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Notlandung in Mumbai

von Patricia Anderegg (Autor:in)
283 Seiten

Zusammenfassung

Der arrogante Felix von Gunten ist Finanzchef der Palm Oil Gesellschaft in Zürich. Obwohl er beruflich und gesellschaftlich in der obersten Liga spielt, ist er unzufrieden und depressiv. In seiner Ehe kriselt es. Seine Verbitterung versucht er in zahlreichen Affären zu ersticken. Und dann muss er an eine Konferenz nach Indonesien reisen. Durch ein Versehen seiner Sekretärin ist er gezwungen, in Economy zu fliegen, statt wie gewohnt in Business-Class. Als er übelgelaunt in Zürich das Flugzeug besteigt, ahnt er nicht, dass diese Reise sein ganzes Leben auf den Kopf stellen wird.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


PROLOG

Ende Juli, irgendwo im Nahen Osten.

Mit unbarmherziger Beharrlichkeit feuerte die Sonne ihre glühenden Lanzen auf die Erde ab, wo sie sich in den aufgeplatzten Boden fraβen. Die niedrigen Sträucher, die sich am Abhang festkrallten, waren nur noch Gerippe aus fahlem Stroh, die ihre ausgedörrten Äste in einem letzten, verzweifelten Aufbäumen gen Himmel streckten.

Stille hatte sich über das Land gelegt. Das Zwitschern der Vögel war verklungen, sie hatten jene ungastliche Stätte seit langem verlassen. Und sogar die stets bis zuletzt ausharrenden Grillen zirpten nicht mehr.

Inmitten der Einöde trotzte ein Feigenbaum der mörderischen Glut. Er trug keine Früchte, aber seine Blätter waren fleischig und von einem unerklärlichen, satten Grün.

Zwei Männer hatten sich in seinem Schatten niedergelassen und blickten auf das tief unter ihnen liegende Meer. Sie nahmen die Schönheit des türkisfunkelnden Wassers jedoch nicht wahr, zu sehr hingen sie ihren eigenen Gedanken nach.

Von Ferne hätte man sie für Beduinen halten können. Bei näherem Hinschauen erwies sich die Kufiya jedoch als ein Tuch, das sie zum Schutz vor der Sonne lose um ihr Haupt geschlungen hatten.

Der ältere der beiden Männer richtete seinen Blick auf den jüngeren. Dieser hielt seine Augen gesenkt. Geduldig streichelte der Alte seinen Bart. Er ließ seinem Gegenüber genügend Zeit für eine Antwort. Er war sich der Tragweite seiner Handlung bewusst. Die Entscheidung würde dem anderen nicht leichtfallen, vielleicht ihn sogar das Leben kosten, so er gewillt war, die Herausforderung anzunehmen. Immer wieder ließ er eine hervorrutschende Haarsträhne durch die Finger seiner rechten Hand gleiten und wischte sich mit dem ausladenden, linken Ärmel seines knöchellangen Gewandes den Schweiß von der Stirn.

Endlich schaute er zu dem Älteren auf und nickte. Der Greis musste seinen Blick von diesen unendlich traurigen und von Demut erfüllten Augen abwenden, wollte er nicht rückfällig werden und den Gefährten zurückhalten, der auf eine Regung von ihm wartete. Als sie ausblieb, erhob er sich schwerfällig und ergriff seinen Wanderstab.

Da drückte ihm der Alte einen abgegriffenen, ledernen Beutel in die Hand. «Zu gegebener Zeit wirst Du wissen, was du mit dem Inhalt anfangen sollst».

Wortlos verstaute der Jüngere den Beutel in einer Falte seines Thawbs und begab sich auf den holprigen Pfad, der zum Meer führte. Er hatte ihn noch nicht erreicht, als der Alte ihm nachrief: «Aber mach’ es diesmal anders!»
Erstes Kapitel

Der beschwerliche Abstieg zum Meer hatte ihn angestrengt. Er setzte sich in den Sand und sah der untergehenden Sonne nach, deren letzte Strahlen ein kupfernes Band auf das Wasser warfen. Als der Himmel sich rosa färbte und Venus das Hereinbrechen der Nacht ankündigte, begann er über seinen Auftrag nachzudenken: Er wusste noch nicht, wie er die schwierige Aufgabe bewerk­stelligen sollte. Der Alte hatte ihm lediglich geraten, es anders zu machen.

Er nahm das Kopftuch ab, faltete es zusammen, legte sich in den Sand und bettete sein Haupt auf das improvisierte Kopfkissen. Lange blickte er zum Himmel hinauf und suchte in den Sternen nach einem Hinweis für die Herausforderung, der er sich gestellt hatte. Sie waren jedoch zu weit weg, als dass ihr schwaches Licht ihm ein Anzeichen hätte geben können. Aber ihr millionenfaches Funkeln nahm ihm die Anspannung, und das Geräusch der sich sanft brechenden Wellen wiegten ihn in einen traumlosen Schlaf.

Er erwachte im Morgengrauen. Ihn fröstelte es, aber schon bald würde die Sonne die Kühle der Nacht aufsaugen und den Tag in eine unerträgliche Glut verwandeln.

Er erhob sich und schlang die Kufiya um seine Schultern. Er tastete nach der Innentasche seines Gewandes. Der Beutel mit seinem Inhalt war noch da. Erst dann nahm er seinen Wanderstab und machte sich auf den Weg in Richtung Landstraße, die in die nächste Stadt führte.

Er hatte Glück. Der zweite Lastwagen, der zu so früher Stunde unterwegs war, nahm ihn mit. Beim Besteigen der Kabine musste er hungrig ausgesehen haben, denn der Fahrer reichte ihm unaufgefordert die Hälfte seines noch warmen Mazza Brotes.

Der Camion setzte ihn in der Nähe des Suks ab. In einem der Läden tauschte er sein Gewand, den Thawb, gegen ein Paar abgewetzte Jeans und einen weiten Pullover ein. Der Händler wollte ihm unbedingt die schwarzen Schnürschuhe aufschwatzen. Er aber konnte sich nicht vorstellen, in einer anderen Fußbekleidung als seinen Riemensandalen unterwegs zu sein.

In der Nähe des Marktes fand er eine Imbissstube, vor der im Schatten einiger Palmen, zwei rostige Metalltische und vier klapprige Stühle standen. Der Inhaber bot ihm ein Glas süßen Tees an. Er trank in kleinen durstigen Schlucken und bat gleich danach um ein zweites. Der Duft von frischem Brot und dampfendem Tscholent stieg ihm in die Nase. Der Wirt bedachte ihn mit einer großzügigen Portion des Eintopfes, die er heißhungrig verzehrte.

Gestärkt, blieb er noch lange vor der Gaststätte sitzen und sah dem Treiben auf dem Platz vor dem Souk zu. Er hatte seine Jugend in dieser Gegend verbracht, die er heute nicht mehr wiedererkannte.

Sein Magen war gesättigt, nicht aber sein Geist und schon gar nicht seine Seele. Eine innere Unruhe befiel ihn. Er musste Kraft tanken für die Aufgabe, die ihm bevorstand. In diesem, von Feindseligkeiten zerrissenen Raum war er jedoch außer Stande, sie zu erlangen.

Der Alte hat ihm keine Zeitvorgabe gegeben, er hatte ihm nur gesagt, er solle es anders machen. Er hatte von den Kraftorten in schneebedeckten Bergen und grünen Tälern gehört. Es würde eine lange Reise werden, aber dort zog es ihn hin. Dort wollte er genügend Reserven aufbauen, um für seinen Auftrag gewappnet zu sein.

* * *

Seit einer halben Stunde überflogen sie die Plantagen. Palmen, Palmen, nichts als Ölpalmen, und nirgends war der Urwald in Sicht. Endlich erblickte er am Horizont einen dunklen, sattgrünen Streifen. «Ist er das?»

«Ja, das ist er, oder zumindest das, was von ihm übriggeblieben ist», rief der Pilot.

«Und das da?», fragte er und zeigte auf die Rauchschwaden, die aus dem kahlgeschlagenen Boden aufstiegen.

«Das ist Brandrodung. Hier in Indonesien ist sie verboten, weshalb die geschlagenen Bäume nachts abgefackelt werden.»

Der Hubschrauber drehte ab und nahm Kurs auf das, was vor kurzem unberührter Wald gewesen und jetzt nur noch vertrockneter Torfboden war.

«Da, schauen Sie,» rief der Pilot ins Mikrofon und senkte den Helikopter des Typs Robinson R66, bis dieser nur noch wenige Meter über dem Boden schwebte. «Ein Orang-Utan auf einem Baum, der vom Kahlschlag verschont geblieben ist. Er wird verhungern, wie die anderen vor ihm.»

Sie flogen eine Weile schweigend über die trügerische, grüne Weite, bis der Pilot mit seinem Finger auf braune Bäche zeigte, die sich durch die Landschaft schlängelten. «Sie sind mit dem Abfall aus dem Palmöl verseucht. Die Pflanzen brauchen viel Dünger und Insektizide, damit sie ertragreich sind. An die dreihundert Kilo Früchte gibt jede Palme pro Jahr. Das ist braunes Gold, mit dem sich viel Geld machen lässt.»

«Bringen Sie mich zurück zum Flughafen», befahl er dem Piloten.

«Und was ist mit Bungku? Da wollten Sie doch hin und sich vom Landraub an dem Stamm der Batin Sembilan selbst ein Bild machen.»

«Ich habe gesagt, Sie sollen mich zum Flughafen nach Jambi bringen», schrie er. Er nahm die Kopfhörer ab und schloss die Augen. Er wollte die kahlgeschlagenen Böden und den Affen auf dem einzelnen Baum nicht mehr sehen. Und schon gar nicht den aufsteigenden Rauch.

«Wach auf Felix, wach endlich auf.»

Er blickte verständnislos in die besorgten Augen seiner Frau. «Was ist Verena, warum weckst du mich mitten in der Nacht?»

«Du hattest wieder einen Alptraum und hast wild um dich geschlagen und geschrien.»

«Habe ich nicht», murmelte er und kehrte ihr den Rücken zu.

Dieser entsetzliche Traum. Auch in dieser Nacht hatte er ihn heimgesucht, so wie er es seit drei Jahren in regelmäßigen Abständen tat. Er hatte gehofft, der wilde Sex mit seiner Assistentin würde seine Sinne betäuben und ihm einige Stunden traumlosen Schlafs bescheren. Das Gegenteil war jedoch der Fall gewesen. Noch nie hatte er den Rauch aus den Torfböden so intensiv gerochen und das Stöhnen des Urwaldes so deutlich gehört, wie in dieser Nacht. Und in der leichten Brise Indonesiens hatten die Palmblätter seine Wangen liebkost.

Er verfiel in einen unruhigen Schlaf, bis sein altmodischer Wecker ein nerviges Rasseln von sich gab.

Übernächtigt stieg er aus dem Bett. Auf dem Weg in die Dusche, fiel ihm ein, dass er seine Aktenmappe mit den Reiseunterlagen im Büro vergessen hatte. Er kehrte ins Schlafzimmer zurück und zog sich an.

«Ich muss nochmal kurz ins Büro», rief er seiner Frau zu, die ihn kopfschüttelnd ansah.

Marga Vogt stand um halb acht Uhr früh vor dem Büro ihres Vorgesetzten. Sobald sie sich anschickte zu klopfen, durchfuhren sie entsetzliche Krämpfe, die ihr den Atem abschnürten. Sie fürchtete sich vor dem Donnerwetter, das über sie hereinbrechen würde, sobald Felix von Gunten die Reiseunterlagen gesichtet hätte. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass sie am Vor­abend mit ihm im Bett gewesen war und seine erfahrenen und fordernden Hände noch immer auf ihrem Körper spürte.

Sie hätte es ihm gestern Nacht sagen sollen. Dann hätte er im Rausch der Leidenschaft vielleicht für ihr Vergehen Nachsicht gehabt. Sie hatte jedoch die von Trance geschwängerten Stunden nicht trüben wollen und aus diesem Grunde geschwiegen.

Als sie vor vier Jahren die Stelle als Assistentin des Finanzvorstehers der Palm Oil GmbH angetreten hatte, hatte für sie die Devise gegolten: Fange nie etwas mit deinem Chef an, möge er auch noch so gut aussehen.

Bis noch vor drei Monaten war es ihr leichtgefallen, sich an diesen Grundsatz zu halten. Auch schon deshalb, weil Felix von Gunten in ihr nicht die attraktive Frau von zweiunddreißig Jahren gesehen hatte, sondern lediglich ein geschlechtsloses Wesen, das verpflichtet war, eine Fülle von Aufträgen pünktlich und effizient zu erledigen.

