Lade Inhalt...

WahrheitsDiebe

von Andreas Neßlinger (Autor:in)
448 Seiten

Zusammenfassung

Der junge Student Elias recherchiert für seine Magisterarbeit. Er schreibt über den Kunstraub im Russlandfeldzug, als er Hinweise auf ein verschollenes Register findet. Durch unbändige Neugier getrieben, begibt er sich auf eine gefährliche Suche, die für ihn beinah tödlich endet. Er ist bereit aufzugeben. Doch mit seinen Nachforschungen setzt er ungewollt ein Netz aus Ereignissen in Gang. Er gerät in den Fokus eines einflussreichen und skrupellosen alten Mannes, dessen Vergangenheit an das Register gebunden ist. Verdrängten Wahrheiten auf der Spur, erhält Elias unerwartet Unterstützung. Kann er sich mit ihrer Hilfe behaupten?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1. Grenzgang

Meine Schritte hallten durch die engen Gänge. Ich war getrieben von Angst. Wut, Verzweiflung und das Wissen über mein mögliches Versagen waren die Motivation, die mich am Leben hielt. Kein Licht und keine frische Luft, die meine ermüdeten Lungen füllen konnte. Noch immer kein anderes Geräusch, nur der dumpfe Hall meiner schwachen Schritte und des trockenen Hustens. Ich sackte zu Boden. Mein Körper krampfte. Ich zitterte. Kniend kämpfte ich um Halt, doch meine Kräfte waren aufgebraucht. Zu lang irrte ich in den Höhlen umher.

Ich konnte nicht mehr klar denken. Meine Zunge klebte am trockenen Gaumen. Mein Oberkörper kippte nach vorn über und der Kopf schlug hart auf dem Boden auf. Die Wände gaben den dumpfen Aufschlag wieder. Mein Ende, dachte ich.

Als ich meinen Oberkörper bewegte, durchstach mich ein unerträglicher Schmerz. Mit aller Verzweiflung krallte ich die Finger in den steinigen und sandigen Untergrund. Ich keuchte und biss die Zähne zusammen, schob mich vorwärts.

Meine Finger waren fast taub. Mein Kopf dröhnte. Unter Tränen richtete ich mich auf und lehnte meinen Oberkörper an die Felswand. Die trockene Luft der Höhle erschwerte das Atmen. Ich hatte Durst, aber den letzten Tropfen Wasser aufgebraucht. Vor meinen Augen tanzten glitzernde Sterne auf und ab.

Ich irrte etwa vier Tage in der Höhle umher. Am ersten Tag war ich gestürzt. Die Stirnlampe hatte es erwischt. Danach nutzte ich die LED-Lampe meines Handys. Aber der Akku reichte nur für einen halben Tag. Etwa eine dreiviertel Stunde nachdem die Taschenlampe erloschen war, hatten sich die Augen an die Umgebung gewöhnt. Aber da war nichts – kein Licht, nur absolute Dunkelheit. Die Schmerzen waren unerträglich, doch die Verzweiflung wog schwerer. Ich hatte fest daran geglaubt, das Geheimnis zu lüften. Aber mein Professor hatte angekündigt, dass die Unternehmung eine Nummer zu groß für mich wäre. Er war sogar der Auffassung, dass mich mein detektivischer Spürsinn ins Grab bringen würde. Selbstverliebt folgte ich der Spur. Sie roch abenteuerlich.

Mein Atem war schwach. Die stickige Luft und die Hitze machten mir zu schaffen. Die Lunge brannte. Bilder flimmerten unscheinbar vor meinen Augen. Ich hörte ein leises Geräusch und hob den Kopf – Kratzgeräusche. Das ist unmöglich, dachte ich. Die Gänge lagen einige Meter unter der Oberfläche. Niemand konnte sich da durchgegraben haben. Das Geräusch verstummte und ich schlief vor Erschöpfung ein. Als ich aufwachte, hatten die Schmerzen ein wenig nachgelassen, aber der Durst brannte wie Feuer. Mit lautem Stöhnen kroch ich vorwärts. Ich traute mich nicht, aufzustehen. Mein Körper war zu schwach und mir war schwindelig. Ich wollte vermeiden, dass ich erneut stürzte.

So verharrte ich einige Stunden. Schleppte mich immer wieder ein Stück vorwärts. Tastete im Dunkeln die Höhlenwände ab. Ich suchte nach einem Hinweis, der mir den Ausgang zeigen würde – ohne Erfolg.

So verging die Zeit. Die Luft war heiß, die Wände scharfkantig. Es blieb das Geräusch. Es war eine Art Kratzen oder leises Klopfen. Immer wieder rutschte ich ein Stück vorwärts, zog meinen müden Körper hinter mir her. Dann spürte ich, dass die Felswand am Boden feucht zu werden schien. Ich versuchte mich vollkommen auf dieses Gefühl zu konzentrieren. Immer wieder tastete ich die Stelle ab, an der ich Feuchtigkeit vermutete. Motiviert kroch ich weiter. Es wurde feuchter.

Auf einmal stieg Kälte von den Fingerspitzen der linken Hand aufwärts. Jetzt ließ sich das Geräusch deutlich zuordnen. Es klang wie der Wasserhahn in meiner Wohnung. Er tropfte. Kleine Wassertropfen zersprangen am Boden des leeren Spülbeckens. Im Alltag ein dumpfes und nerviges Geräusch.

In der Dunkelheit erkannte ich nichts. Seit zwei Tagen hatte ich nur die Trockenheit eingeatmet und getastet. Ich führte die Hand zum Mund. Meine Zähne knirschten vom nassen Sand. Es war Wasser. Aufgeregt tastete ich meine Umgebung ab. An der Wand spürte ich jetzt ein Rinnsal. Ich rutschte näher und ignorierte jeden Schmerz. Ich bildete zitternd eine hohle Hand. Das kalte Wasser kroch an der Handinnenseite hinauf. Mit höchster Gier führte ich das flüssige Gold an meinen Mund. Die Zeit kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis ich endlich das erfrischende Nass auf den trockenen Lippen spürte. Ich keuchte und mein gepresstes Lachen huschte durch die Gänge, dann tauchte ich die Zunge ein und spürte, wie das kühle Nass meinen Körper belebte.

Nach einigen Schlucken nahm ich die leere und verstaubte Wasserflasche aus dem Rucksack. Ich hielt sie an die Felswand und wartete ungeduldig. Dann trank ich gierig und schüttete mir das Wasser über meinen schmerzenden Kopf. Wie benommen genoss ich dieses Gefühl. Ich lehnte mit einem befreienden Stöhnen den schmerzenden Rücken an die Wand. Das kalte Wasser durchtränkte im gleichen Augenblick das verschwitzte Hemd und betäubte für einen Moment die Schmerzen. Einige Zeit saß ich da und konnte endlich klare Gedanken fassen.

Der Weg des Wassers ist des Rätsels Lösung, schoss es mir durch den Kopf. Mit etwas Glück floss es in die Freiheit.

Ich ballte die Fäuste. Die Spur aus Wasser wies mir den Weg nach draußen. Raus aus diesen Höhlen. Ich folgte der Wasserfährte.

Mein Knie war blutig. Ich bemerkte spitze Steine und scharfe Kanten erst, als ich mir die Hand an ihnen aufschnitt. Die Kälte des Bergwassers kühlte meinen Körper. Nur mit Mühe bewegte ich die steifen Glieder.

Ich fror, doch die Freude über die Situation war grenzenlos. In einigen Metern Entfernung erkannte ich schemenhaft den Fels. Licht drang in den Tunnel! Ich versuchte aufzustehen. Der Untergrund war zu erkennen. In gebückter Haltung kam ich schneller voran. Nach kurzer Zeit sah ich in 50 Metern Entfernung ein helles, gleißendes Licht. Ich lief weiter. Der anfangs kleine Lichtfleck wurde schnell größer.

Ich blinzelte in die Sonne. Das grelle Licht schmerzte. Ich richtete mich auf und schwankte aus dem Höhlenausgang. Entkräftet lehnte ich mich an einen Baum, der nur wenige Meter vor dem Eingang der Höhle schon an die hundert Jahre stehen mochte. Ich hatte es endlich geschafft.

Minutenlang starrte ich auf die Berggruppen im Westen. In nördlicher Richtung erstreckte sich der große See, der an die Berghänge anschloss. An diesem See hatte ich vor einigen Tagen mein Nachtlager aufgeschlagen. Dort lag meine restliche Ausrüstung. Mit leichtem Gepäck hatte ich mich auf die Suche gemacht. Ich hatte nur einen kleinen Vorrat an Essen bei mir. Die felsige Landschaft ließ mich schnell dafür büßen. Ich war mir so sicher, unterschätzte aber die Gefahr und das Unbekannte. Dafür zahlte ich beinah mit meinem Leben.

Bevor ich aufbrach, musste ich meine schmerzenden Gelenke zur Ruhe kommen lassen und die Wunden versorgen. Der Herweg hatte knapp drei Stunden in Anspruch genommen. Jetzt war ich auf der anderen Seite des Berges und hatte die Sonne im Gesicht. Geschunden lag ich unter dem Baum. Der Hunger schmerzte. Die Sonne senkte sich und die Nacht brach herein.

Vertraute und markante Felsformationen zeigten mir an, dass ich in richtiger Richtung unterwegs war. Der Himmel klarte auf und eine frische Brise streichelte mein Gesicht. Ich bekam Gänsehaut. Der Augenblick war einzigartig. Am Waldrand stehend, blickte ich über den See. Es war eine beeindruckende Aussicht.

Etwas wackelig auf den Beinen lief ich zwischen den Bäumen am See entlang, bis ich auf die Lagerstätte traf, die ich vor mehreren Tagen verlassen hatte. Hastig hob ich die Zweige über dem Versteck an. Zelt, Rucksack und Fotoausrüstung – alles war da.

Ich nahm den Rucksack und konnte es kaum erwarten, die Dosen zu öffnen. Gierig verschlang ich den Inhalt – ein ungewohntes Gefühl. Nach einer Viertelstunde war mein Hunger befriedigt und ich schlief ermattet ein.

Ich erwachte erst am Mittag des nächsten Tages. Mit zittriger Hand holte ich eine Landkarte aus der Tasche. Das letzte Dorf, durch das ich gekommen war, lag nur einige Kilometer nördlich von hier, direkt am See.

Geschwind verstaute ich die Ausrüstung in meinem Armeerucksack, den mir ein Freund vor Jahren geschenkt hatte. Ich schaute mich ein letztes Mal um, bevor ich das Lager verließ.

Der Weg zum Dorf war bald zurückgelegt. Es war kühl und klar. Ich kam zügig voran. Nach zwei Stunden erreichte ich den Berghang, von dem aus es nicht mehr weit war. Ich stand am Hang und genoss den Augenblick, als ich das Dorf, eingebettet zwischen den Bergen, sah. Zarte Sonnenstrahlen malten es in Farbe und Kontrast neu. Der Wind hatte sich gelegt und der Rauch aus den Schornsteinen stieg kerzengerade in den Himmel. Es schien so, als wäre es an Fäden aufgehängt und ein Puppenspieler lenkte das Geschehen. Im Hintergrund senkte sich allmählich die Sonne. Die Wolken hüllten alles in einen orangefarbenen Schleier und kündigten das Ende des Tages an. Das Abendrot wich aus dem Tal und gab es für die Schatten und die Dunkelheit frei. Ich beobachtete dieses Schauspiel und lief weiter Richtung Dorf. Ich musste eine Unterkunft finden.

 

Das Wirtshaus war klein und stammte aus der Zarenzeit. Über dem Türbogen waren kyrillische Buchstaben eingeritzt. Eine gefühlte Ewigkeit hatte der Fußmarsch gedauert.

Erschöpft klopfte ich an die Tür. Ein alter Mann öffnete. »Was wollen Sie? Wer sind Sie?«, fragte er bestimmt.

»Haben Sie etwas Warmes zum Essen und eine Übernachtungsmöglichkeit? Ich habe mich in den Bergen verirrt. Mehrere Tage war ich unterwegs.« Regungslos schaute mich der alte Mann an.

»Was wollten Sie dort draußen?«, fragte er.

Seine Blicke durchbohrten mich. Seine dunklen Augen saßen tief im Schädel. Die Haut zeugte von einem harten Leben. Wenn er sprach, verbargen seine vertrockneten Lippen nur mühsam die braunen Zähne. Die Neugier des alten Mannes war größer als die Ablehnung gegenüber einem Fremden.

So ließ er mich mit der Frage ein: »Deutscher?« Während ich bejahte, raunte er einige Worte in seinen Bart. »Setzen! Brot und kaltes Fleisch. Mehr nicht.« Ich nickte, ohne ein Wort zu sagen. Wenig später stellte die Wirtin das Essen auf den Tisch. »Es ist warm«, sagte sie lächelnd und gab mir einen Krug mit Bier dazu.

»Was verschlägt Sie in diese Gegend?«, fragte sie.

»Ich fotografiere alte Kriegsschauplätze und schreibe über die deutsch-russischen Kampfhandlungen während des Zweiten Weltkrieges. Dokumentiere alles. Dafür habe ich ein Stipendium. Ein russisches Institut unterstützt mich. Vor ein paar Tagen dann, na Sie wissen schon. Das Gewitter. Hat mich überrascht. Ich habe mich dann zu weit in die Höhlen gewagt«, seufzte ich und verschlang einen Bissen. »Das war falsch. Ich hatte keine Ahnung, was mich da erwartet«, sagte ich mit vollem Mund. »Bin etwas voreilig aufgebrochen. Habe mich nicht gerade gründlich auf die Unternehmung vorbereitet. Also, ich meine damit die Gegebenheit vor Ort.« Kurz hielt ich inne und schluckte das Essen herunter. »Deshalb bin ich nur mit Mühe und einer Portion Glück aus den Höhlen rausgekommen«, nickte ich etwas verlegen.

»Ein starkes Gewitter?«, sie lächelte. »Und Glück? Ja, tatsächlich. Sie hatten Glück. Die Höhlen sind schon seit Jahren nicht mehr sicher. Der See, Sie verstehen?«

»Sind wohl dem Wasser gefolgt?«, raunte der Wirt.

Nickend drehte ich meinen Kopf in Richtung des Hausherrn.

»Sehn auch ziemlich ausgemergelt aus. Hats ja ganz schön erwischt. Ist schon einigen so gegangen. In den letzten Jahren nicht mehr so oft. Aber früher. Ist jedes Jahr einer umgekommen.«

Nach kurzer Stille fragte mich die Wirtin: »Kann ich ein paar Fotos sehen? Heutzutage ist so etwas doch möglich, also die Bilder gleich zu sehen, meine ich.«

»Ja, möglich schon, aber die Akkus meiner Kamera sind leer.«

»Dann vielleicht morgen?«, lächelte sie mich fragend an.

»Aber gern. Kennen Sie sich mit den neuen Kameras aus?«, fragte ich neugierig. Immerhin war die Wirtin über 80 Jahre alt.

»Ja, ich war Kriegsberichterstatterin und ich fotografiere immer noch gern«, sagte sie. »Ein Kriegsschauplatz war diese Gegend aber nicht.« Sie schüttelte mit dem Kopf. »Es sollte mich wundern, wenn Sie etwas Brauchbares vor die Linse bekommen haben. Schlechte Recherche, was?«

»Nein, das glaube ich nicht, aber wie gesagt, ich bin überstürzt aufgebrochen.«

Sie schaute mich an. Ihre hellen großen Augen glänzten und ihr Blick war gebannt auf mich gerichtet. Keine Sekunde bewegte sie sich. Ihre Sehnsucht, alles zu erfahren, war groß.

»Erzählen Sie. Wir haben Zeit«, sagte sie fordernd und schaute mich vertrauensvoll an.

Ich reiste gedanklich zu dem Punkt, an dem alles begann, und erzählte. Es war vor etwa einem Jahr, die Natur hüllte sich in ein farbiges Kleid und Schwärme aufgeregter Vögel formierten sich für den weiten Flug über Felder, Wälder und Meere. Ein Eichhörnchen verscharrte die letzten Nüsse. Ich schmunzelte und blickte ins Buch, das ich seit Stunden vor mir liegen hatte. Das Ahnenerbe der SS 1935-1945. Ich war in Kapitel sechs vertieft. Der Autor legte die Ergebnisse seiner Forschungen zum Verhalten und zur Funktion des Ahnenerbes im Polen- und Russlandfeldzug dar. Die SS wütete nicht nur in Form der Einsatzgruppen. Die Verbände sollten den Forschungsdrang des Reichsführers SS befriedigen. Kunstgüter wurden geraubt, verschleppt und katalogisiert.

Nachdenklich schaute ich auf. Seit Monaten hatte ich mich diesem Thema gewidmet. Vor allem interessierten mich die Zusammenhänge zwischen der Wewelsburg, die als Schulungszentrum für SS-Führer in Planung war, und dem Kunstraub in den besetzten Ost-Gebieten.

Ich schloss das Buch und legte es auf den Rückgabe-Tisch. »Na? Fündig geworden?«, fragte mich die hübsche Bibliothekarin, als ich an der Rezeption vorbeiging.

Wir kannten uns. Schon oft hatten wir kleine Fachsimpeleien ausgetragen. Doch dieses Mal wollte ich nicht mit ihr sprechen und verneinte, da ich selbst nicht genau wusste, was das Ziel meiner Suche war. Es gestaltete sich schwieriger als angenommen, ein herausforderndes Thema für meine Magisterarbeit zu finden. Themen, die ausgiebig besprochen waren, interessierten mich nicht. Hoffnungsvoll dachte ich an die bestellten Dokumente. Sie sollten längst angekommen sein.

Ich lief die leeren Gänge entlang. Es war elf Uhr. Mein Professor hatte jetzt Sprechstunde. Er musste mir helfen, Licht ins Dunkel zu bringen, alles voranzutreiben. Die Stuhlreihe vor seinem Dienstzimmer war leer, denn es war Freitag.

»Kunstraub und Wewelsburg. Zweifelsfrei ein ergiebiges Thema, dennoch würde ich Ihnen davon abraten. Die Literatur hält sich, gelinde ausgedrückt, in Grenzen. Es sind Themen des Dritten Reiches, die nicht so umfänglich bearbeitet sind wie andere. Für eine Magisterarbeit ungeeignet. Eher für Ihre Dissertation bestimmt. Schauen Sie sich die wenigen Aufsätze des letzten Jahres an.« Kopfschütteln. »Lassen Sie die Finger davon, denn damit einher geht der enorme Zeitaufwand, der für eine Magisterarbeit nicht verhältnismäßig ist. In Ihrer Doktorarbeit können Sie das Thema immer noch abhandeln, sofern Sie Ihr Interesse nicht verlieren«, sagte er, während er mit dem Zeigefinger auf die Schreibunterlage tippte.

»Entscheidend ist die Herausforderung. Der Zeitfaktor ist nicht wichtig. Und das Thema meiner Hausarbeit hat mich gelangweilt«, entgegnete ich.

»Gelangweilt? Sie haben sich beinah um den Verstand recherchiert.« Er atmete tief ein und sprach weiter. »Sie wissen um Ihre Begabung, Dingen exakt auf den Grund zu gehen und sie zielsicher aufzuspüren. Die erwähnte Verhältnismäßigkeit ist aber nicht immer gegeben. Sie sollen mit dem Studium fertig werden. Große Wunder erwartet keiner. Ich will sehen, dass Sie das Handwerkszeug eines Historikers präzise einsetzen können.«

Ich wollte mich nicht entmutigen lassen. »Gut. Dennoch werde ich mich nicht der Simplizität hingeben, nur weil es keiner von mir erwartet.«

Beschwichtigend gab der Professor nach. »Ich weiß, dass Ihre Arbeiten inhaltlich tiefgründig sind. Ich möchte nur vermeiden, dass Sie ein Thema wählen, an dem Sie zwei Jahre verbringen. Sie sagten mir mal, dass Sie nicht an der Universität bleiben wollen. Ich bedaure das. Es ist Ihre Entscheidung. Glauben Sie mir: Da draußen wartet keiner auf Sie. Sie müssen endlich in die freie Wildbahn.« Er winkte ab. Seine Ansprache war wirkungslos. »Nun gut. Offenbar kann ich Sie an Ihrem Forscherdrang nicht hindern oder mich dem verweigern, vielleicht hat es den positiven Nebeneffekt, dass Sie sich das mit Ihrer Universitätskarriere doch noch einmal überlegen.«

Mit einem freundlichen Lächeln beließ er es bei dieser Diskussion und schaute mich an. »Nun gut. Wie wollen Sie das Thema Wewelsburg und Kunstraub zusammenbringen? Was ist Ihre Vorstellung?«

»Mich interessiert die Geschichte geraubter Kunstschätze in den ehemaligen besetzten Gebieten. Während des Feldzuges gegen Polen und die Sowjetunion. Im besonderen Maße interessiert mich dabei die Rolle der SS. Ich vermute, dass sich Soldaten an der geraubten Kunst bereichert haben. Dann sind da noch Himmler und seine Wewelsburg als Hort geraubter Beutekunst. Ich habe bereits nachgeforscht und wahrscheinlich aufschlussreiche Dokumente gefunden. Leider warte ich seit Wochen auf sie. Ich bin mir sicher, dass darin wichtige Informationen enthalten sind. Eine Korrespondenz liegt mir ebenfalls vor und Unterlagen mit einer Ortsangabe in Russland.«

Der Professor wirkte für ein paar Sekunden nachdenklich. »Na gut«, sagte er schließlich. »Das ist etwas orientierungslos. Sie haben möglicherweise ein paar sehr gute Unterlagen, aber die reichen noch nicht aus. Und mit der Ortsangabe«, er schüttelte den Kopf, »mit Verlaub, behalten Sie es im Hinterkopf, nicht mehr.« Er hielt kurz inne. »Wir machen jetzt Folgendes: Konkretisieren Sie die Fragestellung. Lassen Sie uns dann den inhaltlichen Rahmen festzurren, solange Ihre These im Bereich des zeitlich Machbaren liegt«, sagte er eher versöhnlich.

Seine Bedenken, ich könnte es wieder übertreiben, waren deutlich spürbar. »Das Ahnenerbe ist gut erforscht«, fuhr er fort. »Möglicherweise zeigt die Forschung einen Zusammenhang zwischen dem Ahnenerbe und den damit verbundenen Handlungen in den besetzten Gebieten und dem Kunstraub.« Er breitete seine Arme fragend aus. »Vielleicht treffen Ihre bestellten Dokumente in der Zwischenzeit ein. Ich höre mich bei einem Kollegen um. Wenn ich mich recht entsinne, hat er dazu geforscht. Wie da der Stand ist, weiß ich im Moment nicht. Ich glaube aber, dass er das Thema im Einzelnen nicht weiterverfolgt hat. Die lückenhafte Aktenlage«, er zog die Brauen nach oben. »Genau deshalb habe ich bei Ihnen Bedenken. Das ist sehr wahrscheinlich eine Nummer zu groß. Aber wir schauen erst einmal, bevor Sie sich in den Büchern vergraben.«

Wieder dachte er angestrengt nach. »Sie hatten doch erst eine umfangreiche Nachforschung bezüglich der Einsatzgruppen der SS vorgelegt? Es war, glaube ich, Ihre letzte Hausarbeit. Ich meine, mich zu erinnern, dass die Arbeit knapp hundert Seiten umfasste?« Fragend schaute er mich an. »Vielleicht wäre es hilfreich, wenn Sie auf Vorhandenem aufbauen. Die Rezeptionsgeschichte des Ahnenerbes in der deutschen Presse nach 1945 zum Beispiel. Bauen Sie das Thema weiter aus. Wie viele Artikel hatten Sie damals herausgefiltert?«

»Es waren etwas über eintausend.«

Der Professor grübelte. »Vielleicht gehen Sie in diese Richtung. Nutzen Sie die Rechercheergebnisse und verknüpfen Sie diese mit den bisherigen Informationen. Die Sonderkommandos für den Kunstraub waren sicherlich involviert. Wie gesagt: Knüpfen Sie in den nächsten beiden Wochen Zusammenhänge – zwischen der SS, genauer den Einsatzgruppen, und dem Kunstraub im besetzten Ostgebiet. Ich bin mir sicher, dass Himmler Aufträge an seine Einheiten vergab. Vorstellbar ist es, zumal Göring nicht die Ressourcen hatte, in den Ostgebieten selbst tätig zu werden. Dadurch hatte Himmler einen entscheidenden Vorteil.« Er lächelte. »Dann haben Sie zumindest ein Thema, welches Sie nicht langweilt. Wenn Sie in zwei Wochen nichts Handfestes vorweisen können, werden wir die Sache anders angehen. Einverstanden?«

Zustimmend gab ich ihm meine Hand.

