesen Digs. Wie konnte er erkennen, ob eines gefährlich war? Wie konnte er überhaupt eines erkennen? Doch Ho hatte gesagt, dass er es sofort wüsste, wenn ihm ein Digs gegenüberstand. Die Frage war nur: War es dann nicht zu spät zum Reagieren? Ho und er gingen langsam die Kirmesroute ab. Michael blieb plötzlich wie angewurzelt stehen. Vor ihm lag eine Autoscooterbahn. Die Wagen mit ihren großen Gummipolstern fuhren umher, es wurde gehupt, rückwärts gefahren, beschleunigt – nur saß niemand in den Scootern. Eine Mikrofon-Stimme rief laut mit dunklem Ton in das Zelt: Na, wollt ihr nochmal? Heiße Reifen, heiße Bräute, heiße Rennen – wer hier keinen Spaß hat, ist ein Spielverderber!

Michael stand vor den Autoscootern und nun brannte es sich fast in seine Gedanken. Damals, als er 14 gewesen war, war der Autoscooter seine Leidenschaft gewesen. Die anderen Jahrmarkt-Karussels interessierten ihn nicht. Die super schnellen Schleudersitze, die sich wie wild um sich selbst drehten, um aus wenig Einsatz großen Verwirbelungsnutzen zu ziehen – die mochte er nicht. Er hatte keine Kontrolle über sie, wahrscheinlich war es das, was ihn abstieß. Beim Autoscooter konnte er lenken, ausweichen, bremsen und attackieren – so wie er es wollte. Michael sah sich plötzlich als 14-jährigen wieder vor sich: Wie der Michi da vor zigtausenden Jahren vor der Autoscooter-Halle herumdruckst, bis er endlich den ersten Chip kauft und den schließlich in den Schlitz neben dem Steuerrad steckt. Wie der Scooter einmal zusammenzuckt, als hätte er einen Elektroschock verabreicht bekommen. Und dann sirrt er los, hinein ins Getümmel. Auf den ersten Fahrten war es Michael vor allem darum gegangen, diese Maschine unter Kontrolle zu bekommen. Das war relativ einfach gewesen. Anschließend ging es darum, das Interesse möglichst attraktiver Mädchen auf einen zu lenken – durch Scooter-Manöver. Auch das war ziemlich einfach. Man raste auf einen Scooter zu, bis man das Angst-Weiß in den Augen der Mädchen sah, bremste dann nonchalant ab, als sei es das Selbstverständlichste der Welt und gab mit einer huldigenden Handgeste den Weg frei. Herrlich! So einfach! Irgendwann traf man sich hoffentlich außerhalb der Scooterbahn wieder, am Popcorn-Stand, vor der Geisterbahn, bei den Pommes. Auf jeden Fall hatte Michi ein ganz fettes Brett am Start, denn er hatte die Mädels ja vor der Total-Carambolage bewahrt. Wenn er so ehrlich daran zurück dachte, so richtig weiter gebracht hatte ihn diese Methode aber dann auch nicht.

Hier fuhren die Scooter ohne Menschen, Frauen, Jungen, Mädchen, Männer. Sie fuhren Unheil verkündend allein ohne Lenker durch die Bahn und Michael fragte sich, ob das so in Ordnung war. Dann steuerte ein Scooter direkt auf ihn zu. Er hatte die typischen eckigen Scheinwerfer, die markante Führung der Gummi-Polster und die metallisch glitzernde Farbe, wie sie ein Autoscooter eben haben musste. Er blieb vor ihm stehen, schaute ihn mit seinen Leuchten auffordernd an. Na? Eine Fahrt? Nur wir beide?

Michael konnte nicht anders. Wenn alles, wirklich alles um sie herum so total verrückt war, so abwegig, so realitätsfremd, dann konnte er, verdammt noch mal, doch in diesen Scheiß-Scooter steigen und endlich losfahren. Und genau das tat er. Er stieg in den Scooter und bewegte das Gaspedal. Aber so sehr er auch schaute, seinen Fuß, der das Pedal nach unten drückte, den konnte er nicht sehen. Scheiß Metaphysik, dachte er noch kurz – und fuhr los.

Maybrit

Alexander Brettschneider hatte ihr eine Nachricht auf ihr Mobiltelefon gesendet. Er bat um ein Treffen – eher privater Natur – wie er betonte. Auch das „eher“ war betont. Maybrit wollte vertrautes Terrain – sie wählte ein thailändisches Restaurant, in dem sie öfters verkehrte und wo man sie kannte. Seit diesem Promotheus-Scheiß litt sie ja schon fast an Verfolgungswahn, so kam es ihr zumindest vor. Es war skurril – sie wusste, da draußen lief ein Irrer herum, der sich Prometheus nannte und sich definitiv als besser, als höher gestellt einschätzte als seine Mitmenschen – und sie war eines seiner Ziele. So etwas kannte sie sonst nur aus dem Tatort oder Thrillern: Dass eine vollkommen abstrakte Situation jemanden unmittelbar betraf und tangierte. Ja, dass sie sogar mit ihrem Leben zu tun hatte. War nicht das eigene, persönliche Leben das Unmittelbarste, was jede und jeder hatte? Mal abgesehen von Fantasien von Leben nach dem Tod, von denen Maybrit so viel hielt wie von einem Maikäfer im Januar, war doch das eigene Leben das absolute Zentrum des persönlichen Seins. War es zu Ende, war alles zu Ende. Der Tod des Einzelnen löschte eine ganze Welt aus. Jegliche Querverbindungen, die eine Person in seinem Leben aufgebaut hatte, wurden vernichtet im Augenblick seines Todes. Bestand nicht jede Welt nur aus dem Bewusstsein eines jeden Einzelnen? Oder anders: Gab es die eine Welt überhaupt? Nein, natürlich nicht, musste Maybrit sich eingestehen. Es gab ja keine übergeordnete Instanz, die Leben bewertete – wie auch immer. Tatsächlich offenbarte sich das Leben aus den Sichtweisen und Einstellungen der Milliarden von Menschen, die zeitgleich die Erde bewohnten. Aber was bedeutete das für den Einzelnen? Nichts weiter, als das es eine Wahrheit, zwei Wahrheiten, tausend Wahrheiten gab – alle gleichberechtigt nebeneinander – im günstigen Fall. In Wahrheit bestimmten nur wenige Individuen, wo es hin gehen sollte auf der Welt. Ihre Währungen, um das zu kaufen, was ihnen wichtig erschien, waren Geld, Aktien, Einfluss und damit letztendlich Macht.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752144406
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Mai)
Schlagworte
Wissenschaftsthriller Mindclone MindUploading Unsterblichkeit Mindcloud Science Thriller

Autor

  • Rainer Korn (Autor:in)

Rainer Korns Motto: Wenn man schon eine große Geschichte erzählt, dann sollte sie auch spannend und packend sein. Rainer Korn, geboren 1966 in Hamburg, studierte Politische Wissenschaften und absolvierte später ein Volontariat im Top Special Verlag/Springer AG. Als Journalist hat er gelernt, mit Worten umzugehen – seine Geschichten handeln von kuriosen, spannenden sowie interessanten Zusammenhängen und Personen. Rainer Korn schreibt das, was er selbst auch am liebsten lesen würde.
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Titel: OUT: Willkommen in der Unsterblichkeit