Doch eines Tages hatte er sie anders als sonst angesehen. Seine leuchtenden, blauen Augen hatten für eine Zeitlang auf ihrem ebenmäßigen Gesicht mit den braunen Augen, der Stupsnase und dem vollen Mund verweilt, bevor sie zu ihrem wohlgeformten Busen, der schlanken Taille und den langen, in schwarzen Leggins steckenden Beinen hinab gewandert waren. Seine Blicke hatten ihr die Röte ins Gesicht getrieben, und sie hatte sich für das leichte Prickeln in ihrem Unterleib geschämt.

Felix von Gunten war sich der Wirkung seiner eindringlichen Betrachtung bewusst gewesen,

denn ein wissendes und genugtuendes Lächeln hatte seinen schmalen und fein geschwungenen Mund umspielt. Von da an hatten ihre Hände sich immer öfter wie durch Zufall berührt: Bei der Übergabe der Unterschriftenmappe, beim Servieren der Kaffeetasse, die er ihr neuerdings aus der Hand nahm, statt zu warten, bis sie sie auf seinen Schreibtisch stellte, oder bei der Tages­

zeitung, die sie ihm, nicht wie gewohnt, auf den Besprechungstisch legen, sondern ihm persönlich überreichen musste.

Die Vorbereitung auf das Unausweichliche, das von Marga als Produkt ihrer Fantasie abgetan und mehr oder weniger erfolgreich verdrängt worden war, hatte sich über mehrere Wochen hingezogen, bis er sie eines Tages nach Büroschluss gefragt hatte, ob sie mit ihm zu Abend essen wollte.

Sie war verwirrt gewesen, weil das in ihrem Unterbewusstsein Ersehnte so schnell eingetreten war. Sie hatte ihn verlegen angeschaut und kein Wort herausgebracht. Er hatte ihren Blick mit einem Lächeln erwidert, dem sie nicht hatte widerstehen können.

«Ja, gerne», hatte sie geflüstert und rasch ihren Mantel und ihre Handtasche aus dem Garderobenschrank genommen, bevor sie ihm in die Tiefgarage gefolgt war.

Weltmännisch hatte er ihr die Beifahrertür geöffnet und gewartet, bis sie in dem tiefliegenden Sitz seines Sportwagens Platz genommen hatte, und für kurze Zeit hatte sie das berauschende Gefühl gehabt, zu den Schönen und Reichen zu gehören.

Das Restaurant, in das er sie geführt hatte, war ein kleines, aber feines Lokal, abseits vom Trubel der Großstadt.

Nachdem der Kellner ihre Bestellungen notiert hatte – auf Empfehlung des Chefs hatte Marga das Simmentaler Kalbssteak mit Morchel-Rahmsauce genommen – waren Felix’ Finger über ihren Handrücken gestrichen, und sein Blick hatte ihr den kläglichen Rest an Widerstand geraubt, den sie sich während der Fahrt geschworen hatte, nicht aufzugeben.

Nach dem Essen und einigen Gläsern Rotwein waren sie zu ihr gefahren, und von Gunten hatte die Flasche Veuve Clicquot entkorkt, die er aus seiner Manteltasche hervorgezaubert hatte.

Vielleicht war es der Alkohol gewesen, vielleicht aber auch der imponierende Mann im maßgeschneiderten Anzug, der auf ihrem Sofa saß und sein Glas lässig in der Hand hielt, oder beides zusammen, das sie hatte schwach werden lassen. Hatte sie vorher noch versucht, sich seinen Küssen zu entziehen, erwiderte sie diese zunehmend mit immer stärker werdender Leidenschaft. Gleichzeitig hatten sie sich die Kleider vom Leib gerissen und begonnen, sich gegenseitig zu erforschen.

Für Felix war Marga lediglich ein Objekt der Begierde, das ihm seine verlorengegangene Jugend zurückgab. Neben seiner gleichaltrigen Frau fühlte er sich alt und verbraucht. Mit ihrem ergrauten und bieder geschnittenen Haar, ihrem Teint, der durch vernachlässigte Pflege stumpf geworden war, hielt sie ihm den Spiegel des Alterns vor Augen, das bald auch vor ihm nicht Halt machen würde.

Für Marga, hingegen, verkörperte dieser fünfundfünfzigjährige, attraktive Geschäftsmann den Inbegriff eines für unmöglich geglaubten Höhenfluges.

Sie, eine einfache Assistentin wurde plötzlich von einem Mann begehrt, der Erfahrung, Geld, Ansehen und Allüre auf sich vereinte. Neben ihm verblassten ihre vergangenen Beziehungen, in denen bis zu diesem Zeitpunkt immer nur geisttötende Begleiter die Hauptrolle gespielt hatten. Dass Felix von Gunten etwas für sie empfand, auch wenn es letztlich nur Begierde war, erzeugte in Marga eine trügerische Hochstimmung, die sie entgegen ihrer bis anhin währenden Gewissen­haftigkeit, fahrig und unkonzentriert werden ließ.

Aus diesem Zustand heraus, hatte sie die Vorbereitungen für seine Reise nach Jakarta und Jambi auf Sumatra nach Bekanntgabe seiner Pläne erst zwei Tage später in Angriff genommen.

Ihr Müßiggang wurde ihr zum Verhängnis: Keine der angefragten Airlines verfügte für das bestimmte Reisedatum mehr über freie Plätze in der First- oder Businessklasse. Sie hatte jede Flugverbindung nach Jakarta überprüft, mit allen Reisebüros telefoniert und erklärt, dass es sich bei Felix von Gunten um den angesehenen und bekannten Finanzvorsteher der Palm Oil GmbH handelte. Aber es hatte alles nichts geholfen. Sämtliche Plätze in First- und Businessclass waren ausgebucht.

Für den Vortag hätte Marga für ihn noch einen Platz in beiden Klassen bekommen. Aber da hatte der Vorstandsvorsitzende zu einem Abendessen eingeladen. Dieser Einladung musste Felix Folge leisten. Er würde also erst einen Tag nach dem Essen seine Reise nach Jakarta antreten können, und diese musste ihr Chef, ob es ihm nun passte oder nicht, in der Economyclass bewältigen, wollte er die für die Palm Oil GmbH wichtige Konferenz nicht versäumen.

Sie nahm all ihren Mut zusammen und wollte gerade anklopfen, als die Bürotür aufgerissen wurde und ein ungeduldiger und übelgelaunter Felix von Gunten vor ihr stand.

Der Alptraum, der verdrängte Zweifel und Vorbehalte erneut an die Oberfläche gespült hatte und die wenigen Stunden Schlaf, die keine Erholung gebracht hatten, widerspiegelten sich in den dunklen Schatten unter seinen Augen. Auch ärgerte er sich, dass er am Vorabend seine Reise- und Konferenzunterlagen im Büro vergessen hatte, die ihm Marga Vogt pflichtbewusst in den Terminator gelegt hatte. So war ihm nichts anderes übriggeblieben, als am Morgen vor dem Abflug nochmals in die Firma zu fahren. Natürlich hätte er Marga bitten können, ihm die Unterlagen nach Hause zu bringen. Aber dann wäre sie vielleicht Verena begegnet, und das hatte er unter allen Umständen vermeiden wollen.

«Wo sind meine Reiseunterlagen?», fragte er barsch.

Sie zuckte zusammen und streckte ihm wortlos die Mappe mit den Papieren entgegen.

Er drehte sich um und machte die Tür hinter sich zu.

Marga stand noch immer wie angewurzelt da, als die Tür wieder aufflog und Felix ihr den Ausdruck seines E-Tickets unter die Nase hielt. «Hat sich die Airline verschrieben oder hat sie mir allen Ernstes einen Platz in der Holzklasse zugeteilt?», fragte er.

Sie nickte.

«Wenn du mir nicht auf der Stelle einen Flug in First oder Businessclass besorgst, wird das für dich Konsequenzen haben. Glaubst du etwa, dass ein Felix von Gunten zusammen mit dem gewöhnlichen Volk reist?»

«Ich habe schon alles versucht, aber sämtliche Maschinen, die nach Asien fliegen, sind heute ausgebucht. Ich habe auch alle Umsteigemöglichkeiten überprüft, aber da ist nichts mehr zu ma­

chen.»

«Wie Du meinst», entgegnete er kalt, «nach meiner Rückkehr werde ich mich persönlich um deine Entlassung kümmern», erklärte er mit Nachdruck und ging zurück in sein Büro.

Marga kehrte verstört an ihren Arbeitsplatz zurück. So also ging das bei den Mächtigen und Reichen dieser Welt zu und her. Sie glaubten, sie könnten sich alles erlauben. Gestern noch Lei­denschaft, heute Gnadenlosigkeit und Kälte.

Sie hatte mit einer Maßregelung gerechnet, nicht aber mit einer Kündigung. Eine fristlose Entlassung würde Ihre Existenz bedrohen. Sie dachte an den Bankkredit, der nächsten Monat auslief und wurde erneut von Krämpfen heimgesucht. Über 8’000 Franken hatte sie in Designer­handtaschen, Markenkleidern und stylischen Accessoires ausgegeben. Und all dies, um Felix zu beeindrucken! Wie sollte sie ihre teure Wohnung, ihr Auto und die bereits gebuchte Urlaubsreise in die Karibik – ein Geschenk zum sechzigsten Geburtstag an ihre Mutter – bezahlen? Es würde sicherlich nicht leicht werden, einen ebenso gut bezahlten Job zu finden, auch schon deshalb nicht, weil Felix von Gunten ihr sicherlich ein schlechtes Arbeitszeugnis ausstellen würde.

Sie dachte über die vergangenen Wochen nach, während derer sie wie auf Wolken geschwebt war, obwohl sie von Anfang an gewusst hatte, dass das Verhältnis mit ihrem Vorgesetzten nicht ewig halten konnte. Aber dass es so enden würde, hatte sie nicht für möglich gehalten.

In seinem Arbeitszimmer packte Felix die Reiseunterlagen in seine schwarze Aktentasche, steckte den Autoschlüssel ein und verließ sein Büro, ohne seine Assistentin eines einzigen Blickes zu würdigen.

Vor der Garage seiner Villa klappte er die Seitenspiegel seines maserati granturismo s ein, hielt den Wagen an und schloss das Tor auf. Er hätte Anrecht auf einen Firmenwagen mit Chauffeur gehabt, aber er bevorzugte es, selbst hinter dem Steuer zu sitzen.

Langsam fuhr er in die Garage und parkte neben dem Golf seiner Frau. Fluchend öffnete er die Fahrertür und zwängte sich aus dem Wagen.

Er ärgerte sich über Verenas Sparsamkeit. Wie oft hatte er ihr schon klarzumachen versucht, dass sie eine breitere Garage benötigten. Die Mittel für den Umbau und den dafür benötigten Platz hatten sie ja. Aber Verena sträubte sich bis jetzt erfolgreich dagegen, obwohl er für den Umbau aufkommen würde.

Verstimmt sperrte er die Eingangstür auf, stieg die Treppe zu dem Schlafgemach im oberen Stock hinauf und betrat den Raum.

Als sein Blick auf den halbgepackten Koffer auf dem Bett fiel, wurde er noch verdrießlicher. Er bereute seine harschen Worte, die er Marga gegenüber geäußert hatte. Sicher würde sie nach dem Donnerwetter von heute Morgen nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen, und er brauchte den Sex mit ihr, wollte er die Stumpfsinnigkeit seines Daseins neben der verblühten Verena durch­stehen. Andererseits musste er sie entlassen, wollte er nicht als Schwächling dastehen.

«Warum ist mein Koffer noch nicht fertig gepackt? Du weißt doch, dass ich nur noch Zeit für

eine schnelle Dusche habe, bevor ich zum Flughafen muss», fuhr er seine Frau an, die vor dem

Kleiderschrank stand.

«Lass deine schlechte Laune bitte nicht an mir aus. Hättest du mir gesagt, wie lange du gedenkst fortzubleiben und welche Anzüge du mitnehmen willst, wäre er schon längst gepackt. Aber du hast es ja vorgezogen am Vortrag deiner Reise erst im Morgengrauen nach Hause zu kommen, wobei ich mir nicht denken kann, dass das Abendessen mit dem klapprigen Vorstandsvorsitzenden bis drei Uhr morgens gegangen ist.»

Er fühlte sich ertappt. Dennoch hatte sie ihn nicht zu schulmeistern, obgleich sie recht hatte. Sein Ton wurde verbindlicher. «Du wirst es nicht glauben, aber meine törichte Assistentin hat mir bis Singapur einen Flug in der Holzklasse gebucht. Sie behauptet, alle Flüge in First und Business seien für heute ausgebucht, aber das nehme ich ihr nicht ab. Entsetzlich, zwölf Stunden lang neben einem ungebildeten, womöglich noch nach Schweiß stinkenden Tölpel verbringen zu müssen.»

«Du wirst es überleben», erwiderte seine Frau verächtlich und machte sich daran, fertig zu packen.