 

Die Tür fiel ins Schloss und ich verließ das Gebäude. Im Hof zündete ich mir eine Zigarette an. Mit voller Befriedigung zog ich daran. Also dann, dachte ich. Die Suche nach geraubten und verschleppten Kunstschätzen geht weiter.

In Gedanken versunken, schaute ich in den dunkelblauen Himmel und erblickte einen kreisenden Bussard. Ich erkannte deutlich seine markant brettartigen Flügel. Er schwebte so elegant und friedlich im Sommerhimmel. Geräuschlos nahm er seine Beute ins Visier. Er wandelte die Form in die eines Jagdfliegers und raste im Sturzflug wie ein fallender Stein auf die Grünfläche neben dem Gebäude zu. Ich verlor ihn für einen Moment aus den Augen. Das dichte Blätterwerk der riesigen Buche nahm mir die Sicht. Sekunden später schlug der braune Jäger beinah auf dem Boden auf. Präzise breitete er kurz vor dem Aufschlag die Flügel aus und stoppte kontrolliert den freien Fall. Seine Fänge bohrten sich in das überraschte Opfer. Stolz erhob er seinen Kopf. Jetzt folgte ein kräftiger Hieb. Die Beute war tot.

Ich war wie erstarrt von der Szene, die sich direkt vor meinen Augen abgespielt hatte. Ich nahm einen letzten Zug und ging in Richtung Bahnstation.

Auf dem Weg dorthin traf ich Max, einen guten Freund. Stets bei bester Laune, gesellte er sich zu mir. Er mochte einer der wenigen Menschen sein, die mich wirklich kannten. Sein ausgeglichenes Gemüt war eine Wohltat. Seine dunklen Augen funkelten und sein schwarzes Haar glänzte in der Sonne. Die braunen Sneaker waren verschlissen. Sein abgenutztes T-Shirt verbarg nur mit Mühe den Bauchansatz. Max waren solche Details egal. Er hatte andere Ideale als einen definierten Bizeps oder ein volles Konto. Wieder einmal lief er in dem für ihn typischen kerzengeraden Gang neben mir her. Seine angenehme, tiefe Stimme hatte ich in den letzten Wochen nur selten gehört.

»Wie sieht es aus, Elias? Was ist mit deinem PC? Willst du das System heute neu aufgesetzt haben oder nicht?«, fragte er beinahe vorwurfsvoll.

»Na klar. Tut mir wirklich leid. Ich hätte dich anrufen sollen. Aber ich bin grad in andere Themen vergraben. Das ist zeitlich immer eng«, sagte ich unsicher, wohl wissend, dass ich in derlei Sachen nachlässig war.

»Wirds heute Abend was, um neun? Nach meinem Training im Schützenverein?«, fragte mich Max direkt. Er appellierte an meine Spontanität.

»Neun sollte passen«, sagte ich dankbar.

Wir liefen eine Weile nebeneinander, bevor wir uns verabschiedeten.

 

Wie immer kam Max pünktlich. Computerprobleme zu lösen war seine Berufung. Das Hobby zum Beruf machen ist für viele Menschen ein Traum. Nicht für Max, der sich im zweiten Semester selbstständig gemacht hatte. Dafür galt ihm meine Bewunderung. Dementsprechend schnell war mein Rechner einsatzbereit und ich konnte wieder ermitteln. Max war nach einem fantastischen Mahl und einigen Bieren gegangen. So suchte ich weitere Literatur und Quellen für meine Arbeit. Nach Stunden war ich müde und schaltete den Computer aus. Ein letzter Schluck und ich ließ mich auf das schmale Bett fallen, das in meinem kleinen Zimmer unter dem einzigen Fenster stand. Die harte Matratze federte nur wenig nach.

Während ich regungslos da lag, sah ich das Bild meines Großvaters vor meinen Augen. Gesehen hatte ich ihn nur auf Fotografien. Eine war mir in Erinnerung geblieben: Ungezwungen, unbelastet von schrecklichen Ereignissen, saß er als junger Mann auf einer Wiese. Neben ihm seine Frau. Sie war bildschön. In einem seiner Briefe erwähnte er diesen Tag. Es war für beide einer der letzten friedlichen Sommertage, bevor der Krieg ausbrach. Wenige Wochen später wurden sie von der SS deportiert. Ihre kleine Tochter, meine Mutter, hatten sie Tage vorher einer deutschen Familie anvertraut. Von dieser kannte sie die Wahrheit. Seine Frau, meine Großmutter, wurde vergast. Er kam in ein kleines Lager in der Nähe der Wewelsburg.

1939 war der Fortgang der Bauarbeiten an der Wewelsburg, dem geplanten ideologischen Zentrum der SS, gefährdet. Im Mai 1939 setzte Himmler für sein Lieblingsprojekt KZ-Häftlinge aus dem Kleinen Lager Niederhagen ein. Mein Großvater war unter ihnen. Jahre nach dem Krieg erhielt meine Mutter neun Briefe. Eine Dorfbewohnerin hatte sie aufbewahrt. Ich war darüber erstaunt. Denn es war der Wewelsburger Dorfbevölkerung strengstens untersagt, Kontakt mit den Insassen aufzunehmen. Aber es muss die Erklärung sein, wie die Dokumente aus dem Lager kamen. Es gibt Unterlagen darüber, die die Hilfeleistungen der Wewelsburger Frauen und Mütter während des Krieges belegen. Dass die Bevölkerung Vorbehalte gegen die SS-Mannschaften auf der Burg hatte, ist durch einige Berichte und die Dorfchronik belegbar.

Wie mein Großvater zu Tode kam, habe ich nie erfahren. Die Todesquote im Lager Niederhagen war hoch. Von insgesamt 3300 Häftlingen starben 1285. Wahrscheinlich kam er bei den schweren und gefährlichen Arbeiten an der Burg ums Leben. Er war Diplom-Bauingenieur gewesen und vor den Nazis erfolgreich in seinem Beruf – und glücklich. Mein Großvater erwähnte in den Briefen ein sogenanntes Kommando Nordturm-Burg als Arbeitsgruppe. Viele Gräueltaten beschrieb er – Unvorstellbares. Ich weiß nicht, wie die Wachmannschaften zu derartigen Dingen fähig sein konnten. Vielleicht starb er im Steinbruch.

Unzählige Male hatte ich die Briefe studiert. Sie waren die einzige Verbindung zu ihm und einer der Gründe, weshalb ich mich für dieses Thema entschied. Ich wollte wissen, wer er war und für was er starb. In einem Brief erwähnte er die Raubzüge des Reichsführers SS und Chefs der deutschen Polizei, Heinrich Himmler. Nur kurz hatte er einen Transport beobachtet, der Kunstschätze anlieferte. Leider trug der Brief weder ein genaues Datum noch beinhaltete er einen konkreten Hinweis, wann er die Beobachtung gemacht hatte, sondern nur, dass er zu dieser Zeit unter strenger Bewachung am Tor gearbeitet hatte. Vielleicht hatte mein Großvater bis 1945 überlebt und wurde als Mitwisser erschossen, da er sicherlich gewusst hatte, wo und welche Kunstschätze in der Burg zu finden waren. Aber bewiesen ist nichts.

Bei diesen Gedanken konnte ich nicht einschlafen. Stattdessen wälzte ich mich hin und her. Raufte mir verzweifelt die Haare. Ich sprang aus dem Bett und lief auf und ab. Die alten Dielen knarrten. Ich legte ein Holzscheit in den Ofen nach und schloss die Ofentür. Die Wärme umhüllte mich.

Frustration keimte in mir auf und die Ungeduld wuchs wieder ins Unermessliche. Die Dokumente, von deren Inhalt ich mir aufschlussreiche Informationen erhoffte, trafen nicht ein. Ich wartete schon eine gefühlte Ewigkeit. Mittlerweile konnte mich dieser Gedanke, dass die Dokumente mir einen Weg vorgaben, nicht mehr motivieren und mein Geldtopf war beinah leer – das Stipendium fast aufgebraucht.

 

Ich sah die Frau des Wirtes an, die meiner Geschichte gespannt zugehört hatte. Der Wirt stand im hinteren Bereich des Raums. Ich setzte eine Weile mit der Erzählung aus. Stille. Nur der Kamin knisterte.

»Tja und dann, dann machte ich den alles entscheidenden Fehler«, fuhr ich fort. »Ich hatte nur eine Korrespondenz und einige Briefwechsel zwischen hohen SS-Führern als Indiz für eine Art Register für geraubte Kunstschätze. Sie erwähnten immer wieder diesen Ort hier in Russland, an dem ich beinah den Tod fand. Eigentlich sollte ich den nur im Hinterkopf behalten«, schnaufte ich. »Dazu eine Sammlung von Briefen«, fuhr ich fort »die an Heinrich Himmler adressiert waren, und einige detaillierte Dokumente über Hinrichtungen deutscher Deserteure in dieser Gegend. Mehr hatte ich nicht.« Ich schüttelte den Kopf. »Meine Ungeduld war das Zünglein an der Waage. Mit dem restlichen Geld setzte ich alles auf eine Karte. Ich wollte die Beweise für dieses Register in dieser Gegend finden. Ich war mir so sicher. Wie töricht und naiv.«

Das letzte Stück Fleisch verschwand in meinem Mund, dazu ein kräftiger Schluck aus dem Bierkrug. Die Frau des Wirts schaute mich an.

»Die Erforschung unbekannter Orte ist immer mit Risiken verbunden«, sagte sie.

»Da kann schnell mal was schiefgehen«, pflichtete ich ihr bei. »Das alles für eine Magisterarbeit. Absolut lebensmüde«, ich lachte verächtlich und griff mir an die Stirn. »Leider nehme ich nichts Brauchbares mit nach Hause. Außer natürlich Demut. Ich meine, dass ich das überlebt habe«, seufzte ich.

»Was haben Sie denn erhofft zu finden?«, fragte sie mich in ihrem akzentfreien Deutsch.

»Lass ihn«, polterte der Wirt, »es reicht.«

Ich zuckte zusammen.

»Lass die Dinge, wie sie sind. Du musst wissen, dass die Neugier meiner Frau unersättlich ist«, entschuldigte er sich für die bohrenden Fragen. »Hin und wieder kommen Touristen aus der Stadt. Sie wollen an den See, da werden Führungen angeboten. Deutsche Flugzeuge sollen dort im Krieg abgestürzt sein. So falsch sind deine Nachforschungen nicht. Die Touristen kaufen in unserem Wirtshaus Essen, das hilft uns zu überleben. Alle im Dorf leben davon. Meine Frau will jede Neuigkeit erfahren und so sind ihr Gäste immer willkommen.« Er winkte ab. »Jetzt setz dich mit uns ans Feuer und ruh dich aus.«

Wir setzten uns an den Kamin. Sie erzählte von vergangenen Zeiten an der Front, von ihren Erlebnissen mit den Deutschen.

Ihr Mann regte sich keinen Augenblick. Er starrte in die Flammen und schien mit offenen Augen zu schlafen. Der Schein des Feuers spiegelte sich flackernd in seinem vom Alter gezeichneten Gesicht. Der Kopf wurde von der linken Hand gestützt. Einzelne graue Strähnen seines vollen Haares fielen ihm ins Gesicht. Es störte ihn nicht. Er hielt einen alten, verbeulten Becher, gefüllt mit Wein, in seiner rechten Hand.

Das Feuer war heruntergebrannt. Der alte Mann stand auf und lief in Richtung Ausgang. Er öffnete die Tür und blieb auf der Schwelle stehen.

»Die Treppe hoch und dann links. Da ist dein Bett.« Ohne sich umzusehen, ging er hinaus in die Dunkelheit, die ihn sofort verschlang.

Ich stand auf, dankte für das Essen und den Wein. Seine Frau schaute zu mir auf und nickte lächelnd. Schwerfällig erklomm ich Stufe um Stufe. Die Schmerzen wurden stärker.

Ich steckte das Ladegerät für meinen Kameraakku in die Steckdose am Nachttischschrank und ließ mich dann ins Bett fallen. Mein Körper brauchte Schlaf.

 

Weiche Sonnenstrahlen streichelten meine Nasenspitze. Leises Vogelgezwitscher drang an mein Ohr. Ich sog die kalte und frische Morgenluft ein. Ich öffnete meine Augen und richtete mich auf. Welch eine Energie verspürte ich! Mein Blick fiel durch das Fenster auf den See, mit seinem tiefblauen und klaren Wasser. Die Berge um ihn herum erstrahlten in satten Farben. Am Fenster stehend, hielt ich diesen friedlichen Augenblick mit meiner Kamera fest. Ein Adler kreiste über dem See. An den Hängen der Berge vor mir sah ich kleine, weiße Punkte. Schafe, die der grünen Bergwiese die hellen Flecken verliehen. Mein Blick folgte dem Ufer in südlicher Richtung. Ich erkannte die gigantischen Felsen, die mich für mehrere Tage gefangen gehalten hatten und fast mein Grab geworden wären. Wie beeindruckend sie von hier aussahen. Mächtig und kraftvoll, aber friedlich. Die Zeit der Ungewissheit war vergangen und aufs Neue belebt. Diese Weite und Schönheit der Natur öffnete meine Seele und ich gewann abermals eine andere Perspektive auf die gegenwärtige Situation. Wer, wie ich, dem Tod ins Auge geblickt hatte, schärft seinen Blick für das Wesentliche.

Ich wollte weder meine Ziele aus den Augen verlieren noch die Strategie ändern. Kein Ruhm, keine Anerkennung diente mir als Antriebskraft, sondern die Suche nach der Wahrheit. Als Historiker war ich ihr verpflichtet. Es fühlte sich richtig an.

Ich packte meine Sachen, nahm den Rucksack und verließ das Zimmer. Der Wirt und seine Frau saßen im Schankraum und frühstückten. Der Wirt drehte sich zu mir um. »Frühstück?«

»Ja gern.«

Ich aß und zeigte der Wirtin die Fotos. Entgegen ihrer gestrigen Neugier sah sie sich die Aufnahmen ohne jede Regung an. »Schön«, sagte sie etwas gleichgültig.

Ich zahlte. Die Verabschiedung war herzlich. Trotzdem hatte ich ein mulmiges Gefühl. Irgendetwas stimmte nicht.

»Sei vorsichtig«, sagte der Wirt, »man kann nie wissen.« Auf seinem Gesicht erkannte ich zum ersten Mal ein leichtes Lächeln. Aber er schien etwas nervös zu sein.

Nachdenklich verließ ich das Wirtshaus. Ich folgte dem Ufer. Kam nur wenige Meter, drehte mich um, sodass ich den Bootssteg an der Rückseite des Hauses sah. In diesem Moment verließ der Wirt das Haus durch die Hintertür. Er machte in aller Eile sein Boot los und fuhr ein paar Meter hinaus. Er schaute sich in meine Richtung um. Ich versteckte mich schnell hinter einem Baum in einem mannshohen Gebüsch und beobachtete von dort aus das Geschehen. Er war sich offenbar sicher, dass ich weg wäre, und setzte seine Fahrt in Richtung des gegenüberliegenden Ufers fort. Ich beschloss zu warten.

Nach einer halben Stunde näherte sich das Boot wieder dem Bootssteg am Haus. Es hing tief im Wasser. Es musste beladen sein. Der Dieselmotor lief auf Hochtouren. Ich war skeptisch und holte meine Kamera und das große Teleobjektiv aus dem Rucksack.

Gespannt wartete ich hinter dem Baum im Gebüsch ab. Ich schob die Zweige etwas beiseite und legte die Kamera an. Jetzt wusste ich meine Leidenschaft für große Brennweiten zu schätzen. Der Sucher war hell und der Bildausschnitt optimal. Deutlich erkannte ich neben dem Wirt zwei Männer auf dem Boot.

Der Wirt steuerte den Steg zielsicher an. Die Serienbildaufnahme ratterte wie ein Maschinengewehr. Immer wieder drückte ich den Auslöser. Das Boot legte an. Die Männer entluden es. Schwere Kisten, technisches Gerät und andere Gegenstände hievten sie aus dem Kahn, der etwa 80 Meter Luftlinie von mir entfernt lag. Der Wind stand günstig. Ich hörte den Wirt und seine anonymen Begleiter.

Einer der Männer drehte sich mit dem Gesicht in meine Richtung. Er verschnaufte, da das Entladen der Fracht anstrengend war. Seinen Hut setzte er ab. Ich sah sein Gesicht deutlich. Bloß nicht verwackeln, dachte ich, halt ja still. Mein Puls raste. Ich fühlte mich sicher, spürte aber die Gefahr, die vom Bootssteg ausging. Wer waren diese beiden Männer?, hämmerte es in meinem Kopf.

Einer der fremden Begleiter wurde unruhig. Er schaute immer wieder in meine Richtung und holte ein Fernglas heraus.

Jetzt fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Geschockt schaute ich gen Himmel – die Sonne! Sie stand mir gegenüber und spiegelte sich sicher im Objektivglas wider.

Der Wirt und der andere Mann stellten die Kisten ab. Sie schauten abwechselnd durch das Fernglas in meine Richtung. Mein Herzschlag stieg bis zum Hals. Sie hatten mich entdeckt. In aller Eile verstaute ich die Kamera. Aber es dauerte zu lange, bis ich das schwere Teleobjektiv gelöst hatte. Ich zurrte mir den Rucksack auf den Rücken und versuchte, unbemerkt zu entkommen. Ich wollte flüchten, da hörte ich Schritte. Mein Herz raste. Der Klang der schweren Stiefel schürte die Angst. Es war der Wirt. Er hielt vor dem Busch und sagte leise: »Ich habe in genug Schützengräben gelegen, um zu wissen, dass du zum zweiten Mal einen folgenschweren Fehler begangen hast. Im Felde wärst du vor wenigen Sekunden gestorben. Was immer du in den Höhlen gesucht hast, es ist nicht mehr hier.«

Ich trat einen Schritt aus dem Gebüsch heraus. Er lächelte mich an. »Zu viele habe ich sterben gesehen und die Männer auf meinem Kahn sind wegen dir gekommen. Sie verfolgen dich schon eine ganze Weile. Es ist kein Spiel. Du gräbst in Dingen, denen du nicht gewachsen bist. Aber ein Teil in mir hofft, dass du nicht aufgibst. In der letzten Nacht habe ich mich entschieden: Vergangenes sollte keine Opfer mehr fordern. Aber sieh dich vor, ab jetzt wird alles anders.«

Er drehte sich um und schrie in Richtung des Bootes: »Der is weg, war aber hier. Das Gebüsch ist eingedrückt und auf dem Boden sind frische Spuren.« Er lief zurück, ohne sich umzudrehen.

»Der kann nicht weit sein. Verdammt noch mal«, brüllte der größere der beiden Männer dem Wirt entgegen. »Sie ham doch gesagt, dass er weg wäre, und das schon ne ganze Weile. Was soll das? Wir hatten eine Abmachung!«

Der Wirt war nur wenige Meter vom Steg entfernt. »Stimmt, war so nicht besprochen, lässt sich aber nicht ändern«, sagte er. Es gelang ihm, seine Lüge glaubhaft zu verkaufen.

»Der Bengel hat uns doch gesehen. So viel ist schon mal sicher. Wer sagt das jetzt dem Boss? Gibt wieder einen Anschiss, verdammt noch mal. Los! Erstatten Sie Bericht und buchen Sie gleich nen Flug. Machen Sie das Auto klar.«

Der größere der beiden Männer entfernte sich unbeherrscht vom Boot. »So ein Mist!«, brabbelte er weiter. »Es hieß verfolgen und berichten. So ein Scheiß! Nur Dilettanten hier. Ich hab noch gesagt …«

Die beiden Männer am Boot nahmen nur Wortfetzen wahr, da er hinter der Hausecke verschwunden war.

Sein Kollege rief ihm rechtfertigend hinterher: »Der braucht nur Vorsprung. Es läuft doch. Der ist angefixt. Lassen wir für den Moment Ruhe einkehren.«

 

Das Flugzeug brach durch die dichte Wolkendecke. Der blaue Himmel und die helle Sonne fluteten sogleich den Innenraum der Maschine. Ich saß auf Platz 27 F, unter dem Vordersitz mein Handgepäck. Ich schaute mir die Fotos auf dem Display meiner Kamera an und sah direkt in die Gesichter der Männer, die mich verfolgten. Der kleine Bildschirm der Kamera spiegelte die feuerrote Sonne wider. Ich war zu müde, um über Vergangenes nachzudenken.

2. Suche

Es war ein sonniger Tag, aber für mein Empfinden etwas zu kalt. Ich trug eine leichte Jacke. Auf dem Weg zur Bibliothek dachte ich an die bestellten Dokumente und an meine Erlebnisse in Russland. Das war einige Wochen her gewesen. Mein Zustand war nicht bedenklich, hatte mein Arzt gesagt. Dass ich schlecht schlafen würde, wäre normal. Er wusste nicht um die wahren Umstände. Meine Träume waren lebendig. Jede Nacht erfuhr ich die steinerne Gefangenschaft neu. Die Kehle war staubtrocken – jeden Morgen.

Ich hielt kurz inne. Sah nur schemenhaft das Eingangstor der Universität. Dann schaute ich in den blauen Himmel. Das Rauschen des Laubs beruhigte mich. Die vergangenen Erlebnisse holten mich ein. Bevor ich weiterlief, sagte ich zu mir: »Dramatik hast du gewollt. Abenteuer hast du dir herbeigesehnt. Es war ein harter Aufschlag, aber jetzt komm damit klar.«

Ich betäubte mich mit unablässiger Recherche. Seit meiner Rückkehr las ich beinahe täglich in der Bibliothek und meine erste Frage im Lesesaal war immer die gleiche. Die Antwort der Bibliothekarin bisher auch.

Nach etwa zehn Minuten Fußmarsch hatte ich die Universitätsbibliothek erreicht. In voller Vorfreude auf das, was mich heute erwarten würde, öffnete ich die Tür zum Gebäude. Ob die bestellten Dokumente endlich bereit liegen würden? Am Tag zuvor hatte ich online nachgeschaut. Merkwürdigerweise hatte aber mein Laptop versagt, obwohl Max ihn repariert hatte.

Ein fragendes »Ja, bitte?« der Bibliothekarin unterbrach meinen Gedankengang. Sie schaute mich mit einem ernsten Gesichtsausdruck an. Sie stand auf und lief zielstrebig auf die Regale mit den Bestellungen zu. Den Umschlag hielt sie mir mit einem leichten Grinsen vor die Nase und sagte: »So, die Dokumente sind endlich da! Das Archiv stellt dir 25 Euro Kopier- und Transportkosten in Rechnung.«

Ich zahlte und nahm voller Spannung die Unterlagen. Ich setzte mich in den großen Saal. Er war leer, wie meist um diese Zeit. Das Morgenlicht verlieh den alten Tischen eine tiefbraune Farbe. In Ruhe breitete ich die Seiten vor mir aus.

 

Wie andere Nazi-Größen hatte auch Heinrich Himmler, der SS- und Polizeichef, auf der Wewelsburg einen Kunstschatz gehortet. In den Briefen meines Großvaters ließen sich Anspielungen auf diesen Schatz finden. Himmler hatte die Burg im Jahr 1942 besucht, mit ihm kamen Lkws.

Mein Großvater sah bei seinen Arbeiten am Nordturm, dass verschiedene Kunstgegenstände in die Burg gebracht wurden. Mehr erwähnte er in dem Brief nicht. Im vermutlich letzten Brief vermerkte er nebenbei, dass, aufgrund der Großschnäuzigkeit der Wachen, seine Vermutung bestätigt wurde: Himmler häufe einen Burgschatz an.

Nach mehr als 60 Jahren lässt sich die Frage nach dem Warum beantworten. Himmler ließ Kunstschätze aus Europa rauben, um einen Notgroschen für schlechte Zeiten zu haben, so die offizielle Version.

Wie in anderen Bereichen duellierten sich die NS-Größen. Hitler selbst mischte sich nicht ein, um seine Person im Lichte der unangefochtenen Autorität zu positionieren. Er steuerte und delegierte seine Schergen.

Anfangs war die Burg nur für feierliche Zusammenkünfte des höchsten SS-Führerkorps gedacht. Neben seiner privaten Gier reifte in Himmler der Wunsch, die Burg zu einem Bollwerk seines SS-Ordens und zum Mittelpunkt der Welt auszubauen. Später sollten die SS-Ringe der höchsten SS-Führer nach ihrem Tode in der Burg eingelagert werden. Tradition nannte er das. Am Ende lag die Burg – zumindest ein Teil von ihr – in Schutt und Asche.

Im Wettlauf mit anderen NS-Schergen war er bemüht, ein Stück vom Kuchen abzubekommen. Hitler, Göring und andere waren begierig darauf, die Museen zu plündern. Hitler selbst plante in Linz ein großes Museum für die germanischen Kunstschätze.

Mäßigen Erfolg konnte sich Himmler nicht erlauben. Elitebildung war das Stichwort. Himmlers Wewelsburg sollte hierfür als Pendant zu den Ordensburgen der Partei gerüstet sein. Eliteschulung auf einer Burg mit der größten Bibliothek über das Germanentum, 16000 Bände füllte sie – angeblich. Der Hauptschulungsleiter, Dr. Hans-Peter des Coudres, gab 1938 diesen Bestand an, zusätzlich 80 Zeitschriften und fünf Handschriften. Hochrangige SS-Führer sollten die Schulungen auf der Burg durchlaufen. Es war naheliegend, dass das germanische Kulturgut auf der Burg dem entsprechen sollte. Ein Wissenschaftler namens Wilhelm Jordan hatte Himmler bei seinen Planungen und Raubzügen unterstützt. Erpressung, Bestechung und Raub waren die gängigen Methoden bei der Beschaffung von Kunstschätzen gewesen. Jordan hatte 1944 das Kriegsverdienstkreuz 2. Klasse erhalten. So waren die Bestände auf der Burg immer umfangreicher geworden.

 

Ich schaute nach oben und genoss für einen Moment das Sonnenlicht, welches durch die riesige Glaskuppel direkt in mein Gesicht schien. »Und ich werde mich um den Verstand recherchieren«, entfuhr es mir. Doch die Begeisterung für das Kommende war zu groß, als dass ich mich selbst von diesem Thema abhalten würde. Zu brisant und unerforscht war es und ich hatte in den Höhlen einen hohen Preis gezahlt. Ich konnte jetzt nicht aufgeben. Aber es würde Zeit kosten, und so sichtete ich die Dokumente.

Nach einer Stunde nahm ich erwartungsvoll die letzte Kopie in die Hand. In der linken oberen Ecke prangten die SS-Runen. Sie präsentierten den Eigner des Dokuments. Das kräftige Schwarz des Stempels fraß sich in das Papier. Unter dem Siegel stand in Druckbuchstaben GEHEIM. Der Absender war ein SS-Hauptsturmführer und Mitarbeiter des Ahnenerbes, der einem der vier sogenannten Erfassungskommandos angehörte. Die Kommandos hatten Kulturgüter und Vermögenswerte in den besetzten Ostgebieten registriert und sichergestellt.

Das Schreiben war direkt an den Reichsführer SS gerichtet. Nach der üblichen Begrüßung kam er sofort auf den Punkt: »… wurde an mich herangetragen, daß persönliche Bereicherungen … durchgeführt werden … Ich besitze Informationen über ein Register, angefertigt durch einen, erst kürzlich von den Einsatzgruppen versetzten, jungen SS-Standartenführer. Angeblich dokumentiert dieses Register Aufenthaltsort, Name und derzeitigen Wert der gestohlenen Werke. Es ist keine gesicherte Aussage möglich, ob er selbst an der Bereicherung teilnimmt oder im Auftrag arbeitet … Dem Ausschnitt der Liste nach zu urteilen, sind es Werke, denen Sie, verehrter Herr Reichsführer SS, Priorität in Bezug auf die Wewelsburg einräumen.«

Am Ende des ersten Blattes wurden die Daten des SS-Standartenführers aufgeführt. Leider so unkenntlich, dass ich sie nicht entziffern konnte. Ich vermutete eine Auftragsarbeit, da wichtigen NS-Größen, wie Göring, die Ressourcen zur Beschaffung wertvoller Kunstwerke fehlten. Möglicherweise ließ er vereinzelt SS-Männer für sich arbeiten.

Obwohl mir diese Idee absurd erschien, ist es eine Tatsache, dass zwischen Himmler und Göring eine Rivalität bestanden hatte. Göring seinerseits in den besetzten Gebieten die Ressourcen Himmlers benötigte – der SS.

Ich war gebannt und las auf der zweiten Seite des Briefes weiter. »… im Anhang führe ich Ihnen einen Ausschnitt aus dieser vermeintlichen Liste zu. Es ist eine Abschrift. Die Informationen wurden mir vor einer Woche von einem tüchtigen SS-Mann namens Herrmann Müller zur Verfügung gestellt. Ich veranlasste eine Untersuchung, die binnen weniger Tage durchgeführt wurde. Es ergaben sich vier von fünf Übereinstimmungen. Wir stießen auf vier Gemälde in einem Bauerngehöft. Ich veranlasste die sofortige Zuführung der Kunstgüter zu einem Transport nach Deutschland. Die Bauernfamilie wurde einer Erschießung zugeführt. Zurückhaltung von Reichseigentum …« Wie elektrisiert las ich weiter. »Der ehrliche SS-Mann Herrmann Müller wurde befördert, verstarb wenige Tage später durch eine Sprengfalle. Ich veranlasste die Überführung des Leichnams.«

Auf den unteren Seiten führte der Verfasser die Einheit auf, in der der SS-Mann Müller zu dieser Zeit diente. Die Angaben waren deutlich zu lesen. Ich atmete tief durch und spürte, wie mir ein Schauer über den Rücken lief – ich hatte eine Verbindung!

Ich legte das Dokument auf den Tisch und lehnte mich zurück. So viel stand fest: Das Thema für meine Arbeit hatte ich gefunden. Vor mir lag der Beweis. Offensichtlich gab es unter den Kommandos einige Soldaten, die Kunstgüter abzweigten. Wichtiger war in diesem Moment: der Beweis, dass es das Register gibt.

 

Es war wieder elf Uhr.

»Seien Sie gegrüßt. Wir haben uns ja nun schon eine Ewigkeit nicht gesehen. Wie ich gehört habe, haben Sie die Sache selbst in die Hand genommen«, sagte der Professor streng. »Was Sie da gemacht haben, das hat nichts, überhaupt nichts mit wissenschaftlicher Arbeit zu tun. Das ist naiv.« Er war aufgebracht. »Ich habe Sie in Ihrem gesamten Studium unterstützt, aber dass Sie diese Dummheit begehen … mir fehlen die Worte.«

Er beruhigte sich. »Sie hatten Glück, aus den Höhlen zu kommen, und ich werte das Geschehene als überstürztes Engagement. Jeder Forscher kommt an diesen Punkt.« Er holte tief Luft. »Berichten Sie. Wie kommen Sie voran?« Die Skepsis war deutlich in seiner Stimme zu hören.

»Woher wissen Sie davon?«, antwortete ich irritiert und wunderte mich.

»Das ist jetzt nicht wichtig«, winkte er ab. »Sagen Sie mir, wie Sie vorankommen. Das ist entscheidend.«

»Wie erwartet schleppend. Die Metapher Auf Granit beißen trifft es wohl am besten. Die Richtung ist geteilt und verschwommen und ja, Sie haben recht«, sagte ich reumütig. »Es war naiv und im Moment weiß ich nicht, für was es gut war. Aber noch mal die Frage: Woher wissen Sie von diesen Ereignissen?«, fragte ich nach wie vor entgeistert.

Mein Professor sagte nichts. Offenbar wollte er sich nicht auf diese Diskussion einlassen.

»Wo genau stecken Sie jetzt mit Ihrer Arbeit fest?«, lenkte er ab. »Davon abgesehen habe ich es sanft angedeutet: Dieses Thema ist nicht ergiebig und führt Sie in eine Sackgasse. Und in dieser sind Sie mittendrin.«

»Ja, das sagten Sie.«

»Jetzt sind wir genau an dem Punkt, vor dem ich Sie gewarnt hatte. Sie sollen eine Magisterarbeit verfassen, keine Habilitationsschrift. Wir kennen uns seit vielen Semestern. Deshalb erlaube ich mir diesen Hinweis: Ihre Dickköpfigkeit und Ungeduld behindern den Prozess enorm. Wissen Sie, Sie sind mein letzter Student, den ich vor meinem Ruhestand betreue, aber ich hatte mir das anders vorgestellt. Und ich vermute, dass Ihre finanzielle Lage denen der anderen Studenten gleicht? Eher schlechter, denn Tickets nach Russland sind nicht billig.«

Ich nahm es zur Kenntnis. Er war frustriert, aber ich wusste nicht warum.

»Dadurch ist eine jahrelange Erforschung ausgeschlossen, sofern Sie niemand finanziell unterstützt. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich will Ihnen zu einer guten Arbeit verhelfen. Aber Sie nehmen keinen Rat an und leider hat sich meine Befürchtung bewahrheitet. Was Ihnen da in Russland passiert ist …« Er setzte aus und holte tief Luft. »Das war unnötig und hätte schiefgehen können.«

Er bemerkte, dass er es jetzt zu weit getrieben hatte. »Sie müssen mich verstehen, mir liegt etwas an Ihnen. Und woher ich es weiß? Die Bibliothekarin. Sie ist die Freundin meines Sohnes. Er hat mir von Ihnen erzählt.«

Eine kurze Pause folgte und er erkundigte sich nach meinem Wohlbefinden, bevor er wieder auf das Thema der Magisterarbeit zu sprechen kam.

»Wo können wir ansetzen und das Ganze gut über die Bühne bekommen?«

Ich räusperte mich. »Die Forschungsliteratur ist gesichtet, das erste Kapitel zum Forschungsstand geschrieben. Nun bin ich im Begriff, mich auf das Thema des Kunstraubs zu konzentrieren. Aber mit neuen Ausrichtungen.«

Nachdem er zu diesem Bereich seine Anmerkungen gemacht hatte, kam ich auf meine neusten Ergebnisse zu sprechen.

»Eine Sache bereitet mir Kopfzerbrechen«, sagte ich.

»Die wäre?«, fragte er, wissend, dass es nicht die einzige war.

»Gestern erreichten mich die Dokumente, auf die ich, vor der Reise nach Russland, gewartet hatte. Und ich bin fündig geworden.«

Ich schilderte ihm den Inhalt.

»Und Sie können nicht entziffern, wer der SS-Standartenführer ist?«, fragte er gelassen.

»Nein, ich weiß nur, welcher Einheit er angehörte.«

Das Dokument legte ich vor ihm auf den Schreibtisch. Nach wenigen Sekunden schaute er auf.

»Ein Register?«, fragte er erstaunt. »So, so. Und wo soll es sich befinden?«

Als er die Frage stellte, lehnte er sich in meine Richtung. Seine Augen leuchteten. Voller Erwartung saß er vor mir.

»Das weiß ich nicht, aber …«

»Haben Sie Hinweise?«, unterbrach er mich. »Denn das wäre doch der Aufhänger, den Sie brauchen und suchen. Halten Sie mich doch bitte auf dem Laufenden oder geben Sie mir etwas zum Anlesen. Ich helfe Ihnen gewiss, wo ich kann.«

Alles das hatte ich nicht erwartet, die vorhandenen Informationen über meine gescheiterte Suche, sein plötzlicher Stimmungswechsel, das damit verbundene Interesse und die angebotene Hilfestellung.

»Ja, das wäre wunderbar«, sagte ich gekünstelt. Ich hatte ein ungutes Gefühl.

Im Aufstehen schüttelte er mir aufgeregt die Hand: »Ich freue mich auf Ihre Ergebnisse«, sagte er enthusiastisch und verabschiedete sich.

Ich drehte mich um und ging. Beim Hinausgehen streifte ich etwas unglücklich den Türrahmen, sodass mein Handy vor seinem Büro auf den Boden fiel. Die Situation hatte er nicht mehr wahrgenommen. Er hatte die Tür schon geschlossen.

Draußen war es still, kein Student saß auf den Stühlen. Das Handy war nicht kaputt, aber der Rückendeckel und der Akku waren aus dem Gerät geschleudert worden. Ich setzte es zusammen und schaltete es ein. Es zeigte die Zeit. Ganze zwei Stunden hatten wir geredet.

Ich stand vor der Tür, hörte Stimmen anderer Studenten, die sich über den Innenhof des Gebäudes etwas laut zuriefen. Im Büro war es still. Ich wollte losgehen, als ich seine Stimme hörte. Er schien zu telefonieren. Er wirkte euphorisch.

»Ich habe Ihnen bereits beim ersten Mal gesagt, dass Sie vorsichtig sein sollen. Das Dokument mit der Ortsangabe konnte er nicht richtig einordnen und bewerten«, zischte der Professor ins Telefon. »Das kann nicht Ihr Ernst sein. Wieso waren Sie so unvorsichtig? Ich sagte Ihnen, dass dieser junge Mann auf der richtigen Fährte ist, aber die bestellten Dokumente nicht erhalten hatte. Allein das Dokument mit der Ortsangabe ist wertlos und Ihre Aktion am See überflüssig und unprofessionell. Verdammt noch mal.« Er knallte den Telefonhörer auf.

Ich dachte über das Geschehene nach. Ein Klingeln riss mich aus meinen Gedanken.

»Du? Dich gibts noch, Elias?«, fragte Max am Telefon. »Nicht eine Mail hast du beantwortet. Und dein Geburtstag? Wir hatten eine Party organisiert und standen alle vor deiner Tür. Was ist nur los mit dir?«

In all der Aufregung hatte ich tatsächlich meinen eigenen Geburtstag vergessen. Es hieß jetzt, Freundschaften zu pflegen und eine Party zu organisieren.

»Es tut mir leid, Max. Ich war in letzter Zeit mit meinen Recherchen so beschäftigt. Kannst du Tim, Lisa und Arne Bescheid geben? Sie sind alle dieses Wochenende eingeladen. Du siehst sie doch im Seminar, oder?«

»Warum rufst du sie nicht selbst an oder gehst hin?«

»Max, bitte, tu mir den Gefallen. Eine Bestellung wartet im Archiv auf mich, es hat aber nur noch eine Stunde geöffnet«, flehte ich ihn an.

»Du verhältst dich in letzter Zeit seltsam. Erklärst du es mir wenigstens?«

»Das werde ich, versprochen.«

 

Der Samstag rückte immer näher. Die wenigen Tage, die mir bis zur Feier blieben, verbrachte ich wieder in der Bibliothek. Samstagmorgen erinnerte mich eine SMS von Max an die notwendigen Einkäufe. Ich sprang mit einem Lächeln aus dem Bett. Max war ein echter Freund, dachte ich beruhigt. Ich hätte es doch wieder vergessen. Meine schlechten Träume und Erinnerungen an die vergangenen Monate verflogen augenblicklich.

Mit wehendem Bademantel stolperte ich durch den Flur meiner WG und sah nur im Vorbeifliegen, dass Leonie am Tisch gemütlich frühstückte.

»Dein Mantel«, schrie sie mir hinterher. »Du fliegst heute auf die Fresse. Ich weiß es!«

In dem Moment, als ich ihr Schreien wahrnahm, stolperte ich ein letztes Mal und krachte vornüber auf die Holzdielen. Plötzlich war es dunkel und ich hörte Leonies dumpfe Stimme. Der Bademantel, durch den ich zu Fall gekommen war, hatte sich wie ein Tuch über meinen Oberkörper gelegt.

»Geiler Arsch«, hörte ich sie sagen. Mit Mühe hüllte ich meinen Körper in den Mantel. Dann richtete ich mich auf und schaute in ihr grinsendes Gesicht.

Sie war Mitte zwanzig, sehr schlau, zierlich, etwas untersetzt. Ihre wunderschönen Brüste zeichneten sich unter ihrem T-Shirt ab. Ihr volles, blondes Haar sah verlockend aus. Ich mochte ihre direkte Art. Leider stand sie nicht auf Jungs. Im Moment war ich nur glücklich darüber, dass sie mein Gesäß positiv wahrgenommen und beurteilt hatte. Ich sah sie an.

»So, mein Arsch. Na ja, wenn ich dir so in Erinnerung bleibe, war es die Sache wert.«

Sie grinste. »Wir beide, wa? Was hast du es denn so eilig?«

»Ich gebe heute Abend eine Party«, entgegnete ich ihr, immer noch auf dem Boden sitzend.

»Haste wohl wieder verpennt. Hm. Na ja. Brauchste Hilfe?«

»Ich geh schnell das Notwendige im Bad erledigen und dann muss ich einkaufen.«

Mit dem Aufstehen musste ich mir alle Mühe geben.

»Wasn jetzt. Soll ich dir helfen? Mach ich gern«, fragte sie mich plötzlich mit ernster Stimme.

Ich nickte nur. Stand unsicher vor ihr.

»Haste wieder schlecht geschlafen, was? Schaffst das schon. Wird werden.«

Für einige Sekunden herrschte Stille. Wir schauten uns an.

»Ja, es wird werden«, sagte ich mit zittriger Stimme.

»Ach komm. Lass uns das zusammen machen, ja?«, bot Leonie erneut an.

Ihr ernster Ausdruck wandelte sich in das süße, schelmische Grinsen, das ich an ihr so mochte.

»Das wäre nett von dir«, sagte ich verlegen.

Nach einem tiefen Seufzer lief ich ins Bad. Danach half sie mir, die Einkäufe zu erledigen. Wir suchten die Zutaten für Mixgetränke aus und nach etwa drei Stunden waren wir fertig. Bis auf Zitronen und Orangen war alles da. Deshalb machte ich mich noch einmal auf den Weg.

Der Supermarkt war überfüllt. Die Menschen liefen wie Ameisen umher. Eilig kauften sie die letzten Vorräte für ein langes Wochenende ein.

Am Zeitungsstand sah es wüst aus. Sämtliche Tageszeitungen waren herausgerissen und lagen auf dem Boden, auch die Ausgabe meiner Lieblingszeitung.

Im Moment des Weitergehens sah ich den Titel des Blattes. Die großen Lettern fesselten mich: Kunstraub – Heinrich Himmlers Gier. Hastig griff ich nach der Ausgabe. Ich starrte das Titelbild an und war derart gebannt, dass ich selbst die Beschwerde einer alten Dame aus dem Hintergrund nicht wahrnahm. Sie stand direkt hinter mir. »Nun machen Se ma schon. Das Blättchen können Se auch zu Hause lesen. Legen Se endlich Ihr Zeug aufs Band. Ich habe heute noch ne Menge vor.«

Ohne Widerworte legte ich die Zitronen und Orangen auf das Band. Die Zeitung verdeckte das Obst, welches sich ruckelnd der Kasse näherte. Die Kassiererin bemerkte schnell meine geistige Abwesenheit. Mehrmals sprach sie mich an, bevor ich aufblickte. Ich bezahlte und verließ den Supermarkt. Draußen setzte ich mich auf eine Bank, die unweit in einer kleinen Nebenstraße zwischen zwei großen Eichen stand. Ich konnte es kaum erwarten, den Artikel zu lesen. Kunstraub – Heinrich Himmlers Gier. Weiter Seite 2. Ich folgte der Angabe. Der Artikel erstreckte sich über die gesamte Doppelseite. Zwei vom Text eingeschlossene große Fotos waren abgebildet. Eines zeigte ein abfotografiertes Dokument, das andere ein Gemälde. Die SS-Runen im Briefkopf waren auf dem Bild deutlich zu erkennen. Der Brief war an den Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei Himmler gerichtet.

Das ist nicht möglich, dachte ich. Das ist unglaublich. Der Verfasser des Artikels gab in Auszügen den Inhalt wieder. »… daß persönliche Bereicherungen … durchgeführt werden … besitze Informationen … Register … kürzlich von den Einsatzgruppen versetzten, jungen SS-Standartenführer. Angeblich … gestohlenen Werke.« Ich konnte es nicht fassen. Es war derselbe Brief, den ich vor einigen Tagen in der Hand gehalten hatte. Begierig las ich weiter. »Doch wegen der guten Verfassung, in dem sich das Dokument befindet, ist es wahrscheinlich, dass der angefügte Name am unteren Ende des Blattes im Original absichtlich unkenntlich gemacht wurde.«

Meine Hände zitterten und mein Blick fiel auf die gegenüberliegenden wuchtigen Bäume mit ihren saftigen Blättern. Sie wiegten sich sanft im Wind. Ich faltete die Zeitung und steckte sie wieder in die Einkaufstüte, nicht ohne noch einmal die Schlagzeile zu lesen.

Der warme Kontrast des weichen Lichtes hüllte die flauschigen Wolken in einen rötlichen Schleier und erfüllte den Himmel. In friedlicher Zweisamkeit flog ein Schwanenpärchen Richtung See über mich hinweg. Im Gehen schüttelte ich den Kopf, weil ich an meine Anfänge als Geschichtsstudent dachte. Kein Fachgebiet, das nicht ausreichend erforscht worden ist. Diese angebliche Weisheit hatte der Dekan schon im ersten Semester angekündigt. »Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich begrüße Sie am Historischen Seminar der Universität Potsdam«, sagte er. Nachdem er über den Aufbau des Studiums und die Lehrinhalte gesprochen hatte, gab er uns zwei Hinweise mit auf den Weg. »Sie sollten die beiden folgenden Ratschläge beherzigen: Für eine fundierte wissenschaftliche Arbeit sollten Sie lesen, lesen, lesen. Außerdem möchte ich Sie, die Sie alle neuere Geschichte studieren, darauf hinweisen, dass Ihr Gebiet sehr gut erforscht ist. Wenn Sie in der Hoffnung studieren, grundlegend Neues zu entdecken, werden Sie keinen Erfolg haben.«

Was für warme Worte. In nur einem Satz zerstörte er die Vorfreude auf das Kommende. Die Neugier auf Neues hatte mich zu diesem Studium veranlasst. Archäologie wäre eine lohnende Alternative gewesen. Ihr fehlte aber der Bezug zur Gegenwart, der für mich notwendig war. Dennoch baute sich mein Studium genau nach der pessimistischen Einschätzung eines Mannes auf, der sein ganzes Leben die Geschichte studiert hatte und wahrscheinlich Recht behalten würde.

Ich war wieder an dem Punkt, an den ich häufiger kam. Unterstützung war eine Notwendigkeit, vor allem in dieser Angelegenheit und nach meinem gescheiterten Alleingang. Ich wollte den Journalisten finden, der den Artikel verfasst hatte. Ich hatte schon die erste Idee, wie ich es anstellen würde: die Bibliothekarin. Es brannte mir auf den Nägeln, aber es war ohnehin Samstagmorgen und ich würde heute nichts mehr erreichen, vielleicht Montagfrüh.

 

Mein Zimmer war klein, hatte einen Balkon und einen romantischen Ofen. Die WG-Wohnung befand sich direkt unter dem Dach. Im Sommer war es hier oben heiß. Die Eigentümerin hatte vor Jahren einen Dachgarten anlegen lassen. Fast jedes Wochenende kam sie seither herauf. Es war ein schöner Garten, den ich nutzen durfte. Die alte Dame sagte mir, dass es etwas Besonderes sei, denn nur ich, mein guter Freund Max, Leonie und ihre Enkel durften hier oben verweilen. Im Gegenzug half ich ihr ab und an. Das Haus hatte keinen Fahrstuhl, sondern nur eine knarrende, alte Treppe mit einem wackligen Holzgeländer. Blumenerde, Pflanzen und Steine zur Dekoration: So manches Wochenende hatte ich damit verbracht, diese Utensilien auf das Dach zu tragen. Umso mehr genoss ich den Aufenthalt an lauen Sommerabenden und den Blick über die Stadt, wenn sie im kräftigen Licht der Abendsonne erstrahlte. Mit einem kalten Bier in der Hand lag ich zwischen grünen Palmen und duftenden Blumen. Einige Vögel hatten sich das kleine Paradies als Zuhause auserkoren und sangen befreit ihr Lied hinaus. So manche meiner Ideen entstand hier oben.

 

Es war Sonntagabend. Wieder einmal saß ich im Dachgarten und blickte über die Stadt. Max saß neben mir und wir redeten über das Wochenende.

»Es war eine tolle Feier, meinst du nicht auch? Ich bin froh, euch alle gesehen zu haben. Nach meinem Ausrutscher dachte ich, dass der eine oder andere nicht kommen würde. Schön, dass ihr alle da wart.«

Wir genossen den Augenblick.

»Was steht nächste Woche bei dir an?«, fragte Max.

»Recherche«, sagte ich eher zaghaft.

»Was machst du eigentlich genau?« Er drehte seinen Kopf zu mir und wartete auf eine überzeugende Antwort. »Elias, was ist los mit dir? Du lässt dich nicht blicken, rufst nicht an, beantwortest keine meiner Nachrichten und auch nicht die von den anderen. Du hast dich komplett zurückgezogen«, sagte Max sichtlich besorgt.

»Wie soll ich es dir erklären?«, erwiderte ich.