Als er aus der Dusche ins Schlafzimmer zurückkehrte, hatte Verena seine Reisebekleidung auf dem Bett ausgebreitet: Frische Unterwäsche, Socken, eine beige Cordhose, ein weißes Hemd, eine dunkelblaue Strickjacke und neben dem Bett auf dem Boden stehend, hellbraune Driver Mokassins von Tod’s.

Felix starrte ungläubig auf die Kleidungsstücke. «Soll ich das hier anziehen? Mit diesen Klamotten geh’ ich höchstens in den Garten oder mit dem Hund spazieren!»

«Selbstverständlich», entgegnete Verena scheinheilig. «Darin wirst du es in der Holzklasse bequemer haben und dich von den mitreisenden Tölpeln nicht groß abheben.»

Felix warf ihr einen finsteren Blick zu.

Verena drehte sich um, damit er ihre Schadenfreude nicht sah. Eine Schadenfreude, die sie ein kleines bisschen für seine Affären entschädigte, für die unzähligen Nächte, in denen sie sich einsam in dem breiten Ehebett hin und her gewälzt hatte, für die Unwahrheiten, mit denen er sie abgespeist hatte, für die ausbleibenden Anrufe, wenn er auf Geschäftsreise war.

Griesgrämig zog er die ausgelegten Kleider an, schlüpfte in die Schuhe und griff nach dem gepackten Koffer. Die Tasche mit den Reise- und Geschäftsunterlagen hängte er sich um die Schulter. Er ging auf sie zu und wollte ihre Wange mit einem flüchtigen Kuss streifen, so wie er es in letzter Zeit immer tat, wenn er sich von ihr verabschiedete.

Diesmal wehrte sie ihn abfällig ab. «Bemüh’ dich nicht.»

Verdutzt blickte er seine Frau an. Er war sich solche Äußerungen aus ihrem Munde nicht gewohnt. Aber er war zu stolz, um den ersten Schritt zu machen. Resigniert zuckte er mit den Ach-

seln und stieg, den Koffer in der linken Hand und die Tasche über seiner rechten Schulter gehängt, die Treppe hinab.

Verena stand auf dem oberen Treppenabsatz und blickte ihm nach. Verstohlen wischte sie sich

eine Träne aus den Augenwinkeln. Sie konnte nicht verstehen, warum er so ein Arschloch war, aber noch weniger konnte sie verstehen, warum sie dieses Arschloch immer noch liebte.

Zweites Kapitel

Obwohl es ein gewöhnlicher Arbeitstag war, kam Felix von Gunten gut durch den Verkehr. Die Baustelle an der Winterthurerstraße war nach Monaten endlich geräumt worden, und die Sommerferien hatten begonnen. Während sich vor dem Gotthardtunnel Richtung Süden endlose Staus bildeten, waren auf Zürichs Straßen ein Drittel weniger Fahrzeuge unterwegs. Dank diesem Umstand brauchte er für die Fahrt zum Flughafen Kloten lediglich zwanzig, statt der üblichen fünfzig Minuten. Im Airportparking fand er auf Anhieb einen Abstellplatz, und da Marga für ihn das online Check-in bereits im Vorfeld besorgt und die Bordkarte für ihn ausgedruckt hatte, musste er am Drop-off-Schalter lediglich seinen Koffer abgeben. An der Passkontrolle warteten kaum Leute, und auch die Sicherheitskontrolle ging reibungslos über die Bühne.

Er warf einen Blick auf seine Breitling-Armbanduhr, die ihm anzeigte, dass er noch eine gute Stunde Zeit bis zum Boarding hatte.

Er schlenderte zur Anzeigetafel und stellte fest, dass «Singapore Airlines Flug 345» verspätet war. Das traf sich gut. Er hatte seit dem frühen Morgen nichts mehr gegessen, was sein Magen mit einem Knurren quittierte.

Er ging zur First- und Businessclass-Lounge und freute sich auf einen Snack und ein Glas Rotwein in ruhiger und entspannter Atmosphäre.

Der Eingang zur reservierten Oase der Ruhe und Gediegenheit wurde von einer asiatischen Angestellten streng bewacht.

«Darf ich Ihren Boardingpass sehen?»

Die kleinwüchsige Asiatin begutachtete die Einsteigekarte und gab sie Felix zurück. «Entschuldigen Sie», sagte sie in freundlichem, aber bestimmten Ton. «Sie fliegen Eco und haben daher keinen Anspruch auf einen Aufenthalt in unserer Lounge.»

«Auch dann nicht, wenn ich Ihnen meine Senator Karte zeige?», fragte Felix von oben herab.

«Wenn Sie die Karte dabeihaben, ist es natürlich kein Problem, auch wenn Sie heute Eco fliegen», erwiderte die Angestellte.

Felix ging die vielen Kartenfächer seiner Brieftasche durch, konnte aber die Senator Karte nirgends finden.

«Ich muss sie wohl verlegt haben», brummte er und schämte sich vor der Frau, die in ihm, dem angesehenen CFO der Palm Oil GmbH, wahrscheinlich einen Betrüger sah, der mit einer faden­scheinigen Erklärung versucht hatte, sich Zutritt zu einer vornehmen und für ihn unerschwinglichen Welt zu verschaffen.

Eilig entfernte er sich vom Ort seiner Demütigung und begab sich zum Flugsteig von Singapore Airlines. Auf dem Weg dorthin kam er an einem Imbissstand vorbei, wo er ein belegtes Brötchen und einen Pappbecher mit Kaffee erstand. Die wenigen Tische und Stühle, die der Be­treiber des Lokals in einem Anflug von Großzügigkeit für seine Gäste aufgestellt hatte, waren vollgepackt mit Plastiksäcken, Reisetaschen, Hüten und Jacken. Felix hätte einen Gast um die Räumung eines Stuhls bitten können, aber er verspürte keine Lust, sich mit dieser Gattung von Leuten abzugeben, mit denen er nie, außer vielleicht seinem Gärtner hie und da zu tun hatte. Aus diesem Grund ging er auf direktem Weg in die Wartehalle, in der rechten Hand den Pappbecher mit dampfendem Kaffee balancierend und mit der linken ein Schinkenbrötchen und die Akten­tasche, deren Riemen ihm von der Schulter gerutscht war, krampfhaft festhaltend. Nach einigem Suchen fand er eine Sitzgelegenheit und ließ sich neben einem dürren, weißhaarigen Asiaten in einem zu großen Anzug nieder, nicht ohne vorher etwas von der heißen Flüssigkeit auf seine beige Cordhose verschüttet zu haben.

Verdrossen biss er in sein Brötchen und ärgerte sich über Marga Vogt, die ihm diesen Schlamassel eingebrockt hatte. Er überlegte, ob er ihre Kündigung - trotz des guten Sexes - nicht jetzt sofort mit einer E-Mail an das Personalbüro veranlassen sollte, ließ aber von seinem Vorhaben ab, weil er es zu umständlich fand, sein Mobiltelefon aus der Tasche hervorzukramen, während er gleichzeitig aufpassen musste, seinen Kaffee nicht noch einmal zu verschütten. Nun, in Singapur würde er dafür noch genügend Zeit haben.

Dabei war er selbst es gewesen, der seine ungültigen Karten vor kurzem aussortiert und dabei die Senator Karte mit in den Papierkorb geworfen hatte.

In die für Flug 345 zugeteilte Wartezone strömten immer mehr Passagiere. Mit wachsendem Unbehagen beobachtete Felix seine Mitreisenden. Angewidert schüttelte er den Kopf beim Anblick einer gutgelaunten Reisegruppe, deren Mitglieder ihre Tour in Flipflops, kurzen Hosen und wild gemusterten Hemden angetreten hatten, um durch ihre Bekleidung der übrigen Welt anzuzeigen, dass sie Glückspilze auf dem Weg in ein ferngelegenes Urlaubsparadies waren.

Die dicke, schwitzende Frau mit roten Haaren und Doppelkinn verursachte ihm Übelkeit, ganz zu schweigen von einer liederlich ge­klei­deten Frau mit strähnigem und schlecht blondiertem Haar. Oh Gott, fragte sich Felix, wie soll ich zwölf Stunden auf engstem Raum mit diesem Pöbel überstehen?!

Aus einem Lautsprecher erklang die ersehnte Durchsage, dass Flug 345 nach Singapur nun zum Einsteigen bereit sei. Augenblicklich erhoben sich die Wartenden und rollten gleich einer ungestümen Woge auf das Gate zu, in der Hoffnung, als Erste die Maschine betreten zu können. Ihre Hast war jedoch umsonst, wurden die Passagiere der Holzklasse doch gemäss ihren Sitzreihen aufgerufen.

Die in First- und Businessclass reisenden Fluggäste wurden zuerst aufgefordert, über die nur für sie bestimmte Rolltreppe in den oberen Teil des Airbus 380 zu gelangen.

Felix machte sich auf seinem Sitz klein, aus Furcht, einem Bekannten zu begegnen.

Auf der Rolltreppe erspähte er Manfred Schönried, den Aufsichtsratsvorsitzenden von Rotor & Avonic, der ihn glücklicherweise nicht gesehen hatte. Er wandte seinen Blick von der Rolltreppe ab und erblickte zu seinem Schrecken Enrico Scalfatti, CEO der Banca del Ticino, der mit eiligen Schritten auf ihn zugelaufen kam. Hinter dem korpulenten Ehepaar aus Kanada konnte Felix gerade noch rechtzeitig in Deckung gehen, bevor Enrico ihn gesichtet hätte.

Noch nie war sich Felix so erniedrigt vorgekommen wie heute. Er kam sich als Außenseiter einer Gesellschaftsschicht vor, die ihn an diesem Tag aus ihren Kreisen verbannt hatte, obwohl deren Zugehörigkeit für ihn selbstverständlich war. Von ihr ausgeschlossen zu sein, auch wenn es sich dabei nur um wenige Stunden handelte, war für ihn eine ganz neue, peinliche Erfahrung.

Das Boarding der First- und Businessclass Passagiere war abgeschlossen. Neidisch malte Felix sich aus, wie sie es sich auf ihren Plätzen bereits bequem gemacht hatten und an ihrem ersten Glas Champagner nippten, während der Pöbel immer noch darauf wartete, in die Maschine eingelassen zu werden.

«Die Passagiere der Sitzreihen 32 bis 43 werden nun zum Einsteigen gebeten», ertönte es aus dem Lautsprecher. Felix schaute auf seine Bordkarte, stellte fest, dass sein Sitz der aufgerufenen Kategorie entsprach und begab sich zum Einstieg.

Ganz anders als in der Businessclass, wo man ihn stets mit Herrn von Gunten willkommen hieβ, wurde er heute mit einem monotonen «Guten Tag» durch eine an der Tür des Flugzeuges stehende Flugbegleiterin begrüßt und mit einer flüchtigen und abtuenden Handbewegung zur linken Flügelseite geleitet.

Er ging den engen Gang entlang, bis er nach vier Sitzreihen seinen Platz fand. Ihm war der Mittelsitz 36 J in einer Dreierreihe zugeteilt worden. «Zu allem Unglück auch noch in der Mitte mit zwei womöglich unzumutbaren Nachbarn», stöhnte er und zwängte sich mühsam in seinen Sitz. Seine Aktentasche schob er unter den vorderen Stuhl, nachdem er in der Gepäckaufbewahrung über seinem Sitz keinen Platz mehr für sie gefunden hatte.

Er hoffte inbrünstig, dass die Maschine nicht voll werden und ein Platz neben ihm leer bleiben würde. Angesichts der vielen Passagiere, die unaufhörlich den Gang entlangkamen, wurde diese jedoch bald zunichtegemacht.

Hoffentlich nicht die, betete Felix, als er die liederliche Frau mit dem schlecht blondierten und strähnigen Haar erblickte. Er verspürte keine Lust, mit ihr Konversation machen zu müssen, auch wenn dies, wenn überhaupt, nur während des Abendessens geschehen wäre. Sie ging jedoch an seiner Sitzreihe vorbei, und Felix atmete erleichtert auf.

Jetzt folgte eine gutgekleidete, äußerst gepflegte und attraktive Frau Mitte vierzig. Wenn er sie als Sitznachbarin bekäme, hätte ihn dieser Umstand mit seiner misslichen Lage teilweise ausgesöhnt. Aber leider ging sie an ihm vorbei. Statt ihrer steuerte der Asiat in dem zu großen Anzug auf Reihe 36 zu und bat höflich, den Fensterplatz K belegen zu dürfen.

Felix hievte sich aus seinem Sitz heraus und ließ den Mann passieren, der, nachdem er seinen Sicherheitsgurt angelegt hatte, sofort einschlief.

Gespannt beobachtete er die immer noch nicht enden wollende Menschenschlange, die ins Innere des Flugzeuges kroch. Bald wurde sie spärlicher, und Felix von Gunten frohlockte bereits über den leergebliebenen Sitz neben ihm, als ein junger, schlaksiger Mann als letzter den Gang betrat.

Er trug einen hellbraunen, ausgeleierten Pullover, abgewetzte Jeans und an den Füßen Riemen-

sandalen.

Zielbewusst steuerte er auf Reihe 36 zu, blieb vor ihr stehen und begutachtete seine Bordkarte. Dann schenkte er dem finster dreinblickenden Felix ein warmes Lächeln und setzte sich auf seinen Platz. Er schloss seinen Gurt, öffnete ihn aber sogleich wieder und tippte Felix auf die Schulter. «Wollen Sie den Platz mit mir tauschen? Auf diese Weise haben Sie nur auf einer Seite einen Ihnen unbehaglich anmutenden Nachbarn.»

Felix starrte den eigenartigen Fremden verdutzt und zugleich verärgert an. Für wen hielt sich dieser Mann? Etwa für den barmherzigen Samariter? Aber Felix von Gunten war nicht auf Barmherzigkeit angewiesen und schon gar nicht von diesem heruntergekommenen Möchtegern.

«Danke, aber ich behalte meinen Sitzplatz», antwortete er verstimmt.

«Selig ist, wer sich nicht an mir stößt», murmelte der Mann.

«Was haben Sie gesagt?»

«Ach, nichts, ich habe nur laut gedacht.»

Felix verzog den Mund. Er hatte nicht die Absicht, sich mit dem Unbekannten abzugeben. Er lehnte sich in seinem Sitz zurück und schloss demonstrativ die Augen.

Sogleich verfiel er in einen tiefen Schlaf und träumte von einem weißen Sandstrand, der von leuchtenden Weihnachtssternen übersäht war. Er erwachte, als sein eigenartiger Nachbar ihm auf die Schulter tippte. «Möchten Sie etwas trinken? Die Flugbegleiterin ist schon einige Male vorbeigekommen.»

«Können Sie mich nicht in Ruhe lassen? Ich wusste, dass ein Flug in der Eco eine Tortur sein würde, aber dass ich gerade einen so lästigen Sitznachbarn haben würde wie Sie, habe ich nicht für möglich gehalten», entgegnete Felix entnervt.

«Warum fliegen Sie denn nicht ganz vorne, wo es die breiteren Sitze gibt?», fragte der Fremde arglos.

«Weil meine törichte Assistentin da vorne, für mich keinen Platz mehr bekommen hat, aber das wird sie mit ihrer Kündigung büßen», bellte Felix.

Der Unbekannte sah ihn aus großen, freundlichen und zugleich mitleidigen Augen an. Felix beruhigte sich augenblicklich. Er betrachtete den Fremden genauer und musste sich eingestehen, dass er noch nie einem Menschen begegnet war, der so viel Freundlichkeit und Wärme aus­strahlte, wie dieser sonderbare Mitreisende. Zudem fiel ihm auf, dass er nicht nur ein vornehmes, einfühlsames Gesicht, sondern auch sehr gepflegte, feingliedrige Hände besaß, die so gar nicht zu seiner fast schmuddeligen Kleidung passten. Auch umgab den Fremden ein seltsamer Geruch, den er nicht einzuordnen vermochte, der ihn aber an den Duft von Zedernholz erinnerte.

Die Flugbegleiterin kam erneut mit dem Getränkewagen vorbei und fragte Felix nach seinen Wünschen.

«Ein Glas Champagner bitte.»

«Gerne, aber ich muss den Betrag sofort einkassieren.»

Noch vor Beginn seiner Reise, wäre Felix vermutlich in die Luft gegangen. Auf keinem seiner

bisherigen Flüge hatte er jemals für den an Bord ausgeschenkten Champagner bezahlen müssen, und dass er jetzt aufgefordert wurde, diesen sogleich zu begleichen, hätte er als eine weitere Demütigung im Verlauf seiner Reise aufgefasst. Aber eigenartigerweise machte ihm dies jetzt nichts aus. Er schenkte der Stewardess ein verschmitztes Lächeln, kramte aus seinem Portemonnaie einige Münzen heraus und streckte sie ihr entgegen.

«Und Sie, trinken Sie auch etwas?», fragte Felix in provozierendem Ton seinen Nachbarn, der auf dem Klapptisch vor sich nur ein Glas Wasser stehen hatte.

«Warum nicht?», erwiderte dieser angetan und bat die Flugbegleiterin um ein Glas Rotwein. Bevor er dieses jedoch an die Lippen setzte, streckte er seine Hand nach Felix aus. «Darf ich mich vorstellen? Ich heiße Christian Goldinger.»

«Felix von Gunten», brummte Felix und ergriff widerwillig die ausgestreckte Hand seines Mitreisenden.

Er hatte erwartet, dass der Handschlag in ihm Unbehagen auslösen würde, aber das Gegenteil war der Fall: Die trockene Wärme und die Kraft, die diese Hand ausstrahlte, durchströmten Felix’ ganzen Körper und gaben ihm das Gefühl zu schweben. Gleichzeitig spürte er, wie alles Belastende der letzten Monate, vor allem die Spannungen, die er in Gegenwart seiner Frau immer öfter empfand, mit einem Mal von ihm abfielen und wie Sandkörner zwischen seinen Fingern zerrannen.

«Sind Sie geschäftlich oder ferienhalber unterwegs?»

«Neugierig sind Sie wohl gar nicht?» erwiderte Felix schnippisch und belustigt zugleich. Christian Goldinger begann, ihn zu amüsieren.

«Ein bisschen schon, aber die Menschen interessieren mich nun einmal, und ich habe in dieser Hinsicht eine Menge nachzuholen.»

«Wie meinen Sie das?»

«Ich weiß zu wenig über sie, insbesondere wie sie denken, wovor sie Angst haben und wurde in der Vergangenheit deshalb oft missverstanden.»

Felix starrte seinen Sitznachbar verständnislos an. Christian Goldinger sprach in Rätseln. Aber er hatte voller Demut gesprochen, weshalb Felix es bereute, ihn vorhin mit Hohn behandelt zu haben. Er wollte ihn aber auch nicht nach dem Sinn seiner Worte fragen und sich durch sein Unverständnis eine Blöße geben. Deshalb erzählte er ihm stattdessen, dass er geschäftlich unterwegs und sein Endziel Jambi auf Sumatra sei.

«Ach, dann haben Sie sicher mit Palmöl zu tun?»

Felix von Gunten verschlug es die Sprache. Ihm wurde plötzlich unheimlich zumute. Dieser etwas naiv anmutende Goldinger schien gar nicht so einfältig zu sein, wie er sich gab. Innerhalb weniger Sekunden hatte er nicht nur gespürt, dass Felix sich in Gegenwart seiner Sitznachbarn unwohl fühlte, sondern auch aufgrund der Erwähnung von Jambi sofort und richtigerweise auf seine Geschäftstätigkeit geschlossen. Dabei war Jambi ein nicht alltägliches Reiseziel und nur denjenigen bekannt, die mit Palmöl zu tun hatten.

«Wie kommen Sie darauf?», wollte er von Goldinger wissen.

«Nun, Sie sehen nicht aus, als ob Sie in diesem für Touristen doch recht unattraktiven Winkel der Welt Ferien machen wollen.

Dazu sind Sie viel zu abgehoben. Die Stadt liegt am Batang Hari, dem längsten Fluss Suma­ Sumatras und tief im Inland. Sie ist also nicht gerade ein erklärtes Urlaubsziel. Zudem hat sie kürzlich durch die brutalen Landkonflikte zwischen den Eingeborenen und einer gewissen Palm Oil Gesellschaft Schlagzeilen gemacht. Ich glaube deshalb nicht, dass Jambi für Sie das ideale Freizeitparadies ist. Eher kann ich mir vorstellen, dass Ihr Interesse um die ausgedehnten Palmölplantagen kreist.»

Einmal mehr war Felix von Gunten von Christian Goldinger tief beeindruckt.

«Ich habe in der Tat mit Palmöl zu tun», klärte Felix seinen Nachbarn auf. «In Jambi findet übermorgen eine Konferenz statt, die für das Fortbestehen der Palm Oil Company überaus wichtig ist. Als Finanzchef der Holding muss ich daran teilnehmen. In Jambi hat die indonesische Gesellschaft ihren Sitz, aber ich frage mich seit Bekanntwerden des Tagungsortes, warum man gerade diesen entlegenen Winkel gewählt hat, statt Jakarta. Die Anreise wäre um Einiges kürzer und nicht halb so umständlich gewesen.»

Christian schaute Felix von Gunten aus ernsten Augen an, wobei sein Antlitz Ehrfurcht, Trauer und Enttäuschung widerspiegelte, eine sich abwechselnde Abfolge von Gefühlen, die Felix nicht zu deuten verstand, und die deshalb in ihm Befremden auslösten.

Wie hatte er einem Unbekannten über seine Person nähere Auskunft erteilen und ihm sogar von der Konferenz auf Jambi erzählen können? Und wenn dieser komische Kauz nun nicht Christian Goldinger war, für den er sich ausgab, sondern jemand, der die Tagung in Jambi sabotieren wollte? Offenbar schien er über die Schwierigkeiten der Palmölkonzerne Bescheid zu wissen. Er hatte die Landkonflikte als brutal eingestuft, und seine Andeutung, dass Felix’ Interesse um die ausgedehnten Plantagen kreisen müsste, ließ darauf schließen, dass er keine Sympathien für diese Art von Geschäften hegte.

Einmal mehr schien Christian die besorgten Reflexionen von Felix erraten zu haben. «Was seid Ihr so erschrocken, und warum kommen solche Gedanken?»

Obwohl Felix noch nie zuvor jemandem begegnet war, der eine so altertümliche und irgendwie nicht ganz unbekannte Wortwahl benutzte, war er von ihr weder verblüfft noch verunsichert. Nein, er erschrak nicht, und auf unerklärliche Weise vertraute er jetzt diesem Fremden, von dem eine außergewöhnliche Kraft ausging, und in dessen Nähe er sich geborgen fühlte.

Er blickte Christian an und sah in seinem Antlitz ein ungeheures Maß an Güte und Reinheit, wie er es bis jetzt noch bei keinem anderen Menschen gesehen hatte. Beschämt senkte er für einen Augenblick die Augen. Christian Goldinger schien zu wissen, was in Felix vor sich ging und ließ ihm Zeit, seine Gedanken zu ordnen.

Und dann, nicht ohne vorher einen missbilligenden Blick auf die Riemensandalen geworfen zu haben, stellte Felix die Frage, die Christian erwartet hatte: «Aber Sie, Sie fahren doch wohl in

den Urlaub?»

«Nein, obwohl meine Fußbekleidung diese Vermutung zulässt», lachte Christian. «Ich bin im Auftrag meines Vaters unterwegs», fügte er hinzu, wobei sein Gesicht augenblicklich einen bekümmerten und zugleich ehrfürchtigen Ausdruck annahm.

«Ach, dann müssen Sie wohl umfangreiche Projekte umsetzen», bemerkte Felix, nun ganz Geschäftsmann.

«So könnte man es nennen».

Felix hätte gerne mehr über die Tätigkeit von Christians Vater erfahren, aber die Flugbegleiterin, die ihren «Catering Wagen» neben ihrer Sitzreihe zum Stehen gebracht hatte, unterbrach die Unterhaltung. «Pasta oder Huhn?»

Der Asiat neben Felix wachte auf und blinzelte die Stewardess verständnislos an. «Pasta or chicken?» wiederholte sie geduldig.

«Chicken», antwortete dieser und nahm das Tablett, das die Flugangestellte an Felix vorbeibalancierte, dankend in Empfang.

Felix bevorzugte Pasta und betrachtete interessiert das vor ihn platzierte Servierbrett: Die Aluminiumschale, in der sich die Nudeln befanden, erinnerte ihn an die Essensbehälter, die in manchen Gangsterfilmen an die Insassen von Strafanstalten abgegeben wurden und das Küchlein in dem plissierten Papierförmchen an den kürzlich stattgefundenen Kindergeburtstag seines Neffen. Welch ein Unterschied zu den auf gestärkten, weißen Servietten und Porzellantellern ser­vierten Speisen in der Businessklasse. Aber seltsamerweise machte der Vergleich Felix nichts aus. Im Gegenteil, er musste sogar darüber lachen.

Das Nudelgericht schmeckte vorzüglich, und das belächelte Küchlein entpuppte sich als Köstlichkeit, die es mit jeder Süßspeise in der Businessklasse aufnehmen konnte. Und dort wiederum hätte er nicht Christian Goldinger kennengelernt, dessen Bekanntschaft für ihn immer interessanter wurde.

«Schmeckt es Ihnen?», fragte Goldinger.