»Nun red schon!«, forderte er mich auf. »Wir kennen uns seit der Grundschule und haben so einiges gemeinsam ausgestanden, aber seit den letzten Monaten, ach was, seit den letzten beiden Semestern bist du beinah unauffindbar. Ich dachte, wir wären Freunde?« Er hob fragend die Arme.

Ich holte tief Luft und sammelte mich, um die Sache, so kompliziert wie sie war, schnell auf den Punkt zu bringen. »Es ist schwierig. Wo fange ich am besten an? Du weißt, dass meine Neugier immer wieder … wie soll ich sagen … befriedigt werden musste. Was wollte ich nicht alles entdecken.«

»Ja, ich versteh dich«, sagte Max mit einem leichten Schmunzeln. Er wusste genau, von was ich sprach. »Dennoch ist es nun mal so«, sagte er, »dass wir nicht im Zeitalter von Indiana Jones leben.« Er räusperte sich. »Wie ist der Stand deiner Abschlussarbeit? Welches Thema behandelst du? Sag schon! Keiner von uns ist sich sicher, warum du solch ein Geheimnis darum machst.«

Damit hatte er recht. Warum hatte ich Freunde, wenn ich sie vollkommen ausschloss?

»Ich will über den Kunstraub im Dritten Reich schreiben. Genauer gesagt, über die Verstrickung Himmlers und seiner SS-Schergen in den Raub von Kunstgütern in den besetzten Ostgebieten. Dabei spielt die Wewelsburg eine Rolle, aber mittlerweile eine untergeordnete. Das Ganze entwickelt sich anders. So hatte ich es mir nicht vorgestellt. Aber, na ja, wie es eben immer so ist. Auf jeden Fall ist die Wewelsburg aus dem Fokus gerutscht«, sagte ich angespannt.

»Wewelsburg?«, fragte Max erstaunt.

»Bei Paderborn, die SS-Burg, da wo mein Opa gestorben ist. Himmler wollte da irgend so eine Lehreinrichtung für hohe SS-Offiziere schaffen, Schulungen durchführen, und deshalb häufte er Kunst und Bücher an.«

»Wie weit bist du mit deinen Nachforschungen?«, fragte Max.

»Literatur ist kaum vorhanden und Quellen ebenso wenig, deshalb ist sie ja heute in der rechten Szene als Kultobjekt beliebt, weil die Etablierung von Mythen einen guten Nährboden hat. Zum Thema gibt es die neue Dauerausstellung Ideologie und Terror der SS auf der Wewelsburg. Man kann sagen, dass sich einiges getan hat.«

»Ah, okay. Ich glaube, dazu habe ich etwas in der Zeitung gelesen. Da stand was von Einbrüchen von irgendwelchen rechten Spinnern?«, sagte Max.

»Ich habe mit einem wissenschaftlichen Mitarbeiter gesprochen. Es gab wohl einen Einbruch in den Nordturm, der aber nicht belegbar ist. Dort befinden sich der Obergruppenführersaal und die Gruft. Ich bin gespannt, wie sie das in der Ausstellung auf der Burg umsetzen. Zum Beispiel mit der Jugendherberge in der Wewelsburg. Da ist doch eine Fahne auf dem Nordturm gehisst worden. Sie müsste anzeigen, dass dort Kinder und Jugendliche aus vielen verschiedenen Nationalitäten wohnen. So was würde dazu beitragen, dass der Kult Wewelsburg nach und nach zerstört wird und die rechten Spinner aufhören, den Runen hinterherzulaufen.«

»Du gehst zu dieser Ausstellung?«, fragte Max neugierig.

»Ja, ich muss dahin. War noch nie auf der Wewelsburg. Würdest du mich begleiten?«

Max freute sich. Er war glücklich darüber, dass wir wieder gemeinsam etwas unternehmen würden.

Ich fuhr fort. »Dass Himmler, wie auch andere NS-Größen, darauf bedacht war, Kunstgüter zu sammeln, ist hinlänglich bekannt. Leider nicht die Verstrickungen des Ahnenerbes, der SS und ihrer Handlungen in den besetzten Gebieten. Ich will herausfinden, ob und mit welcher Unterstützung Kunstschätze aus den Ostgebieten in das Reich geschafft wurden und wie sich die Werke verteilten. Vielleicht hatte Himmler besondere Vorlieben, welche Gemälde er auf die Wewelsburg schaffen ließ oder welche Bilder Hitler für sein Linzer Museum auswählte. Göring war auch involviert. Er hat mit großer Wahrscheinlichkeit für seinen Landsitz Carinhall Werke abgezweigt. Dass der mythologische Kontext als Basis diente, war bei Himmler obligatorisch. Aber ich muss mir erst die Listen anschauen, die dokumentieren, welche Güter verschleppt wurden. Sie liegen vermutlich in Berlin-Dahlem, im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz.«

»Aber, sag mal, hast du irgendeine Idee, welche Schätze sich auf der Burg befanden? Jetzt wo du es sagst, habe ich das Gefühl, darüber gelesen zu haben. Nur flüchtig, aber kann es sein, dass die Bewohner nach der Sprengung die Burg geplündert haben?«

Erstaunt blickte ich ihn an. »Max, ich bin überrascht, dass du das weißt.«

Max fuhr gleich fort. »Ich weiß, du erwähntest irgendwann deinen Großvater, der in dem angrenzenden Lager inhaftiert war. Ja, von deinen Erzählungen kenne ich es. Und weiter? Erzähl schon! Wo sind die Schätze?«

Max verhielt sich wie ein nervöser kleiner Junge, der die Geschichten des Sherlock Holmes gelesen hat.

Er schaute mich erwartungsvoll an. »Du hast eine Spur?«, fragte er. »Oder zumindest etwas, was sonst keiner weiß?«

Ich sah in den Sonnenuntergang, holte tief Luft und begann etwas bedrückt zu sprechen. »Ich rühre schon so lange in diesem braunen Sumpf – zu lange«, eröffnete ich. »Ich habe immer wieder den Mann mit Parkinson-Verdacht, pechschwarzem Haar und schwarzem Schnauzer vor Augen. Dann die zwei anderen: den Klumpfuß und den Reichsmarschall. Am Ende des Krieges war der drogenabhängig und lackierte seine Nägel.«

Max schaute mich mit großen Augen an. Er war etwas irritiert von der Wendung des Gesprächs. Vor allem, weil ich plötzlich so emotional wurde.

»Die alliierte Propaganda stellte ihn als Geisha dar. Und dann der kleine und schmächtige Himmler mit seinem Ahnenerbe. Alles im Geiste Hitlers. Und dieser Kleine gab sich als Kunstkenner aus. In der Hühnerzucht hatte er versagt und nun mussten ihn die Kunstschätze Europas aushalten. Alles aus pragmatischen Gründen und als Rücklage für schlechte Zeiten. Mein Gott – was für Germanen. Was für erbärmliche Gestalten.« Ich holte erneut tief Luft. »Dieser kranke Haufen hat unsägliches Leid über die Menschen gebracht.« Ich schaute Max an. »Wenn ich mit meinen Recherchen nicht so weit wäre, würde ich aufhören. Alles löschen. Die Notizen verbrennen. Keine Ahnung. Ich lebe nur für dieses Thema. Eigentlich schrecklich. Aber ich muss das durchziehen. Ich kann jetzt nicht aufhören. Ich muss das tun«, sagte ich beinahe verzweifelt. »Aber bitte nicht mehr allein. Nicht mehr. Es frisst mich auf. Ohne Hilfe schaffe ich das nicht. Das würde nichts werden. Eben mal allein alles herausfinden.«

Absolute Stille. Max nickte zustimmend.

»Also dann, Max«, sagte ich sehr ernst und bestimmt. »Versprich mir, bei unserer Freundschaft, dass du niemandem etwas erzählen wirst.«

Max zuckte zusammen. Er war irritiert und wusste nicht, was ihn nach diesem Prolog erwarten würde.

»So wichtig?«, fragte er etwas verlegen. Er richtete sich auf und sagte: »Du kennst mich, ich habe immer zu dir gestanden und werde jetzt nicht aufhören.«

Ich schaute in den Abendhimmel. »Also gut.« Ich rutschte auf dem Stuhl hin und her und versuchte Max alles genau zu erklären. »Vor über einem Jahr fing ich an, mich auf dieses Thema zu konzentrieren. Es hat mich interessiert. Erinnerst du dich an meine Hausarbeit zu den Einsatzgruppen? Da fing alles an. Ich wollte mehr erfahren und fand einige Unterlagen, eine Korrespondenz und andere Dokumente, in denen es um Kunstraub, private Bereicherung und so ein Zeug ging. Eben von diesen Einsatzgruppen. Na ja, und dann, dann fand ich ein Dokument mit einer Ortsangabe in Russland und einen Hinweis auf weitere Unterlagen und gestohlene Kunstschätze. Sollte alles da sein. Ich war aufgeregt. Ich hatte das Stipendium. Dann ging ich zu meinem Prof. Der sollte mir ein wenig helfen. Tja, habe aber nicht auf ihn gehört und das letzte Geld investiert. Für die Reise nach Russland.« Ich räusperte mich. »Das wäre dort beinah schief gegangen.«

Ich erzählte ihm jedes Detail, von den Höhlen, dass ich beinah umgekommen wäre, dem Wirt und den beiden Männern am Steg. Auch vom Gespräch mit meinem Professor nach der Rückkehr. »Hm, ja, und nun, nun sitzen wir eben hier.«

Max saß wie versteinert auf seinem Stuhl. Er konnte nicht glauben, was er zu hören bekam. Als ich meinen größten Fehler eingestand, war er sichtlich mitgenommen und schüttelte den Kopf. Ich wusste genau, was er in diesem Moment dachte. »Jetzt weißt du auch, warum ich so lange nichts von mir hören ließ.«

Max war fertig. »Wow.« Er schüttelte wieder den Kopf. »Alle Achtung. Nun hast du ein zweites Leben geschenkt bekommen.« Sein ernster Blick traf mich strafend. »Aber denke daran: Du bist keine Katze mit sieben davon.«

Ich nickte. Tränen standen mir in den Augen. »Ich hätte dir alles sagen sollen. Verdammt. Es passierte so schnell und es ist jetzt wie ein schlechter Traum.«

Er nahm meinen Kopf und schaute mich lächelnd an. »Schön, dass du wieder da bist.«

Es war ein unbeschreibliches Gefühl. Es kam mir vor, als würde Max einen Teil meiner seelischen Last auf sich nehmen. Nicht einmal meine Eltern wussten von den Ereignissen. Max war jetzt stiller Teilhaber der ganzen Wahrheit.

Keiner sagte etwas, der Moment war zu bedeutend. Einige Sekunden vergingen, bevor Max fortfuhr. »Aber es geht weiter, nicht wahr? Das war nur der Anfang des Rätsels?«

Ich nickte und zeigte ihm die Zeitung. Dann fasste ich kurz den Inhalt des Artikels zusammen. »Jetzt kennst du die Theorie. Die Praxis sieht so aus, dass ich das selbe Dokument gefunden habe.«

Ich schaute in Max’ aufgerissene Augen. »Is ja genial.«

»Genial ist«, fuhr ich fort, »dass ich eine Kopie des vollständigen Briefes besitze. Entweder musste der Journalist Daten zurückhalten oder er hat nur eine Seite gefunden, doch das ist unwahrscheinlich.«

»Okay, okay. Aber was ist auf der zweiten Seite?« Max war gespannt.

»Die Daten des SS-Mannes, der seinen Zugführer, den jungen Standartenführer, gemeldet hatte. Dadurch ist eine weitere Recherche möglich. Truppenbezeichnung und so was. Des Weiteren wurde eine Liste erwähnt, in der alle gestohlenen Werke verzeichnet sind. Wahrscheinlich die privat entwendeten. Aber was genau, kann ich nicht sagen.«

»Wow«, entgegnete Max. »Aber halt. Stopp. Einen Moment. Ich muss jetzt fragen: Der Zugführer war SS-Standartenführer. Ein hohes Tier?«

»Kam einem Oberst in der Wehrmacht gleich. Hohes Tier? Ja. Und der SS-Mann ist gleich einem Schützen in der Wehrmacht, der unterste Mannschaftsdienstgrad. Die hatten spezielle Bezeichnungen wie Rottenführer oder Scharführer in der SS«, erklärte ich Max.

»Okay, gut. Muss ja fragen. Da blickt ja sonst keiner durch. Und was ist jetzt mit der Liste? Wo ist sie?«

Ich überlegte. Auf diese Frage hatte ich keine Antwort. »Vielleicht gibt es eine Art Register. Auf jeden Fall muss ich den Journalisten finden.«

Max unterbrach mich. »Moment, Moment, warte. So wie ich es sehe«, und er sagte es mit vollem Ernst, »ist diese Geschichte nicht harmlos. Das hast du leider bewiesen. Sorry, alter Freund. Und beinah mit dem Leben bezahlt.«

Das war nicht von der Hand zu weisen.

»Würdest du mir dabei helfen?«

Max zögerte keine Sekunde. »Natürlich«, er breitete die Arme aus, »schon allein deswegen, um auf dich aufzupassen. Warum bist du nicht eher zu mir gekommen? Vor deiner Reise?«, fragte Max.

»Was heißt eher?«, fragte ich. »Bis vor einigen Wochen gab es keine spektakulären Erkenntnisse, vielmehr war ich damit beschäftigt, ausreichend Literatur und Quellen zu sichten und meinen Ausrutscher zu vertuschen. Aber irgendwie weiß ich nicht, wie es weitergehen soll.«

»Du musst weiter ermitteln.« Max schaute mich begeistert an. »Finde heraus, ob es von diesem Brief weitere Exemplare gibt. Vielleicht liegt in dem Archiv das Register. Erwähnt wird es und die Möglichkeit ist gegeben.«

Ich stand auf und ging auf und ab. »Wie soll ich das finanzieren? Auf Verdacht in ein Archiv fahren?« Fragend zog ich meine Augenbrauen nach oben. »Das Geld ist dahin und von dem auf Verdacht fahren habe ich erst mal genug.« Etwas ratlos stand ich da. »Was solls. Ich will es und das ist entscheidend. Selbstzweifel werden nicht helfen. Ich muss herausfinden, ob es eine Liste oder ein Register gibt. Und du hast recht. Nichts liegt näher, als in dem Archiv die Bestände zu sichten, in denen der Brief gefunden wurde. Ich weiß, dass einige Korrespondenzen unzugänglich sind und nur vor Ort besichtigt werden dürfen. Trotzdem fehlt mir das Geld.«

Ein leichtes Grinsen zeichnete sich auf dem Gesicht von Max ab. »Wo ist das Archiv?«

»In Deutschland, in Büren. Aber ich bin, wie erwähnt, pleite. Die letzten Wochen habe ich alles aufgebraucht.«

»Oh, das heißt dann Gelder sammeln.«

»Ja. Aber jetzt werde ich als erstes versuchen, den Verfasser des Artikels zu finden. Vielleicht erhalte ich einen Einblick in seine Rechercheergebnisse, da ich glaube, dass er die Dokumente im gleichen Archiv gefunden hat. Wenn wir unsere Ergebnisse bündeln, wären wir effizienter.«

»Ob er darauf eingeht?«, unterbrach mich Max.

»Wieso sollte er es nicht tun? Warum sollte er – oder sie – Zuarbeiten für eine Story abweisen?«, gab ich überzeugend zu verstehen. »Ich werde es über die Bibliothek versuchen … und dann ist da noch was«, sagte ich. »Aber ich weiß nicht, ob ich mir da was vormache. Mein Prof, der ist komisch. Er verhält sich merkwürdig. Gerade das Dokument mit der Ortsangabe in Russland. Er tat so, als wäre es nicht wichtig. Ich bin mir sicher, dass da was ist. Ich habe es auf meiner Reise nur übersehen.«

»Mann, Mann«, sagte Max aufgeregt.

»Und dann sind da die zwei Männer, die mich in Russland, beim Wirt, verfolgt haben.« Ich blickte Max hilfesuchend an und lehnte mich erschöpft zurück. »Die wollten was von mir. Der Wirt hat es mir zu verstehen gegeben. Er hat es deutlich gesagt, dass sie wegen mir da waren.« Schweißperlen bedeckten meine Stirn.

»Irgendwas ist durchgesickert. Du bist offensichtlich auf einer heißen Spur«, resümierte Max.

Ich beugte mich zu ihm und flüsterte: »Und wer wusste denn schon von den Dokumenten? Niemand – außer dem Prof und der Bibliothekarin. Hier stimmt was nicht, so viel ist sicher. Und wir kriegen raus, was es ist.«

Max sprang auf und rannte, ohne ein Wort zu sagen, in meine Wohnung. Nach wenigen Minuten kam er zurück. »Hier, mach auf«, keuchte er. »Sekt. Lass uns anstoßen.«

Der Korken knallte und ich füllte den kalten Inhalt in unsere Gläser. »Auf das Projekt.« Er kam wieder zu Atem. »Ich wünsche dir von Herzen, dass es ein Erfolg wird, und ich werde dir, wo und wann ich nur kann, helfen.«

»Du würdest jetzt am liebsten Brüderschaft trinken und dir dann die Hand ritzen, du alter Indianer«, grinste ich.

Die Sonne verschwand hinter dem Horizont. Wir begrüßten die Nacht mit einem herzlichen Lachen.

 

Die Sonne brannte. Es war heiß. Kein Wind wehte und der Himmel war wolkenfrei. Hier und dort hörte ich einen Vogel zwitschern. Das Blattwerk der Alleebäume war prächtig.

Kein Mensch war zu sehen, als ich in Richtung Universität lief. Ich näherte mich der Bibliothek. Die Ruhe wurde von vereinzelten Stimmen anderer Studenten, die am Eingang der Universität standen, gestört. Die Stimmen wurden lauter. Ich befand mich inmitten des Unibetriebes. Studenten saßen außerhalb der Gebäude auf den Wiesen und diskutierten angeregt. Einige genossen die Sonne. Nur wenige von ihnen vergaben die Chance, einen Tag unter freiem Himmel zu nutzen.

Schnurgerade lief ich auf den Eingang der Bibliothek zu. Ich stand vor der Rezeption und schaute in ihre dunkelbraunen, glänzenden Augen. »Hallo«, sagte ich und kramte in meiner alten Tasche. »Ich habe eine Frage. Es handelt sich um Folgendes.« Dabei hielt ich ihr den Zettel hin. Sie nahm ihn und streifte sich die Strähnen ihres vollen, pechschwarzen Haares aus dem Gesicht. »Mein Professor war so freundlich, die Bestätigung auszufüllen. Jedenfalls habe ich letzte Woche eine Kopie aus einem Archiv bekommen. Nachdem du so freundlich warst, mit der dortigen Leitung zu telefonieren. Du weißt, wie ich dich täglich gequält habe.« Etwas unsicher kratzte ich mir an der Stirn.

»Und nun? Wie kann ich dir helfen?«, fragte sie mit fordernder, angenehmer Stimme.

»Nun ja, kannst du herausfinden, wer in dieses Dokument vor meiner Anfrage Einsicht hatte? Wie du siehst, ist das Thema auf meine Magisterarbeit abgestimmt und …«

»Nein, das kann ich nicht«, fuhr sie mir frech ins Wort.

»Das ist sehr wichtig. Es gibt nur wenig Literatur zum Thema. Ich würde mich mit der betreffenden Person gern austauschen. Mein Prof ist alles andere als thematisch bibelfest.« Gespannt stand ich vor ihr.

»Ja, manchmal ist es so«, sagte sie unbeeindruckt.

Nun war ich genau am selben Punkt wie vorher. Die Warteschlange an der Rezeption wurde immer länger und die Bibliothekarin ungeduldig.

»Wäre es möglich, dass die Bibliothek bei der betreffenden Person anfragen würde, ob sie mit mir in Kontakt treten könnte? Damit verletzt du keine Datenschutzbestimmungen. Dieser Versuch hängt von deiner freundlichen und bereitwilligen Mitarbeit ab.« Charme und Witz waren nicht meine Stärke, aber ich hatte Erfolg.

»Okay. Das kann ich machen«, sagte sie. »Ich werde es versuchen, versprechen kann ich dir aber nichts.«

Ich schaute in ihre Augen, bedankte mich freudig und verließ die Bibliothek.

Möglicherweise würde ein Besuch in der Redaktion Erfolg versprechen, dachte ich. Ich setzte mich auf die Wiese und sog den Geruch von frisch gemähtem Gras ein. Ich lehnte mich an eine alte Eiche. Etwa fünf dieser Riesen standen im Innenhof der Fakultät für Geisteswissenschaften. Sie trugen unzählige saftige, grüne Blätter. Die Bäume waren so groß, dass jeder Mensch, der an ihnen vorbeilief, das Bild vom Riesen und Zwerg neu aufleben ließ. Lange schaute ich auf die entfernten Weizenfelder. Der Wind streichelte sie sanft und ich hörte ein leises Rauschen, wenn der Wind die Waldgrenze erreichte und durch die Baumwipfel streifte. Die Reaktion des Professors war seltsam, als er den Brief durchlas. Ebenso passte das Telefonat, das er direkt nach dem vergangenen Treffen führte, nicht so recht ins Bild.

Genauso wenig glaubte ich, dass der Journalist nur die erste Seite des Briefes eingesehen hatte. Wieder schüttelte ich den Kopf. Du hast eine blühende Fantasie. Schreib einen Roman, dachte ich. Oder besser ein Drehbuch.

 

Das Handyklingeln riss mich aus dem Schlaf. Es war etwa eine Woche her, dass ich die Bibliothekarin um Hilfe gebeten hatte.

»Elias, wie war es in der Bibo? Warst du erfolgreich?«, fragte Max mich neugierig. Ich erzählte ihm alles.

Am folgenden Abend trafen wir uns in einem italienischen Restaurant. Dort gab es eine unverwechselbare Steinofenpizza, mit echtem Parmaschinken. Wir hatten einen kleinen Tisch mit Blick auf den Ofen reserviert.

Heute war es auffallend leer. Nachdem wir einen Rotwein bestellt hatten, kam Max gleich auf den Punkt: »Elias, es ist mir sehr wichtig«, sagte er. »Ich möchte dich gern unterstützen. Das ist mein Anliegen und deshalb sind wir hier.«

Etwas skeptisch schaute ich ihn an.

»Ja ich weiß. Das kommt jetzt überraschend. Aber hör mir erst einmal zu. Ich kenne ja nur zu gut deine Einstellung gegenüber Menschen, die dir helfen wollen. In den meisten Fällen meidest du sie. Ich hoffe, diesmal ist es anders«, sagte Max schmunzelnd.

Es folgte eine kurze Pause, dann sprach er weiter. »Ich habe vor etwa anderthalb Jahren geerbt. Das Geld habe ich mir als Sicherheit für schlechte Zeiten zurückgelegt. Der Job läuft aber gut und ich brauche es nicht.« Kurz setzte er aus. »50000 Euro, Elias. Es sind 50000 Euro.«

Ich schaute ihn verblüfft an und nahm einen großen Schluck Rotwein. Es traf den Richtigen, so viel war sicher.

»Meine Großeltern klärten vor über einem Jahr die Erbschaftsverhältnisse. Ich kenne sie gut. Sehr oft war ich bei ihnen. Sie leben in einem großen Haus in der Nähe von Kopenhagen. Der Flug ist kurz und so pflegen wir bis heute eine intensive Beziehung. Ihr Wohlstand war mir immer gleichgültig. Meine Großmutter ist eine ausgeglichene Frau. Sie hat schon früh ihren inneren Frieden gefunden und ist mit sich und der Welt im Gleichgewicht. Sie liebt die Blumen und pflanzte ein Meer von roten und gelben Rosen, Lilien und großen Palmen in ihren Wintergarten. Ihr gesamtes Haus ist eine grüne Oase. Immer wenn ich bei ihr bin, erlebe ich eine gesunde Zeit. Kein Stress, sondern Glück und Zufriedenheit. Kein Funke von Konfrontation. Sie ist der Inbegriff der Lebensfreude und lebt nach dem Prinzip des Genusses, der keineswegs materiell ist. Sie liebt und kauft teure Sachen, aber nur aus der Überzeugung heraus, dass sie auch länger halten werden. Diesen Anspruch hat sie. Koppelt Qualität mit Lebensfreude. Zum Beispiel ihr geliebtes silbernes Cabrio. Am Innenspiegel hängt immer eine kleine Holzkatze – ihr Glücksbringer. Es ist so erfrischend kraftvoll, ihr Lachen zu hören, mit ihr den Abend zu genießen und ihn bei Heiterkeit und Fröhlichkeit ausklingen zu lassen. Sie erfreut sich bester Gesundheit. Doch es war ihr ein dringendes Bedürfnis, die Erbschaft zu regeln. Letztes Jahr besuchte ich sie zu ihrem 80. Geburtstag. Diese Festlichkeit nahmen sie zum Anlass. Zumal mein Großvater, der 84 Jahre alt ist, vor einigen Jahren einen Schlaganfall hatte. Das war der Grund, warum sie alles geklärt haben wollten. Er war dem Tod verdammt nah. Aber einen Kämpfer wie ihn gibt es kein zweites Mal. Er hatte nur ein Ziel vor Augen. Ich erinnere mich, wie er erzählte, dass er halbseitig taub war. Jeden Tag schleppte er sich in der Reha zum Eisautomaten und legte Eis auf seine Wangen. Irgendwann spürte er die Kälte. So machte er einen kleinen Schritt nach dem anderen und gewann den Kampf. Von ihm habe ich viel gelernt.« Max schaute mich lächelnd an.