«Ausgezeichnet», antwortete Felix, während er sich das letzte Stück Kuchen in den Mund schob.

Nachdem das Essen abgeräumt worden war, flaute die Betriebsamkeit in der Kabine ab. Die obere Beleuchtung wurde ausgeschaltet, Gespräche verstummten, und zahlreiche Passagiere hatten sich bereits in ihre Decken gehüllt und versuchten zu schlafen. Nur hier und dort erleuchtete ein Leselämpchen das spannende Buch eines Fluggastes. Auch Christian Goldinger war eingenickt. Felix hätte das Gespräch mit ihm gerne fortgesetzt und die letzten Korrekturen an seiner Präsentation noch eine Weile hinausgeschoben. Aber sein Sitznachbar schlief tief und fest.

Seufzend nahm er den Laptop aus seiner unter dem Vordersitz verstauten Aktenmappe heraus und lud das Dokument herunter, das er für die Konferenz in Jambi vorbereitet hatte. Der Landkauf in Indonesien war eine Herausforderung gewesen. Palm Oil GmbH hatte dafür einen hohen Preis bezahlt. Entgegen der übrigen Mitglieder der Geschäftsleitung hatte Felix von Gunten als einziger die Kaufsumme für das ausgedehnte Urwaldstück befürwortet. Aber auf lange Sicht würde sich der kostspielige Erwerb auszahlen, denn die zukünftige Raffinerie zur Verarbeitung des Öls vor Ort würde die Unabhängigkeit der Firma von den einheimischen Konzernen und den Fortbestand von Palm Oil GmbH sichern. Die sorgfältig ausgearbeitete Präsentation würde die letzten Zweifel der Konferenzteilnehmer ausräumen und sein gut durchdachter Finanzplan sie dem Vorhaben zustimmen lassen. Er hätte auf seine Arbeit stolz sein können, stattdessen entwich ein tiefer Seufzer seiner Brust. Er hatte nur im Interesse der Firma gehandelt, versuchte er sich zu trösten. Es gelang ihm jedoch nicht. Der Rauch der abgebrannten Böden stieg ihm in die Nase, das Weinen der Kinder, die kein Zuhause mehr hatten und das Brüllen der verhungernden Men­schenaffen dröhnte in seinen Ohren. «Ich habe nur im Interesse der Firma gehandelt», versuchte er sich zu beruhigen. «Ich konnte nicht anders. Ich habe eine Verantwortung gegenüber meinen Angestellten und deren Familien. Ich habe nur im Interesse der Firma gehandelt», murmelte er fortwährend vor sich hin, obwohl er wusste, dass die Vernichtung des Urwaldes mit der Vernichtung der Menschheit einherging.

Warum hatte er sich diesem Wahnsinn nicht widersetzt und stattdessen in Kauf genommen, dass Depressionen, Schlaflosigkeit, Angstzustände sein Leben beherrschten? War es das Jahresgehalt von 770‘000 Franken, das ihn davon abhielt, der Palm Oil den Rücken zu kehren? Oder das mit seinem Posten als CFO verbundene Gefühl von Macht, welches ihn berauschte? Oder war er einfach zu feige, um mit seinen 55 Jahren sein bisheriges Leben auf den Kopf zu stellen und noch einmal von vorne anzufangen?

Mit zitternden Fingern schloss er die Präsentation und fuhr den Laptop herunter. Dann kramte er aus der Aktentasche eine Schachtel mit Beruhigungstabletten hervor, löste zwei aus der Verpackungsfolie heraus und ließ sie auf der Zunge zergehen. Er schloss die Augen und verfiel kurz darauf in einen unruhigen Schlaf.

Den besorgten Blick, mit dem Christian Goldinger ihn schon seit einiger Zeit beobachtete, nahm er nicht mehr wahr.

Drittes Kapitel

Reges Stimmengewirr riss Felix aus dem Schlaf. Einige Passagiere waren unruhig, andere sprachen aufgeregt mit ihren Sitznachbarn oder versuchten, von den vorbeieilenden Flugbegleitern eine Auskunft zu erhalten. Nur Christian Goldinger saß gefasst in seinem Sitz.

«Ist etwas geschehen?», fragte Felix seinen flüchtigen Bekannten.

«Sie suchen einen Arzt für den Piloten. Er soll einen Herzinfarkt erlitten haben, aber bis jetzt hat sich unter den Passagieren noch keiner gemeldet.»

«Das ist ja schrecklich. Hoffentlich befindet sich doch noch jemand an Bord, der dem Mann helfen kann», meinte Felix beunruhigt.

Der maître de cabine stürmte den Gang entang. Seine Gesichtszüge drückten tiefe Besorgnis, ja sogar Angst aus, die er jetzt nicht mehr zu verbergen versuchte. «Wir brauchen dringend einen Arzt», rief er beim Abschreiten der Sitzreihen, wobei seine Stimme eine immer stärker werdende Hoffnungslosigkeit ausdrückte.

«Ich kann vielleicht helfen», rief Christian Goldinger und erhob sich.

«Vielleicht?», fragte der Purser aufgebracht. «Mit vielleicht kann ich nichts anfangen», fügte er nervös hinzu.

«Nun, dann versichere ich Ihnen, dass ich helfen kann,» entgegnete Christian mit Demut in der Stimme. «Ich wollte mich aber nicht vordrängen und zunächst einem anderen den Vortritt lassen, der sein Handwerk womöglich besser versteht als ich.»

Der Purser sah Christian ungläubig an. Er wurde nicht schlau aus seinen Worten. Offensichtlich befand sich außer diesem komischen Kauz aber kein weiterer Arzt an Bord, weshalb er nach kurzem Zögern beschloss, ihm eine Chance zu geben. Sehr wohl war ihm bei dieser Entscheidung jedoch nicht. Er versuchte seine Bedenklichkeit durch Barschheit zu überspielen. «Auf was warten Sie noch, Mann, gehen wir», rief er und schob Christian in Richtung Cockpit eilig vor sich her.

So, so, dieser Christian Goldinger war also Arzt, überlegte Felix von Gunten. Vielleicht war er in einem Hilfsprojekt seines Vaters eingebunden, oder unterwegs zu den Eingeborenen Papuas, die wegen der zunehmenden Rodung ihres Habitats in erbärmlichen Zuständen lebten und von Krankheiten befallen waren. Vielleicht war er auch für die Organisation «Ärzte ohne Grenzen» tätig?! Aber warum nicht gleich? Nun, er hatte ja gesagt, dass er sich nicht vordrängen wollte, und Felix wollte ihm unbedingt glauben.

Christian blieb lange weg, und Felix begann, sich unwohl zu fühlen. Er versuchte sein Missbehagen zu ergründen: War es Furcht vor einem nunmehr unsicher gewordenen Flug, die ihn beschlich? Oder nun doch Nervosität vor der nahenden Konferenz? Er überlegte eine ganze Weile lang hin und her, bis ihm bewusstwurde, dass es Christians Abwesenheit war, die ihm zu schaffen machte. In seiner Gegenwart fühlte er sich geborgen, befreit von den Lasten des Alltags und seiner Umwelt gegenüber versöhnlicher gestimmt. Und jetzt, da sein Sitznachbar den Platz neben ihm verlassen hatte, wurde er wieder von Beklemmungszuständen heimgesucht, die ihn seit jeher beschlichen. Was hatte es mit diesem so andersartigen Menschen nur auf sich, der eine solch erquickende Wirkung auf ihn ausübte?

***

Flugkapitän Fred Holliger saß zusammengesunken in seinem Pilotensessel, seinen rechten Arm um die Brust und den linken Arm geklammert. Sein Gesicht war aschfahl und von Schweißtropfen überzogen. Obwohl man ihm die Krawatte gelockert hatte, atmete er stoßweise.

Der Copilot reichte ihm ein Glas Wasser, aber Holliger schüttelte den Kopf. Er verspürte heftigen Brechreiz, den er krampfhaft unterdrückte.

Christian Goldinger betrat das Cockpit, dicht gefolgt von dem verunsicherten Purser.

«Dieser Mann hat gesagt, er sei Arzt und könne dem Captain helfen», sagte er zu dem Kopiloten, der seinen Sitz nicht verlassen hatte und den Piloten bekümmert anstarrte.

«Kann das Flugzeug für einige Zeit automatisch fliegen?»

«Der Autopilot ist auf dieser Höhe immer eingeschaltet», antwortete der Copilot.

«Dann lassen Sie mich mit dem Piloten für eine Weile allein.»

Der maître de cabine bereute bereits seinen Entschluss, den sonderbaren Passagier ins Cockpit geführt zu haben und fasste ihn am Ärmel. «Das verstößt gegen die Vorschriften, kommen Sie, es ist wohl besser, wenn Sie an Ihren Platz zurück­kehren.»

«Der Meinung bin ich nicht. Habe ich Ihnen nicht versichert, dass ich dem Kapitän helfen kann?», widersprach Christian und riss sich vom Flugbegleiter los.

Christians bestimmte Worte überzeugten den Kopiloten nur dahingehend, den Autopilot zu aktivieren, nicht aber die Führerkabine zu verlassen. Er war sich unschlüssig, ob er den Fremden mit dem Piloten allein lassen sollte. In der heutigen Zeit wusste man nie, auf was für ausgefallene Ideen Terroristen kamen. Andererseits hatte der Mann zu Beginn des Fluges nichts von Fred Holligers Herzinfarkt wissen können.

«Nun machen Sie schon, oder wollen Sie das Leben des Kapitäns riskieren?»

Widerwillig erhob sich der Kopilot aus seinem Sitz und verließ das Cockpit.

«Und machen Sie bitte die Tür zu».

Christian Goldinger löste die verkrampften Arme des Captains und legte die Hand behutsam auf seine Brust. «Bleiben Sie ganz ruhig und versuchen Sie, sich zu entspannen.»

Nach einigen Minuten besserte sich sein Zustand. Er wurde ruhiger, und auch die Schmerzen in der Brust ließen nach. Christians Hand lag noch immer auf seiner linken Brustseite. Mit der anderen Hand trocknete er die Schweißtropfen auf der Stirn des Piloten.

Langsam kehrte etwas Farbe in sein Gesicht. Er hob den Kopf und starrte Goldinger an. «Wer sind Sie und was haben Sie mit mir gemacht?»

«Sie hatten eine leichte Herzinsuffizienz, aber in ein paar Minuten sollten Sie wieder ganz der Alte sein. Hatten sie schon einmal Beschwerden dieser Art?»

Der Kapitän zögerte. «Schon einige Male, aber sie waren immer nur ganz schwach, weshalb ich sie der Fluggesellschaft nicht gemeldet habe.»

Christian blickte Holliger besorgt an.

«Wissen Sie», sagte der Captain, «vor zwei Jahren hat mich meine Frau für einen erfolgreichen Geschäftsmann verlassen. Er konnte ihr mehr bieten, als ich mit meinem Pilotengehalt dazu in der Lage war. Sie wollte schon immer in Emerald Hills wohnen, aber die Objekte dort waren für uns einfach unerschwinglich. Sie wurde mit jedem Tag unzufriedener, und aus Angst, sie zu verlieren, habe ich mich dazu überreden lassen, ein hübsches Kondo in Singapurs begehrtestem Viertel zu kaufen. Die Anzahlung habe ich gerade noch auf die Reihe gebracht. Aber die von ihr verlangten Renovierungsarbeiten, die eine zeitgemäße Küche und zwei neue Bäder umfassten, sowie die happigen Hypotheken, drohten mir das Genick zu brechen. Am Anfang habe ich nebst meinem Job bei Singapore Airlines zusätzlich Privatunterricht an einer Flight Academy gegeben, aber es reichte immer noch nicht.

Da habe ich mich zu halsbrecherischen Spekulationen verleiten las­sen und meine ganzen Ersparnisse in einen vielversprechenden Fonds angelegt. Während der ersten sechs Monate warf er stattliche Erträge ab, aber dann blieben sie plötzlich aus. Ich hätte mir denken können, dass eine Rendite von 12.5% unrealistisch ist, aber da war es schon zu spät und mein Notgroschen weg. Zu dieser Zeit fing das Herzflimmern an, das ich jedoch verdrängt habe. Ich musste aber weitermachen, wollte ich wenigstens meinen Job nicht verlieren.»

Es klopfte an der Cockpittür und der Kopilot schaute nervös hinein.

«Noch einen Moment», beschwichtigte Christian ihn. «Es dauert nur noch ein paar Minuten», und als die Tür wieder zuging, wandte er sich erneut dem Kapitän zu. «Die ganze Plackerei scheint aber nichts gefruchtet zu haben, oder ist Ihre Frau zu Ihnen zurückgekehrt?»