»So erhielt jeder Familienteil einen Teil ihres großen Vermögens. Wie sich herausstellte, hatten sie viel angespart. Doch was nützt mir alles Geld der Welt, wenn ich die wichtigsten Menschen in meinem Leben verliere. Der Bruch wird enorm und unerträglich sein. Wenn ich Probleme hatte, waren sie immer für mich da, opferten sich auf und unterstützen mich in jeder Lebenslage. Dagegen verblassen 50000 Euro. Sie sind wertlos in Anbetracht des geschenkten Reichtums. Deshalb brauche ich das Geld nicht, will es für einen nützlichen Zweck ausgeben. Ich bin zufrieden mit dem, was ich mache und wie ich mein Geld verdiene. Nun, gestern Abend habe ich die Entscheidung gefällt. Ich bin der Auffassung, dass du einen Zuschuss für deine Forschung gebrauchen könntest.«

Mir stockte der Atem. »Du würdest mir Geld leihen?«

»Nein, leihen auf keinen Fall. Ich will es dir schenken.«

»Max, das geht aber nicht, ich kann das nicht annehmen.«

»Wieso nicht? Schau mal, beruflich läuft es bei mir wirklich gut. Ich arbeite viel, habe ab und an Freizeit. Warum sollte ich dich dann nicht unterstützen? Stell dir vor: Wir beide, auf Spurensuche.«

»Ja, bei der wir nicht vergessen sollten, dass es gefährlich werden könnte. Bevor der Artikel erschien, glaubte ich selbst nicht daran. Aber jetzt sehe ich die Sache ein wenig anders.«

»Okay, dann lass uns beide versuchen, der Sache auf den Grund zu gehen. Wir waren uns einig, dass ich dir helfe.«

Tief gerührt und gefangen im Moment, nahm ich Max in die Arme. Immer wieder hatte er mich unterstützt; und obwohl ich in den letzten Monaten diesen lebensgefährlichen Alleingang ohne seine Hilfe unternommen hatte, hielt er zu mir. In diesem Moment spürte ich, wie sich bedingungslose Freundschaft anfühlte.

In den kommenden Stunden verteilten wir die Aufgaben der Suche, denn das war der aufwendigste Teil. Fraglich blieb, wie lange es dauern würde, bis weitere Ergebnisse vorlagen.

Zum Abschied drückte ich ihn herzlich und dankte ihm für sein Vertrauen und die Unterstützung. Die Widmung in meiner Arbeit sei ihm gewiss, sagte ich zwinkernd zum Abschied.

Zwei Monate waren vergangen, seit ich mich in der Bibliothek darum bemüht hatte, Informationen über den vorherigen Nutzer des Dokuments zu erhalten. Aber bisher hatte sich der Journalist nicht gemeldet. An diesem Tag lud mich Max erneut ins Domani ein. Wir wollten neue Pläne schmieden. Es schien wie verhext. Wir fanden keinerlei Anknüpfungspunkte.

Im Militärarchiv in Freiburg im Breisgau stellten wir fest, auf welche Einheit sich der Brief bezog. Jedoch gab es nur eine unvollständige Liste über diejenigen, die in der Einheit gedient hatten. Die wichtige Information, wer die Einheit befehligt hatte, war für diesen Zeitraum nicht vorhanden. Zudem war es nur lückenhaft möglich, die Aufgabengebiete den Soldaten zuzuordnen.

Wie immer, nahmen wir die Riesenpizza und Rotwein. Die größte Freude hatte er, wenn er mich einlud.

»Das war wieder ein Traum von einer Pizza«, sagte er zum Kellner, »unvergleichlich gut.« Der Kellner lächelte zufrieden. Wir genossen den gut temperierten Wein und traten als große Weinkenner auf, ohne auch nur ansatzweise den nötigen Ernst behalten zu können. Wir lachten und redeten ungezwungen über die Ereignisse der letzten Tage und Wochen.

»So geht es nicht weiter. Wir müssen etwas bewegen«, sagte ich.

»Ja, da hast du Recht«, stimmte Max mir zu.

Wir hatten das erste Geld investiert und eine Medienbeobachtungsagentur in Berlin beauftragt, die für uns das Thema des Kunstraubs in den Medien verfolgte. Wir hofften, nach dem erschienenen Artikel, auf eine intensive Diskussion in den Fachzeitungen, Zeitschriften und in der Tagespresse. Das Ergebnis nach zwei Monaten war ernüchternd. Keines der führenden Medien hatte sich des Themas angenommen. Nur vereinzelt tauchten kurze Artikel auf. Einen davon wollte mir Max gerade zeigen.

»Ach Mensch, ich habe den Zeitungsausschnitt vergessen. Die Freude auf unser gemeinsames Essen war wohl zu groß.« Kurz überlegte er, bis ihm einfiel, dass er den Ausschnitt auf seinem Server abgelegt hatte. Er bat mich darum, meinen Laptop einzuschalten.

In dem Moment, als er eine Verbindung herstellen wollte, erhielt ich eine neue E-Mail. Er schaute mich von der Seite an. »Ist das von der Bibliothek?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich kenne den Absender nicht«, sagte ich. Wir lasen den Betreff. Ein leichtes Nicken und Max öffnete die Mail.

»Er hat geschrieben«, sagte ich wie elektrisiert.

Gebannt starrten wir auf den Bildschirm.

»… sollten Sie nicht weiter recherchieren. Es ist zu gefährlich. Ich kann Ihnen über diesen Weg keine weiteren Informationen geben. Ich bin selbst betroffen und weiß nicht, wer gerade mitliest. Deshalb antworten Sie auf keinen Fall auf diese Mail. Das ist kein schlechter Traum. Es ist echt! Bitte nehmen Sie meine Warnung ernst!« Wir glaubten nicht, was wir da lasen, und schauten uns verblüfft an. Einige Minuten vergingen.

»Was machen wir jetzt?«, fragte ich aufgeregt.

Meine Gedanken ließen sich nicht ordnen. Wie auf einer überfüllten Autobahn.

»Wir ziehen das durch!«, antwortete mir Max nach einer Weile.

Max schaute mich an und wiederholte seine Worte. »Ja, wir machen das. Wir rennen nicht davon. Immer rennen alle vor irgendetwas davon. Was ist, wenn die Kunstgüter heute illegal gelagert und verkauft werden? Vielleicht wissen die Leute auch, dass sie Beutekunst ersteigern oder kaufen. Dieser ganze SS-Irrsinn. Was haben wir zu verlieren? Noch hast du nicht Frau und Kind. Lass uns das Richtige tun. Vielleicht kann ich dir helfen, etwas zu bewirken und zu ändern.«

Ich grinste ihn an.

»Dann werde ich Tickets buchen«, lachte er fröhlich.

Ich freute mich.

»Ich werde mein Geschäft für eine Weile Paul übergeben. Elias, ich bin mir niemals bei einer Sache so sicher gewesen wie bei dieser. Wo geht es als erstes hin?«, fragte er mich voller Erwartung.

»Wir müssen nach Büren bei Paderborn«, sagte ich.

 

Eine Woche nahm die Vorbereitung der Reise in Anspruch. Max hatte in seiner Firma einige wichtige organisatorische Entscheidungen zu treffen. Er übertrug seiner rechten Hand Paul bis auf Weiteres die volle Verantwortung. Max war frei für das Abenteuer seines Lebens. Insgeheim hofften wir beide auf eine Kriminalgeschichte, bei der wir, wie Sherlock Holmes und Dr. Watson, den Dingen auf den Grund gehen würden. Eine verklärte Sicht, die so stark war, dass ich erst sehr viel später den bitteren Ernst der Lage begriff.

Ich nutzte die Vorbereitungswoche sinnvoll und scannte meine Bücher ein, um möglichst viel Literatur digital zur Verfügung zu haben.

Die Fahrt nach Büren war schnell vorüber. Am Abend kamen wir in der Pension an. Wir schliefen unruhig in dieser Nacht und verließen unsere Unterkunft zeitig. Wir warteten ungeduldig darauf, dass der Pförtner die Türen zum Archiv aufschloss.

Die Archivarin begrüßte uns freundlich. Die bestellten Dokumente lagen zur Einsicht bereit. Jetzt würde ich die Originale in den Händen halten. Ich nahm die erste Seite des Briefes und stellte mit Erstaunen fest, dass der Name des SS-Standartenführers im Originaldokument ebenfalls unkenntlich war.

»Sagen Sie bitte, die Originale werden nicht extern verliehen, nehme ich an? Schauen Sie sich dieses Dokument an. Es ist offensichtlich, dass der Name auf der ersten Seite des Briefes im Nachhinein unkenntlich gemacht wurde.«

Ich zeigte ihr die betreffende Stelle. »Ich hatte freundlicherweise Kopien erhalten und war der Annahme, es handle sich um einen Kopierfehler.« Ich schaute zu Max, der direkt neben mir stand. Wir hatten einen Verdacht.

Die Archivarin tippte die nötigen Informationen ein und sagte: »Nein. Verliehen wurden sie nicht. Die Kopien werden im Haus gefertigt. Aber natürlich erhält jeder autorisierte Nutzer Zugang zu den Aktenbeständen. Meist sind es Lehrbeauftragte.«

Sie setzte sich, um einen prüfenden Blick auf das Dokument zu werfen. »Leider kommt es immer wieder vor, dass durch unsachgemäßen Gebrauch die Dokumente beschädigt werden.«

Sie schaute auf die betreffende Stelle und nahm dann eine kleine Lupe aus ihrer Brusttasche. Ihr ernster Gesichtsausdruck glitt in Frustration ab. Sie schüttelte den Kopf. »Es ist unglaublich. Vandalismus. Schon wieder.« Sie schaute zu uns auf. »Ich werde überprüfen, ob Abschriften oder andere Kopien, möglicherweise in digitaler Form, vorliegen, aus denen sich die fehlende Information rekonstruieren lässt. Aber ich fürchte, das wird nicht mehr möglich sein. Da ich nicht annehme, dass der Brief aus der von Ihnen angeforderten Korrespondenz mehrfach vorhanden sein wird und damit auch nicht in anderen Archiven vorliegt, vermute ich, dass sich in diesem Fall nichts mehr machen lässt. Die Informationen sind verloren. Es tut mir sehr leid.«

Wir nahmen die Aussagen hin, waren aber zu motiviert, um die Situation als Rückschlag zu werten. »Gut, dann warten wir und werden stattdessen weitere Unterlagen durchsehen.«

Die Archivarin entfernte sich, als mir eine wichtige Frage durch den Kopf ging. »Bitte, eine Frage hätte ich dennoch: Können Sie prüfen, ob diese Korrespondenz einer nicht katalogisierten Sammlung von Briefen angehört? Möglicherweise gab es einen anschließenden Schriftverkehr und der Name ist darin enthalten.« Die nette Dame schaute mich lächelnd an. »Gern.«

Nun hieß es warten. Nach zwei Stunden erhielten wir erste Ergebnisse. Wir saßen an den veralteten Karteikästen, deren Inhalt nicht digitalisiert war, und durchsuchten sie nach nützlichen Hinweisen. Eine anstrengende, aber zuweilen interessante Beschäftigung.

Archivarbeit bedeutet, dass man für eine lange Zeit im Dunkeln tappt. Das ist auf Dauer frustrierend, und nach Monaten der Suche erwarteten wir einen weiteren Schritt in der Aktionskette. Plötzlich stand die Archivarin namens Clarissa hinter uns.

»Zu Ihrer Anfrage: Ich konnte keinerlei Abschriften oder Kopien finden. Die Archivleitung hat sich engagiert bemüht.« Sie lächelte. »Sie haben aber den richtigen Hinweis gegeben. Ich konnte den Brief den Unterlagen zuordnen, die wir nicht katalogisiert haben und die somit in unserer Datenbank fehlen oder in unserem Karteikartensystem nicht vorliegen. Ich gewähre Ihnen Zugang, muss Sie aber begleiten.«

»Wunderbar«, freute sich Max.

Es war ein Bestand von etwa fünfhundert Seiten. Alte Bestelllisten für Munition oder Küchenbesteck, Todesbescheinigungen und vereinzelte Briefe von Soldaten, die ihr Ziel in Deutschland nie auf dem dafür vorgesehenen Weg erreicht hatten. Ein Stempel Zensur machte deutlich, warum.

Drei Wochen waren wir täglich beschäftigt. An den Wochenenden sichteten wir unsere bisherige Arbeit. Warum der Name des SS-Standartenführers unkenntlich war, darüber ließ sich nur spekulieren.

Am Anfang der vierten Woche hatten wir fast die gesamten Dokumente durchgearbeitet, die uns Clarissa zur Verfügung gestellt hatte.

Es war später Nachmittag. Wir hatten Kopfschmerzen. Plötzlich sprang Max auf. »Ja! Ja, hier ist es!« Ich saß nur ein paar Meter neben ihm und schaute ihn erwartungsvoll an. »Das ist es. Ein weiterer Brief, wenige Wochen nach dem ersten geschrieben.«

Schnell stand ich auf. Die Kopfschmerzen waren nicht mehr existent und mein Puls raste. Dann überflog ich die Seiten.

»Nein, nicht Wochen, sondern Monate später.«

»Du hast recht«, sagte Max nervös.

Dann folgten die entscheidenden Sätze: »… hatte Sie vor Monaten darauf hingewiesen, daß die Größenordnung der privaten Bereicherung in der unten genannten Einheit zersetzende Ausmaße angenommen hat. Damals berichtete ich Ihnen davon, daß der SS-Mann Herrmann Müller den Verrat aufgedeckt hatte, aber nicht beweisen konnte. Allerdings hat mir jetzt ein SS-Mann, SS-Unterscharführer August Gleidmann, eine komplette Liste in Form eines Registers aus derselben Einheit zukommen lassen. Gleidmann ist auf der Wewelsburg stationiert und hat bei der Zuführung von Reichseigentum aus den Ostgebieten dieses Register entdeckt. Die Ermittlungen ergaben, daß die darin enthaltenen Angaben falsch waren. Entgegen den ersten Nachforschungen konnte diesmal keine Beutekunst an den genannten Koordinaten gefunden werden. Die gesamten Gehöfte und Verstecke wurden akribisch untersucht. Alles weist darauf hin, daß das Register, aufgrund der vergangenen Ereignisse, vorsorglich verschlüsselt wurde. Anzunehmen ist die Existenz eines weiteren Registers, mit dessen Hilfe eine exakte Entschlüsselung möglich ist.

Dennoch bleibt die Frage offen, wer dieses Register verfasst hat. Mit Sicherheit lässt sich bestimmen, aus welcher Einheit das Register stammen muß.

Ich bitte Sie, verehrter Reichsführer SS, um weitere Instruktionen, wie wir dieser Zersetzung ein Ende bereiten sollen. Der von mir bezeichnete SS-Standartenführer gilt als loyal und ist mit hochrangigen Auszeichnungen dekoriert. Eine Zersetzung seinerseits ist nicht anzunehmen. Das im Brief an Sie beigelegte Register ist nicht mit ihm in Zusammenhang zu bringen …«

»Beigelegtes Register?« Ich schaute Max fragend an. »Gab es einen Umschlag zu diesem Brief?«

Sehr behutsam und die Hast unterdrückend, nahm Max den Ordner, aus dem er den Brief entnommen hatte, zur Hand. Und tatsächlich, unter den restlichen Unterlagen befand sich eine separate Pappmappe, in der ein schmales Büchlein verwahrt wurde. Vorsichtig nahmen wir es unter den Augen der Archivarin aus dem Umschlag. Max klappte das Register auf und blätterte die Seiten vorsichtig um. Sie waren starr und spröde, die Ränder vergilbt und durch eine vor Jahrzehnten aufgesogene Flüssigkeit an manchen Stellen verschmutzt. Um keine weiteren Schäden zu verursachen, hatten wir Clarissa um Handschuhe gebeten. Was wir jetzt zu sehen bekamen, entschädigte für die Strapazen der letzten Monate. Der schwarze Einband hatte an Kontrast verloren. Doch die eingestanzten SS-Runen prangten auf der Front des Registers. Das schwarze Lesebändchen war abgefallen und der vordere Einband geknickt. Max öffnete es vorsichtig.

Es war in tabellarischer Struktur aufgebaut. Verschiedene Spalten ordneten die wichtigsten Informationen. Der Aufbau war auf jeder Seite identisch. Wobei etwa ab der Mitte des Registers zusätzliche Informationen niedergeschrieben worden waren.

Wir fanden die Namen der Kunstgegenstände – zumeist waren es Bilder. Dazu ein Datum. Jedoch war nicht eindeutig bestimmbar, auf was es sich bezog. Es wäre möglich, dass es den Tag des Raubes oder den Tag bezeichnete, an dem das Objekt versteckt wurde. Sofern das nicht eindeutig geklärt war, konnten bei der Bestimmung des Ortes erhebliche Schwierigkeiten auftreten, denn dieser war auf keiner Seite vermerkt. Zusätzlich fanden wir russische Namen und in der vorletzten Spalte die Überschrift Entlohnung. Jede Seite enthielt eine fünfte und letzte Spalte, die den Wert jedes Kunstgegenstands bezifferte. Wir waren überrascht, welche Größenordnungen dabei angegeben wurden. Die Eintragungen waren mit schwarzer Tinte handschriftlich notiert. Einige Vermerke verwiesen auf Gold- und Silberschmuck. Am Rand waren kleinere Marginalien eingefügt, doch sie ergaben gegenwärtig keinen Sinn.

Seite für Seite sichteten wir das Register und baten Clarissa darum, Kopien anfertigen zu dürfen. Sie lehnte ab, da die Verleimung des Buchrückens sofort brechen würde. Das sei erst möglich, wenn der neue Dokumentenscanner vor Ort wäre.

Solange konnten wir nicht warten. Wir fotografierten in mühsamer Arbeit behutsam 47 Blätter. Ich war in diesem Moment froh darüber, meine teuerste Anschaffung der letzten Jahre, ein lichtstarkes Objektiv, bei mir zu haben. Damit reichte das restliche Licht für brauchbare Fotos.

Nirgendwo ein Verfasser oder sonstige Daten notiert, die auf eine Kontaktperson hinwiesen. Handelte es sich hierbei um eine Bestellliste? Je länger wir darüber diskutierten, desto mehr Möglichkeiten ergaben sich.

Was für ein Fund! Ob sein Inhalt authentisch war, mussten wir prüfen. Vorsichtig legten wir das Register zurück und schlossen die Akte.

Clarissa wies uns darauf hin, dass das Archiv in zehn Minuten schließen würde. Nun gut, gleich morgen früh würden wir den Inhalt weiter auswerten.

Nachdem wir das Archiv verlassen hatten, machten wir noch einige Besorgungen.

»Rotwein, zur Feier des Tages, wie wäre das?«, fragte ich Max lächelnd.

»Wunderbar!«

»Aber ich muss in die Pension, ich habe viel aufzuschreiben«, sagte ich in der Hoffnung, Max zum Einkaufen zu bewegen.

»Ja, schreib du, wir sehen uns dann.«

Hastig holte ich den Laptop heraus und schrieb in mein Tagebuch alle wichtigen Beobachtungen und Ergebnisse. Der Stolz über diesen Fund war grenzenlos. Wir feierten unseren Erfolg.

 

Die Sonne war noch nicht vollständig aufgegangen, da waren wir schon wach und redeten über den kommenden Tag. Kurz vor neun machten wir uns auf den Weg zum Archiv, es lag nur wenige hundert Meter von unserer Unterkunft entfernt.

Freundlich empfing uns Clarissa. Unverzüglich gingen wir in die Schatzkammer des Gebäudes und suchten nach der Dokumentensammlung. Sie war nicht mehr da. Aufgeregt rannte ich zur Rezeption. »Wir hatten gestern Abend ein Dokument gefunden. Jetzt ist es nicht mehr da.«

»Haben Sie genau nachgeschaut?«

»Ich bin mir absolut sicher. Mein Kollege kann es bestätigen. Das Register ist nicht mehr an seinem Platz!«, sagte ich panisch.

Sie griff zum Telefonhörer und sprach kurz mit der Direktion.

Wenige Minuten später kam ihr Vorgesetzter auf mich zu. »Das ist unmöglich. Wann haben Sie die Akten zuletzt eingesehen?«, fragte er erstaunt.

»Gestern Abend, kurz bevor das Archiv schloss. Die Archivarin war selbst anwesend und hat gesehen, wie wir die Unterlagen zurückgelegt haben. Deshalb ist ein Fehler ausgeschlossen«, sagte ich sichtlich nervös. Mein Puls raste.

Clarissa war ungewöhnlich angespannt. »Das ist doch unmöglich!« Verzweifelt ging sie auf und ab. »Ich habe es doch selbst einsortiert. Die gesamte Mappe. Und jetzt ist sie weg. Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass wir alles an dieselbe Stelle zurückgelegt haben, absolut sicher.«

»Wir werden die Sache prüfen«, sagte der Archivleiter. »Clarissa, zeigen Sie mir bitte den Standort.«

Sie führte ihn zum entsprechenden Regal. Nach einer kurzen Zeit, in der er sich selbst ein Bild machte, sagte er: »Nun gut, ich verstehe es nicht, aber wir werden es prüfen. Soweit ich weiß, hatte gestern Herr Simon Dienst. Ich werde ihn zuerst über die Umstände befragen, danach werden wir weitere Schritte besprechen. Sie haben an der Rezeption Ihre Telefonnummer hinterlassen?« Ich nickte. Im Gegensatz zu Max war ich sehr aufgebracht. Er selbst blieb ruhig und sagte nichts. Seine Verwunderung spürte ich erst, nachdem wir hinausgegangen waren.

Nach den ersten hundert Metern platzte es aus ihm heraus. »Es wird Zeit, dass wir uns daran gewöhnen, unter ständiger Beobachtung zu stehen.«

»Was?«, fragte ich ungläubig, da ich an einen Zufall glaubte.

»Es gibt reale Anzeichen dafür, dass jemand über unsere Schritte informiert ist. Vielleicht ist die Archivarin in die Sache verwickelt oder der Diensthabende von letzter Nacht. Wer weiß das schon? Hast du nicht bemerkt, wie nervös sie geworden ist, als wir das Register fanden? Das war verwunderlich«, analysierte Max.

»Wie kommst du darauf? Sie liebt eben ihren Beruf und wir haben ja keine Kleinigkeit gefunden«, sagte ich beschwichtigend.

»Jetzt beruhig dich erst einmal. Ich habe gestern deinen Laptop benutzt und bin einer Vermutung nachgegangen. Die E-Mail des Verfassers hat mich misstrauisch gemacht. Es ist möglich, dass die einzige Verbindung nach außen infiltriert wurde – dein Computer. Da du, gleich nachdem wir das Archiv verlassen haben, an deinem Tagebuch geschrieben hast, sind sie darauf aufmerksam geworden. Bestimmt hat Clarissa bemerkt, dass es das Dokument nur einmal gibt. Das heißt: Wer immer hinter alledem steckt, lässt jeden Schritt in diesem und vielleicht in anderen Archiven beobachten, da unzählige Unterlagen noch nicht gesichtet und katalogisiert sind. Wahrscheinlich waren sie, aufgrund eines Trojaners auf deinem Rechner, auch darüber informiert, in welchem Archiv wir weitersuchen würden. Jetzt lass uns keine Zeit verlieren, wir müssen deinen Rechner checken.«

Max wurde fündig. »Du machst es denen leicht. Nichts verschlüsselt, nicht einmal dein Tagebuch. Wir müssen davon ausgehen, dass alle Daten übermittelt wurden, quasi eine Kopie deiner gesamten Textdokumente, Nummerneingaben für dein Konto – alles. Leider auch das wichtigste Dokument, das den Hinweis auf das Register enthält.«

Das war ein schwerer Schlag. Ich musste mich setzen.

»Oh Mann«, sagte ich geschockt. »Was machen wir jetzt?«

Max überlegte für einen kurzen Moment. »Alles bleibt, wie es ist. Leider kann ich dir nicht sagen, wie komplex der Algorithmus ist, ob er Informationen über seine eigene Entdeckung weitergibt. So weit reichen meine Kenntnisse nicht. Auf jeden Fall ist es kein Zufall und vorsätzlich geschehen. Sagen kann ich nur, dass deine Firewall nutzlos war. Wann sind die Computerprobleme aufgetreten?«

Ich erzählte ihm die Vorgeschichte noch einmal, aber diesmal unter dem Gesichtspunkt, dass für irgendjemanden meine Arbeit von Interesse sei. Zum einen waren da die Dokumente. Sehr oft hatte ich E-Mail-Verkehr mit verschiedenen Archiven, dann die Ausleihen, ausnahmslos Dokumente zum Kunstraub, Reichstagsgold, Bernsteinzimmer und zur Wewelsburg. Danach das Gespräch mit meinem Professor: Er wirkte nervös, aber hoch erfreut, als ich meine Story erzählt hatte. Und zuletzt die Anfrage nach der Person, die vor mir die Dokumente ausgeliehen hatte.

»Dann muss es spätestens dann passiert sein, als mich die Mail des Journalisten erreichte. Möglicherweise schreibt der Verfasser unter Pseudonym und der Artikel wurde absichtlich zwei Wochen nach meiner Entdeckung publiziert«, sagte ich.

»Lass uns mal zurückdenken und rechne damit, dass keine dummen Schurken dahinterstecken«, sagte Max sicher. »Womöglich liefert irgendjemand, zum Beispiel dein Professor, die Charakterisierung deiner Person und die richten sich danach und entwickeln ein interessantes System, auf das du mit Sicherheit anspringen würdest. Sie haben sozusagen einen Profiler engagiert. Du stehst auf Fakten aus dem Dritten Reich. Aber der wichtigste Punkt ist: Du bist ein Ass im Recherchieren. Deine Nase ist Gold wert«, sagte Max mit erhobenem Zeigefinger.

»Deshalb?«, fragte ich ungläubig.

»Ja, natürlich, nur deshalb. Du bist gut, Elias. Ich habe immer deinen kriminalistischen Spürsinn, deine Hartnäckigkeit bei der Suche nach der Lösung des Rätsels bewundert. Seit ich dich kenne, konnte ich mir für dich nichts anderes vorstellen als den Kriminalisten. Deine Begabung ist bemerkenswert. Schau dir an, wie zielsicher du das Dokument aufgespürt hast.«

»Das war Glück«, erwiderte ich.

»Glück? Tiefgründige, akribische Arbeit«, sagte Max anerkennend.

»Das haben andere auch getan«, erwiderte ich.

»Ja, sicher. Aber du hast das Gespür, das Feeling für das Unbekannte. Deshalb hast du das Register lokalisiert und kein anderer. Und nun fang an, daran zu glauben, und nutze deine Stärken.«

Welch starke Worte eines Freunds.

»Gut, dass du hier bist«, sagte ich nach einer Weile leise.

»Nehmen wir an, der Journalist ist ein Köder und wusste selbst nicht, dass sein Rechner mit einer Spionagesoftware infiziert ist. Dadurch erhielten er oder sie deine E-Mail und du den Trojaner«, fuhr Max zielstrebig fort.

»Oder mein Professor hat die Informationen weitergegeben«, erwiderte ich.

»Das erscheint mir unwahrscheinlich«, entgegnete er kopfschüttelnd.

Diese Erläuterungen hörten sich für uns beide sehr plausibel an. Doch war die Frage nach dem weiteren Vorgehen zu klären. Max schlug vor, den Feind besser kennen zu lernen. Damit lag er richtig, denn wir mussten wissen, mit wem wir es zu tun hatten. Wir einigten uns auf diese Variante. Das hieß, wir würden nichts gegen den infizierten Rechner tun. Denn es war unsere einzige Verbindung zum Gegner.

Wir überspielten die Daten. Max hatte einen zweiten Laptop gekauft, dazu eine Bildbearbeitungssoftware. Den ganzen Tag und die Nacht arbeitete er daran, die Fotos zu verändern. Nur mit größter Anstrengung konnten wir die handschriftlichen Aufzeichnungen rekonstruieren. 146 Einträge. Vorrangig Kunstwerke. Wir hinterließen auf meinem Rechner alle Fotos. Aber nur eine geringe Zahl von ihnen war brauchbar. Dadurch wollten wir eine Irreführung erreichen. Der Gegner sollte glauben, dass die Fotos nutzlos seien, dass wir in der Hektik die Aufnahmen verwackelt hätten. Die originalen Fotos speicherte Max verschlüsselt auf einer externen Festplatte ab.

Danach formatierte er die Festplatte des neuen Laptops mit einer speziellen Software und spielte ein neues Betriebssystem auf. Eine Rekonstruktion der Daten war damit fast ausgeschlossen. Ich hatte live zugesehen, womit er sein Geld verdiente. Vorsicht war oberste Priorität, denn sie waren hier, das hatten die Ereignisse der letzten Tage gezeigt.

Zwei Tage waren vergangen, als mich der Anruf aus dem Archiv erreichte. Das Ergebnis fiel nicht überraschend aus: Das Register war nicht auffindbar. Wir machten uns sofort auf den Weg. Der Direktor bedauerte den Vorfall zutiefst und bestand, aus versicherungsrechtlichen Gründen, darauf, dass wir eine eidesstattliche Erklärung unterschrieben. Wir verließen das Archiv. Das nächste Ziel hieß Berlin.

3. Der Alte

Er saß in einem braunen Ledersessel. Der Tisch, auf dem er seine Arme aufstützte, war alt und bestand aus massivem Eichenholz. Er hatte eine glasähnliche Oberfläche. Zu seiner linken Hand stand ein großer, hölzerner Adler, zu seiner Rechten eine kleine Schatulle. Als er sie öffnete und auf die Orden blickte, erfüllte es ihn mit Stolz. Sie waren, seiner Meinung nach, die rechtmäßige Ehrung für seine Verdienste im Kampf um das Vaterland. Unzählige Menschen hatte er getötet, sieben Panzer zerstört und etliche hohe russische Kommissare festgesetzt. Er war 87 Jahre alt, agil und aktiv im Geschäftsleben tätig. Er regierte ein Imperium, hatte hart gewirtschaftet und mehr als einmal das Gesetz gebrochen. Schwebende Verfahren waren ein ständiger Begleiter seiner Geschäftsaktivitäten. Seine Beziehungen reichten in höchste Regierungskreise. Jeder war bestechlich; das war für ihn nicht nur ein Gerücht – die praktische Umsetzung dieser Leitidee ebenso wenig. Nichts und niemand schrieb ihm etwas vor.

In diesem Moment saß er vor dem riesigen Fernseher und lachte herzlich über die mediale Aufbereitung der Bestechungsaffäre eines Politikers. Sein Assistent reichte ihm einen Whisky. Der alte Mann schwenkte ihn und sah zu, wie die ölige Rarität im Glas hinablief. »Ölig und schmierig, aber doch eine Köstlichkeit. In diesem Glas ist Lebensweisheit versteckt.« Der Assistent wartete ehrfürchtig, bevor er seine Zustimmung gab.

Er war der Eigentümer des gesamten Gebäudes und wohnte im obersten Stockwerk, im Penthouse. Gemälde schmückten die Wände. Alles an diesem Platz war kostbar. Er war ein Kunstsammler und Kenner der Szene. Er besaß unzählige Kunstschätze und hortete sie an einem sicheren Ort. Die Gemälde, die er in seinem Büro zur Schau stellte, hingen hinter dickem Panzerglas. Die Wände waren durch Detektoren geschützt, die jede Erschütterung registrierten. Selbst ein Einbruch durch die Außenwand würde scheitern.

Neben seinen Finanzspekulationsgeschäften gehörten ihm zwei Immobilienfirmen und drei international tätige Finanzdienstleistungsagenturen. Er unterhielt eine der größten PR-Agenturen des Landes, eine sogenannte Litigationsagentur. Sie betreute hochrangige Politiker, Prominente und vermögende Geschäftsleute, die in die Mühlen der Justiz geraten waren und deren öffentliches Image beschädigt war.

Die Kosten für die betreffenden Personen waren enorm, doch der Alte konnte durch geschickte Imagekampagnen größere Schäden verhindern. Wer wegen Zahlungsschwierigkeiten einen Rabatt erhielt, war ihm einen großen Gefallen schuldig. Dadurch wuchs sein Einfluss in politischen und wirtschaftlichen Kreisen von Tag zu Tag. Legalität war ihm fremd. Überwachung, Bestechung und Verleumdung gehörten zu seinen Geschäftspraktiken.

Er war ein hochintelligenter Mensch und analysierte sein Gegenüber, fand Schwächen und gebrauchte sie für seine Zwecke. Er grub die dunkelsten Geheimnisse aus. Die betreffende Person hatte sich bisher immer in ihr Schicksal ergeben. Der Alte wusste, wie er mit seinen Mandanten umgehen musste. Wusste, wie er sie gefügig machte.

»Haben Sie die Daten analysieren lassen?«, fragte er seinen Assistenten.

Dieser bejahte.

»Was wissen wir?«

»Im Grunde haben wir ein komplettes Backup seiner persönlichen Daten vorliegen, inklusive des Tagebuchs und seiner Mails«, sagte der Assistent. »Vorgestern Abend fanden wir heraus, dass er ein wichtiges Dokument zum Verbleib der Kunstschätze aus dem damals besetzten Russland gefunden hat.«

»Sollten Sie mir nicht Bericht erstatten?«

»Sicherlich, das hätte ich getan, aber Sie wollen Beweise, keine Vermutungen.«

Mürrisch wies der Alte ihn an fortzufahren.

»Der Trojaner leistet gute Arbeit. Teilweise wurden Bilddaten übermittelt. Danach zu urteilen haben sie in aller Eile nur verschwommene Aufnahmen erstellt. Es war im Archiv zu dunkel. 78 von 100 Bildern haben wir. Wahrscheinlich wissen sie bis jetzt nicht, dass sie einen gehackten Computer benutzen. Sie werden es bald merken. Sein Freund ist IT-Fachmann. Das dauert nicht mehr lang.«

»Wo sind die Daten?«, fragte der Alte gereizt und ungeduldig.

»Hier.«

»Schön. Zeigen Sie her.«

»Die Bilder sind verschwommen, darauf erkennen Sie leider nichts«, erwiderte sein Assistent überzeugt.

Der Alte schaute ihn ernst an. Der Assistent nahm seinen Laptop und schob die CD ein. Leises Summen war zu hören. Minuten vergingen. Der Alte schaute sich Foto für Foto an. Keine Regung. Der Assistent wartete geduldig.

»Wo ist das Register?« Der Alte blickte den Assistenten neugierig an. »Ich kenne Sie seit Jahrzehnten. Sie würden nie Dinge unvollendet lassen.«

Das war ein Lob zwischen den Zeilen und Lob aus dem Mund des Alten war rar. Er reichte ihm das Register aus dem Archiv. Zufrieden lehnte sich der Alte in seinem englischen Ledersessel aus den frühen Dreißigerjahren zurück und lachte vergnügt.

»Was haben Sie bezahlt?«, fragte er. »Nicht deshalb, weil mich die finanziellen Aspekte interessieren, sondern nur um zu wissen, was Menschen für einen Preis haben.«

»Günstige Gelegenheit.« Der Assistent konnte sich ein stolzes Lächeln nicht verkneifen. »Keinen Cent. Eine Beförderung war ihr wichtiger!«

Nun kam der Alte nicht umhin, anerkennend die Augenbrauen nach oben zu ziehen. »Interessant«, sagte er mit sanfter Stimme. »Es ist unglaublich, auf welche Art und Weise jeder Mensch käuflich und opportun wird.« Mit einem Kopfnicken signalisierte er seinem Untergebenen, dass er ihn nicht mehr brauchte.

Dann starrte er auf das schwarze Register. Die SS-Runen kamen ihm vertraut vor. »Wie lange habe ich es gesucht – Jahrzehnte«, flüsterte er. Er hielt das Register fest in den Händen. Erinnerungen keimten auf. Er spürte Gefühle, die er längst verloren geglaubt hatte. Schweiß bildete sich auf seiner kalten Stirn. Angst. Seine Kehle war staubtrocken. »Lang ist sie her, diese Zeit voller Ängste. Beinah wären sie mir auf die Schliche gekommen«, murmelte er. Dann setzte sich das Gefühl der Erleichterung durch und er fand mit seinen Gedanken in die Gegenwart zurück.

Sein Finger berührte die rote Taste am nostalgischen Telefon. Der Assistent stand wenige Sekunden später in der Tür.

»Lassen Sie ihn weiter beobachten und berichten Sie über jede ungewöhnliche Reaktion. Mein Gefühl sagt mir, dass sie das Register sauber fotografiert haben. Während Sie das tun, erwarte ich, dass Sie endlich das zweite Register finden. Oder ihn so weit motivieren, dass er es tut.«

Binnen Sekunden verstand der scharfsinnige, schmale Assistent, was sich abspielte. Sein Chef gab Kontrolle ab. Eher ungewöhnlich.

»Ich wusste nicht, dass …«

»Schon gut«, unterbrach ihn der Alte. »Die Suche würde nicht einfach sein. Das wusste ich bereits nach Kriegsende. Doch dass sie sich so lange hinziehen würde, hätte ich niemals für möglich gehalten.«

Es war erstaunlich. Er wirkte verzweifelt. Ein seltener, fast ausgeschlossener Zustand.

Das Register verschwand in einer Schublade des Tisches. In ehrfürchtiger Haltung stellte der Bedienstete eine Frage.

»Sie suchen schon seit einer Ewigkeit nach den Registern, erlauben Sie mir die Frage nach dem Warum

Der Alte schaute auf und fixierte seinen Assistenten, der wie versteinert dastand. »Im Grunde haben Sie nur meine Anweisungen auszuführen und Sie werden mich nie wieder nach dem Warum fragen! Dennoch räume ich Ihnen, aufgrund der Dauer meiner Suche und Ihrer langjährigen, loyalen Mitarbeit, eine Antwort ein. Diese beiden Register sind der Schlüssel für schon längst verschollen geglaubte, wertvolle Kunstwerke. Das Ahnenerbe und Himmler waren während des Krieges eifrig bedacht, kostbare Gemälde zu beschaffen. Ich war als SS-Standartenführer Chef einer solchen Einheit und empfing direkt Befehle von Himmler. Er sammelte nicht nur für Hitler. Himmler bestellte auch Werke für seine Wewelsburg. Die Burg bei Paderborn sollte zur SS-Eliteschmiede werden. Kunst, arische, war ein wesentlicher Bestandteil des Vorhabens und ich einer der Lieferanten. Und jetzt fehlt das zweite Register.«

Er holte energisch Luft. Seine knochigen Finger klammerten sich fest und entschlossen um die Armlehne des Ledersessels.

»Es ist aber auch persönlich«, sagte er mit kräftiger Stimme. Sein Assistent stand direkt vor ihm. »Nun wissen Sie zumindest, warum ich immer noch auf der Suche bin.«

Eine unheimliche Stille beherrschte den Raum, bevor er seinem Assistenten in gewohntem Ton die Anweisung gab, zu gehen.

In der Ferne zogen dunkle Wolken auf, sie kündeten von einem bevorstehenden Unwetter. Er hasste es, wenn er verlor, und er hasste es, wenn irgendjemand versuchte, ihn, den Strategen, hinters Licht zu führen; dann war er zum Äußersten bereit. Überall witterte er Gefahr und Verrat.

 

Max saß vor seinem Fernseher, neben ihm stand ein kühles Bier. Gemächlich aß er ein Stück Pizza: Schinken und Champignons, darauf eine doppelte Schicht Käse. Jeder Bissen war ein Genuss. Max dachte darüber nach, wie sie Kontakt mit dem Journalisten aufnehmen könnten. Eine Anfrage bei der Zeitschrift hatte nichts ergeben. Die vergangenen Treffen beim Professor waren erfolglos.

Das letzte warme Stück Pizza lag auf dem Teller. Die Reportage lief seit 20 Minuten. Es wurde das Alt-Bekannte gezeigt, nur ein anderes Design.

Er setzte ein frisches Bier an. Dann hielt er inne. »Was sagt der?«, stotterte Max leise. Er zeichnete jede Folge des Wissensmagazins auf seinem Computer auf. Schnell setzte er etwa 20 Sekunden zurück. »… wurde ein handschriftliches Dokument an den Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei Heinrich Himmler verfasst, in dem die private Bereicherung in Bezug auf den Kunstraub in den besetzten Ostgebieten thematisiert wurde. Ein SS-Standartenführer hatte sich daran beteiligt. Wo die Kunstgüter gelagert wurden, ist bisher nicht bekannt. Allerdings ist es einem jungen Studententeam gelungen, ein Register zu finden, das die notwendigen Informationen zum Verbleib der Kunstwerke liefern kann. Erstes abfotografiertes Bildmaterial liegt der Redaktion vor, es wurde von den Studenten angefertigt. Das originale Register ist, nach Angaben der Archivleitung, entwendet worden.«

Sein Puls raste, das Stück Pizza fiel ihm aus der Hand, die Flasche Bier krachte auf den Tisch. Er hastete zum Telefon. Das alte Handy, die Karte könnte noch funktionieren, schoss es ihm durch den Kopf. Die Nummer dürften sie nicht haben, und wenn doch? Er verstand den Beitrag als Zeichen.

Er rannte auf die Straße, versuchte, natürlich zu wirken. Er nahm ein Taxi. Als er vor dem Gebäude vorfuhr, in dem Elias wohnte, hatte er sich ein wenig beruhigt. »Fahren Sie bitte langsamer und halten Sie auf der anderen Seite.« Max schaute sich aufmerksam um und sah ein schwarzes Coupe. Es stand am gegenüberliegenden Ende der Straße. Der Wagen erschien ihm verdächtig. Er stand unter einem Baum, fast versteckt. Der Fahrer trug einen schwarzen Anzug und ein schwarzes Hemd, seine Haare waren ebenfalls schwarz. Eine gute Tarnung, dachte Max, aber typisch für Schläger.

 

Max rief mich an. »Komm so schnell es geht runter, vor deiner Tür steht ein Taxi. Steig ein. Stell jetzt keine Fragen, komm einfach.« Ich legte ohne Nachfragen sofort auf, nahm rasch die Jacke und verließ die Wohnung.

Als ich einstieg, gab Max dem Taxifahrer Anweisungen, sofort loszufahren und den schwarzen Wagen abzuhängen.

Für nichts auf der Welt würde er das tun, erwiderte der Fahrer. Er habe eine Familie zu ernähren und setze für die Aktion seinen Führerschein nicht aufs Spiel.

Als Max ihm den 200-Euro-Schein reichte, mit der Bemerkung, dass er nur den Benz abzuhängen brauche, wenn dieser uns folgen sollte, nahm der Taxifahrer den Schein und fuhr los.

Die Wagenfront des Verfolgers wippte nach oben und das Fahrzeug schoss aus der Lücke. Wir bogen schnell nach links auf die Hauptstraße ab und huschten zwischen zwei Autos hindurch. Noch immer wurden wir verfolgt. Schnell schloss er auf, doch unser Fahrer begriff geistesgegenwärtig die Situation. Es durchzuckte den Wagen, als er das Lenkrad nach rechts herumriss und knapp vor einer Straßenbahn auf die Rechtsabbiegerspur raste. Die Ampel zeigte rot. Seine Entscheidung löste ein Chaos auf der Kreuzung aus, aber wir entkamen.

Der Verfolger hatte mit einer derartigen Aktion nicht gerechnet und verlor, bei dem Versuch uns zu folgen, die Kontrolle über seinen Wagen. Zwei Drehungen, dann krachte er hart mit dem Heck in einen Laternenmast. Wir sahen noch, wie er aus dem Auto stieg und mit der Faust auf das Dach schlug. Der junge Taxifahrer setzte uns fluchend in der Innenstadt ab. Wir rannten in ein kleines Hinterhof-Café. Unter einer alten Kastanie fanden wir Platz. Der Baum trug ein dichtes, grünes Blätterdach. Die Sonnenstrahlen durchdrangen es nur mit Mühe. Wir schwiegen. Ich musste mich sammeln.

»Verdammt, was war hier los?«, fragte ich. Wir kamen uns vor wie in einer Dunkelheit, in der wir ständig Geräusche wahrnahmen, aber die Quelle nicht lokalisieren konnten. In all der Aufregung der letzten Minuten war nicht eine Sekunde Zeit, nachzudenken. »Ich habe keine Ahnung, was das soll. Erst der Rechner, jetzt der Verfolger …« Max erzählte mir, was er kurz zuvor im Fernsehen gesehen hatte. »Es war an uns adressiert«, sagte er und zeigte mir auf seinem Laptop den Videoausschnitt.

»Und der Wagen?«, fragte ich. »Sie – oder wer auch immer – beobachten uns überall, oder?«

»Ja«, sagte Max. »Und wir wissen nichts über den Gegner. Adressen, Laptopdaten, wahrscheinlich werden die Telefone abgehört, Beobachtung durch Handlanger und so weiter. Kneif mich mal. Das ist wie in einem schlechten Krimi.«

»Wir haben doch nur eine Art Register gefunden. Nichts weiter«, sagte ich mit ausgebreiteten Armen. »Bevor wir weitermachen, müssen wir herausfinden, wer die sind. Ich vermute, dass zwei Teile existieren, genau wie in dem Brief beschrieben. Das erste haben sie aus dem Archiv gestohlen und nun hoffen sie darauf, dass wir das zweite finden.«

»Das mag alles sein. Aber warum dieser Druck, diese Offensichtlichkeit wie in einem Ballerfilm?«, erwiderte Max.

»Ich weiß es nicht. Sicher ist nur, dass sie die Ablenkung durch die unscharfen Fotos schnell durchschauen werden. Wir haben uns nur einen kleinen Zeitvorsprung verschafft.«

Ich fühlte mich unbehaglich, ein kalter Schauer überkam mich. Umkehren konnten wir nicht.

Für einen Moment schien es friedlich, der Wind brachte die am Boden liegenden Blätter zum Tanzen. Der Klang des leisen Raschelns ließ mich zur Ruhe kommen. Ich sog die frische Abendluft ein. Entspannung, welch eine Erleichterung, sie ließ mich klar denken.

»Max, in einer Woche findet die Ausstellung auf der Wewelsburg statt.«

Sichtlich überrascht hob Max den Kopf. »In einer Woche?«

»Ja. Dort werden wir sie oder ihn oder wen auch immer sicherlich treffen.«

»Wie kontaktieren wir sie

»Das ist einfach. Ich gehe davon aus, dass die meinen Laptop nach wie vor überprüfen, eine Mail sollte reichen«, sagte ich.

»Dann lass uns beginnen. Wir müssen die bleibende Zeit zur Recherche nutzen. Ich bin mir sicher, dass wir auch auf der Ausstellung brauchbare Antworten finden werden.«

Wir bezahlten und verließen das Lokal, um ein Internetcafé aufzusuchen.

Nach wenigen Minuten waren wir auf der Homepage, auf der die Eröffnung der Ausstellung angekündigt wurde. Darauf fanden wir die Rednerliste. Den überwiegenden Teil kannte ich vom Namen her. Deutsche Autoren, die sich mit der Rolle der Wewelsburg beschäftigten.

4. Zusammentreffen

Der Nebel verhüllte das gesamte Tal. Es war ein unheimlicher Anblick. Da stand sie. Wir näherten uns auf einer schmalen Nebenstraße der Burg, die in etwa einem Kilometer deutlich zu erkennen war.

»Es schaudert mich, jedes Mal, wenn ich auf sie zufahre«, sagte der Taxifahrer. »Was waren das für Zeiten? Meine Eltern haben mir oft davon erzählt.«

»Leben sie denn noch?«, fragte Max neugierig. Wahrscheinlich hatte der Fahrer diese Geschichte schon oft erzählt.

»Ja, ja, sie leben noch«, sagte er etwas genervt. »Sie sind alt und waren in den letzten Jahren der Diktatur Bedienstete auf der Burg.« So recht wollte er uns die Geschichte nicht erzählen.

»Wissen Sie etwas über die Plünderungen nach der Sprengung?«

»Ach, wissen Sie, das sind alte Kamellen. Ich kanns nicht mehr hören und den Menschen geht es ohnehin nur um Sensationen. Die Wahrheit interessiert doch nicht.« Wir unterhielten uns angeregt.