«Nein, aber soll ich jetzt zu allem Unglück auch noch mein Haus verlieren? Ich bin drei Raten in Verzug, und wenn ich diese bis Monatsende nicht bezahle, kommt das Haus unter den Ham­mer. Aber…, wie komme ich dazu, Ihnen dies alles zu erzählen!», rief der Kapitän und schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. Wie hatte er diesem Fremden gegenüber nur so arglos sein können? Er hatte keinem Menschen etwas von seinen Schwierigkeiten erzählt. Aber ausgerechnet diesem Unbekannten hatte er sich anvertraut. Zuge­geben, er hatte ihm geholfen, aber was wäre, wenn dieser sein Geheimnis preisgeben würde?

«Warum zweifeln Sie an mir?» fragte Christian ruhig.

Holliger erschrak zutiefst über die Worte seines Heilkundigers. Wie hatte er seine Gedanken so schnell erraten und seine innersten Ängste enträtseln können? Er blickte den Fremden an, erkannte in seinem Gesichtsausdruck jedoch nichts als Güte und Barmherzigkeit.

Augenblicklich beruhigte er sich wieder, und mit der Ruhe kehrten auch seine Kräfte zurück. Er fühlte sich wieder so frisch, wie vor dem Anfall.

Die Tür des Cockpits wurde erneut geöffnet. Es war der Kopilot, der nicht schlecht staunte, als er einen vollkommen wiederhergestellten Flugkapitän erblickte.

«Kommen Sie rein, die Arbeit geht weiter», rief ihm der Captain zu. «Wir müssen uns auf das Wetterradar konzentrieren. Da braut sich etwas zusammen.» Er wandte seinen Blick von den Instrumenten ab und sagte zu Christian. «Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, Sie werden mich doch nicht…»

«Nicht der Rede wert», antwortete Christian und warf ihm einen warnenden Blick zu. Das Herzflimmern hatte es nie gegeben. Dann streckte er dem Captain die Hand entgegen. Dieser ergriff sie voller Dankbarkeit und Demut und spürte wie von diesem Händedruck eine ungeheure Kraft ausging, die sich augenblicklich auf ihn übertrug. Der Händedruck währte nur einen Moment, aber er genügte, alle seine bisherigen Sorgen von ihm abfallen und ihn schweben zu lassen…

***

«Da sind Sie ja endlich», rief Felix, als Christian Goldinger an seinen Platz zurückkehrte. «Ich habe mir schon Sorgen um Sie gemacht. Geht es dem Captain besser?»

«Ja, es war nur eine leichte Herzschwäche. Es besteht kein Grund mehr zur Besorgnis.»

«Sie sind Arzt, nicht wahr?»

«So ungefähr», antwortete Christian, während ein vieldeutiges Lächeln seine Lippen um­spielte.

Felix sah ihn erstaunt und zugleich neugierig an. Doch bevor er ihm weitere Fragen stellen konnte, ertönte eine Durchsage aus den Lautsprechern unter der Gepäckablage: «Meine Damen und Herren, wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass der Flugkapitän wieder wohlauf ist. Gleichzeitig bitten wir Sie, sich wieder anzuschnallen. Wir müssen südlich von unserer Flugroute ein Sturmtief umfliegen und könnten leichten Turbulenzen ausgesetzt sein.»

Felix erschrak. Er litt unter Flugangst, die er bisher weder sich selbst noch einem anderen eingestanden hatte.

«Haben Sie keine Angst», beruhigte Christian ihn. «Uns wird nichts passieren.»

«Woher wollen Sie das wissen?», fragte Felix.

«Ich weiß es eben», antwortete Christian gelassen.

Eigenartigerweise glaubte Felix seinem Sitznachbarn und entspannte sich. Wer immer auch dieser Christian Goldinger war, von ihm ging eine tiefe Ruhe und Sicherheit aus, die sich auch auf Felix von Gunten übertrugen. In Christians Nähe fühlte er sich beschützt. Er begann über sein bisheriges Leben nachzudenken, etwas, das er in dieser Intensität noch nie getan hatte. Zum ersten Mal fragte er sich, was gewesen wäre, wenn er damals, den Mut aufgebracht hätte, sich dem Willen des Vaters zu widersetzen und an die Akademie der Bildenden Künste in München gegangen wäre. Wäre er heute zufriedener? Mit Sicherheit. Er hatte das Malen nie ganz aufgegeben, seine Bilder aber niemandem gezeigt, aus Angst sich mit seiner bescheidenen Kunst lächerlich zu machen. Wie sehr beneidete er dagegen seine Frau Verena, die ihr Hobby zum Beruf gemacht hatte. Im Erdgeschoss ihres gemeinsamen Hauses hatte sie sich ein kleines Atelier eingerichtet, in welchem sie Couture-Kleider nähte. Sie war eine talentierte Schneiderin, und in der Vergangenheit hatte er ihr oft über die Schulter geschaut. Sie hatte ihm über ihr Metier viel erzählt, und hin und wieder hatte er sie sogar an Modeschauen begleitet. Wie lange war das schon her? Und wie war es zur Zerrüttung seiner Ehe gekommen? War der ständige Druck, dem er Tag für Tag ausgesetzt war, daran schuld? Ja, wenn er ehrlich sein wollte, hatte es keinen Tag gegeben, in dem er einmal nicht unter Druck gestanden hatte, mit Ausnahme der heutigen Stunden, während denen er neben Christian Goldinger saß...

An der Primarschule hatte er den Vater ständig sagen hören, dass seine Noten besser werden müssten. «Dein Bruder Markus hat sogar die dritte Klasse übersprungen, und das Lesen hat er sich auch selbst beigebracht, aber du schaffst gerade mal mit Ach und Krach die vierte.»

Während der Schulzeit war Felix keinmal sitzen geblieben. Das Gymnasium hatte er jedoch nur mit Hilfe äußerster Anstrengung und re­gel­mäßiger Nachhilfestunden bewältigt. Markus hatte alle Erwartungen des Vaters nicht nur erfüllt, sondern auch übertroffen. Nach einem erfolgreichen Studium an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, hatte er einen Lehrstuhl für angewandte Informatik an der Universität Heidelberg bekommen. Und Felix? Wie hatte er sich durchs Leben geschlagen?

Nach Abschluss der Schulzeit war er der Ansicht gewesen, dem Vater keine Rechenschaft mehr schuldig zu sein. Er hatte geschafft, was man ihm befohlen hatte. Keiner konnte von ihm verlangen, in die Fußstapfen seines Bruders zu treten. Er hätte es mit ihm ohnehin nicht aufnehmen können. Deshalb wollte er nicht an die ETH und schon gar nicht an die Uni. Er wollte etwas völlig anderes. Und noch bevor der Vater darauf bestand, dass er sich für ein Wirtschaft- oder Jusstu­dium einschrieb, verkündet Felix ihm, dass er Malerei und Grafik an der Akademie der Bildenden Künste in München studieren wollte.

«Bist Du noch ganz bei Trost?», hatte der Vater in aufgebrachtem Ton gefragt. «Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass ich dir die unzähligen Nachhilfestunden bezahlt habe, damit du jetzt einem brotlosen Studium nachgehst. Du wirst eine Wirtschaftsausbildung machen. Ich habe dich bereits an der entsprechenden Kaderschule angemeldet.»

Felix hatte nicht den Mut aufgebracht, dem Patriarchen zu widersprechen und seine unterwürfige Mutter ebenfalls nicht. Nächtelang hatte er sich ausgemalt, wie es in München hätte sein können, bis er sich mit seinem Schicksal abgefunden und aus der untersten Schreibtischschublade seinen Mahlblock hervorgekramt hatte. Lange hatte er wehmütig auf die Blätter mit den vielversprechenden Entwürfen gestarrt, bevor er sie in den Papierkorb warf und mit ihnen das keimende Pflänzchen Talent, aus dem ein starker Baum hätte werden können.

Erstaunlicherweise hatte ihm die Ausbildung an der Kaderschule Spaß gemacht. Insbesondere die Betriebswirtschaftslehre und das Rechnungswesen hatten es ihm angetan. Er schloss erfolg­reich ab und kam, vielleicht dank der Verbindungen seines Vaters, vielleicht aber auch dank seiner eigenen Leistungen, in einer Großbank unter.

Der Druck, dem die Belegschaft, im Bestreben große Gewinne zu erzielen, Tag für Tag ausgesetzt war, missfiel ihm zutiefst. Doch er wollte nach oben, ganz nach oben. Dann hätte der Vater nichts mehr an ihm auszusetzen, und seinem Bruder Markus wäre er endlich ebenbürtig.

Mit unendlicher Beharrlichkeit durchlief er die wichtigsten Stationen im Bankwesen: Er erwarb sich ein solides Wissen im Private Banking, Rechnungswesen, Controlling und Asset Management. Er be­suchte Seminare und erweiterte seine Kenntnisse in der Vermögensstrukturierung und Finanzmathematik. Und als dann die Palmoil Holding GmbH an ihn herantrat und ihm den Posten des Finanzvorstehers anbot, hatte er ohne zu zögern angenommen.

Er wusste, was bei so einem Posten alles auf ihn zukommen würde. Der Druck, dem er in einem immer schwierigeren Umfeld ausgesetzt war und die enorme Verantwortung, die er schultern musste, verlangten ihm alles ab, bis er an seinem Job keinen Gefallen mehr fand. Er kam sich wie in einer Tretmühle vor, aus der es kein Entrinnen gab. Nicht einmal mehr das Malen konnte seine Ängste und Depressionen lindern. Sich diesen Umstand einzugestehen, fiel ihm schwer. Dann hätte alles, wo­für er so hart gekämpft hatte, keinen Sinn ergeben. Und übermorgen musste er an der bevorstehenden Konferenz der unaufhaltsamen Vernichtung des Urwaldes und seiner Bewohner zustimmen, nur damit alles einen Sinn ergab!

Das Flugzeug verlor in einem heftigen Abwind so schnell an Höhe, dass Felix das bedrohliche Gefühl hatte, in ein Luftloch zu fallen. Er stieß einen Angstschrei aus und krallte sich an den Armlehnen fest. Sein asiatischer Nachbar, der die ganze Reise über geschlafen hatte, war von den Turbulenzen wach geworden und stöhnte erbärmlich. Felix drehte sich zu Christian um, der jedoch zusammengesunken in seinem Sitz saß und die Augen geschlossen hatte.

Er überlegte, ob er ihn schlafen lassen sollte, aber seine Angst wurde immer stärker. Er rüttelte an seinem Arm, ohne ihn wach zu bekommen. Schließlich öffnete Christian die Augen.

«Warum lassen Sie mich nicht schlafen?»

«Ich habe Angst.»

«Sie Kleingläubiger, warum zweifeln Sie an mir?»

Felix starrte Christian verdutzt an.

«Das ist heute das zweite Mal, dass ich diese Frage stelle, ohne darauf eine befriedigende Antwort zu bekommen. Warum haben Sie Angst? Habe ich Ihnen vor ein paar Minuten nicht schon gesagt, dass uns nichts passieren wird? So glauben Sie mir doch endlich und lassen Sie mich jetzt ein wenig ausruhen. Ich werde in den nächsten Stunden viel Kraft benötigen.»

Felix konnte sich auf die Worte Christians keinen Reim machen und fürchtete sich noch mehr.

Die Maschine wurde erneut heftig hin und her geschüttelt. Felix wollte schreien, unterdrückte jedoch seine Regung. Er umklammerte Christians Arm und lehnte sich mit versteinerter Miene in seinem Sitz zurück. Das Flugzeug wurde noch einige Male von Turbulenzen erfasst, bevor der Flug wieder ruhig verlief.

Felix schlief ein. Er träumte abermals von dem Strand mit den Weihnachtssternen und befand sich in einer unwirklichen und paradiesischen Welt, als ein Zupfen an seiner Jacke ihn aus der karibischen Idylle in die Beengtheit der Kabine zurück­holte. Unwirsch und noch etwas verschlafen, blickte er sich um und ließ dabei den Arm Christian Goldingers los.

Es war jedoch sein asiatischer Sitznachbar, der in radebre­chendem Englisch versuchte, ihm etwas mitzuteilen. Felix blickte ihn verständnislos an, bis der Asiat das Wort «descending» herausbrachte, welches er mit einer abwärts zeigenden Handbewegung untermalte. Er war noch zu benommen, um zu begreifen, auf was sein Sitznachbar hinauswollte. Doch nach einer Weile begann er ebenfalls zu spüren, dass sich das Flugzeug im Sinkflug befand.

Er blickte auf seine Armbanduhr: Sie waren seit knapp acht Stunden unterwegs. Bis Singapur betrug die Flugzeit jedoch zwölfeinhalb. Etwas musste geschehen sein. Felix blickte zu Christian hinüber, der immer noch in der gleichen Position verharrte und jetzt sogar ein sanftes Schnarchen von sich gab.

Mist, sagte sich Felix, warum musste sein eigenartiger Reisegefährte gerade jetzt schlafen? Er war sich sicher, dass, wenn er sich mit Christian unterhalten könnte, die Anspannung von ihm abfallen würde, auch wenn dieser zuweilen eine seltsame Art der Kommunikation pflegte.

«Meine Damen und Herren», ertönte es aus den Lautsprechern. «Hier spricht der Kapitän. Wir haben leider einen Triebwerkschaden und sehen uns gezwungen, den nächst gelegenen Flughafen anzusteuern. Es besteht jedoch keinerlei Gefahr für Ihre Sicherheit. Weitere Informationen folgen in Kürze.»

Jetzt würden sie auch noch zwischenlanden, sagte sich Felix und überlegte was im Laufe dieser Reise noch alles geschehen würde.

Viertes Kapitel

Flug 345 der Singapore Airlines befand sich im Anflug auf Mumbai. In wenigen Minuten würde das Flugzeug in der größten Metropole Indiens und in einer der bevölkerungsreichsten Städte der Erde landen.

Felix stöhnte. Die Crew hatte den Passagieren versichert, dass sie schnellstmöglich auf andere Maschinen umgebucht und noch im Laufe des Vormittags Singapur erreichen würden. Eine happige Verspätung ließ sich dennoch nicht vermeiden, und übermorgen fand die Konferenz statt! Den Anschlussflug nach Jakarta und den Weiterflug nach Jambi würde er sich ans Bein streichen müssen. Er konnte von Glück sagen, wenn er am Folgetag den Flug nach Jambi um 19.00 Uhr erreichte, nachdem er über zwanzig Stunden unterwegs gewesen war. Und wofür? Um Menschen von einer Strategie zu überzeugen, von der er selbst nicht mehr überzeugt war? Warum hatte er den Landkauf in Indonesien befürwortet? Um seinem Umfeld zu beweisen, dass nur er, der erfolgreiche Manager, in der Lage war, die schwierigen Verhandlungen mit den indonesischen Behörden zu einem erfolgreichen Abschluss zu führen?

Ein tiefer Seufzer entfuhr seiner Brust, und kleine Schweißperlen standen auf seiner Stirn.

«Geht es Ihnen nicht gut?», fragte Christian Goldinger.

«Es geht», antwortete von Gunten und hing seinen eigenen Gedan­ken nach: Er war jetzt fünfundfünfzig Jahre alt. Bis zum Ruhestand waren es noch gute zehn Jahre. Zehn lange Jahre auf der obersten Sprosse der Karriereleiter, von der er von einem Moment zum anderen hinuntergestoßen werden konnte, wenn es ihm nicht gelang, die verlangten Leistungen zu erbringen. Zehn Jahre, die von der Verwaltung von Geldmitteln, von Liquiditätsplanung, Rentabilität, unzähligen Sitzungen, randvollen Terminkalendern und ermüdenden Reisen beherrscht waren. Hatte er diesen Irrsinn noch nötig? Er hatte alles erreicht, was er hatte erreichen wollen, und dem Vater noch vor dessen Tod bewiesen, dass aus dem nicht sehr vielversprechenden Sohn doch noch ein erfolgreicher Geschäftsmann geworden war. Nebst Ansehen, Macht und Reichtum, war die Anerkennung des Vaters die größte Genugtuung für ihn gewesen. Aber zu welchem Preis? Plötzlich musste er an die Kunstakademie in München denken. Was wäre gewesen, wenn…

Die Maschine landete auf dem Chhatrapati Shivaji International Airport und gelangte vor dem Flugsteig zum Stillstand. Sogleich machte sich in der Kabine ein geschäftiges Treiben bemerkbar. Die Gepäckablagen wurden aufgeklappt, Jacken, Taschen und Trolleys herausgezerrt und die Gänge bereits von Passagieren verstopft, die ungeduldig darauf warteten, die Kabine verlassen zu können.

«Hoffentlich bekommen wir bald einen Anschluss nach Singapur», sagte Felix zu Christian, der sich aus seinem Sitz erhoben hatte und den aussteigenden Fluggästen, die langsam in Bewegung kamen, folgte. Felix nahm seine Aktentasche und reihte sich hinter Christian in den Strom der Reisenden ein. Als sie den Flugsteig erreichten und nun nebeneinander gingen, drehte Christian sich zu Felix um. «War nett, Sie kennengelernt zu haben. Hoffentlich gelingt es Ihnen, einen baldigen Anschlussflug zu bekommen».

«Wie meinen Sie das, Sie müssen doch auch weiter nach Singapur fliegen?», fragte Felix beunruhigt.

«Nun, ich habe beschlossen, in Indien zu bleiben. In Indien gibt es viel zu vollbringen. Eigentlich wollte ich erst später hierherkommen, aber wissen Sie, die Reihenfolge, in der ich meine Aufgaben zu bewältigen habe, spielt nur eine untergeordnete Rolle.»

Felix hielt ihn an seinem Pullover fest. «So warten Sie doch», Sie können sich doch nicht einfach aus dem Staub machen, ohne mir Ihre Adresse und Telefonnummer zu geben, damit wir ein späteres Treffen vereinbaren können».

Christian war endlich stehen geblieben, wodurch Felix die Gelegenheit bekam, eine Visitenkarte aus seiner Aktentasche hervorzukramen.

«Hier, nehmen Sie meine Karte und sagen Sie mir später, wo ich Sie erreichen kann.»

«Das wird leider nicht möglich sein», antwortete Christian und blickte Felix aus traurigen Augen an.

«Warum nicht?», wo sind Sie überhaupt daheim?»

«Nirgends und überall», antwortete Christian ausweichend.

Die Aussicht Christian Goldinger nie mehr wiederzusehen und auch nicht mehr die von ihm ausgehenden Kräfte zu spüren, ließen Felix von Gunten alles Bisherige über Bord werfen und den einen, in diesem Augenblick unabwendbaren Entschluss fassen. «Dann werde ich mich Ihnen anschließen. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mit Ihnen gehe?»

«Ich werde keinen abweisen, der zu mir kommt, aber wieso wollen Sie mich begleiten, einen Fremden, den Sie erst seit ein paar Stunden kennen? Was ist mit Ihrer Konferenz, und werden die Teilnehmer ohne Sie auskommen?»

Felix ließ jetzt endlich den Pullover seines flüchtigen Bekannten los, der seinen Gang verlangsamt hatte, wodurch es ihm gelang, mit ihm Schritt zu halten. «Eine innere Stimme sagt mir, dass ich Sie begleiten muss. Ich kann nicht an die Konferenz fahren und eine Präsentation halten, in der ich aufzeige, dass die Kosten für das von uns erworbene Stück Urwald und die darauf zu errichtende Raffinerie sich für die Gesellschaft in Zukunft auszahlen werden.»

«Und warum nicht?»

Felix blickte Christian verzweifelt an. «Weil ich seit drei Jahren Alpträume habe, in denen ich den Urwald brennen sehe und das Weinen der aus ihren Dörfern vertriebenen Menschen und das Brüllen der verendenen Oran-Gutans höre.»

«Diese Alpträume haben Sie aber vor zehn Stunden nicht davon abgehalten, an die Konferenz zu reisen. Was hat Sie dazu bewogen so plötzlich Ihre Meinung zu ändern?

«Vielleicht die Bekanntschaft mit Ihnen?!»

Christian lächelte. «Nun, wenn Sie es so wollen, heiße ich Sie bei mir willkommen».

Felix blickte den flüchtigen Bekannten etwas erstaunt an. In seinen Augen war dieser zweifelsohne ein besonderer und liebenswürdiger Mensch, aber er könnte sich ruhig etwas weniger geschwollen ausdrücken. Das würde ihn greifbarer, anschaulicher, lebensnaher machen, dachte er und sah sich zum ersten Mal seine Umgebung etwas genauer an.

In der riesigen Halle mit der hohen Decke, in die regionale Muster und Strukturen eingebaut waren, wimmelte es von Menschen jeder Rasse und Hautfarbe: Dunkle und helle Inder mit Turbanen auf dem Kopf, Frauen in leuchtenden Saris, Chinesen, Japaner und hellhäutige, blasse Euro­päer, die in diesem bunten Schmelz­tiegel fremd und deplatziert wirkten.

Christian und Felix folgten dem Schild mit der Aufschrift «Immigration», wobei letzterer seinen Augen nicht traute, als er wenig später die langen Menschenschlangen vor den Abfertigungs­schaltern erblickte.

In den vergangenen vierzig Minuten waren nicht weniger als zwanzig Maschinen gelandet, deren Fluggäste nun gleichzeitig durch den Zoll wollten.

«Na, das kann ja heiter werden», murmelte Felix. «Haben Sie überhaupt ein Visum für Indien?» fragte er seinen Begleiter.

«Meine Mission führt mich auch nach Indien, weshalb ich mir vor Antritt meiner Reise eines besorgt habe, aber was ist mit Ihnen?»

«Vor zwei Wochen sollte ich im Auftrag der Firma nach Delhi fliegen, aber die Reise musste kurzfristig abgesagt werden. Das Visum, das meine Sekretärin für mich eingeholt hatte, ist immer noch gültig, aber wissen Sie was? Unser Gepäck ist nach Singapur durchgecheckt. Wir werden wohl ohne unsere Koffer auskommen müssen, wobei ich gerne wüsste, wie lange sie auf dem Förderband in Changi ihre einsamen Run­den drehen werden?»

«Meine Last ist leicht», ich brauche fast nichts».

Schon wieder diese wulstige Sprache, ärgerte Felix sich. Konnte der Mann nicht wie alle anderen Leute reden?

Die beiden Männer schwiegen eine Weile, als Felix plötzlich über die Absurdität seiner Situation kichern musste: Da stand er nun in einer endlosen Menschenschlange neben einem höchst eigenartigen Reisegefährten und wartete wahrscheinlich eine Ewigkeit, bis er den Zoll würde passieren können. Sein Gepäck war flöten gegangen, ebenso sein Job, von seiner Frau ganz zu schweigen, und trotzdem fühlte er, dass die Last, die er bis jetzt geschultert hatte, plötzlich von ihm abfiel.

«Lachen Sie über mich?», fragte Christian.

Felix blickte ihn belustigt an. «Wo denken Sie hin. Ich lache wohl zum ersten Mal über mich selbst. Ich habe gerade meinen Job und mein Gepäck verloren, und die Chance, die Beziehung mit meiner Frau zu kitten, habe ich schon vor meiner Abreise zunichtegemacht, und trotz allem habe ich mich noch nie so frei, so sorglos und erheitert gefühlt wie jetzt.»

«Lieben Sie Ihre Frau noch?»

«Als ich von zu Hause wegfuhr, glaubte ich, sie nicht mehr zu lieben, aber jetzt?», Felix zog die Schultern hoch. «Aber eins weiß ich ganz bestimmt, Verena liebt mich nicht mehr.»

«Was macht Sie da so sicher?»

«Wie sie mich vor meiner Abreise behandelt hat. Sie war über meinen Trip in der Eco richtig belustigt, und als ich ihr einen Abschiedskuss geben wollte, hat sie zu mir gesagt, ich solle mich nicht bemühen. Aber … ich bin ja auch ein gottverdammtes Arschloch zu ihr gewesen.»

Felix starrte finster vor sich hin, weshalb ihm Christians leichte Bestürzung über die verwendeten Kraftausdrücke entging.

Sie hatten schon über einer Stunde in der Schlange gestanden, als jemand von hinten Christian auf die Schulter klopfte.

«Da sind Sie ja», rief Kapitän Holliger. «Ich habe Sie überall in der Transitzone gesucht, bis mir der Kopilot sagte, dass er Sie in Richtung «Immigration» gehen sah.»

«Ja, ich habe beschlossen, hier in Indien meine Reise zu unterbrechen», und zu Felix gewandt, fügte er hinzu, «das ist Felix von Gunten, er fliegt ebenfalls nicht weiter nach Singapur und begleitet mich für eine Weile.»

«Und was möchten Sie in Indien machen?»

«Helfen, die Armut zu lindern und für Gerechtigkeit sorgen», strahlte Christian ihn an.

«Das dürfte nicht so einfach sein», sagte Holliger und sah Christian zweifelnd an.

«Wer Gott vertraut, dem ist alles möglich»!

«Ganz schön selbstherrlich, finden Sie nicht?», entgegnete Hol­li­ger mit einem spöttischen Grinsen.

Christian blickte ihn traurig an.

«So war es nicht gemeint», entschuldigte sich der Flugkapitän und legte einen Arm um Christian. «Ich wollte mit meinen Worten nur zum Ausdruck bringen, wie ungemein schwierig die Verhältnisse in Indien sind.»

Christian sagte noch immer kein Wort, aber er bedachte Holliger mit einem gütigen Lächeln.