Wir näherten uns dem Eingangsbereich und sahen das Burgtor. Der Wagen hielt.

»Ach, übrigens, ich bin André.« Er reichte uns zum Abschied die Hand.

»André, können wir deine Eltern treffen? Du weißt ja, was wir suchen. Wäre das möglich?«, fragte ich.

André nickte. »Ich denke schon, dass sie mit euch sprechen würden. Unsere wöchentlichen Familientreffen laufen merkwürdig ab. Die anderen in meiner Familie wollen nichts mehr davon wissen. Brauner Morast, sagen sie immer. Ja, sie würden sich sicher freuen.«

Nachdem wir unsere Telefonnummern ausgetauscht hatten, wollten wir bezahlen, doch André winkte mit einem Lachen ab. Eine interessante Fügung. Max meinte nur, dass ich immer Glück hätte.

Der Weg zur Veranstaltung war ausgeschildert. Wir durchschritten den alten Torbogen. Es war dunkel, gerade so, als ob die Burg ihre dunklen Geheimnisse nicht preisgeben wollte. Geheimnisse, die pechschwarze Schatten auf die Geschichte warfen.

Wieder besichtigte ich einen mir verhassten ehemaligen Ort des Regimes. Wieder ein Ort, an dem Menschen sinnlos gestorben waren. Wieder ein Ort, an dem ein machthungriger kleiner Mann seine Komplexe kompensieren wollte.

Wir standen im Obergruppenführersaal. Die Veranstalter taten genau das Richtige: durch Banalität den Kult zerstören. Große, farbige Kissen waren im kleinen Saal verteilt. Dazwischen ein fahrbarer Zeitungstisch. Er stand neben etlichen Sitzkissen, direkt auf der schwarzen Sonne. Das Emblem war mittig in den Steinboden des Saales eingearbeitet und hatte einen Durchmesser von etwa drei Metern.

Wir schritten auf einen weiteren Veranstaltungsraum, in einem Nebengebäude der Burg, zu. Vor der Tür stand eine Traube Menschen. Vorrangig ältere Personen. Der Altersdurchschnitt lag etwa bei 60 Jahren. In Erwartung des kommenden Festaktes rauchten einige genüsslich Zigaretten. Plötzlich huschte zwischen den Personen ein mir vertrautes Gesicht hindurch. Ich war kurz irritiert. »Das kann unmöglich sein, aber ich glaube, ich habe soeben meinen Professor gesehen.«

Max schaute mich verwundert an. »Warum sollte das unmöglich sein, wenn wir davon ausgehen, dass er was mit der Sache zu tun hat und hier Kontakte pflegt?« Er zuckte mit den Achseln. »Ich finde das logisch. Wie sieht er aus?«

In aller Eile beschrieb ich ihn.

»Ist der es?« Max hob zweimal hintereinander den Kopf und deutete damit in Richtung des Professors.

»Ja, er ist es.«

Er schien uns nicht wahrzunehmen, was unser Vorteil war, denn nur so konnten wir uns ungehindert nähern und erkannten, mit wem er sich unterhielt. Er stand neben einem Mann, der knapp 90 Jahre alt sein mochte. Er war aber nicht der Älteste in dieser Runde von 20 Personen, unter denen sich nur eine Frau befand.

Bedächtig zog der alte Gesprächspartner des Professors an seiner Zigarre. Der dicke Qualm stieg gradlinig empor. Dann ließ er die Hand auf den lackierten Gehstock sinken, sodass er sich mit beiden Händen aufstützte. Die Zigarre klemmte derweil gekonnt zwischen Zeige- und Mittelfinger. Die Hände waren knochig und umschlangen den Griff des Stockes.

Der Mann war, trotz seines hohen Alters, eine stattliche Erscheinung. Der breite Rücken und die langen Beine täuschten über sein wahres Alter hinweg. Er war etwa 1,90 Meter groß und hatte schneeweißes Haar. Sein Blick war starr und schien unberührt von dem, was ihm sein Gegenüber erzählte.

Die Sonne spiegelte sich in den blank polierten Schuhen und sein Nadelstreifenanzug war vom Stil her wenig konservativ. Eleganz und Zeitlosigkeit hatte der Designer erschaffen. Die passende Krawatte saß eng und war farblich exakt abgestimmt. Das Hemd war blütenweiß und die Manschettenknöpfe funkelten.

Er fixierte uns und ich schaute in seine alten, dunklen Augen, die keineswegs müde schienen.

So sieht der junge Bursche in natura aus, dachte sich der Alte. Etwas schmal. Auf den Fotos wirkte er kräftiger.

Er war nicht sonderlich überrascht, mich und Max hier zu sehen. Zufrieden nickte er. Er hätte nicht gedacht, dass es so schnell zu einem Treffen kommen würde. Er liebte es, wenn sich die Dinge ohne Gewalt und nur mit leichter Manipulation fügten. Der Gedanke daran war für ihn erhebend. Nun, dachte er, dann werde ich beginnen. Er war sich von Anfang an bewusst, dass er gewinnen würde. Siegen war seine Stärke und das Rezept für ein langes Leben. Nie kam es ihm in den Sinn, dass er verlieren könnte. Nur dadurch hatte er den Krieg überlebt. Mit einer leichten Handbewegung winkte er seinen Assistenten zu sich. »Ich will ihn sehen.«

»Es wird arrangiert«, erwiderte dieser.

Ich schaute den Alten immerfort an und bemerkte nicht, dass ein Mann im teuren Anzug auf mich zukam. Plötzlich stand er vor mir. Er war schmal, aber nicht klein, hatte dünnes, braunes Haar und einen Dreitagebart. Seine dunklen Augen bohrten sich in die meinen. Der stechende Blick war für mich unerträglich – kalt und unnatürlich.

»Er will Sie sehn. Nach dem Seminar. Ein Auto wird auf Sie am hinteren Personaleingang warten. Ich empfehle Ihnen, den Wunsch des Herrn nicht auszuschlagen.«

Mir lief es kalt den Rücken hinunter. Noch bevor ich etwas erwidern konnte, entfernte er sich ebenso zügig, wie er gekommen war. Sein Anzug glänzte. Ein schwarzer Handschuh schützte seine rechte Hand.

Ich schaute Max an. Er war nicht sonderlich verblüfft und sagte: »Bist du nun überzeugt? Dann beginnt es jetzt, er will sehn, oder wie sagt man in Pokerkreisen?« Ich war verblüfft, wie gelassen Max mit dieser Situation umging. Offenbar war er sich sehr sicher, was uns erwarten würde, während ich nervös war und keinerlei Konsequenzen abschätzen konnte, zu surreal schien mir die gesamte Situation.

Die Gruppe hatte sich aufgelöst. Alle nahmen ihre Plätze ein, sodass die Veranstaltung beginnen konnte. Ich versuchte, den Vorträgen zu folgen, doch die Anspannung und Neugier vor dem Treffen fesselten meine Gedanken. Nur ein Vortrag war für uns interessant: Er behandelte die Verschleppung wichtiger Kunstgüter in den besetzten Gebieten in Zusammenhang mit den angeblichen Kunstkennern des Dritten Reiches, allen voran Hitlers Traumprojekt eines Museums in Linz. Auch der Reichsführer SS spielte in diesem Vortrag eine Rolle, wenn auch nur eine unwesentliche.

Der Tag neigte sich dem Ende zu. Die Sonne stand tief. Wir verließen den Raum und liefen in Richtung Tor, auf dem Weg dorthin sahen wir den Professor. Er begleitete den alten Mann. Er hatte mich während der gesamten Veranstaltung nicht entdeckt. Wir hielten gebührlich Abstand, damit es so blieb.

Das Licht wurde schwächer. Sie gingen durch das Tor und folgten der rechtsabbiegenden Zufahrt. Sie liefen an der Burgmauer entlang und näherten sich einer eleganten, schwarzen Limousine. Ich erkannte nur, dass der Professor sich leicht verneigte, bevor er ging. Der Alte hingegen reichte ihm nicht einmal die Hand zum Abschied. Nun, da mein Professor gegangen war, hielt ich zielstrebig auf den Wagen zu, neben mir mein treuer Freund Max.

Zwei Schritte trennten uns von dem Wagen, als der Begleiter des Alten ausstieg und uns die hintere Tür öffnete. Wir schauten in ein Schummerlicht und erkannten schwarze, einander gegenüberliegende Ledersitze, die eine Konferenzatmosphäre schufen. Wir stiegen ein und setzen uns mit dem Rücken zum Fahrer. Tief sanken wir in die Sitze. Außer dem Begleiter war noch ein Chauffeur anwesend. Eine dunkle Trennwand garantierte ein ungestörtes Gespräch.

»Ich war überrascht, dass Sie so jung sind«, begann der Alte das Gespräch.

»Wieso überrascht Sie das?«, fragte ich ruhig.

»Jugend interessiert sich im Normalfall nicht für das Vergangene und Sie interessieren sich zudem ausgerechnet für meine Vergangenheit. Ich habe um ein Gespräch gebeten, damit ich Ihnen ein Angebot machen kann. Ich will offen sein und gleich zum Punkt kommen. Meine Begeisterung, wie schnell Sie das erste Register gefunden haben, ist groß. Verblüfft bin ich deshalb, weil ich selbst jahrelang die Archive durchsucht habe, um es zu finden. Sie haben nur kurze Zeit benötigt.« Ruhig zog er an seiner Zigarre, wissend, wie er Schmeicheleien gezielt einsetzen konnte.

»Das erste Register?«, fragte ich.

Max fuhr entschlossen dazwischen. »Mit anderen Worten, es gibt ein zweites.«

Der Alte sagte nichts und schaute aus dem Fenster. »Wenn Sie jeden Tag um Ihr Leben fürchten müssen, sind vorsichtige und bedachte Handlungen für das Überleben unbedingt notwendig. Allein die Kugel präzise ins richtige Ziel zu feuern, reicht nicht aus«, sagte er listig und wartete gespannt auf unsere Reaktion. Er war sich sicher, dass er die Situation richtig einschätzen und in wenigen Sekunden seinem Ziel zumindest ein wenig näher sein würde. Max und ich spürten die Gefahr.

»Ich bezahle Sie«, sagte der Alte erstaunlich direkt. Eine für ihn unbekannte Situation. Vorrangig genoss er es, sein Gegenüber lange zu täuschen und erst dann ins offene Messer laufen zu lassen. Gegenwärtig waren wir nicht seine Feinde.

»Weshalb diese Farce, ein Anruf hätte genügt, warum dieses Versteckspiel?«, fragte ich.

Der Alte antwortete zögerlich. »Es liegt nun mal in der Natur des Wolfes, dass er Schafe reißt. Ich bin an meinen Instinkt gebunden, wie der Wolf an den seinen. Außerdem war ich der Meinung, Sie würden aufgeben. Nach der effektvollen Verfolgungsjagd hatte ich genau diese Reaktion erwartet. Aber Sie sind nicht sonderlich ängstlich?« Er nahm einen Schluck aus dem beschlagenen Wasserglas. »Das ist gut. Lernen Sie, Ihre Angst zu beherrschen, es wird Ihnen helfen. Ich habe es in den Schützengräben gelernt – lernen müssen.«

Der Alte musste sich selbst eingestehen, dass er nicht daran interessiert war, das Leben dieser beiden zu zerstören. Zu oft hatte er in der Vergangenheit Menschen an die Grenzen ihrer Belastbarkeit getrieben – oft darüber hinaus.

»Ich mache Ihnen ein Angebot.« Der frische Qualm der Zigarre stand schwerelos in der Luft. »Sie sind jung, Ihnen steht eine glänzende akademische Karriere bevor. Auf dem Weg dorthin und darüber hinaus kann ich Sie finanziell unterstützen. Finden Sie das zweite Register und wir schaffen eine Win-Win-Situation. Es wäre für uns beide von Vorteil.«

»Warum sollte ich Ihnen unsere Erkenntnisse und Erfahrungen mitteilen? Warum Sie daran beteiligen?«, fragte ich unbeeindruckt.

»Das zweite Register enthält Namen und Adressen alter Freunde.« Er überlegte für einen Moment. »Außerdem Kontodaten in der Schweiz und für ein Schließfach.« Er gestikulierte mit offenen Armen, um seine Bereitschaft zur Verhandlung zu signalisieren. »Das Bankschließfach enthält alte Erbstücke und ein Bild meiner Mutter. Ich habe nichts von ihr. Nur eine Erinnerung an einen wunderschönen Sommertag und dieses Foto. Mehr ist mir von ihr nicht geblieben.« In diesem Punkt log er mit keiner Silbe.

Die Stille im Wagen war gespenstisch. Max sah durch die Scheibe, dass der Mann, der offensichtlich der Assistent des alten Mannes war, nervös auf und ab lief.

Max antwortete, bevor ich sprechen konnte. »Wir wollen Ihr Geld nicht. Uns ist an der Wahrheit gelegen, an der Historie«, sagte er mit kühlem Kopf. Er war zu schlau und erkannte, dass es um weit mehr ging. Der Alte nickte leicht. Er verbarg seine Unzufriedenheit und sein Misstrauen.

»Ihre Entscheidung ist endgültig?«, fragte er mit tiefer Stimme.

Max bejahte entschlossen. Ich stimmte zu.

»Gut, dann trennen sich hier unsere Wege.« Er drückte auf einen kleinen roten Knopf. Max sah im Augenwinkel, dass der Assistent sofort reagierte. Die Tür öffnete sich.

»Dann soll es beginnen«, sagte der Alte ernst. »Sie sollten aber wissen, dass ich bis zum Äußersten gehen werde, um meine Ziele zu erreichen. Ich werde die Informationen bekommen. Ich hoffe natürlich, dass Sie beide keinen Schaden nehmen.«

Wir ahnten, dass seine Drohung kein leeres Versprechen sein würde. Wir konnten uns nur vorstellen, was es bedeutet, wenn dieser Mann vom Äußersten sprach. Wir stiegen aus.

Es war zehn Uhr abends. Der Vollmond stand über der Burg. Der Himmel war so klar, dass wir deutlich und mit bloßem Auge die Einschläge der Meteoriten auf ihm sahen. Keine Wolke, keine Schleier, nichts stellte sich seinem Schein an diesem Abend in den Weg. Die Burg erstrahlte in einem dunklen Weiß und wirkte unheimlich.

Wir liefen in Richtung des Marktplatzes, vorbei an einem Kinderspielplatz, auf dem erst morgen fröhliches Kinderlachen zu hören sein würde. Leben regte sich in den Gassen. Wir näherten uns dem Dorfkern, der mit zwei kleinen Kneipen, einem Biergarten und einem überschaubaren Hotel gut bewirtschaftet schien. Sperrstunde gab es keine, Polizisten saßen mit Bürgern am Stammtisch und tranken gemeinsam, unberührt von den Ereignissen auf der Burg. Wir folgten dem niedrigen Zaun, der die zahlreichen Gäste von der Straße trennte.

Wir konnten unseren Blick nicht von der entspannten und fröhlichen Gesellschaft lösen. Die Stimmung ergriff uns, im Stehenbleiben schauten wir einander an. Nach Tagen, Wochen und Monaten voller Anstrengung war es ein befremdlicher Anblick. Es war zwölf Uhr nachts, wir waren müde, doch die Entscheidung fiel leicht. Mit einem behänden Sprung hatten wir den Zaun überwunden. Unsere Aktion erregte bei den Gästen etwas Aufmerksamkeit und verhalf dazu, dass uns der Taxifahrer André erblickte.

Mit einer freundlichen Handbewegung und lauten Rufen gab er uns zu verstehen, dass wir an seinem Tisch willkommen waren. Im gleichen Atemzug bestellte er zwei kalte Biere. Nur wenige Augenblicke nachdem wir Platz genommen hatten, warf die Wirtin mit gekonntem Schwung zwei Bierdeckel auf den Tisch. Mit der gleichen Inbrunst platzierte sie kurz darauf die gefüllten Gläser vor uns. Das Bier schwappte gegen den Glasrand, so stark, dass eine kleine Biersäule aufstieg, die dem Glas zu entrinnen drohte. Doch sie folgte der Schwerkraft. Ohne Worte tranken wir gierig. Es war ein Genuss, wie der kalte Gerstensaft den Staub aus unseren Mündern schwemmte und uns auf eine Art zu Kräften kommen ließ, die ich immer wieder für erstaunlich hielt. Doch heute war es anders – besser – der Kontext, er war ein anderer.

»Ihr seid in der schwarzen Limousine gewesen, oder?«

Noch gefesselt von der flüssigen Erfrischung antwortete ich nicht gleich. »Ja, ja, das stimmt«, sagte ich räuspernd.

»Wo schlaft ihr? Ach egal, wir haben immer ein Gästezimmer frei«, grinste André. »Außerdem wolltet ihr mit meinen Eltern sprechen, das wäre eine gute Gelegenheit.«

Wir stimmten zu und genossen den entspannten Moment. Es würde für Monate der letzte sein.

Die Nacht war lang. Die Aufregung hielt uns wach. Die Situation war ungewiss und unheimlich. Der Sinn und Zweck einer Waffe am Kopf wäre deutlicher. Es gäbe keinen Zweifel darüber, was kommen würde. Alles glasklar.

Momentan fühlte es sich für uns stattdessen wie eine schwer zu diagnostizierende Krankheit an. Wir spürten die Symptome, bemerkten die Veränderungen, konnten nichts dagegen tun. Lange unterhielten wir uns darüber, jedoch wurde nur eines deutlich: Wir brauchten Fakten, wer der alte Mann war, was er tat und warum er die Register suchte. Geld schien uns als Motiv absurd, sein Reichtum war allzu deutlich. Was war es dann? Würde er nur für die Kunst bis zum Äußersten gehen? Es war der letzte Gedanke, bevor wir einschliefen – vier Uhr in der Früh. Etwa drei Stunden fanden wir Schlaf.

 

Er war alt. Seine faltige und fleckige Haut zeugte von einem langen Leben. Seine gebückte Haltung verstärkte den Eindruck. Als er lachte, tat er es nicht ohne Mühe. Mit zitternder Hand führte er den Löffel zum Mund. Nur wenig der offenbar köstlichen Suppe erreichte seinen Gaumen. Er schmatzte und grummelte nach jedem Löffel, mit wohlwollendem Ausdruck. Ihm schmeckte es. Von Zeit zu Zeit griff er mit seinen knöchernen Fingern nach Brotkrumen. Kein Rand, nur weiches Brot. Wir standen eine ganze Weile im Raum, als André uns an den Tisch bat. »Mein Vater.« Er deutete mit seinem Finger in Richtung des alten Mannes, der von alledem nichts mitbekam. Seine Aufmerksamkeit gehörte allein der Suppe. Wir setzten uns und schauten ihm weiter zu. Wie lange würde er wohl brauchen?

Nach zehn Minuten erhob er sein Haupt. »Was machen Sie beruflich?«

Verblüfft über den Einstieg antwortete ich: »Ich studiere Geschichte und Literaturwissenschaft, bin jetzt im Begriff, meine Magisterarbeit zu schreiben. Ich habe oft in Archiven recherchiert, um umfangreiche Fakten über den Kunstraub im Dritten Reich in Erfahrung zu bringen. Mein Großvater war in dem Arbeitslager, in der Nähe der Wewelsburg. Das ist der Antrieb für mich, nach Vergangenem zu forschen. Er war Architekt, jüdischer Abstammung und arbeitete an der Wewelsburg, bis er hier umgekommen ist«, fasste ich schnell zusammen.

»Die Wewelsburg also. Sie wollen etwas darüber wissen? Die Jugend interessiert sich nicht für Vergangenes. Nichts mit Juden oder Deutschen. Die Menschen haben nichts gelernt. Sie schlagen sich lieber erneut die Köpfe ein, dieses Mal ist es nur keine Schlachtbank. Jeder will mal schießen. Gucken wie der andere umfällt und das Hirn durch die Luft fliegt. Diese Welt wird sich nicht ändern; schmerzlich mussten meine Frau und ich diese Tatsache erkennen.«

Er holte kurz Luft, bevor er weitersprach. Es war, als hätte er auf den einen Moment gewartet. Es brach wie eine große Welle über uns herein.

»Ich habe getötet, viele erschossen und habe nichts als die Hölle verdient. Manchen hat es Spaß gemacht, mir nicht. Bin diesem Trottel hinterhergelaufen. Himmler, dummer Zwerg. Haut ab, entzieht sich, für ihn wars einfach. Giftkapsel und aus der Laden. Aber ich, Gefangenschaft Russland, gefeierter Heimkehrer, seelisches Wrack. Jede Nacht die Schreie, die Gesichter. Warum? Weil ich diesem Trottel hinterhergerannt bin.

Und der andere erst! Als Bengel war er für mich wie ein zweiter Vater. Mein erster hatte sich verpisst. Hat erst die Friseuse von nebenan gefickt und dann ne Polin. Habs gesehen. Is eingebrannt. Sehe diesen Hurenbock immer noch, wie er auf der Schlampe rumspringt. Dann war er weg. Hätte mir Halt geben können, im Leben, dieser Feigling.

Dann kam der Hitler. Mein saftiges Hirn is ihm nachgesprungen. Der gab mir ne Perspektive. Hitlerjugend und Zeltlager. War das ein Spaß! Welcher kleine Bengel von uns ahnte, dass es so enden würde? Die SS war doch für uns ein Vorbild, dachte, schadet nichts, ging mir gut. Ja, für ein paar Jahre, und dann? Seit fast sechs Jahrzehnten zahle ich den Preis. Töte mich selbst nicht und verrecken durfte ich an der Front auch nicht. Die anderen waren zwei, drei Tage da, bevor sie liegend nach Hause fuhren oder in Paketen oder liegen blieben, weil keiner die Einzelteile suchen wollte. Bei einem hing die Hundemarke schon am Zeh, nachdem ihn die Granate voll erwischt hatte. Bei manchen wurden einige Teile vertauscht.

Ich war Jahre an der Ostfront, habe Dinge gesehen und war mitschuldig. War in Situationen, da kommst du eigentlich nicht hin – aber ich schon, obwohl ich manchmal gar nicht mehr wollte. Bring mich nicht um, ich muss es ertragen, will kein Feigling sein, wie der Trottel Himmler, dieser jämmerliche Zwerg. Wie ich ihn hasse! Bin mit ihm noch nicht durch. Wir treffen uns in der Hölle. Daran gibt es nichts zu rütteln. Das Schwein ist dort. Hat mein Leben versaut. Aber ich selbst noch mehr. Hätt mich wehren können, hab ich aber nich, war damals in Ordnung, jetzt …«

Leise weinend verkrampfte er beide Hände zu Fäusten. »Jetzt hab ich mich jahrelang nicht im Spiegel gesehen. Kann es nicht. Und dieses Schwein hat sich einfach der Sache entzogen und ich büße. Keiner von denen hat das durchleben müssen. Der Paulus hat sich nicht feiern lassen in Stalingrad. Ist mit seinen Mannen ins Lager gegangen, hat kapituliert und auf Hitler geschissen. Der hätte ihn zum Helden gemacht. Obwohl die Kameraden sich wie die Tiere abgeschlachtet hatten.« Er weinte bitterlich. Nach einigen Minuten sprach er mit zitternder Stimme weiter. »Haben Sie die Nürnberger Prozesse gesehen? Die fette Geisha, der Göring, hat es angeblich nicht einmal gemerkt, nicht begriffen, was in den Lagern ablief. Zwei Stunden lief der Film über die Lager. Hat sein Gesicht versteckt und nach dem Urteil eine Kapsel genommen, dieses feige Schwein.«

Er war erschöpft. Mit letzter Kraft bemerkte er: »Nicht der durchlebte Kampf Mann gegen Mann zerstörte meine Seele, sondern das Wissen um dieses Schlachthaus. Jeden Tag, über Jahre.« Seine Frau streichelte ihm sanft den Kopf. Er suchte Vergebung.