«Wissen Sie, mir ist soeben eine Idee gekommen, wie wir im kleinen Rahmen vielleicht etwas bewirken könnten. Meine Mutter stammt aus Mumbai, weshalb ich in dieser Stadt aufgewachsen bin. Vielleicht könnte ich Ihnen ein klein wenig helfen, Ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen», fügte Holliger hinzu und blickte Christian erwartungsvoll an.

«Ich werde keinen abweisen, der zu mir kommt», antwortete Christian zum zweiten Mal an diesem Abend, «aber was ist mit Ihrer Anstellung bei Singapore Airlines?»

«Die werde ich wohl verlieren, aber jetzt wo ich allein bin, kann ich auch für eine private Airline fliegen. Ich werde sicherlich weniger verdienen, aber das Abenteuer mit Ihnen, ist es mir wert».

«Nun gut, wenn dem so ist, kommen Sie mit uns.»

Die drei Männer warteten noch eine weitere Stunde, bis sie an die Reihe kamen. Sie nutzten die Zeit, um näheres über sich in Erfahrung zu bringen.

Von Gunten und Holliger waren sich auf Anhieb sympathisch. Zwischen ihnen entwickelte sich sogleich ein lebhafter Austausch, weshalb sie nicht bemerkten, dass Goldinger fast nichts von sich preis gab.

Fünftes Kapitel

Seit Felix’ Abreise lebte Marga Vogt in panischer Angst vor einer Kündigung. Ihr Chef hatte zwar gesagt, er würde sich um ihre Entlassung nach seiner Rückkehr kümmern, aber so wütend wie er gewesen war, konnte es gut möglich sein, dass er diese bereits per SMS veranlasst hatte.

Sie hatte die beiden letzten Nächte kaum geschlafen. Wie lange würde es dauern, bis sie wieder einen Job fand? Und wovon sollte sie die Miete, die bereits gebuchte Geburtstagsreise ihrer Mutter und den ausstehenden Bankkredit bezahlen? Sie hatte angefangen, sich vor dem Schlafengehen einen Beruhigungstee zu kochen, aber der hatte bis jetzt kein bisschen geholfen und ihr nicht den ersehnten Schlaf gebracht.

Nun saß sie mit geröteten Augen an ihrem Schreibtisch und starrte in den Computer.

Als persönliche Assistentin von Felix hatte sie Zu­gang zu seinen Mails, die sie in regelmäßigen Abständen durchsah und bearbeitete. Sie blickte erneut auf seine Nachrichten. Eigenartigerweise hatte ihr Vorgesetzter in den vergangenen achtundvierzig Stunden keine der Mitteilungen abgerufen. Denn sie waren alle noch in fetter Schrift dargestellt.

Marga rieb sich die übermüdeten Augen. Konnte es sein, dass diese ihr einen Streich spielten? Aber nein, Felix hatte seit seiner Abreise keine einzige Mail gelesen. Nicht einmal die mit einem Ausrufungszeichen gekennzeichnete Mitteilung von Hannes Koch, dem Direktor der Palm Oil in Jambi, in der er Felix um ein dringendes Treffen noch vor Beginn der Konferenz bat, war gelesen worden.

Das Schnarren des Telefonapparates ließ Marga Vogt zusammenfahren und riss sie aus ihren Grübeleien heraus.

«Marga Vogt», meldete sie sich mit brüchiger Stimme.

«Guten Morgen, Frau Vogt, hier ist Martin Keller. Könnten Sie bitte gleich in mein Büro kommen?»

«Ist etwas passiert?», fragte Marga.

«Ich erwarte Sie in fünf Minuten in meinem Büro», sagte der Personalchef und beendete die Verbindung.

Marga Vogt legte mit zitternder Hand den Hörer auf. Dieser verdammte Felix von Gunten hatte seine Drohung also noch vor Ende seiner Reise wahrgemacht und den Personalchef beauftragt, ihr zu kündigen. Wahrscheinlich würde Keller sie nun fristlos entlassen. Was sollte jetzt nur aus ihr werden? Ohne ein gutes Arbeitszeugnis würde sie so schnell keine neue Anstellung finden, und den Mietvertrag konnte sie erst in sechs Monaten kündigen!

Tränen der Verzweiflung rannen ihr die Wangen hinunter. Jedem Menschen konnte doch ein­mal ein Versehen unterlaufen! In den vier Jahren, in denen sie für Felix arbeitete, war ihr noch nie ein einziger Fehler passiert. Sie hatte bis jetzt immer einwandfreie Leistung erbracht und sich auch nie über die vielen Überstunden beklagt, die von ihr verlangt wurden. Und jetzt musste sie wegen einer Unbedachtsamkeit gehen. Zugegeben, es war eine schlimme Nachlässigkeit gewesen, die für Felix von Gunten eine höchst unbequeme Reise zur Folge gehabt hatte. Aber diese gleich mit einer Kündigung zu bestrafen?!

Sie trocknete die Tränen ab und machte sich schweren Herzens auf den Weg in Martin Kellers Büro.

Einige Minuten lang stand sie unschlüssig vor dem Arbeits­zimmer des Personalchefs, um das Unvermeidliche noch etwas hinauszuzögern. Schließlich überwand sie sich und klopfte an.

Nach wenigen Augenblicken wurde die Tür geöffnet.

«Bitte treten Sie ein. Haben Sie vielen Dank, dass Sie sogleich gekommen sind», begrüßte Keller sie.

Marga starrte den großen, korpulenten Mann mit dem kantigen Gesicht und dem Bürstenhaarschnitt verdattert an. So sprach man nicht mit jemandem, den man innerhalb der nächsten fünf Minuten feuern wollte. Sie schöpfte Hoffnung.

Sie folgte Kellers Aufforderung und setzte sich an den runden Besprechungstisch, der neben dem großen Schreibtisch stand.

Keller nahm ebenfalls Platz und bot ihr einen Kaffee an, den Marga dankend ablehnte. Sie wollte das unangenehme Gespräch schnellstmög­lich hinter sich bringen.

«Haben Sie die gesamte Reise Ihres Chefs persönlich organisiert?», überraschte Keller sie mit seiner Frage.

«Ja», hauchte Marga unglücklich.

«Ich meine die Flüge, das Hotel und alle Termine während der gesamten Reise?»

«Ja, bis auf den kurz angesagten Termin mit Herrn Hannes Koch, dem regionalen Direktor in Jambi.»

«Und warum diesen nicht?»

«Herr Koch hat Herrn von Gunten eine Mail geschickt, in welcher er ihn bat, ihn kurz vor der Konferenz aufzusuchen. Aber obwohl Herr Koch in der Mail betont hat, dass es sich um einen dringenden Termin handelte, glaube ich nicht, dass Herr von Gunten diese Mitteilung gelesen hat.»

«Und warum nicht?»

«Ich bearbeite seine Mails, und seitdem er abgereist ist, hat er noch keine Mitteilung von seinem Handy aus abgerufen. Das hätte ich gemerkt.»

Martin Keller strich sich über seinen Kinnbart und blickte Marga nachdenklich an. «Was ich Ihnen jetzt sage, ist streng vertraulich, weshalb ich Sie um absolute Verschwiegenheit bitte.»

Marga beschlich jetzt nicht nur Furcht, sondern auch ein tiefes Missbehagen. Was hatte das alles zu bedeuten?

«Felix von Gunten ist nicht zu der Konferenz erschienen», erklärte Martin Keller.

«Nicht erschienen?», fragte Marga verdattert.

«Es ist so, wie ich Ihnen sage. Und im Aston Jambi Hotel and Conference Center hat er auch nicht eingecheckt. Herr Hannes Koch hat unseren Generaldirektor telefonisch davon in Kenntnis gesetzt. Und Herr Manfred Rinderknecht hat mich wiederum gebeten, erste Erkundigungen einzuziehen.»

Marga schwieg betroffen. Sie konnte sich auf die merkwürdigen Ereignisse keinen Reim machen und deshalb auch nicht dazu beitragen, Licht ins Dunkle zu bringen.

Sie und Martin Koch saßen noch einen Moment schweigend am Besprechungstisch, bis der Personalchef sich von seinem Stuhl erhob und sie dankend verabschiedete.

Nachdenklich und etwas erleichtert ging Marga an ihren Arbeitsplatz zurück. Als sie in ihr Büro kam, schloss sie die Tür, setzte sich an ihren Schreibtisch und nahm eine Kopie der Reiseroute, die sie für Felix angefertigt hatte, aus der untersten Schublade heraus: Die erste Reiseetappe war mit Singapore Airlines, Flug 345 non stop nach Singapur erfolgt. In Singapur hatte sie den Weiterflug mit Tigerair um 08.25 Uhr nach Jakarta und von dort aus, einen Anschluss um 11.05 Uhr mit Ankunft in Jambi um 12.30 Uhr gebucht.

Sie starrte auf die Flugangaben, die sie aber nicht weiterbrachten.

Sie legte das Blatt beiseite und war im Begriff die Unterlagen der letzten Finanzsitzung abzulegen, als der interne Kurier mit der Tagespost ihr Büro betrat.

«Danke, Leo», sagte sie und nahm den Stapel Couverts entgegen, auf dem zuoberst die gefaltete Tageszeitung lag. Sie klappte sie auf und warf einen flüchtigen Blick auf die Schlagzeilen der ersten Seite, als ihr im unteren Drittel des Blattes die Überschrift «Notlandung in Mumbai» auffiel.

Der Untertitel, in dem es hieß, dass ein Flugzeug der Singapore Airlines in Indien notgelandet sei, bestand lediglich aus einer Zeile und verwies auf den gesamten Artikel auf Seite 12. Marga schlug die Seite auf, auf der die Meldung in voller Länge abgedruckt war und traute ihren Augen nicht: Am Mittwoch ist eine Maschine der Singapore Airlines, die von Zürich nach Singapur unterwegs war, in Mumbai notgelandet. Nachdem das Flugzeug ein Sturmtief umflogen hatte, fiel ein Triebwerk aus, was den Kapitän veranlasste, in Mumbai, dem nächstgelegenen Ausweichflughafen, zu landen. Für die Passagiere bestand jedoch zu keiner Zeit Gefahr.

Marga las den Artikel nicht zu Ende. Was sie erfahren hatte, reichte ihr. Trotzdem las sie die ersten Zeilen mehrere Male durch. Dann ging sie ins Internet und checkte sämtliche Flüge, die täg­lich von Mumbai nach Singapur gingen.

Felix war tatsächlich mit der notgelandeten Maschine unterwegs gewesen und nach ihren Berechnungen vermutlich gegen 22.00 Uhr in Mumbai angekommen. Mit großer Wahrscheinlichkeit war er auf Jet Airways oder Garuda, abfliegend um 01.45 Uhr von Chhatrapati Shivaji International Airport umgebucht worden. Dies waren die nächst besten Verbindungen, die ein rechtzeitiges Eintreffen in Jambi noch ermöglicht hätten.

Sie nahm den Hörer ihres Tischtelefons auf und wählte die Nummer

des Reisebüros, mit dem sie seit Jahren zusammenarbeitete. «Hallo Louisa», begrüße sie ihre Kollegin am anderen Ende der Leitung. «Kannst Du bitte herausfinden, ob Felix von Gunten auf einer dieser Maschinen von Mumbai nach Singapur gewesen ist?», bat sie die Mitarbeiterin des Reisebüros und gab ihr die notwendigen Angaben durch.

«Das kann ich doch nicht. Wie soll ich denn an die Passagierlisten kommen?»

«Bitte Louisa, versuch es! Es ist sehr wichtig und du hast doch Beziehungen.»

Marga vernahm ein Seufzen am Ende der Leitung.

«Nun gut, ich werde mein Bestes tun», antwortete Louisa nach einer Weile. «Es kann aber etwas dauern. Ich melde mich, sobald ich etwas herausgefunden habe.»

Louisa rief am frühen Nachmittag zurück. «Herr von Gunten ist in der Tat auf den Flug von Garuda Indonesia um 01.45 Uhr umgebucht worden.»

«Danke Dir für die Info», sagte Marga. Sie wollte gerade das Gespräch beenden, als Louisa in den Hörer rief. «Halt, da ist noch etwas, was dich interessieren dürfte.»

Marga wurde neugierig. «Was ist es?»

«Herr von Gunten hat den Flug nach Singapur nicht angetre­ten.»

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739481999
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Januar)
Schlagworte
Lebensgeschichten Abenteuer Spannung

Autor

  • Patricia Anderegg (Autor:in)

Patricia Anderegg wuchs in Portugal auf. Nach dem Abitur an der Deutschen Schule Lissabon studierte sie in Zürich Sprachen. Sie verbrachte sieben Jahre in Brasilien und lebt seit 1984 wieder in der Schweiz. Sie ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.
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Titel: Notlandung in Mumbai