André kam zu uns und sagte, er erlebe das oft, aber es wolle keiner wissen. In dem Dorf hätte jeder etwas zu berichten. »Mein Vater wollte sich vor Jahren selbst anzeigen. Ich habe alle Ausgaben des SPIEGELS gesammelt. Mein Vater stöberte, einige Jahre nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft, in den Zeitschriften. Dann fand er die große Reportage von 1951 über Arthur Nebe. Er war Leiter einer Einsatzgruppe. Mein Vater konnte nicht mehr. Wusste, dass er, als Soldat der Wehrmacht, auch daran beteiligt war, wenn auch nur als Absperrposten. Doch unser Dorfpolizist sagte nur, jeder hätte seine Last zu tragen und er hätte im Krieg tapfer gekämpft. Wenn er das nicht getan hätte, wären die Russen jetzt hier. Mein Vater konnte sich das Geschwätz, wie er sagte, nicht mehr anhören und ging. Seit diesem Tag zerfrisst es seine Seele. Jeden Tag erzählt er von seinen Erlebnissen und meine Mutter hält zu ihm. Sie erleben alles zusammen.«

André hatte sich neben uns gesetzt und hielt seinem Vater die Hand. Der blickte auf und sah älter aus, als er ohnehin schon war. Tränen überzogen sein Gesicht. Er war überrascht, wie aufmerksam wir ihm zuhörten. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Die Wewelsburg?« Er schaute uns skeptisch an und beruhigte sich. »Ich kam im Januar 1944 nach Hause, war verwundet, eine Granate ging neben mir hoch. Zwischen mir und dem Sprengkörper stand nur ein Baum, deshalb überlebte ich. Sollte so sein. Seit dem Tag mag ich Bäume. Hatte Glück, da ich einer der Letzten war, die aus meiner Einheit nach Hause konnten. Die Russen hatten die Lufthoheit in diesem Raum und haben alles abgeschossen. Die Maschine kam grad so durch.« Er holte tief Luft und verharrte einen Moment. »Ja, und dann kam ich nach Hause. Etwa zwei Monate nach meiner Ankunft war reges Treiben auf der Burg. Wie wir nachher feststellten, bereiteten sie alles für die Sprengung vor«, sagte er angestrengt. »Es ist lange her und ich vergesse von Zeit zu Zeit Dinge, über die ich nicht spreche. Da war etwas.«

Wir waren gespannt. »Was haben Sie beobachtet?«, fragte ich neugierig.

»Lkws. Am Tag bevor gesprengt wurde, waren einige Lkws zu sehen. Sie standen im Burghof. Obwohl die Wachen versuchten, uns zu vertreiben, sah ich es.« Er brauchte einen Moment zum Nachdenken. »Die Erinnerungen kommen zurück. Es ist immer so, wenn ich davon erzähle.«

Er schüttelte einige Male den Kopf, kratzte nervös mit den Fingern auf dem Tisch herum und rutschte unruhig hin und her. »Sie luden … sie luden Kisten ein. Irgendwelche Kisten.«

Gespannt fragte ich nach Art und Größe.

»Na ja, breit und lang, Transportkisten eben, ja, und mehrere davon. Dinge waren aufgedruckt, aber das habe ich aus der Ferne nicht eindeutig erkennen können«, sagte er schnell und presste die Lippen aufeinander. »Es war so eine Aufregung auf dem Hof«, rechtfertigte er sich. »Das dauerte den ganzen Tag. Spät in der Nacht durchquerten die Lkws unser Dorf. Mehr weiß ich nicht.«

»Wer fuhr die Lkws?«, fragte Max.

»Kriegsversehrte Soldaten aus dem Dorf«, erwiderte er schnell. »Mich haben sie auch gefragt, konnte aber nicht. Die Splitter der Granate haben meine Kniescheibe zertrümmert. Kann seitdem kein Auto mehr fahren. Sie verstehen? Ich hätte nur Vollgas fahren können.« Ein leichtes Grinsen zeichnete sich auf seinem faltigen Gesicht ab. »Einer kam nach Jahren wieder. Wurde auf der Fahrt geschnappt und kam in russische Kriegsgefangenschaft. Irgendwann 54 oder 55 kam er zurück. Genau weiß ich es nicht mehr. Es war aber die letzte Heimkehrerwelle in den 50er-Jahren. Dann erzählte er irgendetwas von Kunstgegenständen, hatte selbst ein wenig geklaut. War ein Bier zu viel, dass er das verriet. Aber erst nach Monaten. Fühlte sich sicher.«

»Hat er gesagt wohin?«, wollte Max wissen.

»Wohin? Sie meinen, wohin die Fracht gelangte?« Er musste kurz nachdenken. »Nein … nein, das erwähnte er nicht, sagte nur, sie waren Wochen unterwegs.«

»Aber wie geht das?«, fragte ich »Wie kann er Wochen unterwegs gewesen sein, wenn zu jeder Seite die Alliierten standen?«

»Ich weiß nur, dass es ihm nach dem Krieg richtig gut ging. Vielleicht haben sie das Zeug verscherbelt, verkauft. Überläufer gab es viele. Vorbelastet war er nicht, ich glaube nicht mal in der Partei, und nen Krüppelfuß hatte er. Der komische Fuß hat ihm das Leben gerettet, musste nicht die Scheiße sehn. Und er hat die ganzen Weiber im Dorf durchgenommen, war halt der Einzige, der da war. Sah ja nicht schlecht aus, eben mit nem Krüppelfuß, nicht so schlimm, aber behindert. Aber beim Ficken ist der Fuß ohnehin Nebenschauplatz. Er war blond, wollte zur SS, die wollten ihn aber nicht.« Er pustete aus. »Ich weiß das alles nicht mehr so genau. Ist eh egal, der ist tot. Letztes Jahr, beim Holzhacken, rums – aus der Laden. Hat ein großartiges Leben gehabt, nicht gearbeitet, Haufen Geld, geerbt angeblich, Weiber ohne Ende. Das wahre Paradies. Mehr weiß ich nicht. Das mit dem Klauen war das Einzige, was er mal erwähnt hat. Ansonsten hast du nichts über seine Vergangenheit erfahren. Komischer Vogel. Aber eben reich.« Er räusperte sich. »Der hat den ganzen Ramsch verkauft.«

»Lebt noch jemand von der Seite?«, fragte Max.

»Lasst mich nachdenken.« Er schaute seinen Sohn an. »André, lebt von Stanigers noch jemand?«

Er hob fragend die Augenbrauen. »Vater, natürlich, der junge Staniger, der im Holzwerk arbeitet. Der ist wie sein Vater. Sieht gut aus. Ist aber ohne Krüppelfuß. Fragt ihn, vielleicht weiß er was. Ach ja, ihr solltet ihn zum Bier einladen. Sonst sagt der nix.«

 

Dreimal klopften wir an die Tür. Ein kleines Mädchen öffnete. Ihre blauen Augen starrten uns an. Sie mochte nicht älter als 13 Jahre gewesen sein. Dann lächelte sie munter.

»Wir wollen zu deinem Vater«, sagte Max freundlich.

Das Lächeln verschwand augenblicklich von ihrem Gesicht.

»Der ist im Biergarten, wie jeden Sommerabend«, sagte sie mit schwacher Stimme.

Nun stand ihre Mutter hinter ihr und fragte nach dem Grund unseres Besuchs. »Ach Gott, das alte Thema.«

Wir brauchten einige Zeit, bis wir ihr Vertrauen gewonnen hatten. Nach einer Weile bat sie uns in das Wohnzimmer, wo wir auf einer alten Couch vor einem kleinen, massiven Eichentisch Platz nahmen. »Aus ihm bekommen Sie nichts heraus, das hat er seinem Vater am Totenbett versprochen und bitte, ich will es gar nicht wissen. Dieses Thema verfolgt mich, seit ich ihn kenne, und Sie sind nicht die ersten, die sich nach der Wewelsburg und den Kunstschätzen bei mir erkundigen.« Sie verspürte Wut, das war ihr deutlich anzusehen. »Verscherbelt haben sie das Zeug, damals verständlich, aber was haben der Vater und mein Mann damit gemacht? Versoffen, einfach nur versoffen.«

Wir hörten zu und wieder zahlte sich unsere Geduld aus. Als sie zudem erfuhr, dass ich Historiker war, leuchteten ihre Augen. Sie hatte selbst Geschichte studiert. Wir unterhielten uns eine Weile, bevor sie kurz innehielt und sagte: »Wissen Sie, jahrelang habe ich es ertragen, jetzt ist Schluss. Letzte Woche habe ich die Scheidung eingereicht, um es zu beenden. Eine neue Wohnung habe ich für mich und meine Tochter. Es wird schwer, aber nicht mehr, als es ohnehin schon ist. Er wird nicht für die Taten seines Vaters ins Gefängnis gehen. Das will ich nicht, aber ich will, dass jemand diesem Thema nachgeht und zumindest der Wahrheit den Weg ebnet. Zwangsläufig werde ich ihm damit schaden, aber ich habe diese Lügen satt. Wenn er im Suff ist, erzählt er schlimme Dinge.«

Sie stand ohne ein Wort auf und nahm ihre Tochter. Nach etwa fünf Minuten kam sie zurück und setzte sich mit einem Seufzen. Wie ihre Tochter hatte sie lange, blonde Haare und blaue Augen. Mit ihrem schmalen Körper wirkte sie verloren in dem großen, schwarzen Sessel. Ihr Gesicht sah verlebt aus. Wer weiß, was sie alles durchgemacht hatte? Ruhig fuhr sie fort. »Ich habe immer versucht, diese Sachen von ihr fernzuhalten.« Sie schaute an die Decke und überlegte, ob sie erzählen sollte oder nicht.

Ich nahm währenddessen mein Konzeptpapier der Magisterarbeit vom Tisch und verstaute es in der Tasche. »Wie Sie selbst schreiben und belegen wollen, wurden Kunstschätze von der Burg in den letzten Frühlingstagen des Jahres 1945 vor den herannahenden alliierten Truppen in Sicherheit gebracht. Dafür gibt es nur einige Fotos als Beweis. Er bewahrt sie in einer Truhe auf. Wer sie gemacht hat, kann ich nicht sagen. Mein Schwiegervater kann es nicht gewesen sein.«

Sie nahm einen Schluck Tee und lehnte sich in den Sessel zurück. »Wohin sie fuhren, weiß ich nicht, nur, dass sie mit Sicherheit die Gemälde an Offiziere der Alliierten verramscht haben. Die Offiziere wiederum bezahlten mit Wertgegenständen, die sein Vater nach dem Krieg verkaufte. Wie er den Kontakt hergestellt hatte, weiß ich nicht. Gedauert hat die Aktion wenige Tage. Den Schmuck hat er hier in der Nähe vergraben. Auf jeden Fall waren die Informationen, die sein Vater besaß, von unschätzbarem Wert. Sie müssen wissen, ich kann es nicht belegen. Er erzählt immer nur davon, wenn er betrunken ist. Vieles wiederholt er, manches erzählte er in unterschiedlichen Fassungen. Eines bleibt immer das Gleiche: Sie stehlen Gemälde, schon seit Ende des Krieges, tauschen sie gegen die Originale aus.« Erzählte sie beinah gleichgültig.

»Was?«, entfuhr es mir. »Habe ich das richtig verstanden?« Max und ich schauten uns erstaunt an.

»Unfassbar«, stammelte Max. Mehr konnten wir nicht sagen. Uns hatte es die Sprache verschlagen.

»Ja. Das, was Sie in der Presse lesen können, die letzten Einbrüche, das alles geht auf Kosten einer Organisation. Eines ist mir unbekannt: Warum sie es tun. Zu diesem Thema hat er sich nie geäußert. Weiß es wahrscheinlich selber nicht und bringt Zusammenhänge durcheinander. Es ist alles so unglaublich und unklar, warum die Gemälde gestohlen werden.«

Sie fing leise an zu weinen. »Ich habe Angst. Hier im Dorf gehen merkwürdige Dinge vor sich. Eine Nachbarin hat den kompletten Dachboden an einen Mann verkauft. Ich weiß nicht warum, aber glaube, dass wir beobachtet werden. Die Vergangenheit meines Mannes ist ein dunkles Loch und ich will meine Tochter schützen. Zu spät habe ich davon erfahren.« Sie blickte auf. Dicke Tränen liefen ihre Wangen hinab. »Ich spüre es! Mein Mann wird sterben – er weiß zu viel. Dieser junge Mann: Er kam vor einigen Monaten in einer dunklen Limousine. Viele Männer durchsuchten den Dachboden meiner Nachbarin.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber ich weiß nicht, was sie gesucht haben.«

Aufgeregt fragte Max nach: »Können Sie den Mann beschreiben?«

Sie ballte die Fäuste und krallte ihre Finger in das weiße, getränkte Taschentuch. »Es war ein schmaler junger Mann. Schicker Anzug. Ich vermute, dass er ein vermögender Sammler ist.« Ich saß auf der Kante der Couch und war bis auf das Äußerste angespannt. »Doch zwei Details fielen mir sofort auf: Sein stechender Blick, der unnatürlich und kalt wirkte. Ein schwarzer Lederhandschuh, der seine rechte Hand schützte.«

Am nächsten Tag reisten wir ab. Das Ziel hieß: Potsdam. Wir mussten unsere Situation neu überdenken. Seit dem Fund des Registers hatten wir neue Informationen erhalten. Es herrschte die Ruhe vor dem Sturm.

 

Sie ahnten nicht, mit welcher Intriganz der Alte agierte. Seine Schergen blieben auf Distanz, behielten die beiden aber unter permanenter Beobachtung. Das Gefühl der Sicherheit sollte überwiegen. Obwohl ihr größter Feind vor ihnen gesessen hatte, ahnten sie nicht, welchen gewaltigen Eisberg sie gerammt hatten. Der Alte war ihnen weit voraus. Aber er brauchte Elias und Max, um einen Missstand auszugleichen.

5. Vergangenheit

Der Alte war kein Detektiv gewesen, hatte als Kind Kaufmannsladen gespielt. Seine Leidenschaft, Dinge zu sammeln, zu verkaufen und Handel zu treiben, war früh ausgeprägt gewesen. Sein Vater hatte diese Gabe schnell erkannt und den Jungen am Geschäftsleben teilhaben lassen.

Das Antiquitätengeschäft florierte. Der Familie ging es gut. Bis Mitte der 30er-Jahre entstand ein kleines Imperium. Und obwohl der Alte damals erst 14 Jahre alt war, ließ er mit seinem kaufmännischen Gespür das Geschäft in großen Sprüngen wachsen.

Die Hitlerzeit änderte alles. Der nun bereits 19-Jährige war SS-Mann und diente in den Divisionen der Waffen-SS. Er kämpfte an der Seite der 6. Armee, als Deutschland Frankreich überrannte. Er war zum Anhänger geworden, glaubte an das Ideal, an die Zukunft, die Hitler und seine Helfer versprachen. Die militärischen Siege belegten es – anfangs. Jenseits seines Vorstellungsvermögens lauerte die Gefahr, in die er sich begab: in Russland. Dort erlebte der euphorische junge Mann, nun zum SS-Sturmbannführer befördert, in der Einsatzgruppe B unter Erich Naumann, dem Nachfolger von Arthur Nebe, die Grauen des Krieges. Er kämpfte als motivierter und erfolgreicher Offizier.

Durch Zufall begegnete er nach der Kesselschlacht bei Smolensk vom 10. Juli bis zum 10. September 1941 einem SS-Offizier, der mit der Beschaffung wichtiger Kunstgüter betraut worden war. Dieser erzählte angetrunken von den Plänen, germanische Kunstgegenstände aus Europa zu stehlen. Alles im Auftrag der heiligen Mission. Er berichtete von den Fehden der Reichselite. Wie einer den anderen durch neue, kostbare Gemälde überbot. Ein wahres Feuer war entfacht und er damit beauftragt, Kunstschätze zu suchen, sicherzustellen und zu beschlagnahmen. Sicher, so sagte er, gäbe es einige Forscher beim Ahnenerbe, die echtes wissenschaftliches Interesse an den Funden hätten. Doch die Priorität lag auf der Zusammenraffung des germanischen Erbes.

In den Gesprächen erkannte der SS-Offizier schnell die Kompetenz und das enorme Fachwissen des jungen SS-Sturmbannführers. Wenige Wochen später wurde dieser in ein Sonderkommando versetzt, das die Sichtung und Sicherstellung von Kunstgütern zum Auftrag hatte. Ab diesem Moment lebte der Sturmbannführer für die Kunstschätze und blendete den blutigen Krieg um sich herum aus. Zerfetzte Leichen verstand er als Opfer für die Tradition, das kulturelle Erbe. Seine Manie auf den Raubzügen, so viele kostbare Werke wie möglich zu rauben, war grenzenlos gewachsen.

Als sich die militärische Niederlage ankündigte und die Siegesgewissheit schwand, erstarkte der eigene Überlebenstrieb. Die Gedanken an die Zukunft bündelten sich. Die Nachkriegsfrage wurde für den jungen Offizier existenziell. Er begann Kunstgüter in seinen Besitz zu bringen. Nachts stahl er sie aus den Lagern seiner Landsleute.

Mitwisser brauchte er nicht. Seine Ziele behielt er für sich. Schon immer war er ein Einzelgänger gewesen. Hilfe lehnte er kategorisch ab. Über Jahre entwendete er kostbare Gemälde. Der Alkohol und die jungen russischen Mädchen lagen den Männern der SS-Sonderkommandos des Ahnenerbes näher als ein bedeutendes Kunstwerk. Dadurch hatte der junge Offizier in Ruhe seinen Plan perfektionieren können.

An den verschiedensten Orten versteckte er die Werke. Manchmal vergrub er kleinere Raubgüter gut geschützt. Im Winter keine leichte Aufgabe, da der Boden steinhart gefroren war. Er fand andere Orte: Höhlen oder Bauernhöfe, deren Besitzer bezahlte er gut – meist damit, dass er ihr Leben verschonte. Sie versteckten die Beutekunst. Die Bauern hatten keine Wahl. Er hatte ausgeklügelte Taktiken und Strategien entwickelt. Findigkeit, Präzision und Intriganz: Stärken, die er in dieser Zeit zur Perfektion ausformte. Eifrig und akribisch legte er anfangs Karten an, um einen Großteil der Schätze wiederfinden zu können, wohl wissend, dass eine Vielzahl verloren gehen würde. Später begann er die Daten weit weniger auffällig zu notieren.

Vor Erschießungen ließ er die Wohnungen der jüdischen Opfer durchsuchen. Ein kleiner Trupp von Spezialisten, der präzise vorging, erledigte diese Aufgaben.

Mittlerweile war er der Führer eines Kommandos und zum SS-Standartenführer befördert worden. Im Chaos der Erschießungen, der Transporte gingen Werke oder andere Kunstgüter oft verloren. Meist aber war es der Offizier, der Gemälde und Schmuck entwendete oder Juden die Schonung versprach, wenn sie ihre kostbaren Kunstgegenstände freiwillig abgaben.

Die Informationen über Plünderungen erhielten die Einsatzleiter des Erschießungskommandos erst, wenn die wichtigsten Werke durch den SS-Standartenführer entwendet worden waren.

Er schickte Soldaten auf Himmelfahrtskommandos oder ließ sie unter Vorwand in den Kriegswirren von Standgerichten erschießen. Sie waren zufällig oder bewusst auf die Machenschaften des SS-Offiziers aufmerksam geworden. Sie fielen seiner eiskalten Geschäftstüchtigkeit zum Opfer. Damit er seine Tarnung aufrecht erhalten konnte, starben sie. Sieben deutsche Soldaten verloren so im Laufe der Jahre ihr Leben. Vor nichts schreckte er in dieser Zeit zurück. Zerstörte mit seiner Raffgier Familien, deren Väter womöglich den Krieg überlebt hätten.

Und er zerstörte das Leben seines besten Freundes. Er sah zu, wie dieser erschossen wurde: Sein Freund stand an der Mauer, flehte ihn, den jungen SS-Standartenführer, an, endlich die Wahrheit offenzulegen. Der Todgeweihte glaubte es nicht: Der Mensch, dem er in so vielen Schlachten den Rücken gedeckt und dem er mehr als einmal das Leben gerettet hatte, würde zusehen, wie er starb.

Vor ihm standen die Todesschützen, es waren fünf seiner Kameraden. Tränen rannen über sein Gesicht, er dachte an seinen Sohn, seine Frau. Er sah sie niemals wieder.

Er hob den Kopf, schaute in den blauen Himmel. Über ihm kreisten Bussarde. Rote Blätter wurden wie von Geisterhand durch die Luft getragen und kündigten dem Sommer. Fünf Schüsse zerrissen mit ihrem Knall die Stille. Es folgte ein dumpfer Aufschlag. Mit geschlossenen Augen lag er am Boden.

Wenige Monate später geriet der SS-Standartenführer in einen Hinterhalt. Russische Truppen nahmen das Sonderkommando gefangen, das bis zum Schluss bitteren Widerstand geleistet hatte. Er und vier weitere Kameraden kamen ins russische Hinterland. Erst in den Fünfzigerjahren kehrten zwei von ihnen nach Deutschland zurück.

In der Gefangenschaft schmiedete er Pläne, wie er einen Neuanfang wagen könnte. Mehr als zehn Jahre russische Kriegsgefangenschaft hatte er überstanden.

In dieser Zeit keimten Schuldgefühle. Er verhalf anderen Gefangenen und jungen Deutschen zur Flucht, wurde dafür gefoltert, verlor einen Finger und zwei Zehen, als er im Winter für Tage an einen Mast gebunden wurde, musste Strafarbeiten in Steinbrüchen und Fabriken leisten und überlebte nur knapp. Damit war für ihn seine Schuld beglichen.

 

Er zählte zu den letzten Zehntausend der ehemaligen Wehrmacht und Waffen-SS, die im Juni 1955 in die Bundesrepublik zurückkehrten.

Die Zugfahrt nach Deutschland dauerte mehrere Wochen. Mit jedem Kilometer, den er seiner früheren Heimat durch die Wälder und Wiesen Russlands, Polens und Deutschlands näherkam, beschäftigte ihn mehr und mehr ein Gedanke: die Familie seines Freundes. Nie hatte er in den letzten Jahren an sie gedacht, doch nun erwärmte die Sonne des Westens seine Vergangenheit und erweckte verkümmerte Emotionen. Er verstand: Die letzte Prüfung stand ihm bevor. Die langen Schatten des Krieges folgten ihm.

Unendlich lange dauerte die Fahrt. Nichts glich mehr den Erinnerungen. Die Bombentrichter waren mit Gras überwachsen, kein Geruch von verbrannten Leichen, keine schwelenden Brände, keine großen Granatsplitter in den Wänden, keine schreienden Frauen und wimmernden Kinder. Das Stöhnen der verletzten Soldaten war verstummt. Die schweren Stöße der Artillerie erschütterten die Erde nicht mehr. Es herrschte Frieden. Die Bauern gingen ihrer täglichen Arbeit nach, lebten mit ihren Familien in Ruhe und hatten ihren Kampf an anderer Stelle auszutragen, er aber war im Grunde derselbe geblieben, nur unter anderen Vorzeichen – der Kampf ums Überleben.

Die Felder waren grün, gelb und rot. Saftiges Gras, Raps und Mohnblumen füllten die Flächen. Nirgends in dieser Weite eine durch Panzer oder Truppenfahrzeuge verursachte Schneise, keine Spähwagen weit und breit. Der gealterte SS-Standartenführer vermutete jeden Moment einen Angriff durch Panzerfäuste – immer war es so gewesen. Doch sie blieben aus, er begriff den Frieden. Er war beinah ohne Zweifel, dass er seine Schuld gänzlich beglichen hätte. Doch je näher er der Heimat kam, desto größer wurden sie.

Er zog den Kopf vom Fenster des Waggons zurück und ließ ihn auf die Kopfstütze sinken. Habe ich sie bezahlt, meine Schuld?, fragte er sich. Schweiß trat auf seine Stirn. Kalter Schweiß, schwer und ängstigend. Ja, er hatte Angst, Angst, der Wahrheit ins Auge zu blicken. »Werde ich beim Anblick seiner Frau immer noch genauso überzeugt sein wie damals?«, dachte er. Er zog das Foto heraus, das er in den Hinterlassenschaften seines Freundes gefunden hatte. Zuständig war er damals gewesen. Er musste die Sachen entfernen. Obwohl er nicht wusste warum, behielt er das Bild der Frau und des Kindes, dessen Vater er auf dem Gewissen hatte.

Der Zug hielt. Erneute Kontrolle. Nach zehn dieser Reiseunterbrechungen hörte er auf mitzuzählen. Verzichtete. Frischte die Gedanken an seine Geheimnisse auf. Er selbst hatte versucht, sich jeden Ort einzuprägen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783000678653
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Mai)
Schlagworte
Zweiter Weltkrieg Mord historische Fakten Spannend Thriller Freundschaft Verrat Kunstraub Raub Vergangenheitsbewältigung Krimi Ermittler

Autor

  • Andreas Neßlinger (Autor:in)

Andreas Neßlinger, Jahrgang 1978, studierte Literaturwissenschaft und Geschichte. Schwerpunkte lagen auf der Vergangenheitsbewältigung und den SS-Einsatzgruppen. Er forschte u. a. zu den Ordensburgen sowie der Wewelsburg als ideologischem Zentrum der SS. Neßlinger lebt und arbeitet in Berlin.
Zurück

Titel: WahrheitsDiebe